»Schrecklich.«

»Es gibt viel Schlimmeres«, sagte Nora, sich umsehend. Alles war noch genauso, wie sie es in Erinnerung hatte. Der rostige Gasrechaud. Das Spülbecken mit dem verfärbten, abgesplitterten Emaille. Das angeschlagene Geschirr. Der halbblinde Spiegel. Die alte Remington, in der ein Bogen schlechtes Papier steckte. Das alte Sofa. Der große Radioapparat. Die vielen Talismane auf dem vollgeräumten Schreibtisch.

Nora griff in ihre Manteltasche.

»Ich bringe Ihnen etwas mit, Frau Steinfeld! Sie werden es sicherlich schon vermißt haben!«

Nora legte das kleine Reh aus Blei auf den Schreibtisch. Valerie betrachtete es ohne Ausdruck. Sie sagte kein Wort.

Es irritierte Nora, daß Valerie nur sprach, wenn man sie etwas fragte. »Und Ihnen?« fragte sie. »Wie ist es Ihnen ergangen?«

»Es war eine schwere Zeit«, sagte Valerie mit jener modulationslosen Stimme. »Nun ist sie vorüber …« Die Daumen der im Schoß verschränkten Hände bewegten sich umeinander.

»Der Prozeß! Ihr Junge! Was ist mit ihm? Wir haben uns so lange nicht gesehen, Frau Steinfeld! Nun reden Sie doch!«

Valerie antwortete leise: »Heinz ist nicht mehr da.«

Nora erschrak.

»Ist er …«

»Nein, er ist nicht tot, Fräulein Hill«, antwortete Valerie, die aussah und dasaß und redete wie eine Wachsfigur mit eingebauter Sprechwalze. »Er lebt. In Los Angeles.«

»Wie kommt er nach Amerika?«

»Er hat eine Einladung erhalten, dort zu studieren. Sie erinnern sich doch, daß er Chemiker werden wollte, nicht wahr?«

»Ja, natürlich. Wann ist er …«

»Schon vor einem Jahr hat er mich verlassen. Wir hatten nur noch Streit, wissen Sie.« Valerie sah Nora während des ganzen Gesprächs kein einziges Mal direkt an, sie blickte immer an ihr vorbei. Und die Daumen der Finger drehten sich unablässig.

»Streit? Weshalb?«

»Ich bin schuld. Ich habe ihn zu streng behandelt. Dieser Prozeß hat mich so hart gemacht. Ich bin nicht mehr die Frau, die Sie in Erinnerung haben. Heinz hielt es nicht mehr aus bei mir. Ein guter Junge. Ich habe Fehler gemacht, schwere Fehler. Ich sehe es ein. Es hat mich natürlich trotzdem sehr getroffen, daß mein Mann sich hat scheiden lassen.«

»Ihr Mann hat …«

»Ja, Fräulein Hill. Gleich nach Kriegsende. Er ist inzwischen längst wieder verheiratet – in London. Eine junge Frau … jünger als ich. Er hat sie während des Krieges kennengelernt. Es geht ihm gut. Manchmal schreibt er mir. Ich darf ihm nicht böse sein. Eine so lange Trennung, nicht wahr?«

»Aber …«

»Doch, doch. Die Zeit! Der Krieg hätte nicht so lange dauern dürfen. Sie haben ja auch nicht den Mann geheiratet, den Sie liebten.«

»Woher wissen Sie …«

»Wären Sie sonst hier? Er hat Sie verlassen, stimmt’s?«

Nora Hill nickte.

»Die Männer verlassen die Frauen. Die Frauen verlassen die Männer. Einer verläßt immer den andern. Früher oder später.«

»Großer Gott, Frau Steinfeld, das ist … das ist …«

»Ja, bitte?«

»Nach allem, was Sie mitgemacht haben – für seinen Sohn, auch für ihn! Und da läßt er sich scheiden!«

»Wenn er doch eine andere liebt«, sagte Valerie. Sie wandte plötzlich den Kopf, sah das kleine Reh an und nahm das Stückchen Blei in die Hand. Nachdem sie es kurz betrachtet hatte, legte sie es mit einem irren Lächeln wieder fort und verschränkte die Finger im Schoß. »Paul weiß bestimmt überhaupt nicht mehr, wie ich aussehe.«

»Aber der Prozeß! Wie kann Ihr Sohn Sie verlassen, wie kann Ihr Mann sich scheiden lassen nach einem solchen Prozeß?« rief Nora.

Schneller drehten sich die Daumen Valeries.

»Der Prozeß«, sagte sie. »Der wurde nie zu Ende geführt, der lief bei Kriegsende noch … Jetzt ist das ja alles vorbei und unwichtig und uninteressant … Wollen Sie eine Tasse Tee?«

»Wirklich, Frau Steinfeld …«

»Nein, nein!« Valerie sprang auf. Sie öffnete ein Wandschränkchen. »Vom Schwarzen Markt! Echter russischer! Wird Ihnen schmecken, Fräulein Hill. Zucker haben wir auch wieder, richtigen, nicht diesen widerlichen Süßstoff. Es ist doch Frieden, nicht?«

»Wie bitte?«

Valerie drehte sich um. Jetzt sah sie Nora zum erstenmal an. In ihren Augen stand ein Ausdruck von panischer Furcht. Sie wiederholte bebend: »Frieden ist jetzt. Das stimmt doch. Nicht wahr, das stimmt doch. Oder nicht?«

52

»Unheimlich«, sagte Manuel Aranda.

»Ja, unheimlich war dieser ganze Besuch«, antwortete Nora Hill.

Aus der Halle, wo man sich drollige Anekdoten über den Beischlaf erzählte, klang wieder Gelächter in das Wohnzimmer. »Ich trank Tee mit ihr. Landau kam dazu. Er redete kaum ein Wort. Wir saßen da und schwiegen uns an.«

»Hatten Sie das Gefühl, daß Frau Steinfeld geistesgestört war?«

»Nicht geistesgestört. Verwirrt. Das war auch Landau. Nicht so sehr. Schließlich, sagte ich mir, hatte die Frau ein schweres Los getroffen. Beim Abschied luden sie mich ein, wiederzukommen. Ich lud sie zu mir ein. Aber ich bin sicher, sie fühlten dasselbe wie ich: Das waren reine Höflichkeiten. Im Grunde war ich den beiden völlig fremd, ja unangenehm geworden. Und um ehrlich zu sein: Mir ging es ebenso. Sie meldeten sich auch niemals. Und ich kehrte nie mehr in die Buchhandlung zurück.«

»Das heißt, damals sahen Sie die beiden zum letztenmal?«

»Ja, Herr Aranda, das heißt es.« Nora Hill lächelte und zeigte die schönen Zähne. »Damit bin ich am Ende meiner Geschichte.«

»Aber es ist nicht das Ende meiner Geschichte! Ich sehe noch immer nicht die Wahrheit!«

»Natürlich nicht. Sie müssen noch einmal mit Doktor Forster reden. Und dann kommt doch dieser Daniel Steinfeld, Paul Steinfelds Bruder, haben Sie mir erzählt. Der wird gewiß auch etwas zu berichten haben. Wann trifft er ein?«

»Montag.«

»Nun, lassen Sie sich Zeit, lieber Freund.« Wieder das Gelächter aus der Halle. »Wie die sich amüsieren! Wenn Sie die Wahrheit wirklich kennen, dann halten Sie aber auch Ihr Versprechen und kommen zu mir, damit ich meinen kleinen Wunsch äußern kann. Sie wissen doch noch – das war die Voraussetzung, unter der ich zu erzählen begann und Sie auf die richtige Spur führte!«

»Ich weiß«, sagte Manuel.

»Sie werden bestimmt kommen?«

»Bestimmt, Madame …«

»Das geht doch wundervoll«, sagte Grant in dem Kleinmädchenzimmer. Diesmal lag er auf dem Bett, und Santarin saß auf einem kleinen Stuhl. »Genauso wie Sie es sich vorgestellt haben, Fedor.«

»Sie sollen dann meinen Wunsch erfüllen – Sie müssen nicht. Niemand kann Sie zwingen«, klang Nora Hills Stimme aus dem Lautsprecher über dem Bett.

»Madame, was ich tun kann, will ich gerne tun, sobald ich wirklich alles weiß«, antwortete Manuels Stimme.

»Was er tun kann, will er gerne tun!« Grant sah Santarin strahlend an. »Wir wollen es hoffen«, sagte der Russe. »Sie haben das Nötige veranlaßt, Gilbert?«

»Natürlich, Fedor«, sagte der Amerikaner.

53

Es schneite in großen Flocken, als Manuel am Sonntag, dem 26. Januar 1969, pünktlich um halb elf Uhr vormittags am Gartentor der Villa in der Sternwartestraße läutete. Ein Summer ertönte, das Tor sprang auf. Manuel ging über den verwehten Kiesweg auf das Haus zu, dessen Eingangstür sich öffnete.

Anna, Forsters dicke, rundgesichtige Haushälterin, wurde sichtbar. Sie trug ihr schwarzes Kleid, aber nicht ihre weiße Schürze.

»Ja …?« Anna machte einen vollkommen verstörten Eindruck. »Sie wünschen?«

»Ich bin Manuel Aranda. Sie kennen mich doch! Herr Doktor Forster erwartet mich. Guten Morgen, Frau Anna.«

Die Frau brach in Tränen aus.

»Frau Anna! Ist etwas geschehen?«

»Der alte gnädige Herr …«

»Was ist mit ihm?«

»Tot ist er!« rief die Anna.

Manuel trat einen Schritt zurück.

»Aber … Ich war doch gestern nachmittag bei ihm … Da ging es ihm glänzend … Er freute sich so auf seine große Reise … Er wollte doch auf die Bahamas …«

»Das ist es ja«, schluchzte die Haushälterin. »Das ist es ja, sagt der Arzt. Er muß sich zu sehr aufgeregt haben. Sein Blutdruck … das Herz … Er war doch nicht gesund … Die Freude hat ihn umgebracht, die zu große Freude …«

»Wie ist es geschehen?« fragte Manuel, den seit langer Zeit wieder jenes jähe Schwindelgefühl packte.

»In der Nacht … im Schlaf … Das Herz ist einfach stehengeblieben … Er kann es gar nicht bemerkt haben … Heute früh, als er nicht zum Frühstück kam, habe ich bei ihm geklopft und dann in sein Schlafzimmer gesehen … Er hat ganz friedlich im Bett gelegen … und gelächelt hat er … glücklich gelächelt …«

54

»Haben Sie Ludwig Orwin oft gesehen, Zeugin Peintinger?«

»No freilich, Herr Direktor, immer wieder. Der Herr Orwin, Gott hab ihn selig, ist doch dauernd zur gnä’ Frau gekommen, wenn der gnä’ Herr verreist war oder nicht zu Haus.«

»Der gnä’ Herr, das ist Paul Steinfeld?«

»Wer denn sonst?«

»Unterlassen Sie diesen Ton, Zeugin. Was haben Sie überhaupt? Warum reden Sie so laut? Warum sind Sie so rot im Gesicht? Ist Ihnen nicht gut?«

»Mir ist ganz gut, Herr Direktor«, sagte die Agnes Peintinger. Die resolute Frau mit dem breiten Bäuerinnengesicht und der Entennase, dem großen Mund und den kleinen Augen stand in einem grauen Kostüm vor dem Tisch des Landgerichtsdirektors Dr. Engelbert Arnold. Von Zeit zu Zeit schwankte sie, kaum merklich. Und sie sprach tatsächlich sehr laut. Es war der Vormittag des 10. November 1943, ein trüber Herbsttag. Im Saal 29 des Justizpalastes führte Richter Arnold die von ihm anberaumte neue Verhandlung durch. Hermine Lippowski und Ottilie Landau waren bereits vernommen und vereidigt worden. Sie saßen vor der Barriere zum Zuhörerraum, der auch heute leer war. Die beiden Frauen hatten ausgesagt, daß ihnen Valerie Steinfelds Freundschaft zu dem 1934 verstorbenen Bildhauer Ludwig Orwin bekannt gewesen sei und daß Valerie Steinfeld ihnen erzählt habe, Martin Landau und Ludwig Orwin seien um ihretwegen in einen heftigen Eifersuchtsstreit geraten, der diese Freundschaft beendete.

Kurator Kummer stellte kaum Fragen. Sein erster Eindruck war schon richtig gewesen! Dieser Kollege Forster scheute vor nichts zurück. Eine ausgeklügelte Operation mit dem Ziel, den Jungen trotz der negativen Blutgruppenuntersuchung zum Arier durchzupauken. Und sie würde Erfolg haben, Kummer fühlte das. Also halt den Mund, Hubert, ermahnte er sich, denk an die Zukunft.

Ähnlichen Gedanken hing auch der Vorsitzende, der rosige, rundliche Landgerichtsdirektor Dr. Engelbert Arnold, nach. Immer wieder mußte er an den Besuch dieses Ministerialrats Klever, dieses Piefkes aus Berlin, denken. Allein, die Zeugin, die da vor ihm stand, machte ihn von Sekunde zu Sekunde nervöser.

»Herr Landau kam aber auch zu Besuch, wenn Frau Steinfeld allein war?«

»Beide sind sie gekommen. Nicht auf einmal, natürlich. Abwechselnd«, trompetete die Agnes. Ihre Augen schwammen ein wenig.

»Wer kam öfter?«

»Das weiß ich nicht mehr. Der Herr Orwin. Nein, der Herr Landau. Nein, der Herr Orwin.«

»Zeugin!«

»Von welcher Zeit reden Sie denn, Herr Direktor?«

»Vom Sommer 1925.«

»Da ist der Herr Landau öfter gekommen. Aber der Herr Orwin war auch da, immer wieder, das weiß ich genau!«

»Was geschah, wenn der Herr Orwin zu Besuch kam?«

»Dasselbe, was geschah, wenn der Herr Landau gekommen ist.«

»Nämlich?«

»Herr Direktor, das können Sie sich doch denken!«

Arnold nahm sich enorm zusammen.

»Sie sollen meine Frage beantworten, Zeugin Peintinger!«

»Da kann ich Ihnen nur sagen, was ich glaube, daß geschehen ist!«

»Sie sollen nicht sagen, was Sie glauben, sondern was Sie wissen, verstanden?«

»Ja, Herr Direktor!«

»Warum benimmt sie sich bloß derartig?« flüsterte Forster Valerie zu. »Wenn sie sich weiter so aufführt, können wir in Schwierigkeiten kommen. Die Frau war doch sonst immer vernünftig …«

Unterdessen hatte Arnold gefragt: »Also, was wissen Sie?«

»Ich weiß, daß die gnä’ Frau mich jedesmal weggeschickt hat, wenn der Herr Orwin oder der Herr Landau gekommen ist! Sie hat gesagt, sie macht selber den Kaffee. Dabei wäre das doch meine Sache gewesen, nicht, Herr Direktor? Aber nein, ich hab fort müssen, egal, ob es geregnet hat oder ob es schön war. Wenn es schön war, bin ich spazierengegangen bis zur Waldmeierei und hab da stundenlang gesessen …«

»Stundenlang?«

»Die gnä’ Frau hat gesagt, ich soll drei oder vier Stunden wegbleiben.« Die Agnes wurde sehr laut. »Bei Sonne war das ja in Ordnung. Aber bei Kälte oder Regen! Ist mir nur ein Kino geblieben. Wissen Sie, wie weit weg das erste Kino von uns draußen war? Das Bioskop-Zentral? Und die haben ja nicht andauernd das Programm gewechselt, nicht? Und dann hat es ein paar Tage hintereinander geregnet. So habe ich manche Filme zweimal gesehen …«

»Wollen Sie sich über das Gericht lustig machen?«

»Gott soll mich davor bewahren, Herr Direktor. Wie kommen S’ bloß auf so eine Idee?«

»Himmel!« flüsterte Valerie. »Sie hat getrunken!«

»Was?« Forster war entsetzt.

»Ich erkenne das an ihrem Herumgerede. Eine schwere Zunge hat sie auch. Heute früh hat sie getrunken, vor Aufregung wahrscheinlich. Ich bin ganz sicher …«

»Fein«, sagte Forster grimmig und leise.

»Was war, wenn Sie von Ihren Ausflügen heimkamen, Zeugin? Beantworten Sie nur meine Frage, haben Sie mich verstanden?«

»Natürlich habe ich Sie verstanden, Herr Direktor. Also, wenn ich nach Hause gekommen bin, dann war die gnä’ Frau …« Die Agnes wandte den Kopf, schwankte dabei heftiger und sah mit leicht glasigen Augen Valerie an. »Entschuldigen, gnä’ Frau, aber ich muß doch hier die Wahrheit sagen …«

»Zeugin Peintinger, zum letztenmal! Sehen Sie mich an, wenn Sie sprechen, lassen Sie diese Nebenbemerkungen!«

»Zu Befehl, Herr Direktor. Die gnä’ Frau war dann oft im Morgenmantel.

»Im Morgenmantel?«

»Morgenmantel und Unterwäsche. Und zweimal bin ich in das Schlafzimmer gekommen, da war das Bett ganz zerwühlt. Die gnä’ Frau hat gesagt, ihr war nicht gut, sie hat sich hinlegen müssen.«

»Zeugin, ist das auch wirklich wahr?«

»Die heilige Wahrheit, Herr Direktor!« Die Agnes schluckte. »Sehen Sie, ich verehr die gnä’ Frau, wirklich, sie ist die beste gnä’ Frau, die es gibt. Aber eben der Trieb …«

Valerie starrt die Agnes mit offenem Mund an.

Forster zupfte an seinem Ohr, als wollte er es abreißen.

»Was für ein Trieb, Zeugin?«

»Herr Direktor verstehen schon!« Die Agnes tat verschämt. »Die arme Gnädige. Sie kann ja nichts dafür.«

»Wofür?«

»No, für ihre Veranlagung. Mir, Herr Direktor, tun alle Frauen leid, die eine solche Veranlagung haben, daß sie das so brauchen …«

»Zeugin!«

»… aber was sollen sie machen? Der Trieb ist stärker! Ich, Herr Direktor, ich bin ja so froh, daß mich das in meinem Leben nie belastet hat. Das kann ich meinem Schöpfer verdanken!« Die Agnes war wieder sehr laut geworden.

»Zeugin, schreien Sie hier nicht so!« Richter Arnold atmete heftig.

»Wollen Sie damit sagen, daß Ihre Brotgeberin nymphomanische Züge aufwies?«

»Was für Züge?«

»Daß sie andauernd Männerbekanntschaften suchte und fand?«

»Andauernd nicht. Aber das, was ich erlebt hab, das war doch schon ganz schön, nicht? Der gnä’ Herr, und der Herr Landau, und der Herr Orwin …« Wieder sah die Agnes zu Valerie. »Bitt um Vergebung, gnä’ Frau, aber die Wahrheit muß heraus, nicht?«

»Ja, die muß heraus«, rief Landgerichtsdirektor Arnold. Jetzt hatte er genug von dieser Zeugin. Wenn es stimmte, was dieses offenbar geistig beschränkte Wesen hier bekanntgab, dann konnte man tatsächlich nicht sagen, wer der Vater dieses Jungen war – der Gatte oder der Liebhaber Orwin oder noch ein anderer Mann … Da taten sich ja Abgründe auf! »Zeugin Peintinger, Sie sind bereit, diese Aussage auf Ihren Eid zu nehmen?«

Ein Strahlen ging über das Gesicht der Agnes. Jetzt hätten wir es erreicht, Hochwürden, dachte sie.

»Freilich, Herr Direktor!« Und etwas später sprach sie dann, ganz zart, schwankend, ernst und feierlich, mit erhobener Hand die Schlußformel nach.

»Ich schwöre es, so wahr mir Gott helfe!«

55

»Ihr Gesicht war richtig verklärt bei dem Schwur, sagte mir Valerie später«, berichtete Ottilie Landau. Sie saß mit Manuel an einem Fenster des großen, runden Espressos auf dem Cobenzl und erzählte seit einer halben Stunde.

Manuel, noch sehr erschüttert durch den plötzlichen Tod Forsters, hörte die Frau mit dem harten Gesicht und den schmalen Lippen, die elegant, aber unmodern gekleidet war, wie aus einiger Entfernung sprechen. Er war benommen, und er hatte Kopfweh. Forster ist tot, dachte er. Die Stadt, die er verlassen wollte, hat ihn nicht freigegeben.

Manuel hatte Tilly Landau von Forsters Ende erzählt. Sie war sehr erschrocken gewesen. Ihre Stimme klang – zum erstenmal, seit Manuel sie kannte – nun weich, warm und fraulich …

»Es ging also alles gut. Jetzt sollte ein neues Gutachten erstellt werden. Wir hatten wieder eine Runde gewonnen. Und Zeit, Zeit! Nach der Verhandlung machte Valerie der Agnes natürlich Vorwürfe. Die sagte, mein Gott, war sie vergnügt: ›Ja, ich hab was getrunken! Ich hab mir gesagt, diesmal muß der Richter mich schwören lassen! Ohne den Schnaps hätte ich solche Sachen über die gnä’ Frau nie herausgebracht. So war mir alles wurscht. Und hat es nicht gewirkt? Ich hab schwören dürfen! Schwören dürfen hab ich!‹« Tilly Landau sagte: »Das hat sie sich doch so gewünscht, nicht wahr?«

Manuel nickte.

»Und also«, fuhr Tilly fort, »schleppte der Prozeß sich weiter. Bis Ende Oktober schon hätte Valerie den großen Ariernachweis für Orwin erbringen und alle Fotos von ihm, die sie sammeln konnte, dem Gericht vorlegen sollen. Fotos gab es eine Menge – Orwin war ein ziemlich berühmter Mann gewesen –, nur ein paar Dokumente ließen und ließen sich nicht auftreiben. Erst im Januar 44 hatte sie endlich alles beisammen. Dann ging das ganze Material an das Anthropologische Institut. Und erst im Mai gab es wieder eine Verhandlung.«

»Mit dem katastrophalen Gutachten«, sagte Manuel.

»Woher wissen – ach so, Doktor Forster! Mein Gott, der arme Kerl. Schrecklich ist das. Aber so einen Tod wünsche ich mir auch«, sagte Tilly. »Er kann doch überhaupt nicht gelitten haben, oder?«

»Nein«, sagte Manuel und dachte: Im Sterben nicht, im Leben schon, viel und lange.

»Ja«, fuhr Tilly fort, »das Gutachten war verheerend. Vermutlich haben die SS-Ärzte sich gesagt: Unser so positives erstes Gutachten war ausschlaggebend dafür, daß dieser Prozeß überhaupt weitergeführt wird. Das wollen wir jetzt verhindern.«

»Und es gelang ihnen?«

»Es gab zwei weitere Verhandlungen. Ich war bei beiden, als Zuhörerin. Die arme Valerie! Es sah sehr schlecht für sie aus, was der Doktor Forster auch anfing. Ich habe sogar das Gefühl, daß der Richter ihr gern geholfen hätte, aber er traute sich nicht. Er hatte Angst vor diesem SS-Bonzen, dem Leiter des Instituts, er hieß, warten Sie …«

»Kratochwil«, sagte Manuel.

»Ja, Kratochwil, richtig! Den ließ der Richter auf Verlangen Forsters zur zweiten Verhandlung persönlich erscheinen. Forster verwickelte Kratochwil in wilde Streitgespräche – bis der SS-Kerl richtig heimtückisch wurde und die ganze Geschichte lebensgefährlich für den guten Doktor Forster. Der Richter schloß die Verhandlung. Das Urteil sollte schriftlich ergehen«, sagte Tilly.

»Der Richter ließ sich Zeit damit – vielleicht auch, um zu helfen. Die Zeit, nicht wahr, die Zeit …«

»Ja«, sagte Manuel.

»So kam das Urteil erst Anfang Juni. Es war ein paar Schreibmaschinenseiten lang. Die Klage wurde darin abgewiesen. Valerie brach uns fast zusammen, aber der Doktor Forster sagte: ›Jetzt gehen wir in die Revision vor das Reichsgericht in Leipzig!‹«

»In Leipzig …« Manuel fiel ein, daß Forster bei ihrem ersten Telefonat gesagt hatte, die Akten des Gerichts befänden sich, wenn sie überhaupt noch existierten, in Leipzig.

»Das war das höchste deutsche Gericht. Und die Revisionsanträge aller Abstammungsprozesse mußten dort eingereicht werden – nach einer Verordnung von Anfang 44. Zuerst war ein solcher Revisionsantrag vom örtlichen Gericht zu genehmigen. In Valeries Fall geschah das Ende Juni. Ich sagte, der Richter wollte uns helfen! Danach mußte Forster innerhalb von vierzehn Tagen Revision einlegen. Er hat sicherlich seine Unterlagen darüber für heute vorbereitet gehabt …« Tilly sah in die Schneewirbel hinaus. »Da liegen sie nun in seinem Zimmer … Und er ist tot … Ich erinnere mich auch noch an das Revisionsbegehren. Valerie war dabei, als Forster es aufsetzte, und sie erzählte Martin und mir davon. Es war unglaublich, was Forster da noch einmal riskierte …«

56

Am 7. Juni 1944, zwei Monate bevor er verhaftet und in ein Konzentrationslager gebracht werden sollte, saß Dr. Otto Forster hinter dem Schreibtisch im Arbeitszimmer seiner Kanzlei am unteren Ende der Rotenturmstraße. Ihm gegenüber saß, erschöpft und verstört, Valerie Steinfeld. Forster sprach in ein Diktaphon, wobei er in Akten blätterte: »… erhebe ich, Heinz Steinfeld, in offener Frist Revision an das Reichsgericht. Das erstrichterliche Urteil wird mit Ausnahme des Kostenanspruchs, der unberührt bleibt, seinem ganzen Umfang nach angefochten …« Der Anwalt sah auf, zupfte sein rechtes Ohr, schaltete das Gerät ab und sagte: »Nun machen Sie nicht so ein Gesicht, gnädige Frau!«

»Ach, Herr Doktor, wenn Sie wüßten, wie ich mich fühle. Das wird doch auch wieder umsonst sein!«

»Abwarten! Noch ist Polen nicht verloren. Im Gegenteil!« Forster blätterte in einem dicken Buch, murmelte vor sich hin, schaltete das Diktaphon wieder ein und sprach weiter: »Als Revisionsgründe mache ich geltend … Erstens: Mangelhaftigkeit des unterinstanzlichen Verfahrens, Klammer, Paragraph 503. Zahl 2 Zivilprozeßordnung, Klammer zu, und zweitens: unrichtige rechtliche Beurteilung, Klammer, Paragraph 503, Zahl 14 Zivilprozeßordnung, Klammer zu … Ad eins: Die Mangelhaftigkeit des Verfahrens ist darin zu erblicken, daß der Herr Erstrichter zwei sehr wesentliche Anträge des Klägers, die eine Klärung des noch nicht zur Entscheidungsreife gelangten Sachverhaltes zu erbringen geeignet gewesen wären, abgewiesen hat, nämlich – a – die Hinzuziehung eines zweiten Sachverständigen und – b – die persönliche anthropologisch-erbbiologische Untersuchung des gesetzlichen Vaters des Klägers …«

»Um Gottes willen, Herr Doktor«, rief Valerie, während Forster blitzschnell das Mikrophon mit einer Hand bedeckte, »wieder sagen Sie so etwas! Das ist ja Wahnsinn! Mein Mann ist doch in England!«

»Das ist kein Wahnsinn«, sagte Forster ungerührt. »Das ist ganz ernst gemeint.« Er gab das Mikrophon frei und sprach: »… des Klägers, zu welchem Zwecke allenfalls eine vorläufige Aussetzung des Verfahrens zu beschließen gewesen wäre, Punkt.« Forster pfiff leise, zog an seinem Ohr und fuhr dann fort: »Ad a: Die Zivilprozeßordnung sieht die Erbringung des Beweises durch ein Gutachten von Sachverständigen vor, wenn Fragen zur Entscheidung anliegen, zu deren Beantwortung es besonderer Fachkenntnisse bedarf, die außerhalb des Beurteilungsvermögens des nur juristisch fachlich gebildeten Richters liegen …«

Valerie sagte: »Sie sind meine letzte Hoffnung, Herr Doktor …«

»Psst«, machte Forster. Er diktierte: »Wenn der Laie also auch nicht für sich in Anspruch nehmen kann, in einer Materie zu entscheiden, die einem speziellen Fachwissen vorbehalten bleiben muß, kann doch verlangt werden, daß die Untersuchungsergebnisse, zu denen der Sachverständige kommt, und die Folgerungen, die er daraus zieht, auch für den Laien verständlich, logisch und schlüssig sind …« Forster sprach fließend, ohne Pausen. Er schaltete das Gerät ab, als er sah, daß Valerie den Mund öffnete.

»Sie legen sich mit diesem Kratochwil an, Herr Doktor!« rief Valerie. »Einen SS-Sturmbannführer!«

»Natürlich. Ich lege mich mit allen an«, sagte Forster ernst. »Sie auch, gnädige Frau. Schon seit wir diesen Prozeß begonnen haben. Merken Sie das erst jetzt? … Dieser Forderung«, sprach er weiter in sein Diktaphon, »trägt das vorliegende Sachverständigengutachten, dem das angefochtene Urteil unter gänzlichen Verzicht auf eigene Gedankengänge …«

»Herr Doktor, um Himmels willen, Sie gehen zu weit!«

»Jetzt können wir gar nicht weit genug gehen, gnädige Frau … Gedankengänge kritiklos folgt, keine Rechnung. Unvollständig, unlogisch sowie einer vernünftigen Begründung ermangelnd erscheinen insbesondere nachstehende Ausführungen des Gutachtens: Der Sachverständige sieht in den – Gedankenstrich – durchwegs kleinformatigen – Gedankenstrich – Amateuraufnahmen des gesetzlichen Vaters eine für seine Untersuchungen brauchbare Vergleichsbasis, während er mehr als ein Dutzend große, deutliche Porträtaufnahmen des angeblichen Vaters Ludwig Orwin als – in Anführungsstrichen – ›wenig verwendbar‹ abtut …«

»Herr Doktor, ich habe solche Angst …«

»Das Recht ist doch auf Ihrer Seite. Es wird siegen!« sagte Forster völlig ernst und würdig. Er diktierte weiter: »In Punkt vier seiner abschließenden Folgerungen muß der Sachverständige zugeben, daß der Kläger keinerlei Merkmale zeigt, die auf eine jüdische Abstammung schließen lassen, jedoch will er mit dieser Feststellung nicht die Vaterschaft des gesetzlichen jüdischen Vaters ausschließen. Schon dies hätte einer plausiblen Erklärung bedurft, die das Gutachten, das sich mit einer solchen apodiktischen Behauptung begnügt, indessen vermissen läßt … Einverstanden, gnädige Frau?«

»Natürlich. Aber was wird das für Folgen haben?«

»Das werden wir ja sehen.« Forster verzog keine Miene. »Herr Kratochwil hat sich beklagenswert angreifbar ausgedrückt. Weiter …« Forster überlegte kurz. »Ad b«, fuhr er dann fort. »Auf die Frage des Klagevertreters mußte der Sachverständige zugeben, daß er sein Gutachten hätte besser fundieren können, wenn auch Gelegenheit zur anthropologisch-erbbiologischen Untersuchung des gesetzlichen Vaters bestanden hätte … Jetzt kommt es, gnädige Frau! … Wenn auf Grund dieses Zugeständnisses der Klagevertreter den Auftrag gestellt hat, mit der Entscheidung in der Sache zuzuwarten, bis sich nach dem Endsieg die Gelegenheit ergeben würde, Paul Israel Steinfeld zu einer solchen Untersuchung stellig zu machen, konnte der Herr Erstrichter über diesen Antrag nicht hinweggehen, ohne das Verfahren an einem schweren Mangel leiden zu lassen.«

»Wie Sie das vor Gericht gesagt haben, das mit der Untersuchung nach dem Endsieg, da habe ich geglaubt, ich werde ohnmächtig«, erklärte Valerie.

»Ich stellte doch nur einen absolut logischen Antrag«, meinte Forster, scheinbar erstaunt. Er beherrschte sich völlig. Ernst fuhr er im Diktat fort: »Die Tatsache, daß es nicht möglich ist, einen begründet beantragten Beweis innerhalb einer bestimmten Frist durchzuführen, darf, besonders in Fällen, in denen weit mehr als nur private Interessen auf dem Spiele stehen, nicht dazu führen, daß sich der Richter über dieses oft – und in diesem Fall gewiß – prozeßentscheidende Faktum einfach hinwegsetzt.« Auf einmal fühlte Valerie neue Hoffnung, neuen Mut.

Forster bemerkte es.

»Nun, geht es Ihnen schon besser?«

Valerie konnte nur nicken.

»So ist es recht«, sagte Forster. »Wir werden dem Recht zum Sieg verhelfen. Seien Sie ganz ohne Sorge …« Er diktierte: »Besonders kraß erscheint der hier gerügte Verfahrensmangel im Lichte der vom Herrn Erstrichter spontan …« Forster blätterte in den Akten und sprach weiter: »… Klammer, Protokoll c. z. 30, Seite 5 Mitte, Klammer zu, spontan vorgenommenen Feststellung, daß der Kläger jüdische Merkmale nicht aufweist und daß auch im Gespräch mit ihm nichts darauf hindeutet, was man als jüdisch bezeichnen könnte …« Der Anwalt hielt das Mikrophon zu: »Gott sei Dank war der Richter ein sehr vorsichtiger Mensch …« (Mein Freund Klever hat ihn dazu gemacht, dachte er.)

»Der Kurator hielt sich auch sehr zurück, nicht?«

»Danke für den Hinweis!« Forster diktierte: »Wie erheblich die von der Revision gerügten Verfahrensmängel sein müssen, geht schließlich daraus hervor, daß selbst der Herr Kurator, der zu dem Kläger prozessual doch eine kontradiktorische Stellung einnehmen muß, im Bewußtsein seiner Verpflichtung, an der Wahrheitsfindung mitzuwirken … äh … sich den vom Klagevertreter gestellten Beweisanträgen stets angeschlossen hat …«

Valerie sagte sehr leise: »In Ihrem Beruf kann man aber einfach auch alles machen!«

»Alles?« sagte Forster. »Leider nein. Aber doch eine ganze Menge … Käme Ad zwei: Unrichtige rechtliche Beurteilung … Der Irrtum des Herrn Erstrichters liegt darin, daß er den Charakter des vorliegenden Rechtsstreites verkennt oder ihm nicht Rechnung trägt. Wenn auch in das Gewand eines Zivilprozesses mit weitestem Spielraum für den Willen der Parteien gekleidet, ist dieses Verfahren doch unbedingt offizieller Art …«

»Wunderbar!« rief Valerie.

Forster lächelte ihr zu, während er sprach: »In einem normalen Zivilprozeß wird der Richter zweifellos, wenn eine Partei ihr Vorbringen nicht genügend erhärtet hat und auch nicht in der Lage oder willens ist, weitere Beweise zur Präzisierung ihres Standpunktes zu beantragen, mit der Entscheidung zuungunsten dieser Partei vorgehen müssen … In einem Rechtsstreit, in dem die subjektiv aus privaten Interessen verfolgten Belange jedoch auch von eminenter öffentlich-rechtlicher Wichtigkeit sind …«

»Das ist das Beste! Das Allerbeste!« rief Valerie.

»… muß der Richter den Fall von einem anderen Gesichtspunkt betrachten, nämlich von dem der unbedingten Erforschung der objektiven Wahrheit, selbst ohne oder gar gegen etwaige Anträge der Parteien … Augenblick, erschrecken Sie nicht, das muß auch sein … Die Gerichte stehen klägerischen Vorbringen in Prozessen wie diesem begreiflicherweise vorsichtig, ja sogar mit einem gewissen Mißtrauen gegenüber … Dies aus dem Gedankengang, daß es unbedingt gegen das öffentliche Interesse wäre, wenn etwa durch eine zu laxe Beurteilung des Prozeßmaterials Abstammungsbewerbern zu Unrecht eine ihnen nicht gebührende günstigere rassische Einordnung zuerkannt würde …«

»Das ist schon dreimal herumgedreht!« flüsterte Valerie, zwischen Furcht und Optimismus schwankend.

»Ob angesichts des Umstandes«, fuhr Forster unerschütterlich fort, »daß auch der beste Richter Irrtümern unterworfen bleibt, es als ein größeres Übel zu betrachten ist, wenn eine günstigere rassische Entscheidung zu Unrecht erfolgt, oder ob es ein größeres Übel ist, einem tatsächlich reinblütigen Abstammungsbewerber wegen der Beweisschwierigkeiten, auf die er trifft, die Zuerkennung seiner Deutschblütigkeit zu versagen, muß der Erwägung des Reichsgerichtes mit allem Nachdruck anheimgestellt werden …«

57

Erschöpft, mit bleiernen Gliedern wie jeden Abend, stieg Heinz Steinfeld gegen 19 Uhr am 11. September 1944 an der Haltestelle Währingerstraße-Martinstraße aus dem 41er und ging das kurze Stück bis zur Gentzgasse hinüber. Seit einer Stunde war für Wien Voralarm gegeben, die Sirenen hatten geheult, aber die Bomber flogen nicht weiter auf die Stadt zu. Sie kreisten über verschiedenen Punkten.

Der Herbst kam früh in diesem Jahr, es dämmerte schon stark, und ein kühler Wind wehte. Heinz trug ausgebeulte Hosen, eine fleckige Jacke und seine alte Aktentasche, in der er einen Thermos und seine Frühstücksbrote beförderte. Er ging mit den schlurfenden Schritten und vorgeneigten Schultern eines Arbeiters. Als er die Wohnungstür aufsperrte, hörte er aus dem großen Mittelzimmer Stimmen. Er ging weiter, trat ein und sah seine Mutter, die Geschwister Landau und die Agnes. Bei seinem Anblick verstummten sie alle. Und alle sahen ihn an.

Im Radio, einem sogenannten ›Volksempfänger‹, tickte die Uhr des Luftschutzsenders.

»Guten Abend«, sagte Heinz.

Sofort darauf war er von Menschen umringt, die ihn umarmten und an sich drückten. Seine Mutter und die Agnes küßten ihn.

»Mein Bub«, sagte Valerie, »mein Bub …«

»Was ist denn hier los?« Heinz war plötzlich ganz munter. »Ist was aus Leipzig gekommen?«

Seine Mutter hielt ihm ein Blatt Papier hin.

»Ja, Heinz, ja! Der Doktor Burkhardt hat geschrieben.« Dr. Burkhardt war ein Anwalt in Leipzig, den Forster bei Einreichung des Revisionsbegehrens gebeten hatte, ihn zu vertreten. Valeries Stimme klang unsicher, sie machte dauernd kleine Pausen beim Sprechen. Ihre Augen leuchteten. »Und hier!« Sie hielt dem Sohn ein zweites Papier hin. »Vom Reichsgericht.«

»Die Entscheidung?« fragte Heinz.

»Ja!« rief Martin Landau. »Die Entscheidung ist da!«

»Und?«

Tilly Landau sagte: »Du siehst doch – einen Kuchen hat die Agnes gebacken, wir haben zwei Flaschen Wein mitgebracht! Heute müssen wir feiern!«

»Also hat das Reichsgericht …« Heinz stockte.

»Ja«, sagte Valerie mit bebender Stimme. »Das Reichsgericht hat das Wiener Urteil verworfen. Die fünf Richter des Leipziger Senats haben ein neues Urteil gefällt. Danach bist du Arier. Wir haben den Prozeß gewonnen!«

»Heinzi!« rief die Agnes. »Heinzi! Ist das nicht herrlich?«

Der magere Junge mit den Sommersprossen auf der blassen Haut des schmalen, erschöpften Gesichts antwortete nicht. Sein Blick ging plötzlich durch die Menschen vor ihm hindurch, weit, weit fort in die Ferne. Die Uhr des Luftschutzsenders tickte monoton. Ohne jemanden anzusehen, sagte Heinz mit ruhiger Stimme: »Endlich.«

Landau hatte eine Weinflasche entkorkt und Gläser gefüllt. Er reichte sie ringsum.

»Jetzt wollen wir auf den glücklichen Ausgang trinken!« sagte Martin Landau. Valerie betrachtete ihren Sohn ernst. Der war gar nicht richtig anwesend, fand sie. Alle stießen die Gläser gegeneinander und tranken einander zu.

Die Uhren des Luftschutzbefehlsstandes verstummte. Eine Männerstimme meldete sich: »Achtung, Achtung. Die feindlichen Bomberverbände sind aus den Bereichen 23, 24 und 45 ausgeflogen und haben den Großraum Wien verlassen. Sie fliegen mit Nordkurs weiter nach Prag. Für Wien wird Entwarnung gegeben.«

In die letzten Worte hinein heulten schon die Sirenen – einen langgezogenen Dauerton.

Heinz sagte, und jetzt lächelte er: »Lange genug hat es gedauert. Nun wird es sehr schnell gehen.«

»Was, Heinzi?« fragte die Agnes.

»Meine Einberufung«, sagte der Junge. »Gemustert bin ich schon lange. Damals haben sie mich zurückgestellt. Nicht zur Verwendung! Damit ist es vorbei!« Er lachte glücklich. Er sah niemanden an, und deshalb bemerkte er nicht, wie die Erwachsenen ihn anstarrten, erschrocken, entsetzt, von neuer Angst gepackt. Er sagte: »Ich warte aber nicht, bis sie mich holen. Morgen schon melde ich mich freiwillig – zur Waffen-SS!« Ein Glas fiel auf den Boden und zerbrach. Valerie hatte es fallen lassen. Sie sank in einen Sessel, während aus dem Radio eine andere Männerstimme ertönte: »Hier ist der Reichssender Wien. Wir setzen unser Unterhaltungskonzert fort. Sie hören einen bunten Melodienreigen von Paul Lincke, Walter Kollo und Nico Dostal …«

Ein Walzer erklang.

»Wo willst du dich freiwillig melden?« fragte Martin Landau mit krächzender Stimme.

»Bei der Waffen-SS! Ich will in einen Elite-Verband!« sagte Heinz, unvermittelt scharf. »Jetzt geht es um alles bei uns, das ist euch doch klar. Jeder muß sein Äußerstes geben. Die Waffen-SS – das war schon immer mein Traum. Hast du etwas dagegen, Onkel Martin?«

»Ich? Aber wieso? Ich dachte nur …«

»Na also«, sagte Heinz. »Ich danke dir noch einmal für alles, Mami.«

Valerie gab keine Antwort. Sie starrte auf die Scherben des zerbrochenen Glases und den Wein, der in den Teppich sickerte.

»Jesus, Maria und Josef«, stammelte die Agnes und bekreuzigte sich.

58

»Waffen-SS!« sagte Manuel Aranda entsetzt.

Tilly Landau nickte.

»Mit dem Buben war nicht mehr zu reden. Kaum, daß wir ein paar Worte sagten, da fing er schon an zu schreien und zu toben. Nein, nichts zu machen. Wir gingen bald fort, mein Bruder und ich …«

»Wie reagierte Frau Steinfeld?« fragte Manuel.

»Sie hatte große Auseinandersetzungen mit dem Buben in den nächsten Tagen. Streit! Streit! Streit! Das war die Zeit, in der die beiden sich auseinanderlebten, damals begann das Zerwürfnis.« Tilly schlürfte ihre heiße Schokolade. »Er setzte seinen Willen durch. Schon Ende September erhielt er den Gestellungsbefehl. Er verbat sich, daß ihn jemand zur Bahn begleitete – sein Ausbildungslager war irgendwo bei Preßburg. Valerie stand am Rande eines totalen Zusammenbruchs. Sie hatte ganz zum Schluß noch einen Riesenkrach mit dem Sohn gehabt, sie waren im Bösen auseinandergegangen …«

»Und was geschah mit dem Jungen?«

»Nach der Ausbildung schickten sie ihn sofort an die Front. Ungarn.« Manuel fragte leise: »Und verlor er das Leben – noch in diesen letzten Monaten?«

Tilly sah erstaunt auf.

»Das Leben? Nein. Wieso?« Sie zuckte die Schultern. »Natürlich, die Gefahr war sehr groß. Sie können sich nicht vorstellen, wie Valerie damals litt. Heinz schrieb kaum, und zuletzt gingen seine wenigen Briefe auch noch verloren … Nein, nein, er hatte Glück, er kam durch, er entging sogar der Gefangenschaft. Seine Einheit wurde plötzlich nach Oberösterreich verlegt, an Wien vorbei. Und als in Oberösterreich die Amerikaner kamen, tauchte Heinz bei Bauern unter und versteckte sich eine Weile. Im Juni erhielt Valerie Nachricht von ihm. Er wollte nicht mehr nach Hause.«

»Nicht mehr nach Hause?«

»Nein. Er war doch mit der Mutter zerstritten. Wir konnten alle nicht begreifen, was diese Zeit und dieser Prozeß und dieses elende Ariertum im Kopf des Buben angerichtet hatten. Er wollte auch nicht mehr nach Wien, weil hier die Russen saßen, er fürchtete, doch noch gefangengenommen zu werden. So arbeitete er bei den Bauern, und als dann die Kanadier sagten, sie würden Einwanderer aufnehmen, meldete er sich sofort. Er wollte weg aus Österreich, weg aus Europa! Valerie bettelte ihn an, zu bleiben. Damals gab es immer Leute, die unterwegs waren und Briefe mitnahmen. Sie flehte ihn an, wieder gut zu sein. Er antwortete verbittert. Für ihn war eine Welt zusammengebrochen. Er hatte sich doch so sehr mit der deutschen Seite identifiziert, er war – schrecklich, das zu sagen – ein richtiger, fanatischer Nazi geworden, der Heinz. Und da beging Valerie dann den großen Fehler …«

»Fehler?«

»Sie schrieb ihm die Wahrheit. Daß alles Lügen gewesen seien. Daß er in Wahrheit ein Mischling war.«

»Das schrieb sie ihm?«

»Ja, so hat es mir Martin erzählt. Alles, was ich Ihnen jetzt berichte, habe ich von Martin. Er war damals immer mit Valerie zusammen im Geschäft, nicht wahr? Ich sah sie monatelang nicht. Ich mußte doch das Haus in Hietzing hüten. Und krank wurde ich dann auch. Martin, der hat mir erzählt, wie das war …« Tilly löffelte Schlagobers. »Dieser Brief von Valerie löste bei dem Buben erst den richtigen Kurzschluß aus. Denn da schrieb er der Mutter, daß er nichts mehr mit ihr oder einem von uns zu tun haben wollte! Und dann, mit einem der ersten Transporte, emigrierte er tatsächlich nach Kanada. Schrecklich, schrecklich das alles für Valerie. Noch schrecklicher: Ein Jahr später kam Heinz in Quebec bei einem Autounfall ums Leben. Valerie war zu der Zeit überhaupt kein richtiger Mensch mehr. Umsonst, was sie getan hatte, alles umsonst …«

Und immer noch und immer wieder die verschiedenen Versionen über den Verbleib des Jungen, dachte Manuel. Was ist wahr, was ist Lüge? Nora Hill hat Valerie Steinfeld erzählt, Heinz sei nach Los Angeles geflogen, um dort zu studieren. Und ihr Mann hätte in England eine andere Frau geheiratet …

Manuel fragte: »Und Paul Steinfeld? Was geschah mit dem? Wissen Sie das auch?«

»Ja«, sagte Tilly Landau. »Das weiß ich auch …«

59

»Wydalo mi sie, ze swiat – obojetny dotad na moje sprawy – zwrocil …« erklang eine junge Frauenstimme aus dem Lautsprecher des großen ›Minerva 405‹. Ohne Decke über sich und dem Apparat, saß Valerie Steinfeld auf dem Sofa des Teekammerls. Sie hatte BBC ziemlich laut eingestellt. Martin Landau rumorte vorne im Laden, der wegen der Mittagspause noch geschlossen war. Man schrieb den 18. Mai 1945, es war 13 Uhr 20, und in Wien hatte bereits vor mehr als zwei Monaten ein herrlicher Frühling begonnen. Sommerlich warm war es auf den Straßen, zwischen Ruinen und Trümmern blühten Sträucher, Bäume und viele Blumen. Schon der Kampf um Wien war bei solch herrlichem Wetter zu Ende gegangen. In größter Eile hatte man die Toten, Zivilisten, deutsche und russische Soldaten, dazu viele Pferdeleichen, in den Parks vergraben müssen, denn sie verwesten rasch. Valerie war sehr mager, ihr Rücken leicht gekrümmt. »… sie nagle ku mnie«, sprach die junge Frauenstimme, dann wurde sie leiser, und während sie weiter ertönte, erklang jene Männerstimme, die Valerie Steinfeld seit Jahren mit klopfendem Herzen hörte, die Stimme, die Paul zu ihr brachte, ihren einzigen Trost in den schweren und dunklen Jahren, die hinter ihr lagen bis zu der bangen Gegenwart, in der sie ohne Nachricht von Heinz lebte, ohne zu wissen, ob er noch existierte, ob er verwundet, gefangen, getötet worden war.

In dieser Sendung der BBC redeten viele Stimmen in vielen Sprachen. Reporter des Senders waren in Deutschland unterwegs gewesen und hatten zwei Dutzend von den Millionen Flüchtlingen und Zwangsverschleppten interviewt, welche nun über die Landstraßen zogen. Die Aufnahmen waren nach London gebracht und zusammengestellt worden. Valerie lauschte dem Stimmenbabel, denn immer wieder, nach den ersten Worten eines Fremden, ertönte die Stimme ihres Mannes, der, während der Interviewte leise weitersprach, seine Worte übersetzte, wie auch jetzt: »Es war, als hätte die abgekehrte Welt sich umgewandt und würde mich plötzlich ansehen. Das Grün auf den Wiesen war in eine jähe Helle gerückt, als sei es aus einem Hintergrund hervorgekrochen …«

Draußen klopfte jemand lange und laut gegen die verschlossene Eingangstür, Valerie hörte es deutlich. Dann erklang Martins Stimme. Er rief etwas. Das Klopfen ging weiter. Valerie kümmerte es nicht. Sie lauschte der Stimme ihres Mannes: »Die Rinde der Baumstämme begann silbern zu leuchten …«

Im Verkaufsraum ertönte das Glockenspiel. Martin hatte also die Eingangstür geöffnet. Jetzt hörte Valerie ihn und einen Fremden sprechen.

Immer noch lauschte sie der Stimme aus London, die übersetzte, was die junge Polin sagte: »Der Himmel war nicht mehr fern. Er hatte sich in warmer Vertrautheit seiner Erde zugekehrt, belichtete ihre Weiten, beschattete ihre Gründe, folgte dem Flug der Vögel und trat in die Kelche der Blumen ein. Es war die Freiheit …«

Während der letzten Worte hatte Valerie Schritte näherkommen gehört. Nun blickte sie auf. Im Eingang des Teekammerls stand ein sowjetischer Offizier.

Der Russe nahm seine Tellerkappe ab und verbeugte sich. Er war knapp vierzig Jahre alt und hatte ein ernstes Gesicht mit großen, dunklen Augen.

Valerie drehte den Tonregler des Apparates zurück, so daß die Stimme aus London ganz leise wurde, und stand auf.

»Der Herr Major will dich unbedingt sofort sprechen«, erklärte Martin Landau, hinter dem Russen stehend, die linke Schulter hochgezogen, sehr unruhig. »Er sagt, es ist dringend.«

»Ja, es ist dringend.« Der Offizier sprach fließend deutsch mit russischem Akzent. »Ich heiße Mossjakow, Frau Steinfeld. Ich habe in der deutschen Abteilung von Radio Moskau gearbeitet. Jetzt bin ich als Kontrolloffizier bei Radio Wien. Wir bauen das Sendenetz wieder auf. Ich komme gerade aus Salzburg. Dort habe ich mit amerikanischen und englischen Rundfunkoffizieren und ein paar Reportern von BBC gesprochen.«

»Und?« Valeries Gesicht war unbeweglich wie eine Maske.

»Einer der BBC-Leute hieß Gordon White. Kennen Sie ihn?«

»Nein.«

»Aber er kannte Ihren Mann. Er bat mich, Sie aufzusuchen, wenn ich wieder in Wien bin …« Mossjakow trat einen Schritt vor, als wollte er Valerie stützen. »Es tut mir furchtbar leid, Frau Steinfeld, aber ich muß es Ihnen sagen. Sie werden es auch noch offiziell erfahren, sobald die anderen Alliierten nach Wien kommen … Das Rote Kreuz ist völlig überlastet … Bitte, verzeihen Sie mir, wenn ich Ihnen die Nachricht überbringe, ich …«

»Welche Nachricht?« rief Martin Landau.

»Herr Steinfeld ist tot«, sagte der Major Mossjakow.

»Was?« Landau fiel mit dem Rücken gegen ein Regal.

Valerie sah den Russen an, als sähe sie ihn nicht.

»Tot, ja«, sagte Mossjakow.

»Aber wann … aber wie …«, stotterte Landau.

»Er ist schon vor einer Woche gestorben, am elften Mai. Er war leberkrank, sagte mir Gordon White.« Mossjakow sprach jetzt schnell. »Vor einer Woche, ganz plötzlich, brach Herr Steinfeld im Studio zusammen, nach einer Sendung. Sie fuhren ihn ins Krankenhaus, aber es war schon zu spät. Eine Krampfader an der Speiseröhre, hinter dem Herzen, war geplatzt. Die Krampfader ist durch die kranke Leber entstanden. Ihr Mann verblutete innerlich, Frau Steinfeld. Gordon White sagte, ich sollte Ihnen versichern, daß Ihr Mann unter keinen Umständen gelitten hat. Er fand einen ganz leichten Tod …«

»Valerie!« rief Martin Landau. »Valerie!« Er trat auf sie zu, an Mossjakow vorbei. »Beruhige dich, Valerie, ich bitte dich, immerhin, es ist ein entsetzliches Unglück, aber du darfst jetzt nicht …«

»Sei ruhig«, sagte die Frau mit dem blonden Haar und den blauen Augen zu Landau. Zu Mossjakow sagte sie völlig gefaßt: »Das muß ein Irrtum sein, Herr Major.«

»Ich fürchte, es ist kein Irrtum, Frau Steinfeld.«

»Aber ja doch!« Valerie drehte den Tonregler des Radioapparates auf laut. Eine verdeckte jugoslawische Männerstimme und darüber, tönend, die übersetzende deutsche Männerstimme erklangen: »… ich habe das Grauen überlebt. Ich bin auf dem Weg nach Serajewo. Wenn Gott auch ihnen geholfen hat, wie er mir half, dann sind meine Frau und mein Sohn gesund und wohlauf, und ich werde sie wiedersehen, und wir werden alle wieder zusammensein …«

»Da!« rief Valerie Steinfeld, während die Stimme weiter übersetzte. »Da! Wie kann mein Mann tot sein, wenn er gerade spricht! Das ist BBC, Herr Major! Ich habe den Krieg hindurch BBC gehört! Mein Mann war doch schon früher Radiosprecher! Ich kenne seine Stimme – die Stimme, die Sie jetzt hören!«

Der Russe hatte sich auf die Lippe gebissen. Nun sagte er: »Das sind diese Interviews mit Displaced Persons, nicht wahr?«

»Ja.« Valerie nickte. »Warum?«

»Die werden lange vor der Sendung hergestellt, Frau Steinfeld. Bedenken Sie, die einzelnen Interviews haben schon vor vielen Tagen stattgefunden, vielleicht vor zwei Wochen. Den Text zu dieser Sendung müßte Ihr Mann auch schon vor Tagen gesprochen haben … knapp vor seinem Tode …«

Danach schwieg Valerie, während Martin Landau stöhnend auf den Schaukelstuhl sank und eine Hand gegen sein Herz preßte.

Die Männerstimme aus dem Radio erklang: »… und wir werden ein neues Leben zusammen beginnen, ein schönes Leben in Frieden und ohne Bedrohung und Not …«

»Diese Sendungen werden vorher zusammengestellt?« fragte Valerie und sah den Russen starr an.

»Ja, Frau Steinfeld. Das sage ich doch. Auf Platten. Wir machen das genauso. Und Gordon White hat es mir erzählt, als wir über unsere verschiedenen Arten von Rundfunkpropaganda redeten. Glauben Sie es doch, bitte. Was Sie da hören, ist eine Aufnahme, die vor Tagen gemacht wurde, und wenn das die Stimme Ihres Mannes ist, dann wurde sie mindestens schon vor einer Woche gemacht.«

»Aber die anderen Sendungen, die ich gehört habe in den letzten Tagen … auch mit seiner Stimme …«

»Verlas er Nachrichten?«

»Nein, das nicht. Kommentare und … und solche Geschichten …«

»Nun, sehen Sie.«

»Das waren alles Platten?«

»Alles Platten!« Wer weiß, was für eine Stimme diese Frau für die ihres Mannes hält, dachte der Russe beklommen.

»Herr Major«, sagte Valerie Steinfeld, »ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«

»Das war doch selbstverständlich, Frau Steinfeld. Wenn sie mich brauchen … Wenn ich etwas für Sie tun kann … Mein Büro ist in der Argentinier Straße, im Rundfunkhaus.«

»Sehr freundlich«, sagte Valerie. »Warten Sie, ich führe Sie nach vorne. Die Tür ist verschlossen. Wir haben noch Mittagspause …«

Damit ging sie sehr aufrecht vor dem Major her durch den schmalen Gang in den Verkaufsraum und sperrte die Glastür auf. Der Russe drückte ihre Hand, verneigte sich und verließ die Buchhandlung. Valerie drehte den Schlüssel der Tür wieder.

»Um Gottes willen! Das ist ja furchtbar! Ganz furchtbar! Du mußt dich hinlegen … Du siehst ja aus wie der Tod … Komm schnell …« Martin Landau war ihr nachgeeilt.

Sie standen jetzt voreinander, neben dem alten Baribal-Bären beim Eingang.

»Ich muß mich nicht hinlegen. Mir geht es ganz gut«, sagte Valerie mit einer Stimme, die seltsam kindlich klang. »Also Paul ist tot. Und das war eine Platte, die ich da gehört …« Sie sprach den Satz nicht zu Ende. Lautlos glitt sie auf den alten Dielenboden und bewegte sich nicht mehr. Sie hatte das Bewußtsein verloren.

60

»Kollaps«, sagte Ottilie Landau. »Sie hatte einen Kollaps erlitten. Martin rannte, um einen Arzt zu holen. Der kam zum Glück sofort und gab ihr eine Spritze. Danach fand Valerie das Bewußtsein wieder. Der Arzt bestand darauf, daß sie auf dem Sofa im Teekammerl liegen blieb. Bis zum Abend hatte er einen Krankenwagen organisiert – damals ein fast unlösbares Problem! In ihm fuhr Valerie heim. Sie mußte eine Woche im Bett bleiben, der Arzt besuchte sie täglich, Martin auch, ich auch. Die Agnes sorgte für sie. Valerie sprach fast nicht in dieser Woche, mit niemandem. Dann, acht Tage später, stand sie wieder im Geschäft.«

»So sehr hatte sie sich in der Gewalt?«

»So sehr, ja. Sie können sich die Kraft nicht vorstellen, die diese Frau besaß«, sagte Tilly Landau. Im Lokal flammten die kleinen, rotbeschirmten Lämpchen auf allen Tischen und die indirekte Deckenbeleuchtung auf. Es war sehr dämmrig geworden. »Eines tat Valerie nie mehr.«

»Was?«

»Sie hörte nie mehr London. Sie schenkte Martin den Apparat. Nun, Sie kennen ja Martin auch ein wenig, nicht wahr? Er wollte das Radio nicht fortgeben. Deshalb steht es immer noch im Teekammerl …« Tilly Landau hob die Schultern. »Wir haben uns sehr um Valerie gekümmert damals. Aber sie blieb verschlossen – für alle Zeit. Kaum daß sie in den vielen Jahren danach noch einmal mit uns über ihren Mann sprach. Im Sommer 1946 brachten englische Offiziere den Totenschein. Die BBC hatte Paul Steinfeld ein Grab gekauft und ihn bestatten lassen. Sie hatte auch die Instandhaltung des Grabes übernommen. Es wird auf ihre Kosten gepflegt – bis heute.«

»Frau Steinfeld ist niemals nach London gereist, um es zu besuchen?«

»Nein, niemals. Herr Aranda. Sie war … eine ganz außergewöhnliche Frau … Und mit den Jahren, mit den vielen Jahren, in denen sie, wie wir alle, älter wurde, kam eine immer größere Verschlossenheit hinzu. Sogar gegen uns, ihre alten Freunde, sogar gegen die Agnes. Nur Irene Waldegg war sie herzlich zugetan.«

Tilly Landau zuckte die Achseln. »Es wußte schon lange niemand mehr, was wirklich in ihr vorging … was sie dachte … Sie muß ein richtiges zweites Leben geführt haben!«

»Ein zweites Leben?«

»Wie erklären Sie sich sonst das, was sie zuletzt getan hat? Wir können es uns nicht erklären! Darum haben wir ja solche Angst! Und darum wollte ich unter allen Umständen verhindern, daß wir in diese Sache verwickelt werden.«

»Ich verstehe«, sagte Manuel Aranda.

61

Der Lichtkreis einer starken Taschenlampe wanderte langsam über die uralte dunkle Mauer und die unzähligen Jahreszahlen, Initialen und Symbole, die in den harten Stein geritzt waren.

»Hör doch auf«, sagte Irene Waldegg. »Du findest es nie!«

»Ich finde es«, sagte Manuel Aranda, der die Taschenlampe hielt. »Warte nur noch eine kleine Weile.«

Irene und Manuel standen in dem Arkadengang der Minoritenkirche. Kein Mensch außer ihnen war zu erblicken um diese Zeit – halb elf Uhr abends. Es schneite noch immer, doch die Flocken fanden nur selten ihren Weg in die enge Passage. Der Lichtkegel der Taschenlampe glitt weiter über die Wand …

Irene hatte mit Manuel im ›Ritz‹ zu Abend gegessen, danach waren sie noch in die Bar gegangen. Bei ihrem Eintritt hatten die alten Herren des kleinen Orchesters sich verneigt, und der Pianist hatte, langsam und sentimental, ›ihr‹ Lied zu spielen begonnen.

Während des Essens hatte Manuel Irene alles erzählt, was er gehört hatte. Es war sehr viel gewesen an diesem Tag. Manuel fühlte sich müde und mutlos, Forsters plötzlicher Tod machte ihn traurig.

Nun, in der Bar, sagte er: »Mehr und mehr erfahren wir. Und weniger und weniger wissen wir wirklich, was geschehen ist. Ich glaube dabei nicht einmal, daß mich die Menschen, mit denen ich sprach, belogen haben. Sie wissen eben alle auch nur soundsoviel. Das Geheimnis ist geblieben. Warum hat Valerie Steinfeld meinen Vater getötet und danach sich selber?«

›… daß unser beider Denken niemand erraten kann‹, spielte, mit Verneigungen, der alte Herr am Flügel, draußen in der Halle.

Manuel nickte ihm zu.

»Und dann dieser Heinz!«

»Was ist mit ihm?« fragte Irene.

»Ich begreife nicht. Waffen-SS! Im Herbst 1944! Als wirklich schon alles verloren war. Der Junge muß schwachsinnig gewesen sein. Es ist nicht zu fassen!«

»Ich kann mich in Heinz hineindenken«, sagte Irene.

Ja, dachte Manuel, du kannst es, du, seine Schwester …

Dann waren sie über den tiefverschneiten Ring gefahren. Manuel wollte Irene heimbringen. Nahe dem Burgtheater hatte er plötzlich gesagt: »Diese Kirche, bei der Bianca und Heinz sich trafen, die muß doch irgendwo hier sein.«

»Ja. Rechts.« Er war nach rechts eingebogen.

»Zeig mir den Weg«, hatte er gesagt. »Ich will sehen, ob ich das Herz finde, das Heinz damals in die Mauer geritzt hat.«

»Was für ein Unsinn!«

»Bitte, sage mir, wie ich fahren muß. Ich habe eine Taschenlampe im Handschuhfach.«

»Na schön …« Sie hatte lächelnd nachgegeben.

Nun standen sie schon eine Viertelstunde in dem engen Durchlaß, und Manuel suchte, suchte eifrig.

»Komm endlich«, sagte Irene. »Ich beginne zu frieren …«

»Da!« rief Manuel. »Da ist es!«

Im Licht der Taschenlampe war, verwittert und teilweise abgebröckelt, ein eingeritztes Herz zu erkennen. In ihm erblickten Manuel und Irene die Buchstaben B. H. und H. S., darunter die Jahreszahl 1941, danach einen waagrechten Pfeil, der auf eine liegende 8 deutete, das mathematische Zeichen für ›Unendlich‹. 1941 hatten Bianca und Heinz sich kennengelernt. Und sie hatten sich lieben wollen – in die Unendlichkeit.

»Du hast es gefunden!« Irene starrte das Herz an.

»Im Dezember 1943 haben die beiden hier gestanden«, sagte Manuel.

»Genau hier, wo wir jetzt stehen. Deshalb wollte ich herkommen – mit dir.«

»Weshalb?«

Er wurde unsicher.

»Nun, ich dachte … Ich stellte mir vor … Ach, ich bin ein Idiot …«

Irene nahm behutsam die Taschenlampe aus seiner Hand und knipste sie aus. In der Dunkelheit trat sie auf ihn zu, ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Lippen trafen die seinen. Er hielt sie fest. Der Kuß dauerte lange. In einer unwirklichen Stille standen die beiden, eng aneinandergepreßt, reglos. Er löste seine Lippen von den ihren und flüsterte: »Darf ich zu dir kommen?«

Er fühlte plötzlich, wie ihr Körper erstarrte.

»Nein«, sagte Irene, »bitte nicht, Manuel.«

»Verzeihung«, murmelte er.

Sie sagte, seine Wange streichelnd. »Sei nicht traurig. Ich … ich möchte es so gerne wie du …«

»Nun, was ist es dann?«

»Alles«, sagte sie, sein Gesicht in beide Hände nehmend. »Alles. Das Schreckliche, das geschehen ist. Das Unheimliche, das uns immer noch verfolgt. Ich habe keine Ruhe, Manuel, noch finde ich keine Ruhe. Bitte, habe Geduld. Ich habe dich so gern … Es … es soll erst geschehen, wenn all das vorüber ist, wenn wir die Lösung kennen, den Sinn, wenn es kein Geheimnis mehr gibt. Verstehst du das nicht?«

»Doch.« Er küßte ihre Hände. »Ich verstehe es sehr gut. Und ich will warten – so lange es auch noch dauern mag. Komm jetzt, ich bringe dich heim …«

Hand in Hand verließen sie den Arkadengang, Treffpunkt ungezählter Liebender im Laufe der Jahrhunderte, der finster, verlassen und einsam zurückblieb.

62

Die Hausmeisterin des Gebäudes Kohlmarkt 11 wohnte im Erdgeschoß des Nebengebäudes. Sie war für zwei Häuser zuständig. Am Montag, dem 27. Januar 1969, pünktlich um 21 Uhr, schaltete sie die Flurbeleuchtung beider Gebäude um, so daß die Lampen in den Gängen und Stockwerken nun nicht mehr ständig brannten, sondern nur jeweils sechzig Sekunden, wenn jemand auf einen Lichtschalter drückte. Danach verschloß die Hausmeisterin das alte, grüne Eingangstor von Nummer 11 und ging schnell durch das Schneetreiben in das Nachbarhaus zurück, dessen Eingang sie gleichfalls absperrte. Die ältere Frau begab sich bald zu Bett. Zehn Minuten nach 21 Uhr standen zwei Männer vor der Eingangstür zur Kanzlei der Rechtsanwälte Dr. Rudolf Stein und Dr. Heinrich Weber. Sie trugen Filzpantoffel. Ihre Schuhe steckten in den Manteltaschen. Es waren Jean Mercier und der große, schlanke Anton Sirus, das legendäre Vorbild aller Schränker Europas. Der Mann mit dem mächtigen Kopf, den scharfen Augen des Chirurgen, den schönen, kraftvollen Händen des Operateurs, dieser leidenschaftliche Liebhaber und Sammler französischer Impressionisten, hatte die letzten beiden Stunden neben Mercier auf dem zugigen, eiskalten Dachboden des Hauses gewartet, in dem nur Büros untergebracht waren. Das Schloß der Tür zum Dachboden hatte der ›Professor‹ mit zwei Handbewegungen geöffnet. Der Mann aus Bremen war mit der Mittagsmaschine gelandet und hatte den Nachmittag in einem Hinterzimmer des Reisebüros ›Bon Voyage‹ verbracht. Getrennt waren sie dann hierhergekommen. Bei der bevorstehenden Unternehmung mußte Mercier dabei sein, denn nur er konnte feststellen, was in dem großen Tresor des Dr. Stein für ihn und seine Auftraggeber von Wert war.

Zitternd vor Kälte hielt er eine Taschenlampe, deren Lichtkreis auf das Yale-Schloß der Kanzleitür gerichtet war. Der ›Professor‹ arbeitete mit zwei Drähten, die Mercier an jene erinnerten, welche man durch Rouladen steckt. Die Drähte hatten allerdings an ihren vorderen Enden spitze Zacken und Verformungen. Sirus schien ein Mann ohne Nerven zu sein. Neben sich, auf dem Boden, hatte er eine große Koffertasche gestellt, wie sie früher von Ärzten benutzt wurde. Nach sechs Minuten schnappte das Yale-Schloß auf. Für das Türschloß brauchte der Professor vier Minuten. Sie traten in die dunkle Kanzlei ein.

Anton Sirus schloß die Tür und versperrte die Schlösser wieder. Er versicherte sich, daß die Vorhänge in sämtlichen Büros ordentlich geschlossen waren – lautlos huschte er von Zimmer zu Zimmer –, dann erklomm er im Sekretariat einen Stuhl und öffnete ein schwarzes Kästchen, das hinter einem Aktenschrank verborgen war. Der Professor hatte es trotzdem sofort gefunden. Mit wenigen Handgriffen schaltete er eine Alarmanlage aus. Nun ging er neben Mercier in das Büro Dr. Steins, wo er die starke Schreibtischlampe anknipste und so drehte, daß ihr Licht die matt glänzende Riesenwand des Tresors traf.

Die Männer zogen ihre Mäntel aus, Sirus auch seine Jacke. In dem Büro war es sehr warm. Mercier setzte sich auf einen Sessel vor dem Schreibtisch. Er trug, wie Sirus, Handschuhe aus schwarzem Trauerflor. Der Professor hatte ihm ein Paar mitgebracht.

»So gibt es keine Fingerabdrücke. Ich verwende nur Trauerflor, niemals Gummi. Man hat bei Gummi nicht das nötige Gefühl in den Fingern.«

Mercier sah schweigend zu, wie der große Mann nun seine Koffertasche öffnete. Zuoberst lag ein blütenweißer Chirurgenmantel, den der Professor schnell über den Kopf streifte. Zwei Gürtelschnüre band er im Rücken zusammen. Er reichte Mercier einige Gazetücher.

»Sie werden mir von Zeit zu Zeit die Stirn abtupfen müssen.«

Mercier nickte nur. Er erinnerte sich, daß der Professor darum gebeten hatte, nicht unnötig angesprochen zu werden. Der Franzose, der das Haus seit Tagen beobachten ließ, wußte, daß es hier keine Männer der Wach- und Schließgesellschaft gab. Die Fenster von Steins Büro gingen zum Kohlmarkt hinaus …

Nun holte der Professor ein Stethoskop aus der großen Tasche und hängte es sich um den Hals. Danach breitete er auf dem Schreibtisch ein Tuch aus und legte auf dieses mindestens drei Dutzend seltsam geformte, dünne und lange Stahlwerkzeuge. Das Ganze sah aus wie ein chirurgisches Besteck. Der Professor nahm eine kleine weiße Kappe und setzte sie auf.

»Hält den Schweiß der Kopfhaut zurück«, sagte Sirus. Er trat nun vor, betrachtete den Tresor brütend wie einen Kranken auf dem Operationstisch, wandte sich noch einmal um und nahm einen großen Notizblock und einen Bleistift aus der Tasche.

Die Aufgabe, vor der Anton Sirus stand, war gewaltig – Mercier hatte eine kurze Erklärung des Professors erhalten, während sie auf dem eisigen Dachboden warteten, er wußte ungefähr Bescheid.

Die Tresorwand wies etwa in Brusthöhe ein verchromtes Steuerrad auf. Über diesem befand sich, in Schulterhöhe, ein konischer Knopf von knapp zehn Zentimetern Durchmesser, der etwa ebenso hoch und an der Seitenwand mit Rillen überzogen war. Rund um diesen abgeschnittenen Kegel war an der Tresorwand ein Dreiviertelkreis aus Silber angebracht. Das Viertel links oben fehlte. In das silberne Band waren Zahlen eingraviert. Die erste Zahl lautete 00. Dann folgten neun eingeritzte Striche und danach die Zahl 10. Das ging so weiter rund um den Konus bis zu der Zahl 90. Sie befand sich am Ende des Dreiviertelkreises. Der Konus besaß einen aufgemalten kurzen schwarzen Strich. Er befand sich ganz oben am Rande des Knopfes.

»Nullnull, zehn, zwanzig, dreißig und so weiter sind die Einrastpunkte für die Zahlen null, eins, zwei, drei und so weiter«, hatte der Professor erklärt. »Der Konus läßt sich nach rechts und nach links drehen, normal und um etwa fünf Millimeter herausgezogen. Die siebenstellige Kombination ist nun in unregelmäßiger Folge zusammengesetzt aus Zahlen, die man durch Rechtsdrehen, Linksdrehen, normales Drehen oder gezogenes Drehen des Konus einrasten lassen muß. Kommt man dabei nur einen einzigen Strich über die Zahlenmarke hinaus, dann sperrt sich augenblicklich das Gesamtsystem, und alle Arbeit war umsonst.«

»Was macht man dann?« hatte Mercier gefragt.

»Dann muß man die Sperre wieder lösen.«

»Wie?«

»Indem man alle Bewegungen nach rechts und nach links, normal oder gezogen, die man ausgeführt hat, umgekehrt vornimmt, bis das Schloß im Leerlauf steht.«

»Das bedeutet, man muß sich jede einzelne Drehung genau merken!«

»Darum ist es nötig, sich dauernd Notizen zu machen. Harmlos, wenn man gleich zu Beginn einen Fehler begeht. Aber bei der sechsten oder der siebenten Zahl bedeutet das schon arges Pech.«

»O Gott.«

»Sagen Sie noch nicht zu früh o Gott! Das ist erst der Anfang. Hat man tatsächlich endlich die ganze siebenstellige Kombination, dann öffnen sich nur die kleinen Türchen an der Tresorwand, sie lassen sich beiseiteschwenken …«

Je ein solches Türchen aus Stahl, einen Zentimeter hoch, drei Zentimeter breit und acht Zentimeter lang, befand sich über dem Konus und unter dem chromblitzenden Steuerrad.

»Hinter diesen Türchen erblicken wir dann zweimal zwei Öffnungen, die in den Tresor hineinführen. In je einer Öffnung steckt ein Arretierschlüssel – zwanzig Zentimeter lang etwa. Diese Arretierschlüssel lassen sich, wenn die Kombination eingestellt ist, herausziehen. Nun muß man den Tresor oben und unten aber auch noch aufsperren, die beiden Schlösser oben und unten öffnen.«

»Wie?«

»Das werden Sie schon sehen«, hatte der Professor gesagt. »Sind auch sie entsichert, dann erst kann man das Steuerrad bewegen! Durch eine Drehung heben sich armdicke Stahlbolzen, die in der Decke, in der Seite und im Boden der Tresorwand stecken, aus ihren Vertiefungen und gleiten in die Panzerplatte zurück. Danach zieht man an dem Steuerrad, und der Tresor öffnet sich.«

»Und Sie glauben … Ich meine … Das trauen Sie sich wirklich zu?«

Anton Sirus hatte Mercier nur stumm angesehen ..

Nun steckte er sich die geschwungenen Bügel des Stethoskops in beide Ohren und preßte den Gummipfropf am Ende des langen roten Schlauches dicht neben den Konus und den Zahlenkreis. Er sagte dabei: »Von jetzt an muß ich um absolute Ruhe bitten.«

Mercier saß reglos. Er wagte kaum zu atmen.

Durch das Stethoskop, dachte er, hört der Professor nun, viele Male verstärkt, wie ein Arzt, der das Herz oder die Lunge eines Patienten untersucht, alle Geräusche in der Tresorwand, besonders bei dem Kombinationsschloß. Dem Einrasten gehen gewiß solche Geräusche voraus. Sirus kennt die Bedeutung jedes einzelnen. Er weiß, wann er auf dem rechten Weg ist, wann Gefahr droht, wann er weiterdrehen kann, wann er schnellstens zurückdrehen muß. Mercier starrte zu dem Professor hinüber.

Dessen edle, schlanke Finger hatten begonnen, den Konus zu bewegen, Millimeter um Millimeter gezogen, normal, stockend, pausierend, vor und zurück, je nach den Geräuschen zweifellos, die er über das Stethoskop empfing, Mercier fühlte, wie seine Hände feucht wurden. Der Professor arbeitete methodisch. Er hatte zuerst den Konus nach rechts gedreht, also zur 10 und endlich bis zur 20. Nun drehte er nach links, zur 90 und zur 80. Immer wieder zögerte er, immer wieder korrigierte er. Um Bruchteile von Millimetern bewegte der Konus sich unter seinen Fingern.

Ich hoffe, ich halte das durch, dachte Mercier.

Der Professor arbeitete ohne Anzeichen von Nervosität. Nach 26 Minuten drehte er sich plötzlich um und nahm die Bügel des Stethoskops aus den Ohren.

»Eingerastet«, sagte er gleichmütig.

»Die erste Zahl?« Mercier sprang auf.

»Nicht so laut! Es ist erst die erste Zahl, ja. Die 8.«

»Eine von sieben Zahlen haben wir schon!« Mercier war plötzlich außer sich. »Mit etwas Glück …«

Der Professor hob eine Hand. Die Knöchel der anderen klopften auf den Schreibtisch.

»Sagen Sie dieses Wort nie wieder«, sprach er streng.

»Verzeihung«, stammelte Mercier.

»Die erste Zahl findet jeder Idiot.« Der Professor hob die Brauen über den klaren Augen des scharfgeschnittenen Gesichts. »Wissen Sie, was die erste Zahl ist?«

»Was?«

»Der Eingang in das Labyrinth, sonst nichts.« Sirus nickte versonnen. »Nun sind wir im Irrgarten.« Er trat an den Schreibtisch, und in einer eigenen Kurzschrift hielt er auf dem Block fest, mit welchen Bewegungen des Konus er zu der ersten richtigen Zahl gekommen war. Danach wandte er sich wieder dem Tresor zu. Seine Finger ergriffen neuerdings den Einstellknopf und begannen ihn zu bewegen, Millimeter um Millimeter …

63

Daniel Steinfeld sagte: »Ich sah Valerie zum letztenmal im Juli 1948. Da war ich in Wien bei einem internationalen Treffen ehemaliger Widerstandskämpfer. Ich habe ein paar Tage hier gelebt.« Der Neunundsechzigjährige sah sich in dem großen Zimmer um, in dem er mit Irene und Manuel saß. Daniel Steinfeld machte einen erschreckenden Eindruck. Sein Anzug hing schlotternd an der großen Gestalt. Gelblich spannte sich die Haut über die Knochen des hageren Gesichtes mit den blutleeren Lippen und den eingefallenen Wangen. Gelblich waren auch die müden Augen und die Haut des kahlen, mit braunen Pigmentflecken übersäten Kopfes. Gelblich waren die knochigen Finger. Daniel Steinfeld sprach immer noch mit einem Wiener Akzent. Der ›Chopin-Expreß‹, der ihn nach Wien gebracht hatte, war mit vielstündiger Verspätung erst um 15 Uhr 45 auf dem Ostbahnhof eingetroffen.

»Was ist mit Valerie?« hatte der alte Mann sofort nach der Begrüßung gefragt.

Sie hatten es ihm erzählt, in Manuels Wagen, auf der Fahrt vom Bahnhof in die Gentzgasse. Schweigend hörte Daniel Steinfeld alles an, die Augen geschlossen, so daß man glauben konnte, er sei vor Erschöpfung eingeschlafen. Doch er schlief nicht. Ohne die Augen zu öffnen, stellte er von Zeit zu Zeit Fragen, wenn er nicht gleich die Funktion von Personen oder gewisse Zusammenhänge verstand, nickte dann und lauschte weiter. Er zeigte weder Entsetzen noch Abscheu oder Furcht. Als Irene die letzten Worte ihres Berichtes gesprochen hatte, murmelte er, in die Ecke des Fonds gerückt, die Hände in den Taschen, den Hut tief in der Stirn, frierend und leise: »Gott hat gegeben, Gott hat genommen.«

Sie luden Steinfelds Gepäck – zwei Koffer – aus und fuhren mit dem alten Mann in dem Aufzug, der ruckte, ächzte und wackelte, zur Wohnung hinauf. Heinz’ Zimmer war für ihn hergerichtet worden. Steinfeld sagte, er sei etwas müde und würde gerne ein wenig schlafen.

Er schlief bis halb neun Uhr abends, tief und fest. Manuel und Irene, die heute nicht in die Apotheke gegangen war, saßen in dem großen Zimmer, sprachen leise miteinander und warteten geduldig, bis Steinfeld, entschuldigend lächelnd, wieder auftauchte.

»Ich war doch viel müder, als ich gedacht habe …«

Sie aßen im Speisezimmer – Steinfeld erhielt eine Diätmahlzeit, die Irene entsprechend schriftlichen Anweisungen eines polnischen Arztes zubereitet hatte. Nach dem Abendbrot kehrten sie in das Wohnzimmer zurück. Hier tranken sie Tee. Tee durfte Steinfeld trinken, es war seine ganze Freude. Und während er, die Tasse haltend, von Zeit zu Zeit einen Schluck schlürfend, zusammengekauert dasaß, das Gespenst eines Mannes, der, dies zeigte sein Anzug, einst stark und kräftig gewesen war, hatte er zu erzählen begonnen …

»… 1948, ja, im Juli … Schlecht hat sie ausgesehen, die Valerie, elend schlecht. Wie eine alte Frau. Und sie war doch noch gar nicht alt! Einmal war sie ein schönes Mädchen gewesen! Aber nun lebte sie tief versunken in ihren Schmerz. Alles hat sie mir erzählt, damals … daß der Paul gestorben ist in London, ganz knapp vor Kriegsende noch, an inneren Blutungen … Es war auch für mich ein großer Schock, obwohl wir uns nicht gut verstanden haben, der Paul und ich …«

»Warum eigentlich nicht, Onkel Daniel?«

»Nenn mich Daniel, Irene, bitte.«

»Gerne …«

»Ja, warum nicht? Wir haben uns nie verstanden, schon als Kinder nicht. Immer haben wir uns geprügelt und gestritten. Über Lächerlichkeiten. Unsere Eltern waren sehr unglücklich. Aber sie konnten auch nichts machen. Paul war der Ältere. Ich habe fest geglaubt, daß meine Eltern ihn mehr liebten als mich … Unsinn natürlich, aber ich habe es geglaubt …«

Der alte Mann, der entschlossen war, noch auszuziehen in das ferne Land seiner Ahnen, hob die Hände. »Und dann die Mädchen …« Steinfeld lächelte. »Eine, die liebte ich ungeheuerlich! Sie lernte Paul kennen und verliebte sich in ihn, und er nahm sie mir weg … So lief das immer weiter … Er hatte schon Erfolg in seinem Beruf, da quälte ich mich noch mit Prüfungen herum … Mir ging erst ganz spät der Knopf auf … Und ich war neidisch und ungeduldig, ja, ich glaube, ich bin schuld an dieser schlechten Bruderbeziehung …« Steinfeld trank, er sagte: »Ich war auch sehr unreif und konnte Rückschläge nicht ertragen … Es hat lange gedauert, bis ich gelernt habe: Wer sein Leben will, der braucht dazu ein Herz, das dem Leiden gewachsen ist. Ein Mensch muß wissen, daß die Zeiten bald gut und bald schlecht sind. Und der Mensch allein ist achtenswert, der für das Gute dankbar ist und das Böse zu ertragen versteht …«

Wieder trank Steinfeld. »Wunderbarer Tee«, sagte er. »Als dann unsere Eltern starben, 1919 und 1920, knapp hintereinander, da kamen wir ganz auseinander, der Paul und ich. Wenn es je Momente gab, in denen wir uns wie Brüder benahmen, dann hat diese Momente immer Valerie herbeigeführt, unser guter Engel … Jetzt ist auch sie tot … 1948 saß sie hier mit mir – so lange ist das schon her! Sie hatte wohl ihre schlimmste Zeit. Denn da war ja auch noch ihr Bub, der Heinz … Im Dezember 1945 hat sie alles über ihn erfahren … von einem anderen Jungen … Ich weiß nicht mehr, wie er hieß …«

64

Er hieß Erwin Traun, und er war ein Jahr älter als Heinz Steinfeld, und sie waren Freunde geworden in der Waffen-SS. Sie gehörten zum gleichen Zug der gleichen Kompanie, sie stammten beide aus Wien, und Heinz bewunderte den starken und großen Erwin. Erwin bewunderte an Heinz dessen Intelligenz und Tapferkeit, die schon an Tollkühnheit grenzte. Der 15. März 1945 war ein warmer, schöner Tag mit Sonnenschein und blauem Himmel. Auf den Wiesen wuchs neues Gras, der Schnee war fortgeschmolzen. An eine in größter Eile westlich der Donau angelegte Verteidigungslinie mit Gräben, Panzersperren, Stacheldrahtverhauen und Mienenfeldern waren starke Einheiten verschiedener SS-Divisionen geworfen worden, denn die Sowjets standen nun, nach der Einnahme von Budapest im Februar, unmittelbar vor dem Angriff auf Wien. Riesige Mengen von Menschen zogen sie in ihren Bereitschaftsräumen zusammen, um beiderseits der Donau vorzustoßen.

Am Vormittag dieses 15. März war es in dem Abschnitt, in dem die Kompanie lag, zu der Erwin Traun und Heinz Steinfeld gehörten, völlig still. Kein Schlachtflieger dröhnte über den Himmel, nicht ein Schuß fiel, die Artillerie schwieg. Es war, jeder wußte das, die Ruhe vor dem Sturm. In einem hastig ausgehobenen Graben hockten Erwin und Heinz hinter einem schweren Maschinengewehr und beobachteten unausgesetzt das andere Ufer der schmalen Raab, die hier, nahe der Stadt Györ, vorüberfloß. Ihr Wasser war klar, an den Ufern sah man helle Kiesel und dunklen, spitzen Schotter. Von der Verteidigungslinie fiel das Gelände flach über Wiesen und Felder zum Fluß ab. Jenseits der Raab gab es dichten Wald. Aus ihm, das war klar, würden in Kürze die Sowjets zum Angriff heraus antreten.

»Mensch«, sagte Erwin Traun, seinen Stahlhelm aus der Stirn zurückschiebend, »wenn es nun losgeht, dann halten wir den Iwan hier keinen halben Tag auf, das ist dir wohl klar.«

»Wir müssen ihn aufhalten!« Heinz Steinfeld, an dem schweren MG, sprach leidenschaftlich: »Wir bekommen Verstärkungen.«

»Verstärkungen, mein Arsch«, sagte Erwin. »Woher denn?«

»Von Norden. Eine ganze Armeegruppe. Armeegruppe Donau!«

»Heinz! Im Norden steht der Iwan schon an der Donau! Da kommt kein Schwein mehr durch! Deine Armeegruppe Donau, die gibt’s nicht!«

»Es gibt sie! Der Alte hat es gesagt, gestern abend. Und der Alte lügt nicht! Sie haben die Russen zurückgeschlagen im Norden. Wenn die erst hier sind, dann wird vielleicht was losgehen! Warum, glaubst du, wartet der Iwan ab? Warum bleibt er in den Wäldern drüben und kommt nicht über den Fluß?«

»Scheißhausparolen«, schimpfte Erwin. »Wo soll die denn abgezogen worden sein, die Armeegruppe Donau, kannst du mir das sagen? Gibt’s überhaupt noch eine heile, eine ganze Armeegruppe? Wir sind verraten und verkauft hier unten! Wir werden den Arsch so vollkriegen, daß wir Gott danken können, wenn wir nicht alle verrecken!«

»Halt sofort deine Fresse, du feige Sau!«

Erwin fuhr herum. Erschrocken sah er seinen Freund an.

»Wie redest du denn?« zischte Heinz. »Bist du verrückt geworden? Wir müssen diesen Kampf gewinnen – es wäre sonst das Ende Deutschlands! Das Ende des Abendlands! Aber wir werden siegen – die neuen Wunderwaffen stehen unmittelbar vor dem Einsatz! Wenn wir erst mit ihnen losschlagen, wird die Welt den Atem anhalten! Und da quatscht ein blöder Hund wie du von Arsch vollkriegen! Das ist … das ist …« Heinz wischte sich Speichel vom Mund und murmelte: »Entschuldige, ich hab es nicht so gemeint! Sag doch etwas. Sag, daß du wieder gut bist!« Jetzt war Heinz’ Gesicht ganz kindlich unter dem schweren Stahlhelm. »Erwin, bitte! Ich hab auch was für dich! Schokolade! Du bist doch so verrückt nach Schokolade. Ich habe einen ganzen Riegel … warte, ich gebe ihn dir …«

»Ach, Scheiße. Ist ja schon wieder in Ordnung.«

»Nein, du sollst ihn haben.« Heinz richtete sich auf, um den Brotbeutel zu öffnen, der hinter ihm an einer Wurzel hing. Sein Kopf tauchte dabei über den Grabenrand. Im nächsten Moment hörte man den Abschuß einer ›Ratschbumm‹.

Erwin Traun warf sich auf den Boden, das Gesicht in die feuchte Erde gepreßt. Die Granate, jenseits der Raab abgefeuert, explodierte Sekundenbruchteile später direkt über ihnen. Erwin hörte das Krachen und Schwirren der Splitter. Er preßte sich in den Dreck. Neben sich fühlte er plötzlich den Körper seines Freundes.

»Du dämlicher Hund«, fluchte Erwin. »Was mußt du deine Nase auch in die Luft stecken! Na, ist ja noch mal gutgegangen.« Er richtete sich etwas auf und schrie unterdrückt: »Heinz!«

Heinz Steinfeld lag auf dem Rücken, die Augen weit aufgerissen, die Zähne entblößt. Bei jedem Atemzug quoll ein Schwall Blut aus seinem Mund. Blut sickerte auch aus der zerfetzten Uniformbluse über der linken Brustseite, mehr, mehr, entsetzlich viel Blut, der Grabenboden wurde rot, und in dem Blut, das da verströmte, lag ein Stück Schokolade …

»Heinz … Heinz …« Erwin Traun kniete nun neben dem Verwundeten. Er brüllte, so laut er konnte: »Sanitäter! Hierher! Schnell! Beeilt euch, ihr Säcke! Steinfeld hat es erwischt!«

Stimmen aus der Umgebung antworteten.

Erwin neigte sich über Heinz.

»Sie kommen schon, Junge, sie kommen. Gleich sind sie da …«

Mit einem Verbandpäckchen versuchte er das Blut zu stillen, das aus Heinz’ Brust schoß. Der Mull war sofort durchtränkt. Ein großer Splitter mußte Heinz getroffen haben. Sein Atem ging nun plötzlich flacher, langsamer, das Blut quoll hellrot aus seinem Mund. Das Gesicht war weiß.

Erwin Traun legte dem Freund eine Hand auf die Stirn, wischte den Schweiß fort, hörte Heinz etwas sagen, erstickt, unverständlich durch das Blut, das dieser dauernd erbrach.

»Nicht reden … red nicht, Heinz …«

»Deutschland«, gurgelte Heinz Steinfeld plötzlich, deutlich verständlich. Er hob den Kopf und sah seinen Freund aus schon blicklosen Augen an.

»Deutschland wird …«

Der Kopf fiel zurück.

Durch den Graben hörte Erwin Traun Stiefel herantrampeln. Die Sanitäter, dachte er, während Tränen über seine Wangen rollten. Sie kommen zu spät. Er ist tot. Heinz ist tot …

65

»Am nächsten Tag begann der russische Angriff. Ich bin im ersten Durcheinander abgehauen. Habe mich durchgeschlagen bis nach Tirol«, sagte Erwin Traun am 12. Dezember 1945 im Teekammerl der Buchhandlung Landau. »Jetzt habe ich mich wieder nach Wien gewagt … Ich bin seit gestern hier … Heinz hat mir so viel von Ihnen erzählt, Frau Steinfeld … So habe ich gewußt, wo Sie arbeiten …«

Erwin Traun, mager, in einem Monteuranzug, der ihm nicht paßte, hockte frierend auf dem defekten Sofa und sah ängstlich Valerie Steinfeld an, die vor ihm saß. Hinter Valerie stand Martin Landau, der eine Hand an das Herz gepreßt hielt und stammelte: »Entsetzlich … das … das ist ja entsetzlich …«

Erwin Traun war die schmale Frau mit dem hellen Haar und den erloschenen Augen unheimlich. Warum sagte sie nichts? Warum schrie sie nicht? Warum brach sie nicht zusammen? All das hatte er erwartet und befürchtet und war entschlossen gewesen, es in Kauf zu nehmen. Doch diese Stille, diese Starre …

»Heinz hat gewiß kaum leiden müssen, er war gleich tot. Glauben Sie mir! Bitte, glauben Sie mir doch!«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Valerie. Sie sah über den Jungen hinweg die Bücherwand an. Ihr Blick blieb auf zwei dicken Bänden haften. Es waren der erste und der zweite Band eines Werkes mit dem Titel: ›Der Glaube der Hellenen‹ von Karlheinz Trockau in der Bearbeitung von Merian und Stähelin.

»Valerie! Ich … ich hole schnell den … den Doktor Billa!« stotterte Landau.

»Unsinn, bleib da!«

»Aber wie du ausschaust … Der Doktor Billa hat gesagt, nach deinem ersten Kollaps müssen wir …«

»Sei still«, sagte Valerie. »Sei still, Martin. Ich habe gewußt, daß Heinz tot ist.«

»Was?« rief der Junge auf dem Sofa.

»Was?« rief Landau. »Wieso hast du es gewußt? Seit wann?«

»Seit der russische Offizier kam und sagte, daß Paul gestorben ist. Damals, bevor ich zusammenbrach, draußen bei dem Bären, ehe ich das Bewußtsein verlor, da habe ich einen Moment lang ganz genau gewußt: Auch Heinz ist tot. Und seither habe ich mit dieser Gewißheit gelebt …«

»Die Granate, die ihn getötet hat …«, begann Erwin, aber Valerie unterbrach ihn: »Es war nicht eine Granate.«

»Ich verstehe nicht …«

»Meinen Jungen hat nicht eine Granate getötet«, sagte Valerie Steinfeld, die beiden Bücher betrachtend, mit denen vor so langer Zeit ein großes Abenteuer begonnen hatte …

66

»›Meinen Jungen hat etwas ganz anderes getötet‹, sagte Valerie, ›und zwar ein Mensch. Ein Mensch hat meinen Jungen auf dem Gewissen!‹« Daniel Steinfeld hielt Irene seine Tasse hin, die sie neuerlich mit Tee füllte. »Danke, liebes Kind. Ja, so war das mit Heinz. So erfuhr es Valerie damals, im Dezember 1945, von seinem Freund. Und das sagte sie ihm – mir sagte sie es drei Jahre später, 1948, als ich sie besuchte.«

Steinfelds Worten folgte eine lange Stille.

Endlich sagte Manuel: »Es war also umsonst. Alles, was Valerie Steinfeld getan hatte, um ihren Jungen zu retten.«

»Vollkommen umsonst.« Der alte, kranke Mann nickte. »Aber damit war die Geschichte für Valerie noch nicht zu Ende! O nein! Sie verrannte sich langsam in eine fixe Idee. Sie war nicht mehr von ihr zu befreien. Nicht eine Granate, ein Mensch hatte ihren Buben getötet!«

»Wer, Daniel? Wer?« rief Irene.

»Dieser Professor Friedjung, der Direktor der Chemieschule.«

»Friedjung?« Manuel starrte Steinfeld an.

»Karl Friedjung, ja. Mit dem hatte alles begonnen. Der hatte ihren Buben aus der Schule geworfen und ihn angezeigt. Und damit erreicht, daß Valerie diesen Prozeß, den sie zuerst unter keinen Umständen führen wollte, dann doch führte – und zuletzt gewann!«

»Ich verstehe«, sagte Irene. »In ihrer Verzweiflung dachte sie nun so: Wenn es keinen Friedjung gegeben hätte, dann hätte es auch keinen Prozeß gegeben, dann wäre Heinz nicht an die Front gekommen, dann wäre er vielleicht am Leben geblieben – wie so viele andere Mischlinge auch …«

»Das dachte sie, ja«, sagte Steinfeld. Er schlürfte den heißen Tee.»Ihr Geist hatte sich völlig verdreht. Was einmal richtig gewesen war, war nun falsch. Was einmal die Rettung bedeutet hatte, bedeutete nun den Untergang, das Unglück, das Ende. Und schuld an allem Unglück, allem Elend, an Tod und Verderben war dieser Friedjung für Valerie, dieser Karl Friedjung. An ihn mußte sie denken, immer … immer … Was haben Sie, junger Mann?«

»Aber dieser Friedjung war doch auch tot!« rief Manuel. »Das mußte Frau Steinfeld doch wissen, wenn sie sich so mit ihm beschäftigte!«

»Sie wußte es. Man sagte es ihr. Man zeigte ihr den Totenschein und alle übrigen Dokumente«, antwortete Steinfeld. »Es änderte nichts. Die fixe Idee wuchs und wuchs. Außerdem: Man muß nicht unbedingt mehr leben, um schuld an etwas gewesen zu sein.«

Manuel stand auf. Er rieb seine Stirn.

»Martin Landau war dabei, als dieser Junge die Nachricht überbrachte?«

»Das erzählte ich doch!«

»Und er war auch dabei, als der russische Offizier die Nachricht vom Tod Paul Steinfelds brachte. Er ist außer Valerie der einzige, der die Wahrheit wirklich erfahren hat. Einmal, als ich ihn fragte, ob Frau Steinfeld den Prozeß gewonnen hätte, sagte er: ›Sie hat ihn gewonnen, und sie hat ihn verloren. Wenn Sie alles gehört haben, werden Sie verstehen, was ich meine.‹ Das verstehe ich jetzt auch. Etwas anderes verstehe ich nicht.«

»Was?«

»Frau Steinfeld hat immer neue Versionen über den Tod ihres Mannes und ihres Sohnes verbreitet.« Der alte Mann nickte. »Warum? Warum tat sie das, Herr Steinfeld?«

Der neunundsechzigjährige Jude, Pole, ehemals Wiener, vertrieben aus Warschau, unterwegs nach Israel, antwortete: »Sie können das nur verstehen, wenn Sie sich ganz in Valerie hineindenken. Wahrscheinlich geht das gar nicht. Eine Frau – Irene! – wird es eher können. Sehen Sie: Valerie hatte einen glücklichen Augenblick: Als die Nachricht vom Reichsgericht in Leipzig kam, daß der Prozeß gewonnen sei.«

»Aber noch am gleichen Abend war es mit dem Glück zu Ende. Denn da erklärte Heinz, er würde sich zur Waffen-SS melden«, meinte Manuel.

»Richtig! In diesem Moment muß Valerie einen furchtbaren Schock erlitten haben. So sah das also aus – nach allem, was sie und die anderen getan hatten. Das war der Lohn der Angst, der Dank ihres Sohnes.«

»Es folgte Streit mit Heinz, es folgten Zerwürfnisse …« Irene sah Steinfeld an.

»Eines folgte auf das andere«, sagte dieser. »Der Verzweiflung folgte die Furcht um Heinz. Wochenlang keine Zeile von ihm, Valerie fing an, sich Vorwürfe zu machen. Hätte sie den Prozeß doch nicht geführt! Aber sie mußte ihn führen – wegen Friedjung! Der war an allem schuld. Aber wie schuldig war sie selber? Sie begann, sich anzuklagen, immer heftiger. Die Nachricht vom Tod ihres Mannes kam. Ein neuer Schlag! Paul tot! Und dann kam die Mitteilung vom Tod des Buben. Das war die Klimax! Das ertrug sie nicht mehr. Begreifen Sie das? Sie konnte die Wahrheit nicht ertragen! Die Wahrheit durfte nicht wahr sein. Denn blieb auch Friedjung schuld, so blieb sie schuldig wie er! Das redete sie sich ein, Tag und Nacht. Und sie wollte nicht schuldig sein! Sie ertrug das nicht!«

»Und deshalb begann sie zu lügen«, sagte Irene. »Ungeschickt. Hilflos. Dem erzählte sie dieses, dem andern jenes. Lügen, um selber nicht schuldig zu sein, ja, ich kann das begreifen. Valerie war nicht schuld, wenn ihr Mann bei einem Luftangriff ums Leben kam, wenn er sich von ihr scheiden ließ, wenn er eine andere Frau heiratete. Sie war nicht schuld, wenn ihr Sohn nach Amerika oder nach Kanada auswanderte, wenn er dort einen Autounfall erlitt. Sie war nicht schuld! Sie war nicht schuld! Das hielt sie in Bann. Das ließ sie lügen, immer neue Lügen erfinden. Kannst du das nicht auch verstehen, Manuel?«

»Doch«, sagte er. »Ich glaube.«

»Nur Valerie und Martin wußten die Wahrheit, und Martin hat sie nie verraten!«

»Agnes«, sagte der alte Mann. »Agnes wußte gleichfalls Bescheid. Diese drei Menschen. Und diese drei Menschen hielten zusammen und schwiegen.«

»Vier Menschen«, sagte Manuel. »Auch Sie, Herr Steinfeld.«

»Ich auch, ja … Ich«, sagte Steinfeld langsam, »weiß sogar Bescheid darüber, was Karl Friedjung und Valerie einst miteinander erlebt haben …«

67

Deutlich erkennbar für das geschulte Gehör des Professors rastete die dritte Zahl ein. Er drehte sich um, nahm wieder die Gabeln des Stethoskops aus den Ohren und sagte zu Jean Mercier, der ihn wie eine himmlische Erscheinung ansah: »Das wäre die 1.«

Mercier schluckte. Er konnte vor Aufregung nicht sprechen.

Der Professor notierte in der ihm eigenen Kurzschrift alle Bewegungen des Konus, die er durchgeführt hatte, um diese dritte Kombinationszahl zu finden, und schrieb sie endlich am Kopf des Blattes neben die beiden anderen.

Jetzt stand da: 8 4 1.

Der Professor setzte sich schweigend in den Sessel des Anwalts Stein. Die Bügel des Stethoskops hingen ihm um den Hals, die Gummischnur baumelte herab. Aus der großen Koffertasche holte Anton Sirus ein blaues Buch.

Mercier verdrehte seinen Kopf und las den Titel: CLAUDE MONET – MENSCH UND WERK.

»Was soll das?« fragte er verblüfft.

»Mein Herr«, sagte der Professor sanft, »Sie können sich vielleicht vorstellen, welche ungeheure geistige Konzentration notwendig ist, um meine Aufgabe zu lösen.«

»Natürlich …«

»Nun. Ich habe erst drei Zahlen gefunden. Der größte Teil der Arbeit liegt noch vor mir. Ich muß mit meinen Kräften haushalten. Darum schalte ich für einige Minuten vollkommen ab. Das habe ich immer so getan.«

»Gewiß … Wenn Sie das so gewohnt sind …« Menschen gibt es! dachte Mercier.

»Und darf ich Sie bitten, wieder zu schweigen«, sagte der Professor.

Mercier sah Sirus an, der, völlig entspannt, dasaß und das Buch geöffnet hatte.

Den Kopf reckend, konnte Mercier die Überschrift des Kapitels erkennen, das der Professor zu lesen begonnen hatte.

Die Überschrift lautete: ›Das Entzücken vor der Natur.‹

68

Zierleiten heißt einer der schönsten Wege durch die dem Süden zugewandten Weinberge unterhalb des Wienerwaldes. Schmal ist dieser Weg, uralt, an seinen Rändern stehen verwitterte ›Weinhauer‹-Madonnen, aus Stein geschlagen, hundert Jahre alt und älter. Die Zierleiten führt, vom Waldrand im Westen kommend, mitten durch die Weingüter direkt nach Osten. Geht man sie so entlang, hat man stets die Stadt vor Augen, die in der Tiefe liegt.

Am Nachmittag des 25. Juni 1922 wanderten zwei junge Menschen über diesen verzauberten Pfad, der immer wieder halb überdacht wird von Brombeersträuchern und Holunderbüschen. Das starke Licht der Sonne ließ hunderttausend Fenster blendend aufleuchten, ließ die Kuppeln von Kirchen und die Gesimse alter Paläste in flammendem Gold erstrahlen. Warm, sehr warm war es, die Rebenstöcke ringsum zeigten dichte, grüne Blätter. Bienen und Hummeln summten. Die beiden jungen Menschen waren in ein ernstes Gespräch vertieft.

»1918, nach einem vierjährigen Heldenkampf, sind wir vernichtend geschlagen worden, zwei große Reiche – Deutschland und unser Vaterland. Die Tragödie war da«, sagte Karl Friedjung. Er sprach erregt und aufgewühlt, achtzehn Jahre war er alt, ein großer, schlanker Junge mit dichtem, braunem Haar, braunen Augen und einem offenen, sympathischen Gesicht. Er trug ein weißes Hemd, Knickerbockerhosen, Wanderschuhe und eine Windjacke.

Valerie Kremser ging dicht an seiner Seite, denn der Weg war schmal. Sie trug ein Dirndl. Ihre blonden Haare strahlten im Licht. Sie war so alt wie Friedjung, genauso alt beinahe. In wenigen Wochen standen ihnen die Matura-Abschlußprüfungen bevor.

»Eines aber«, sagte Friedjung, »hätte diese Tragödie noch zum Segen werden lassen können!«

»Was, Karl?«

»Ich erkläre es dir, Valerie …« Er legte einen Arm um ihre Schulter. Sie kannten einander seit einem halben Jahr. Valerie, die bei der Familie ihres Onkels lebte, weil sie nach dem Willen der Eltern ein besonders gutes Lyzeum in Wien besuchen sollte, war schwach in Mathematik und Chemie. Diese Fächer beherrschte Friedjung als Bester seiner Klasse. Er gab Nachhilfeunterricht, denn in diesen schlimmen Zeiten der Inflation war man dankbar, wenn man genug zu essen hatte. Und Karl Friedjung wurde von seinen Schülern und Schülerinnen, zu denen auch Valerie gekommen war, mit Lebensmitteln bezahlt, die er korrekt daheim ablieferte.

»Schau, 1871, nachdem wir 1866 die Schlacht bei Königgrätz gegen die Preußen verloren hatten, schuf Bismarck sein neues Reich – Großpreußen, Kleindeutschland, ja? Wir Österreicher wurden ausgeschlossen aus der Schicksalsgemeinschaft aller Deutschen. 1918, da hatten wir die einmalige Chance, wieder zueinanderzufinden! Und wir wollten sie ja auch nutzen! Am 12. November 1918, ja, da beschloß unsere Nationalversammlung ein kurzes Staatsgrundgesetz – einstimmig. Valerie! Mit den Stimmen der Sozialdemokraten! Danach sollte es nun ein Deutsch-Österreich geben, und dieses sollte ein Bestandteil der Deutschen Republik werden, ja? Schluß mit der kleindeutschen Lösung von 1866! Eine großdeutsche Lösung ist die einzig mögliche! Wir Deutschen gehören zusammen! Wir müssen wieder frei sein! Arbeit und Brot für alle! Kein Schiebertum, kein Elend, keine Ausbeutung – das war 1918 das Ziel!«

»Aber es ist nicht erreicht worden.« Valerie streifte einen Holunderzweig zur Seite. Alles, was er sagte, war richtig, fand sie. Karl Friedjung machte großen Eindruck auf Valerie – wegen seiner Klugheit, seines Idealismus, seines Wissens. Er betrug sich überkorrekt. Nie hatte er, seit sie ihn kannte, beim Unterricht oder auf ihren Spaziergängen eine Situation ausgenützt. Noch nicht ein einziges Mal geküßt hatte er sie, obwohl sie manchmal schon darauf wartete.

Und dennoch …

Und dennoch waren ihr Friedjungs Fanatismus, sein politisches Engagement, so sehr sie beides bewunderte, unheimlich. Manchmal empfand sie Furcht vor ihm. Diesem Martin Landau, dem sie in der Albertina begegnet war, zum Beispiel, hatte sie nie etwas von Friedjung erzählt. Ein Instinkt warnte sie. Martin Landau – das war ein anderer Mensch, eine andere Welt. Valerie hielt ihre Freundschaft zu Friedjung geheim. Sie war, trotz aller Sympathie, innerlich unsicher. Sie konnte Friedjung bewundern, gern haben, aber mit ihm leben – nein, das würde sie nun nicht mehr können. Denn jetzt war …

Sie riß sich aus ihren Gedanken und hörte wieder seine Stimme. »… es ist nicht erreicht worden!« Friedjungs Hand verkrampfte sich um Valeries Schulter, es tat weh. »Und warum nicht? Weil der feine Herr Wilson uns mit seinem Friedensplan verraten hat! Die Republik Deutsch-Österreich sollte uns nicht nur mit Deutschland vereinen, sie sollte auch alle deutschen Siedlungsgebiete des alten Kaiserreichs in den Alpen- und Sudetenländern umfassen, ja? So war es besprochen, ja? Und dann kam dieser Schandvertrag von Saint Germain! September 1919.« Friedjung trat einen Stein zur Seite. »Artikel 88! Anschlußbestrebungen jeder Art sind verboten! Die Bezeichnung Deutsch-Österreich ist verboten! Sie haben uns belogen, Valerie, betrogen, verraten! Verstehst du das?«

»Ja, Karl, ja.« Was er sagte, leuchtete ihr ein, vollkommen ein, sie empfand wie er. Und trotzdem … trotzdem war da noch immer etwas, das sie erschauern ließ, wenn er so sprach. Sie sagte: »Die Folgen dieses Friedensvertrages sind auch entsprechend!«

»Bei Gott!« Friedjung starrte in die Ferne, aber er sah nicht die glühende Stadt, nicht die Schönheit der Natur. Ohne auf den Weg zu achten, schritt er dahin, mit einem abgeschnittenen Ast gegen die Büsche am Wegrand schlagend. »Tschechische Legionäre haben das wehrlose sudetendeutsche Gebiet besetzt, ja? Unterdrücken unsere Brüder dort! Südtirol wurde bis zum Brenner von den Italienern besetzt, ja? Die Südsteiermark von jugoslawischen Truppen! Das geht nicht so weiter, Valerie! Wir müssen kämpfen um den Anschluß! Dafür sind alle! Die Studenten! Die Burschenschaften! Sogar die Sozialdemokraten! Nur die von der alten Generation – unsere Eltern –, die kommen da nicht mehr mit!«

»Meine Eltern in Linz«, sagte Valerie, »das waren Monarchisten. Die haben resigniert. Die meinen, der Vielvölkerstaat hat zerfallen müssen.«

»Auf diese Generation ist keine Hoffnung mehr zu setzen! Aber auf die Sozialisten!« rief Friedjung. »Schau, die Nationalen haben bisher nicht erkannt, welche unerhörten Kräfte die Sozialisten besitzen. Aber die sind international. Noch. Das Nationale und das Soziale muß wieder zusammenkommen, ja? Das hat schon der alte Lueger begriffen. Die Arbeiter müssen das auch begreifen! Das ist unsere Aufgabe, es ihnen zu erklären, zu beweisen!« Friedjung war stehengeblieben. Er peitschte die Luft mit einem Ast. »Treue! Glaube! Ehre! Opfermut! Anstand! Pflichtgefühl! Heimat! Familie! Verantwortungsbewußtsein! Vaterland! All diese Begriffe hat man nach dem Krieg in den Dreck gezogen! Darüber lachen sie heute nur noch, die feinen Sieger, diese Betrüger, und der Abschaum in unserem eigenen Volk! Wir, wir müssen dafür sorgen, daß diese Worte wieder Sinn bekommen, daß sie wieder Werte darstellen, für die es sich zu kämpfen lohnt, jawohl!« Er bemerkte, daß sie ihn fasziniert anstarrte, in halber Bewunderung, in halber Furcht. »Was ist?«

»Nichts … nichts, Karl …«

Jäh warf er den Zweig fort und trat dicht an sie heran. Plötzlich war seine Stimme leise, unsicher, er suchte nach Worten, ein verlegener Junge:

»Valerie … ich … bitte, entschuldige, daß ich dich so überfalle, aber …«

»Was heißt überfalle?«

»… aber ich habe keinen Menschen, mit dem ich mich so gut verstehe wie mit dir … keinen Menschen … Ich … ich liebe dich, Valerie … glaubst du, daß du mich auch lieben kannst?«

»O Gott«, sagte Valerie.

»Wie?«

»Mein armer Karl.« Valerie strich ihm über die Wange. »Ich habe dich auch gern, wirklich … sehr, sehr gern habe ich dich …«

»Gern. Ach so. Ich verstehe.«

»Nein, du verstehst nichts.« Valerie senkte den Kopf. »Ich habe einen Mann kennengelernt, Karl. Er ist älter als ich. Schon eine ganze Weile kennen wir uns. Ich hätte es dir sagen sollen. Aber ich wußte ja nicht, daß du …« Sie kam nicht weiter.

»Ein anderer Mann.« Friedjung drückte mit einer Hand unter ihr Kinn, so daß sie den Kopf heben mußte. »Was für ein anderer Mann?«

»Er ist sehr verliebt in mich, weißt du …«

»Und du bist in ihn verliebt«, sagte er traurig.

»Vielleicht. Er ist so gut zu mir, so menschlich. Es tut mir wirklich leid für dich. Dieser Mann und ich, wir wollen uns verloben …«

»Was?«

»Ja. Gleich nach der Matura. Ich muß ihn meinen Eltern vorstellen. Die kennen ihn noch gar nicht.«

»Das heißt, ihr wollt heiraten?«

Valerie nickte.

»Und wie heißt dieser Mann?«

»Paul Steinfeld.«

»Der Journalist?«

»Ja, Karl.«

Friedjung sagte leise: »Dieser Paul Steinfeld ist doch ein Jude!«

»Das ist er. Ich verstehe nicht, was …«

Aber er unterbrach sie, und jetzt schrie er wieder: »Bist du denn wahnsinnig geworden? Die Schweine, die uns das alles eingebrockt haben, die alles zerstört haben, denen wir unser Elend verdanken – das sind doch die Juden! Und du willst eine Judenhure werden?«

Im nächsten Augenblick schlug ihm Valerie mit der offenen Hand ins Gesicht, so fest sie konnte.

69

»Diesen Schlag hat Karl Friedjung niemals vergessen«, sagte der alte Daniel Steinfeld. »Natürlich war von der Stunde an die Beziehung der beiden abgebrochen, und Haß trat an die Stelle von Liebe. Abgebrochen …« Steinfeld schüttelte den Kopf. »Falsch! Ich glaube, in einem anderen, tieferen Sinn kann man sagen, daß die Beziehung dieser beiden Menschen zueinander niemals abbrach, nein, niemals. Denn was ist Haß anderes als die zweite Hälfte der Liebe?«

»Das hat Valerie dir erzählt?« fragte Irene. Es war 23 Uhr 15, eine schöne antike Uhr mit einem waagerechten Vierkugelpendel, unter einem Glassturz, zeigte die Zeit.

»1948, als ich sie besuchte«, sagte der alte Mann. »Sonst hat sie bis dahin niemandem etwas darüber erzählt – ihrem Mann nicht und nicht Martin Landau. Auch ich hatte 1929 keine Ahnung, daß der Mann, der damals am Chemischen Institut Assistent wurde und dann bei mir arbeitete, daß dieser Doktor Karl Friedjung die Frau meines Bruders kannte. Er sagte mir nie ein Wort.«

»Friedjung wurde Ihr Assistent?« rief Manuel.

»Ja. Bis zu meiner Emigration. Ein hervorragender Biochemiker. Seine politischen Ansichten waren schon 1929 die eines fanatischen Nazis, und sie wurden es mehr und mehr.«

»Wie verhielt er sich dir gegenüber?« fragte Irene.

Daniel Steinfeld zuckte die Schultern.

»Meine Mitarbeiter und ich bildeten immer ein Team. Es gab da Juden, Katholiken, Atheisten, Nazis, Kommunisten. Ich hatte ein für allemal verboten, daß politisiert wurde. So blieb das Klima erträglich. Und dann waren wir auch zu sehr fasziniert von unserer Arbeit. Das verhinderte Feindschaften und Auseinandersetzungen. Ich glaube, ich kann sagen, daß nirgends so lange Frieden herrschte wie in meinen Laboratorien … Ein ausgezeichneter Wissenschaftler«, sagte Daniel Steinfeld. »Sehr begabt. Und mit großem pädagogischem Talent.«

»Er ist auch Direktor der Staatsschule für Chemie geworden«, sagte Irene.

»Ja.« Daniel fuhr sich mit seiner knochigen Hand über den kahlen Schädel. »Und zwar erst, als Heinz schon ein Jahr an diesem Institut war. Das hat mir Valerie erzählt. Sie bekam den Schreck ihres Lebens damals. Sie hätte Heinz sonst doch niemals in die Staatsschule geschickt! Aber als sie ihn anmeldete, war der Chef da noch ein alter, toleranter Herr, zu dem sie Vertrauen empfand. Wegen seines Alters und seiner Toleranz wurde er ein Jahr später in Pension geschickt und durch Friedjung ersetzt.«

»Zunächst verhielt der sich gegen Heinz ganz korrekt«, sagte Manuel.

»Zunächst, ja. Er wartete. Er hatte Zeit. Er wußte, er würde seine Gelegenheit bekommen in den vier Jahren, die Heinz am Institut sein sollte. Eine Gelegenheit, bei der er gegen den Jungen vorgehen konnte, um sich zu rächen für die Demütigung, die er indirekt durch einen Juden erlitten hatte … Er war einer von diesen scheinbar integren Überzeugungsnazis. Was heißt Nazi? Eine Frage des Typus … eine Frage des Regimes … Friedjungs hat es immer gegeben, und es wird sie immer geben … Und niemand soll den Hochmut haben zu sagen: ›Bei uns wäre so etwas nicht möglich!‹« Steinfeld seufzte. »Nun ja, und als Friedjung dann die Möglichkeit hatte, nach Recht und Gesetz mit aller Schärfe durchzugreifen, da tat er es. Da nahm er Rache an Valerie, indem er sich an ihrem Sohn, dem Sohn des Juden, rächte. Er wollte ihn vernichten! Wenn er schon Valerie und ihren Mann nicht vernichten konnte, dann sollte die Mutter ihr Kind verlieren, dann sollte Heinz draufgehen! Er hat sein Ziel erreicht, wenn auch anders, als er es sich dachte …«

»Und er ist selber draufgegangen dabei«, sagte Manuel.

»Das eben«, sagte Daniel Steinfeld, »wollte Valerie nicht wahrhaben …«

70

»Er lebt!« sagte Valerie Steinfeld.

»Er ist tot!« sagte Daniel Steinfeld.

»Er ist nicht tot«, sagte Valerie Steinfeld.

»Herrgott, das redest du dir doch nur ein! Das ist doch nur eine fixe Idee von dir! Nicht die geringsten Beweise hast du dafür, daß Friedjung noch lebt!«

12. Juli 1948.

Der Tag war heiß.

Im Schatten eines alten Baumes saßen Valerie und Daniel Steinfeld auf einer Bank im blühenden Volksgarten, nahe dem Burgtheater. Die Splittergräben, die Bombentrichter hatte man zugeschüttet. Man hatte neues Gras und neue Blumen und Sträucher gepflanzt. Noch in der Zeit des größten Hungers und Elends waren die Parks der Stadt Wien wieder in Ordnung gebracht worden. Erschöpft saßen die Menschen nun auf den Bänken, Kinder liefen lachend umher, spielten Ball, trieben Reifen.

Valerie trug ein altes Kostüm, Daniel Steinfeld einen ehemals eleganten, nun abgenützten Anzug. Er sah kräftig, stark und gesund aus. Valerie wirkte krank. Ihr Schwager hatte sie in der Buchhandlung abgeholt – zu Beginn der Mittagspause.

»Keine Beweise«, sagte Valerie. »Ich habe eine Menge Beweise!«

»Zum Beispiel?«

»Ich habe mit vielen Leuten gesprochen, die damals den Angriff auf die Chemieschule erlebten. Sie alle sagen, die meisten Toten waren so schrecklich entstellt, daß man sie nur an Hand von Papieren identifizieren konnte, die sie bei sich trugen.«

In der Nähe sangen Kinder: »Laßt die Räuber durchmarschieren, durch die goldne Brücken …«

»Aber den Friedjung hat seine Frau identifiziert! Und Schüler! Und Kollegen!«

»Ja, nach seinen Papieren!«

»Woher weißt du das? Hast du mit allen gesprochen? Auch mit seiner Frau?«

»Mit allen. Nur mit der Frau nicht. Die läßt sich nicht sprechen. Ich habe es schon ein paarmal versucht – umsonst.«

»Wieso umsonst?«

»Friedjung muß ihr von mir und Paul und dem Jungen erzählt haben. Sie weigert sich, mich zu empfangen. Sie haßt mich …«

»Valerie!« Steinfeld griff nach einer ihrer Hände. »Du mußt dich zusammennehmen! Diese Frau haßt dich nicht. Welchen Grund hätte sie? Sie will nur nicht an den Tod ihres Mannes erinnert werden. Du, du haßt Friedjung! Du willst, daß er noch lebt!«

»Er lebt auch!« sagte Valerie starrsinnig.

Ein Mann ohne Beine, auf seinem Rumpf sitzend in der Mitte einer kleinen Plattform aus Brettern mit vier dicken Holzrädern, rollte über den Kiesweg an ihnen vorbei. Er trug Schutzleder an den Händen. Schnell und geschickt stieß der Mann sein Gefährt vorwärts.

»Er lebt nicht, er ist tot! Ich habe mir gestern die Mühe gemacht, zum Magistrat zu gehen und mir die Sterbeurkunde anzusehen. Und dann war ich auf diesem Friedhof an der Ettinghausenstraße, und da habe ich Friedjungs Grab besucht. Valerie, bitte!«

»Es sind viele Leute von der Straße in das Institut gekommen bei diesem Angriff. Das haben mir Schüler und Lehrer gesagt. Als die Bomben das Gebäude trafen, waren alle in den finsteren Kellern lange eingeschlossen. Friedjung hat einem Toten, dessen Gesicht zerschlagen war und der ungefähr dieselbe Statur hatte, seine Kleider angezogen und ihm seine Dokumente in die Tasche gesteckt und ist dann, als die Rettungsmannschaften kamen, davongeschlichen, vorsichtig, so, daß es niemand merkte …«

»Das denkst du dir, weil du willst, daß es so war!«

»Es kann so gewesen sein. Ganz leicht kann es so gewesen sein, Daniel!« Jetzt sangen die Kinder: »Ringel, ringel, reiher, sind wir unser dreier …«

Valerie sagte: »Er hatte eine Freundin, der Friedjung. Das weiß ich bestimmt. Auch dieser Sache bin ich nachgegangen. In der Siebensterngasse hat sie gewohnt. Ein Baby hat sie gehabt. Ein uneheliches Kind. Die Hausmeisterin beschwört es. Spiegel hat die Frau geheißen. Höchstens siebenundzwanzig Jahre alt war sie. Friedjung hat sie ständig besucht. Er war ihr Geliebter. Und der Vater von ihrem Kind.«

»Sagt die Hausmeisterin.«

»Ja! Ja!«

»Woher weiß sie, daß es Friedjung war, der die Frau besuchte?«

»Ich habe ihn beschrieben. Sie hat ihn nach der Beschreibung erkannt.«

»Umgekehrt wäre das interessanter gewesen«, sagte Steinfeld.

»Eine Woche nach dem Angriff auf die Chemieschule ist die Spiegel mit ihrem kleinen Kind verschwunden! Nachts! Ein Auto hat sie abgeholt. Alles hat sie zurückgelassen, nur einen Koffer mitgenommen! Die Hausmeisterin hat es gesehen. Ein großer Wagen war das. Mit Chauffeur. Und hinten im Auto saß er, Friedjung!«

»Das hat die Hausmeisterin gesehen? Mitten in der Nacht? Bei völliger Verdunkelung?«

»Etwas Licht war da … im Wagen!« Valerie ließ sich nicht beirren.

»Friedjung hat seine Geliebte abgeholt und ist untergetaucht.«

»Wohin?«

»Irgendwohin. Nach Deutschland. Ins Ausland. Ein Bonze! Diesen Leuten war alles möglich damals, knapp vor dem Zusammenbruch. Er lebt, Daniel! Friedjung lebt! Und ich werde ihn finden …« Er schwieg beklommen. Das alles hat keinen Sinn, dachte er. Diese Frau ist durch ihren Kummer ganz und gar verwirrt.

»Und wenn ich ihn gefunden habe …« Valerie sprach den Satz nicht zu Ende. Ihre weißen Hände ballten sich zu Fäusten. Und tausend Blumen blühten ringsum und dufteten und leuchteten in allen Farben, und die Kinder sangen noch immer.

71

Jäh wie der Blitz drehte Anton Sirus’ Hand den Konusknopf zurück. Er murmelte einen Fluch. Mercier, der neben ihm stand und dem Professor von Zeit zu Zeit die Stirn trockengewischt hatte, sprang erschrocken zur Seite.

»Was war das?«

»Eine Katastrophe, um ein Haar«, antwortete der Professor, schwer atmend. »Einen halben Teilstrich über die richtige Zahl hinaus. Ich hörte schon, wie sich die Arretierungsvorrichtung öffnete, um zuzuschnappen.«

Mercier wurde blaß.

»Großer Gott. Vier Zahlen haben wir schon.«

Er sah zu dem Schreibtisch und den Blättern mit den Notizen und Berechnungen. Obenan auf einem Blatt standen die bereits gefundenen Kombinationsnummern: 8 4 1 9.

Mercier sagte: »In zwanzig Minuten Mitternacht. Und Sie hätten wieder von vorn beginnen müssen.«

Der Professor nickte nur. Er stand schon wieder vor dem Einstellkonus. Millimeter um Millimeter drehte er den Knopf auf die Zahl zu, über die er hinausgeraten war. Auf einmal stockte er und nahm sich die Stethoskopbügel aus den Ohren. »Die fünfte Zahl ist die 3.« Er schrieb sie in die Reihe der anderen und notierte danach wieder alle Bewegungen des Einstellrades, vor, zurück, normal, gezogen, die er ausgeführt hatte, um die 3 zu erreichen.

»Das ist ein Beruf, bei dem man fromm werden kann«, sagte Mercier. Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da ertönte, schnell lauter werdend, das an- und abschwellende Heulen einer Sirene.

»Licht aus!« zischte der Professor, sehr leise.

Mercier hastete zu der Tischlampe. Das Büro lag nun im Dunkeln. Der Franzose fand den Weg zu einem der Fenster und schob den Vorhang zurück. Über die verschneite, menschenleere Fahrbahn des Kohlmarktes kam eine Funkstreife herangejagt. Ihr Blaulicht kreiste, ihre Sirene heulte. Auf dem Schnee schleudernd, hielt der Wagen direkt unterhalb des Fensters. Zwei Uniformierte sprangen heraus. Sie liefen auf den Gehsteig. Mercier konnte sie nicht mehr sehen.

»Polizei«, sagte Mercier atemlos.

Er erhielt keine Antwort, aber er war so erschrocken, daß ihm das nicht auffiel. Er starrte weiter in die Tiefe. Endlose Minuten verstrichen. Mercier fing an, lautlos zu beten. Wenn jetzt noch alles schiefging, jetzt noch …

Plötzlich tauchten die Polizisten in ihren Lederjacken wieder auf. Sie schleppten zwischen sich einen tobenden Betrunkenen, der wüst brüllte. Mit Mühe schafften sie den Mann in den Wagen. Türen flogen zu. Das Blaulicht begann zu zucken, die Sirene heulte auf, als die Funkstreife anfuhr.

Zahlreiche Fenster in den Häusern gegenüber waren erhellt, Menschen beugten sich neugierig aus ihnen. Auf meiner Seite wird das auch so sein, dachte Mercier. Na, egal. Noch einmal gutgegangen. Er ließ den Vorhang zurückgleiten, tastete sich zum Schreibtisch und knipste die Lampe wieder an. Ein heißer Schreck durchfuhr ihn. Anton Sirus war verschwunden!

Ich werde verrückt, dachte Mercier. Das gibt es doch nicht, das ist doch unmöglich. Er kann sich nicht in Luft aufgelöst haben. Dann sah er Sirus. Der Professor saß, im Schneidersitz, mit untergeschlagenen Beinen, auf dem Teppich. Sein Gesicht hatte einen entrückten, sanften Ausdruck angenommen. Er starrte eine offene Bücherwand mit juristischen Werken an, reglos, anscheinend völlig glückselig. Wie Sirus dasaß, erinnerte er Mercier an eine Buddha-Figur. Nur, dachte er, liegen beide Hände des Professors ruhig und locker im Schoß. Bei den Buddhas ist immer eine Hand lehrend erhoben.

»Herr Sirus!«

Keine Antwort, keine Reaktion.

»Sirus, was haben Sie!« rief Mercier, nun schon in gelinder Panikstimmung.

Der Professor bewegte keine Wimper. An Mercier vorbei blickte er die Bücher an.

»Sirus! Sirus! Ich flehe Sie an, sagen Sie etwas! Ein Wort! Ein einziges Wort!«

Doch Anton Sirus sagte nichts, und Mercier ließ sich stöhnend in einen Sessel fallen. Tot ist er nicht, dachte er idiotisch. Tote sitzen nicht so aufrecht. Er muß wahnsinnig geworden sein. Die geistige Anstrengung und der Schrecken jetzt waren zuviel für ihn. Wahnsinnig, ja, das ist er. Ich bin mit einem Wahnsinnigen in einem Büro, aus dem ich allein nicht mehr hinaus kann …

72

An einem Tag Anfang September 1966 saßen zwei Männer in einem modernen chemischen Laboratorium, das an der Rückseite eines großen Gebäudes lag. Durch die Fenster sah man einen alten Park. Das Institut befand sich fünfunddreißig Kilometer südwestlich von Warschau. Es gehörte zur Universität der Hauptstadt. Professor Daniel Steinfeld arbeitete in diesem Haus mit einem ausgesuchten Mitarbeiterstab an der Erforschung von neuen Mitteln gegen Schädlinge von Pflanzen und Tieren. Steinfeld hatte einen Lehrstuhl für Biochemie an der Universität, er hielt sich aber oft und lange hier auf. Trotz seines Alters war er von unglaublicher Vitalität. Sein Gesicht sah aus wie das eines Fünfzigjährigen, die Wangen waren kräftig durchblutet, die Augen blitzten, ein Haarkranz lief um den mächtigen Gelehrtenschädel.

Der andere Mann in dem hellen Laboratorium hatte eine Glatze, hervortretende Basedow-Augen und einen ziemlichen Leibesumfang. Er keuchte leise beim Sprechen. Thomas Meerswald litt an leichtem Asthma. Er und Steinfeld kannten einander seit vielen Jahren. Herzliche Freundschaft verband den gefeierten polnischen Wissenschaftler und den Mann aus Wien, der ein Dokumentationszentrum errichtet hatte und in aller Welt nach Nazikriegsverbrechern und geheimen Rüstungsstätten fahndete. Steinfeld wußte an diesem milden Septembertag nicht, daß er ein Jahr später von der Universität gejagt, aller seiner Ämter enthoben und als ›Zionist und amerikanischer Agent‹ unter Anklage gestellt werden sollte. Meerswald ahnte nicht, daß er nur noch etwas mehr als zwei Monate zu leben hatte …

»Ich habe einiges über diesen Karl Friedjung gefunden«, sagte der Wiener. Durch Steinfelds Vermittlung stand ihm das große polnische Archiv zur Verfügung, in welchem Zehntausende von deutschen Kriegsverbrechern dokumentarisch erfaßt und systematisch geordnet worden waren. Steinfeld war Meerswalds Verbindungsmann zu allen Behörden, sie arbeiteten seit Kriegsende gemeinsam. »Die Unterlagen ergeben, daß dieser Friedjung unter den Nazis an geheimen Forschungsaufträgen arbeitete – neben seiner Stellung als Direktor der Chemischule in Wien, die nur seine Tarnung war. Die Forschungsaufträge wurden in Berlin koordiniert – es handelte sich um Giftgase.« Meerswalds Atem kam leicht rasselnd. »Ich habe bei euch auch sichere Beweise über Friedjungs Versuche an KZ-Häftlingen gefunden. Mindestens sechzig Menschen starben durch seine Schuld.«

»Das glaube ich dir alles, Thomas.« Steinfeld stand auf. »Aber dieser Friedjung ist tot! Umgekommen bei einem Luftangriff! In seiner Chemieschule! Ich war selber in Wien – 1948 –, ich habe die Sterbeurkunde eingesehen, ich habe das Grab besichtigt, ich habe mit Friedjungs Witwe gesprochen. Der Mann ist tot …«

»Deine Schwägerin glaubt es nicht.«

»Valerie?« Steinfeld seufzte. »Gibt sie noch immer keine Ruhe?«

»Sie ist zu mir gekommen. Vor zwei Monaten. Sie hat mir ihre Geschichte erzählt.«

»Thomas«, sagte Steinfeld nervös, »laß dich nicht verrückt machen. Die arme Frau hat schrecklich gelitten …«

»Das weiß ich.«

»… und sie war völlig verstört, als ich sie zuletzt sah. Wir haben eine Ewigkeit nichts mehr voneinander gehört. Sie schreibt mir nie. Ich dachte, sie tut es absichtlich – um all das Schreckliche zu vergessen, um durch mich nicht mehr daran erinnert zu werden an das, was sie erlebt hat …«

»Das ist auch so. Sie hat mir gesagt, ich soll dir nichts von ihren Besuchen bei mir erzählen, denn du würdest mir andeuten, sie sei einfach nicht ganz richtig im Kopf.«

»Besuchen? Warst du mehrmals mit ihr zusammen?«

»Mit ihr und einem Mann von der argentinischen Botschaft in Wien. Gomez heißt er. Mein Mann für Argentinien. Wir trafen uns an verschiedenen Orten – Gomez muß bei seiner Stellung achtgeben.«

»Warum war Valerie dabei?«

»Ich wollte, daß auch Gomez sie hörte. Er kennt sich aus in seiner Heimat. Ich hoffte, er würde auf eine Idee, eine bestimmte Person kommen, die in seiner Liste der Verdächtigen steht, wenn Valerie ihm Friedjung genau beschrieb, wenn sie ihm alles über diesen Mann erzählte.«

»Und?«

»Nichts. Gomez ließ verschiedene Leute in Argentinien durch seine Mitarbeiter überprüfen. Alle Untersuchungen sind negativ verlaufen. Nicht die geringste Spur von Friedjung.«

»Das sage ich dir doch!« Steinfeld regte sich auf. »Warum glaubst du mir nicht? Es kann keine Spur von Friedjung mehr geben, er ist tot, tot, tot!«

Meerswald fragte schnaufend: »Warum bin ich dann ständig beobachtet worden, wenn deine Schwägerin und ich mit Gomez zusammentrafen?«

»Ihr wurdet beobachtet?«

»Ich habe ein Gefühl für so etwas, das weißt du. Geschickt überwacht. Sehr geschickt. Dauernd folgte uns jemand.«

»Thomas«, sagte Steinfeld, »ist dies das erste Mal, daß du überwacht wirst?«

»Natürlich nicht …«

»Also! Ein Mann wie du ist ständig verfolgt …«

»Ja, wenn ich auf Reisen bin. Aber in Wien! In Wien war es das erste Mal! Und ausgerechnet deine Schwägerin war immer dabei …«

Steinfeld stand auf und betrachtete sorgfältig eine dunkelrote Flüssigkeit, die in einem Glaskolben brodelte. Ein langer Kühler war an den Hals des Kolbens geschlossen. Aus dem Ende der Kühlerschlange tropfte ein farbloses Destillat. Steinfeld sagte: »Du bist nicht nur hinter Kriegsverbrechern her, Thomas. Auch hinter Wissenschaftlern, die irgendwo in der Welt neue Waffen produzieren. Man hat dich mit Valerie Steinfeld gesehen. Die Leute, die dich beobachten, wissen bestimmt von ihrem Schicksal. Sie wissen von mir. Ich könnte auch B- oder C-Waffen herstellen. Ich bin hochinteressant für den Westen – oder?«

»Das stimmt. Und wenn Friedjung noch lebte …«

»Hör endlich damit auf!«

»Sofort. Wenn er noch lebte, dann wäre Friedjung interessant für den Westen – und für den Osten, vorausgesetzt, daß er weitergearbeitet hat. Er war ein fanatischer Nazi. Deutschland hat den Krieg verloren. Friedjung würde, wenn er noch lebte, bestimmt weiterarbeiten und die Ergebnisse seiner Forschungen beispielsweise voll Haß auf den Osten an die Amerikaner verkaufen – habe ich recht?«

»Er ist tot, Thomas, er ist tot!«

»Wenn er nicht tot wäre! Da müßte doch auch ein enormes Rachebedürfnis mitspielen, wie? Vielleicht irre ich mich, und er haßt die Amerikaner. Die haben schließlich auch gegen Deutschland Krieg geführt. Dann würde er seine Arbeiten dem Osten zur Verfügung stellen. Beides wäre möglich …«

73

»Mit Gott«, sagte der Professor und zog den konusförmigen Drehknopf an der Tresorwand an. »Ich versuche es jetzt so.«

8 4 1 9 3 5.

Diese Zahlen standen nebeneinander auf einem der Papiere, die den Anwaltsschreibtisch bedeckten. Der Professor hatte in der letzten Dreiviertelstunde die sechste Zahl gefunden.

Es war 0 Uhr 46 am Dienstag, dem 28. Januar 1969.

Der Franzose, erschöpft zum Umfallen, stand neben Sirus und tupfte diesem, der keinerlei Zeichen von Ermüdung zeigte, die Stirn trocken.

Mercier erlebte die anstrengendste Nacht seines Lebens. Der Schreck beim Anblick des reglosen, nicht ansprechbaren Sirus, der die Bücherwand angestarrt hatte, saß dem Franzosen noch in den Knochen.

Sechs endlose, grauenvolle Minuten hatte der Professor im Lotussitz, die Hände im Schoß, aufrecht, mit sanftem, entrücktem Gesicht, einer Statue gleich, zugebracht, während Mercier, am Schreibtisch, die Zähne in die Knöchel seiner Hände bohrte und abwechselnd lautlos fluchte und betete. Dann, so plötzlich, daß Mercier einen leisen Schrei ausstieß, hatte Sirus sich geschmeidig erhoben und den Franzosen angelächelt. Ein unendliches Gefühl des Friedens ging nun von ihm aus.

»Was … was war los mit Ihnen?« stammelte Mercier. »Was haben Sie da gemacht auf dem Boden, Herr des Himmels?«

»Yoga«, sagte der Professor, die Finger bewegend und Lockerungsübungen veranstaltend.

»Wie?«

»Ich bin ein alter Yoga-Anhänger. Das Wunderbarste, was es gibt. Durch Meditation, geistige Konzentration, durch völlige Herrschaft über den Körper wird der Geist befreit. In schweren Sekunden meiner Arbeit, nachdem – wie vorhin – ein Unglück gerade noch verhindert werden konnte, setze ich mich stets so hin.«

»Es war also nicht die Sirene, die Sie erschreckt hat?«

»Was für eine Sirene?« fragte der Professor verwundert.

»Sie haben nichts gehört?«

»Ich kann mich nicht erinnern.«

»Aber daß ich das Licht ausknipste …«

»Sie haben das Licht ausgeknipst?«

Mercier hatte nur schwach gestöhnt und abgewinkt. Der Professor war, frisch und mit neuen Kräften, an den Tresor getreten …

Der nun gezogene Einstellknopf drehte sich, unendlich langsam, Mercier konnte es nicht mitansehen. Er blickte zur Seite. Im nächsten Moment erklang die ruhige Stimme des Professors: »Wir haben die siebente Zahl. Es ist die 2.«

Mercier wirbelte herum.

»Die ganze Kombination?«

»Das werden wir gleich sehen.« Der Professor streifte das Stethoskop ab und griff nach dem Türchen über dem Konus. Es ließ sich an einem oberen Drehpunkt zur Seite schwenken und gab den Blick auf zwei Schlüssellöcher frei. In dem unteren steckte eine Stahlstange.

Der Professor bückte sich.

Auch das zweite Türchen ließ sich bewegen.

Sirus zog eine etwa zwanzig Zentimeter lange Stahlstange, die einen Durchmesser von fünf Millimetern hatte und an ihrem Ende einen seltsam gezackten Bart besaß, aus dem einen Schlüsselloch des unteren Schlosses. Danach zog er die zweite Stange aus dem oberen Schloß.

»Die Sperren lassen sich entfernen«, sagte er. »Die Kombination ist also richtig.« Er legte die beiden Stäbe auf das Tuch, das er über den Schreibtisch gebreitet hatte und auf dem seine Instrumente ruhten. »Jetzt müssen wir noch die beiden Schlösser öffnen.«

»Wie?«

Der Professor hob eine Stahlstange auf, sehr ähnlich den beiden, welche er eben aus dem Tresor entfernt hatte. Sie besaß an einem Ende einen Haltegriff und zahlreiche herausragende gekrümmte Enden von Stahlstiften.

»Das ist eine kleine Erfindung von mir. Mit ihr wurde ich … nun ja, sagen wir es ruhig … weltberühmt.« Der Professor bewegte einen der kleinen Stifte. Aus dem glatten anderen Ende der Stange trat zu Merciers Verblüffung das millimeterdünne Teilstück eines Schlüsselbartes hervor. Jetzt sah er, daß dieses Ende der Stange zahlreiche feine Schlitze aufwies. Der Professor bewegte einen zweiten Stift. Ein zweites dünnes Stahlstück, bizarr gerippt, trat aus einem Schlitz.

»Sie verstehen das System«, sagte Sirus. »Ich führe den Stab ein, mit allen Teilstücken des Bartes in seinem Innern. Danach probiere ich ihn aus. In allen Kombinationen der einzelnen Teile des Bartes. Wenn er für das Schloß nicht paßt, versuche ich es mit dem nächsten. Sie sehen, ich habe ein Dutzend hier. Sie alle gehören zu dieser Art von Tresoren. Deshalb mußte ich vorher genau die Type kennen.«

»Sie haben solche Geräte auch für andere Typen?«

»Selbstverständlich. Die gesamte Kollektion stellt ein Vermögen dar, wie Sie sich denken können.«

»Und … und wenn Sie die Schlösser einmal geöffnet haben, können Sie sie dann auch wieder verschließen?«

Der Professor sah Mercier mit hochgezogenen Brauen an.

»Natürlich«, sagte er. »Oder wünschen Sie, daß ich den Tresor offenstehen lasse? Da hätten Sie einen anderen Mann engagieren müssen. Wenn ich fertig bin, sieht der Gegenstand meiner Bemühungen genauso aus wie zu Beginn. Ein Anton Sirus hinterläßt keine Spuren …«

74

»Ich muß mich gegen diese Frage auf das schärfste verwahren!«

»Na, so aus der Welt gegriffen ist sie ja wohl nicht!«

»Und ob sie das ist! Ich will dir mal was sagen, lieber Paul: Wir, im Institut, treiben reine Grundlagenforschung.«

»Soso.«

»Jawohl, reine Grundlagenforschung! Daß wir uns dabei auf alle schon geleisteten Arbeiten stützen, ist selbstverständlich! Und wenn Ransom bereits 1898 über die Wirkung von Bakterientoxinen auf motorische Nerven schrieb, dann berücksichtigen wir das und ziehen natürlich in Erwägung, daß unsere Untersuchungen einmal praktische Resultate bringen können – eben auf dem Gebiet der Schädlingsbekämpfung!«

»Aha! Und auf militärischem Gebiet …«

»Nie! Niemals! Das ist absurd! Das ist vollkommen ausgeschlossen! Hirnrissige Vorstellungen eines Journalisten!«

»Um Gottes willen, hört doch auf!« rief Valerie Steinfeld unglücklich.

»Wenn ihr euch schon einmal alle heiligen Zeiten seht, schreit ihr euch sofort an!«

Das war an einem Abend Ende November 1936.

In dem großen Mittelzimmer der Wohnung in der Gentzgasse saßen einander die Brüder Steinfeld gegenüber und stritten. Valerie war aus ihrem Sessel aufgesprungen und versuchte, die Männer zu besänftigen. Zierlich, sehr jung und sehr schön sah sie aus zwischen den um Jahre älteren Brüdern, die bei aller Verschiedenheit der Charaktere einander unglaublich ähnlich waren. Groß und schlank, hatten beide dichtes schwarzes Haar und schwarze Augen, breite Stirnen, hohe Backenknochen und dunkel getönte Haut. Der jüngere Daniel neigte mehr zu Temperamentsausbrüchen als der ältere, ironischere Paul, dessen starke Brauen sich immer wieder spitz und mokant in die Höhe zogen.

»Verzeih …« Daniel wandte sich an Valerie. Er küßte ihre Hand. »Aber ich muß mich so aufregen. Immer legt er es darauf an, daß ich mich aufrege, der Paul! Das ist einer der Gründe, warum ihr mich so selten seht. Weil ich solchen Szenen aus dem Wege gehen will! Aber heute mußte ich kommen. Deine Leute vom Funk haben bei uns herumspioniert!«

»Sie haben lediglich ein paar Fragen gestellt.«

»Spionieren nenne ich das! Warum hat mich niemand gefragt?«

»Du lehnst Interviews doch immer ab!«

»Ja, weil sie mir zum Kotzen sind! Aber wenn ich höre, daß du vor hast, gegen das Institut loszuziehen im Radio, eine Brandrede zu halten, daß wir Kriegsmaterial – phantastisch allein der Gedanke! –, daß wir Kriegsmaterial herzustellen versuchen … dann ist das etwas anderes! Dann gebe ich Interviews! Als Vorstand des Instituts! Ich komme sogar zu dir, damit du mich interviewen kannst!«

Paul strich über Valeries Hüfte.

»Setz dich hin, Liebling. Und sei ganz ruhig. Du kennst uns beide doch. Alte Streithähne! Ich bin Journalist. Ich habe mein Berufsethos. Daniel ist Wissenschaftler. Er hat das seine. Wenn er mich überzeugt, wirklich überzeugt, daß sich seine Forschungen nicht eines Tages in einem Krieg benützen lassen, dann werde ich das auch nie behaupten! Aber ich muß überzeugt sein.«

»Ich sage dir doch: Es ist denkbar, theoretisch denkbar, daß man, als Ergebnisse unserer Arbeiten, einmal Mittel entwickelt, die Schädlinge bekämpfen und vernichten.«

»Fragt sich nur, was für Schädlinge«, sagte Paul.

»Bitte!« flehte Valerie. »Nicht schon wieder!«

»Was soll das heißen?« rief Daniel.

»Es wird immer Menschen geben, für die andere Menschen nichts als Schädlinge sind«, sagte Paul.

»Du meinst, daß man nach unseren Arbeiten einmal Mittel zur chemischen oder bakteriologischen Kriegführung entwickeln kann?« Daniel holte tief Luft. »Du hast ja den Verstand verloren!«

»Na, Giftgase gab es schließlich schon im letzten Krieg.«

»Aber mit dem, was wir untersuchen, kann doch kein Mensch Giftgase herstellen!« Daniel griff sich an den Kopf. Dann wühlte er in den Taschen seiner Jacke. »Ich bin ganz ruhig, Valerie, hab keine Angst. Ich werde es Paul im Detail erklären. Mein Assistent, der Friedjung, hat mir Stichworte auf einen Zettel geschrieben … Wo habe ich ihn bloß …«

Valerie war bei Nennung des Namens kurz zusammengezuckt. Sie meinte: »Ich verstehe ja nichts davon. Aber wenn Paul sagt, daß schon im letzten Krieg Giftgase eingesetzt worden sind … Die haben ja schließlich auch Chemiker entwickelt, nicht wahr? Und diese Chemiker werden am Anfang ihrer Arbeit vielleicht auch nicht geahnt haben, was einmal aus ihr entstehen soll …«

»Wirklich, Valerie, du sagst es doch selbst: Du verstehst nichts davon!« Daniel lächelte ihr zu. »Da ist ja der Zettel!« Er entfaltete einen Bogen Papier und sah Paul an. »Also hör zu. Wir begannen unsere Überlegungen bei einem weltberühmten Mann – Louis Pasteur. Du weißt doch, daß unter Seidenraupen Seuchen ausbrechen können, nicht wahr? Nun, im Jahre 1870 …«

75

»Ist das der Zettel des Herrn Friedjung?«

Manuel Aranda war aufgesprungen und hielt Daniel Steinfeld ein vergilbtes Papier hin, das er aus seiner Brieftasche geholt hatte, während Steinfeld erzählte. Manuel war schon seit langem sehr erregt. Irene hatte ihm Zeichen gemacht, den alten Mann, der bereits recht müde war, nicht zu unterbrechen. Jetzt konnte Manuel nicht länger warten. Der Bogen, den er Groll zusammen mit den Fotografien Penkovics gegeben hatte, damit der Hofrat das ganze Material im Tresor des Dr. Stein deponieren konnte, zitterte in seiner Hand. Manuel dachte: Wie gut, daß ich mir dieses Papier gestern von Stein schicken ließ. Ich hatte eine Ahnung, daß ich es brauchen würde, wenn Daniel Steinfeld eintraf.

Manuel sagte eindringlich: »Bitte! Ist das der Zettel?«

Steinfeld starrte den Bogen an.

»Ja«, sagte er heiser. »Ja, das ist er. Woher haben Sie ihn? Damals, nach meinem Gespräch mit Paul, muß ich den Zettel hier liegengelassen haben, ich erinnere mich jetzt daran, daß ich ihn nie mehr fand … Hat Valerie ihn aufgehoben?«

Manuels Worte überstürzten sich jetzt: »Aufgehoben, ja! Vielleicht hat sie Ihnen das Papier auch weggenommen, als sie hörte, daß Friedjung die Notizen geschrieben hatte …«

»Ich verstehe nicht …«

»… und als sie von ungefähr etwas über Krieg und chemische und bakteriologische Waffen hörte. Ihr Unterbewußtsein muß da gearbeitet haben … oder auch ihr Bewußtsein … Sie kannte Friedjung als Nazi … Er war ihr Freund gewesen … Nun war er ihr Feind … Vielleicht wollte sie sich schützen mit diesem Zettel vor Friedjung, wenn der einmal etwas gegen sie unternahm …«

»Das ist doch verrückt!« rief Steinfeld.

»Leider gar nicht, Daniel«, sagte Irene leise. »Denk an das, was inzwischen alles geschehen ist.«

Der alte Mann senkte den Kopf.

»Wir waren blind, wir Wissenschaftler. Wir sind es immer … auch heute noch. Wenn wir sehend werden, ist es zu spät. Ich konnte mir 1936 wirklich nicht vorstellen … unmöglich vorstellen … Ich überzeugte sogar Paul. Er hielt seinen Vortrag gegen unser Institut nicht … Das ist der Zettel von Friedjung, ja! Mein Gott, vor dreißig Jahren hat er das geschrieben … vor dreiunddreißig Jahren … Wo habt ihr es gefunden?« Irene sagte, wo.

»Und als Frau Steinfeld das erste Mal zu diesem Doktor Forster ging, da hatte sie den Zettel bei sich! Später, in der Buchhandlung, fiel er ihr aus der Kostümjacke. Martin Landau sah ihn auch.« Manuels Worte waren kaum zu verstehen, so schnell redete er. »Sie hat den Zettel zu Forster mitgenommen in der unsinnigen Annahme, eine Waffe gegen Friedjung zu besitzen, der ja nun zugeschlagen hatte. Bei Forster muß ihr aufgegangen sein, daß das keine Waffe war, nein, daß Friedjung, wenn er an dem Projekt noch arbeitete, und zwar für Kriegszwecke, das im Auftrag der Regierung tat! Darum zeigte sie Forster den Zettel auch nie … Aber Meerswald wird sie ihn gezeigt haben, da bin ich sicher!« Mit einem Ruck hatte Manuel das Foto aus der Brieftasche gerissen, auf dem sein Vater an Deck der kleinen Yacht zu sehen war, groß, leicht untersetzt, ganz in Weiß gekleidet, sonnengebräunt und mit einer Pfeife in der Hand. »Und dieser Mann da, Herr Steinfeld? Dieser Mann da – wer ist das?«

»Allmächtiger Gott im Himmel«, sagte der alte Mann mit bebender Stimme. »Das … das ist er … das ist mein ehemaliger Assistent Friedjung!«

Irene trat neben Manuel. Sie legte eine Hand auf seine Schulter. »Sind Sie sicher, Herr Steinfeld?«

»Ganz sicher … Älter … älter als zu meiner Zeit natürlich … aber diese Lippen, diese Nase, die Stirn, das Lachen … das ist Karl Friedjung, ich könnte es beschwören.«

»Es wäre nicht mehr nötig«, sagte Manuel, plötzlich mit leiser, beherrschter Stimme. »Der Zettel würde genügen. Diese Handschrift kenne ich nämlich.«

»Der Mann auf dem Foto – das ist Ihr Vater?« fragte Steinfeld. Plötzlich sprach auch er sehr leise.

»Das war mein Vater«, sagte Manuel. Danach setzte er sich. Irene sah ihn an. Lange Zeit war es still in dem großen Raum.

Dann sagte Steinfeld: »Also habe ich ihr Unrecht getan, der armen Valerie … Also hat sie doch recht gehabt mit all ihren Vermutungen und Hypothesen …«

»Karl Friedjung, so heißt mein Vater wirklich«, sagte Manuel mit der flachen Stimme, in der er nun sprach. »Ich bin der Sohn des Mannes, der Valerie Steinfeld einmal liebte und dann haßte. Und meine Mutter ist jene junge Frau, die 1945, eine Woche nach dem Luftangriff auf die Chemieschule, nachts aus ihrer Wohnung in der Siebensterngasse geholt wurde, zusammen mit einem kleinen Kind … und die dann mit Friedjung zusammen spurlos verschwand … Das kleine Kind, das war ich … Sie flüchteten nach Argentinien mit mir … Für Bonzen war das möglich … und er war doch ein wichtiger Mann, mein Vater! Die argentinischen Behörden ließen damals viele Leute wie ihn ins Land … Er bekam falsche Papiere für uns alle … Wir hießen Aranda … Ich war in Buenos Aires geboren … wie meine Eltern … So ist das also gewesen …«

Wieder folgte eine Stille.

Eine bedrückende Stille.

Dann sagte der alte Mann: »Aber Valerie hat nie erfahren, daß Ihr Vater und dieser Friedjung identisch waren. Sie hat nie erfahren, wo er lebte, wie er hieß, was aus ihm geworden war – bis zu dem Moment, in dem er in die Buchhandlung kam, um ein Werk mit Stichen von Wien zu kaufen … arglos, zufällig, vollkommen zufällig … Valerie hat nichts gewußt von Friedjung vorher! Nicht das Geringste! Nachdem Meerswald zum letztenmal bei mir war, flog er nach Südamerika. Er wurde ermordet – vielleicht weil er dem Geheimnis auf die Spur gekommen war. Er hat Valerie nie wiedergesehen …«

»Auf dem Tonband, das da von der Polizei aufgenommen wurde, sagte Valerie, daß sie ein Leben lang auf den Moment gewartet hat … daß der Mann sie nicht wiedererkannte … erinnerst du dich, Manuel?« fragte Irene.

»Ich erinnere mich«, sagte Manuel Aranda und griff nach der Hand, die auf seiner Schulter lag. »Wenn mein Vater nicht in diese Buchhandlung gegangen wäre, sondern in eine andere … in keine … wenn Frau Steinfeld gerade nicht dagewesen wäre an diesem Tag … mein Vater würde noch leben, nichts wäre geschehen …«

Daniel Steinfeld sagte: »Er ist aber in die Buchhandlung Landau gegangen und in keine andere. Und Valerie war nicht gerade fort, sie war da.«

Langsam mit dem Kopf nickend, sprach der alte, kranke Jude, der unterwegs war, gejagt, vertrieben, auf der Suche nach einer neuen Heimat:

»Man soll keinen Menschen verurteilen und keine Sache für unmöglich halten. Denn es gibt keinen Menschen, der nicht seine Zukunft hätte, und es gibt keine Sache, die nicht ihre Stunde bekäme …«

76

Um 2 Uhr 14 in dieser Nacht richtete der Professor, der vor der Tresortür gekniet und an der Öffnung des unteren Schlosses gearbeitet hatte, sich auf. Mercier betrachtete ihn wie hypnotisiert. Der Professor ergriff das verchromte Rad der Tresorwand und drehte es langsam nach rechts. Dann zog er fest an ihm. Ein leises Pfeifen von einströmender Luft ertönte, als die gewaltige, zwanzig Zentimeter dicke Stahltür aufschwang. Im Innern des Tresorraums schalteten sich an der Decke eines ein mal ein Meter umfassenden, zwei Meter hohen Raumes Neonlichtröhren ein. Regale standen an den Wänden des Tresors, ein Tisch stand in seiner Mitte. Pakete, Akten, Papiere und verschiedene Schachteln lagen auf den Regalen und auf dem Tisch.

Gebannt trat Mercier vorwärts. Einen Schritt. Noch einen Schritt. Als er in den Tresorraum stieg, dachte er, daß dies wohl der feierlichste Augenblick seines Lebens war. Anton Sirus dachte an Claude Monets Gemälde ›Die Mohnblumen‹, das noch im Musée des l’Impressionisme hing, aber nun für ihn zu haben war. Beide Männer fühlten sich sehr glücklich.

77

Gegen 11 Uhr vormittags am 28. Januar 1969 hörte das Schneetreiben über Wien mit überraschender Plötzlichkeit auf, und der graue Himmel begann sich von Westen her mehr und mehr zu verdüstern. Das Licht verfiel langsam.

In dem kostbar eingerichteten Empfangszimmer der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹ in dem alten Barockpalais an der Wollzeile brannten viele Kerzen eines Lüsters. Ein tadellos wie stets gekleideter Fedor Santarin saß an einem Besuchertischchen Nora Hill gegenüber, die einen dunkelroten Hosenanzug trug. Ihr Nerzmantel lag über der Lehne des tiefen Fauteuils. Georg hatte seine Herrin in die Stadt gefahren.

Fedor Santarin war von erlesener Höflichkeit.

»Sie haben ausgezeichnete Arbeit geleistet, Madame. Wir sind sehr zufrieden mit Ihnen. Es ist anzunehmen, daß wir den Fall Aranda in den nächsten beiden Tagen abschließen können. Der junge Herr war heute bis lange nach Mitternacht bei Fräulein Waldegg. Ich nehme an, Daniel Steinfeld hatte viel zu erzählen. Herr Aranda dürfte nun vollständig orientiert sein. Sie rufen ihn an und bitten ihn, Sie heute abend zu besuchen. Grant und ich werden auch da sein, wie immer. Ich denke, der Moment ist gekommen, Ihren kleinen Wunsch zu äußern.«

Nora runzelte die Stirn.

»Weshalb haben Sie mich hergebeten? Doch nicht, um mir zu sagen, daß ich Manuel Aranda einladen soll. Das hätten Sie auch telefonisch erledigen können.«

»Gewiß.« Santarin offerierte die Konfekttüte aus Goldkarton. »Darf ich mir erlauben?«

»Nein, danke.«

Der Russe wählte ein Stück Marzipan und aß mit Genuß.

»Nun!« Nora hatte ein unangenehmes Gefühl.

»Ich erkläre es Ihnen gleich. Vorher sagen Sie mir bitte, wie Sie Ihren kleinen Wunsch vorbringen werden.«

»Das wissen Sie doch! Das haben Sie mir selber eingebleut, es war Ihr Plan!«

Santarin kreuzte die Beine und legte die Spitzen der Finger aneinander. Er lächelte höflich.

»Erzählen Sie es mir trotzdem noch einmal, Madame. Ich möchte sichergehen, daß nicht im letzten Moment etwas schiefläuft.«

»Schön.« Nora legte die Hände auf die Krücken, die zu beiden Seiten des Sessels lehnten. »Ich werde Aranda fragen, ob er nun alles über den Tod seines Vaters erfahren hat.«

»Nehmen wir an, er sagt ja.«

»Dann werde ich sagen, man sei an mich mit einer Bitte herangetreten, die ich an ihn weitergeben soll.«

»Nämlich welche?«

»Santarin, wirklich, müssen wir das alles noch einmal …«

»Ja«, sagte er nur.

Sie sahen sich kurz an.

»Wie Sie wollen«, sagte Nora. »Die Bitte nämlich, er möge, nun, da der Fall geklärt ist, die Dokumente seines Vaters und den Film aus dem Tresor dieses Anwalts holen, sie vernichten und heimkehren.« Nora sprach wie eine gereizte Schülerin, die ihre Aufgabe herunterleiert. »Gegen die Tatsache, daß die beiden Supermächte die Erfindung seines Vaters besitzen, kann er nichts mehr tun. Nach Vernichtung aller Unterlagen besteht wenigstens keine Gefahr mehr, daß eine dritte Macht die Erfindung bekommt. Ich werde an seine Vernunft appellieren. Wem dient er mit Panikmache?«

»Wenn er sich weigert?« fragte Santarin, wie ein liebenswürdiger Lehrer. Du elendes Schwein, dachte Nora.

»Dann werde ich ihn darauf aufmerksam machen, daß er so seine Freundin in Gefahr bringt. Meine Auftraggeber würden sich ihrer annehmen, haben sie gedroht.«

»Gut. Es ist alles so gelaufen, wie ich hoffte. Der junge Herr hat sich in Irene Waldegg verliebt. Wenn er nun aber dennoch den Helden spielen und die Welt aufklären will?«

»Werde ich ihn noch eindringlicher warnen. Er verschuldet damit den Tod seiner Freundin, und er selber wird auch nicht mehr die Pressekonferenz der Schweizer Botschaft erleben.«

»Wenn er droht, sich an österreichische Behörden zu wenden?«

»Erinnere ich ihn an alle Erfahrungen, die er mit österreichischen Behörden gemacht hat. Daran, daß die nie eingreifen werden in einem solchen Fall. Daß auch seine Botschaft ihm nicht helfen wird. Und daß die beiden Großmächte demnächst feierlich ihren Verzicht auf B- und C-Waffen bekanntgeben werden. Wem glaubt man dann? Ihm oder den Mächtigen?« Nora sagte achselzuckend: »Ich denke, das sollte genügen. Er wird vernünftig sein.«

»Ich bin ganz sicher«, sagte Santarin. »Und zwar wird er es auch schon ohne jede Drohung sein. Der Fall wäre damit sehr bald abgeschlossen. Und das muß er auch sein, denn Grant und ich haben eine neue Aufgabe für Sie.«

Nora schluckte. Deshalb also hatte Santarin sie rufen lassen.

»Was, schon wieder ich?«

»Schon wieder Sie, Madame. Sie sind eben unersetzlich. Wir benötigen Sie ständig. Es handelt sich diesmal um einen kroatischen Exilpolitiker. Der Mann ist im Begriff, eine große antisowjetische Kampagne in Deutschland zu starten. Noch lebt er in Wien. Angesichts der bevorstehenden Geheimgespräche unserer Regierung mit der amerikanischen will keine Seite eine solche Störung tolerieren. Wir müssen den Herrn also zum Schweigen bringen – und all sein Beweismaterial in unseren Besitz.«

Nora sagte heftig: »Das soll also ewig so weitergehen!«

Santarin nickte freundlich.

»Das soll nie aufhören?« Noras Stimme erhob sich.

Santarin schüttelte freundlich den Kopf.

»Aber ich habe genug! Ich habe genug, sage ich Ihnen! Ich …«

»Nicht so laut, Madame. Sie sind eine so kluge Person. Sie wissen doch, daß Ihnen gar nichts anderes übrigbleibt, als zu tun, was wir von Ihnen verlangen.« Santarin machte eine schnelle Bewegung. In seiner Hand lag plötzlich jene automatische Pistole der Firma Smith & Wesson, Kaliber 6.35, Baujahr 1940, die Jack Cardiff Nora vor siebenundzwanzig Jahren zu ihrem Schutz gegeben hatte. »Muß ich Ihnen wirklich wieder einmal zeigen, daß wir Ihre Waffe haben? Das wissen Sie doch.«

»Ich habe in Notwehr geschossen«, sagte Nora Hill, aber in ihren Worten klang bereits Resignation. Nie, nein, nie werde ich freikommen, dachte sie. »Dieser Ungar hatte alles über das, was sich in meinem Haus abspielte, herausbekommen und wollte Geld, eine Wahnsinnssumme, dafür! Sie wissen es! Sie waren draußen in der Villa! Sie hörten unseren Streit!«

»Gewiß, Madame. 1962, am einundzwanzigsten November.«

»Sie hörten, daß er versuchte, tätlich zu werden! Sie wissen, daß ich in meiner Angst die Pistole zog …«

»Ich weiß das alles, Madame. Sie zogen die Pistole, er lachte und versuchte, sie Ihnen wegzunehmen, ein Schuß löste sich, der Herr fiel tot um.«

»Notwehr, reine Notwehr, ich sage es doch!«

»Sie sagen es. Aber Sie kamen dennoch zu mir und Grant gelaufen in Ihrer panischen Angst, die Polizei könnte Ihnen nicht glauben. Und Grant und ich verschafften Ihnen ein erstklassiges Alibi und ließen die Tatwaffe verschwinden – daran erinnern Sie sich hoffentlich auch noch, Madame.«

Nora Hill sah zornig und zugleich hilflos zum Fenster. Draußen wurde es immer dunkler. Ein Windstoß traf die Glasscheiben.

»Antworten Sie!«

»Ja! Ja! Ja! Sie haben mir damals geholfen.«

»Sehr geholfen. Wiederholen Sie, bitte.«

»Sehr geholfen.«

»Dank unserer Hilfe hat die Polizei Sie, obwohl zuerst alles gegen Sie sprach, nicht verhaftet. Man konnte Ihnen nichts nachweisen – dank unserer Hilfe. Der Mord blieb unaufgeklärt – bis heute. Und er wird es bleiben, solange wir so hervorragend kooperieren wie bisher. Sollten wir das einmal nicht mehr tun – ich würde es zutiefst bedauern –, dann geht diese Pistole an die österreichische Polizei. Und Grant und ich werden nicht zögern, das Alibi, das wir damals für Sie schufen, zu zerstören. Dann wird man Sie wegen Mordes anklagen können, immer noch. Es ist noch keine zwanzig Jahre her, Madame, bedenken Sie. Ich hasse es, so zu sprechen, aber von Zeit zu Zeit, scheint es, muß ich daran erinnern …« Ein Telefon auf einem anderen Tischchen läutete. »Verzeihen Sie bitte.« Santarin ging durch das Zimmer und hob den Hörer ab.

Nora blickte ihm haßerfüllt nach.

»Santarin!« Der Russe meldete sich. »Aus Paris? Wer will mich … Mercier! Was machen Sie in …« Santarin brach ab. Nora sah ihn an. Sie bemerkte, daß der Russe sich auf die Lippe biß, während er lauschte. Nora beobachtete ihn genau. Sie kannte Santarin gut. Hier war etwas geschehen. Hier war etwas Schlimmes geschehen. Was? Ihr Herz klopfte plötzlich stürmisch. Mercier in Paris?

»Moment …« Santarins Stimme klang stockend. »Ich kann hier nicht sprechen. Ich schalte nur um. Bleiben Sie am Apparat!« Er stöpselte die Telefonschnur aus und ging schnell zu einer Tür, an Nora vorbei. Er lächelte, aber es war ein sehr verzerrtes Lächeln: »Ich bin gleich wieder da, Madame.«

»Aber natürlich«, sagte Nora, tief in Gedanken versunken …

Santarin eilte einen Gang entlang bis zu einer tapetenbespannten Stahltür, die er mit zwei Schlüsseln öffnete. Schnell trat er in den großen, indirekt beleuchteten Raum. Hier befand sich der Kurzwellensender, über den Kontakt zu den Funkwagen gehalten wurde. Zwei junge Männer saßen vor dem Gerät. Einer sprach gerade russisch mit einem Einsatzwagen. Auch hier waren die Möbel antik, die Wände von Seidentapeten bedeckt. Über einem Wandbord, direkt unter einem alten Stich, befand sich eine Telefonsteckdose. Santarin stöpselte den Apparat, den er abstellte, ein und hob den Hörer ans Ohr. Er sprach Französisch.

»Mercier? Da bin ich wieder. Was war das? Wieso rufen Sie diese Nummer? Woher kennen Sie die überhaupt?« Das Gespräch war zu einem Apparat gekommen, der einen Zerhacker besaß.

»Ich kenne sie eben.« Merciers Stimme klang an Santarins Ohr, ganz nah, aber völlig verändert – nicht länger bedrückt, nein, triumphierend. »Ich kenne sie schon eine ganze Weile. Wir besitzen hier in Paris einen Apparat mit gleichem Zerhacker. Es kann niemand mithören. Also, Santarin, um es kurz zu machen: Ich habe den Tresor dieses Anwalts knacken lassen. Heute nacht. Mit der ersten Frühmaschine bin ich nach Paris geflogen. Ich komme nicht zurück. Das gesamte Material, das ich im Tresor fand, ist bereits bei meinen Vorgesetzten. Wir kennen AP Sieben nun auch.«

»Sie lügen«, sagte Santarin heiser.

»Ich lüge nicht. Der Anwalt heißt Rudolf Stein. Kohlmarkt elf. Ich fand nicht nur den Film und das chiffrierte Manuskript von Doktor Aranda, sondern auch den Klartext, den die Staatspolizei entschlüsselt hat. Er ist auf Papier der Trans geschrieben. Ich lese Ihnen ein Stück vor, damit Sie mir glauben …«

Santarin lauschte reglos. Ein Muskel zuckte unter seinem rechten Auge. Nach einer Weile sagte er: »Das genügt. Sie haben es also geschafft, Mercier. Gratuliere.«

»Danke. Sie sind mir doch nicht etwa böse?«

»Böse? Keine Spur! Wie kommen Sie auf eine solche Idee?«

»Dann bin ich beruhigt.« Mercier räusperte sich. »Das heißt … ganz beruhigt nicht. Wenn dieser Anwalt Stein seinen Tresor öffnet – ich habe ihn wieder ordentlich verschließen lassen –, dann wird er natürlich entdecken, daß das Material fehlt. Vielleicht hat er es schon entdeckt. Vielleicht entdeckt er es in einer Stunde. Vielleicht in zwei Stunden. Vielleicht morgen. Was geschieht dann? Stein wird Aranda anrufen. Was wird Aranda tun? Reden, nehme ich an. Laut und vernehmlich. In der Schweizer Botschaft. Auf einer internationalen Pressekonferenz. Ich bin ganz sicher, daß er reden wird, wenn er begreift, daß das Material sich nun auch in unserem Besitz befindet. Und das muß er begreifen, denn Sie und Grant hatten es ja schon. Ein bißchen peinlich, wie?«

»Sie elender …«

»Nicht doch. Jetzt ist nicht die Zeit zu fluchen. Jetzt ist vielmehr die Zeit, zusammenzuhalten, finde ich. Von hier aus kann ich nichts unternehmen, leider. Und es geht wirklich um Minuten jetzt, das sehen Sie doch ein, mein Lieber …« Der Russe drückte die Gabel des Telefons nieder. Die Verbindung war unterbrochen.

»Aranda ist immer noch in der Möven-Apotheke«, erklang eine russische Männerstimme aus dem Lautsprecher des Kurzwellensenders.

»Sie warten weiter, Tolstoi. Bleiben Sie auf Empfang«, antwortete der eine der jungen Männer.

»Verstanden, Lesskow …«

Im Lautsprecher krachte es laut, mehrere Male.

»Was ist das bloß heute?« fragte der zweite junge Mann.

»Schwere atmosphärische Störungen«, sagte sein Kollege.

Santarin stand immer noch reglos. Er sah durch ein Fenster des Raumes in die trostlose Dämmerung hinaus, die sich über die Stadt gesenkt hatte, mitten am Tage. Dann griff er nach dem Hörer, hob ihn auf und wählte schnell.

Fünf Minuten später kehrte der Russe zu Nora Hill zurück. Er entschuldigte sich lächelnd noch einmal für die Unterbrechung.

»Aber das macht doch nichts«, sagte Nora Hill, gleichfalls lächelnd. Santarin setzte sich.

»Also«, sagte er, »um nun auf diesen kroatischen Exilpolitiker zu sprechen zu kommen …«

78

»Jetzt kennst du die ganze Geschichte«, sagte Wolfgang Groll.

Der Weinhauer Seelenmacher lehnte sich in dem großen Ohrensessel des Arbeitszimmers zurück und sah schweigend auf den Teppich. Groll trug einen Pyjama, einen Schlafrock darüber, Socken und Pantoffeln. Er war, während er erzählt hatte, zwischen den Bücherwänden auf und ab gegangen, vorbei an einem halb geöffneten Fenster, durch das kalte Luft in den überheizten Raum strömte. Hier brannte gleichfalls elektrisches Licht, denn draußen wurde es von Minute zu Minute düsterer. Groll sah schlecht aus. Während seines Berichtes hatte er ein paarmal nach Luft gerungen und Dragees geschluckt.

Tags zuvor, am Montagnachmittag, war ihm während einer Besprechung mit Kriminalbeamten plötzlich totenelend geworden. Man hatte den Polizeiarzt gerufen. Der kannte solche Anfälle des Hofrats seit Jahren. Er untersuchte Groll und entschied: »Sie fahren auf der Stelle heim und legen sich ins Bett. Da bleiben Sie die nächsten drei Tage. Total überarbeitet.«

»Unsinn. Mir geht es schon wieder ausgezeichnet«, murrte Groll.

»Schon wieder ausgezeichnet! Sie wollen also unbedingt so lange schuften, bis Sie glücklich einen Herzinfarkt haben, wie? Wollen Sie das?«

»Ja«, antwortete Groll. »Das will ich, Doktor. Und zwar einen tödlichen Herzinfarkt natürlich. An meinem Grab sollen keine Reden …«

»Schluß jetzt!« Der Arzt wurde energisch. Er bestand darauf, daß Groll pausierte, er werde täglich nach ihm sehen.

Sie stritten. Schließlich wurde Groll von seinem obersten Chef aufgefordert, zu tun, was der Arzt sagte.

Der fuhr ihn in seinem Wagen (Groll besaß keinen eigenen) heim und kaufte unterwegs noch verschiedene Arzneien. Er wachte darüber, daß Groll sich auch wirklich auszog, ins Bett legte und die Mittel nahm.

»Es ist doch jeden Winter dieselbe Geschichte, Doktor!«

»Streifen Sie den Ärmel hoch.« Der Polizeiarzt hantierte mit einer Spritze und gab Groll noch eine Injektion. Danach schlief dieser bald. Er verbrachte eine angenehme Nacht. Am Morgen kam der Arzt wieder.

»Hören Sie, Doktor, mir geht es gut, ich kann wirklich in den Laden!«

»Nur über meine Leiche! Sie bleiben im Bett. Abends schaue ich wieder vorbei. Wehe Ihnen, wenn Sie rauchen oder trinken!«

»Wo werde ich«, sagte Groll. Als dann, eine Stunde später (der Hofrat hatte inzwischen Seelenmacher angerufen und gebeten, ihn zu besuchen und mit ihm Schach zu spielen) Manuel Aranda eintraf, stand Groll, entzückt über den Anlaß, auf, zog einen Morgenmantel an und ging mit seinem Besuch in das Arbeitszimmer.

»Im Sicherheitsbüro sagte man mir, Sie seien zu Hause. Verzeihen Sie, daß ich einfach herkomme. Aber ich habe Ihnen so viel zu erzählen …«

Manuel war sehr aufgeregt gewesen. Er hatte kaum geschlafen in dieser Nacht. »Natürlich, wenn es Ihnen schlecht geht …«

»Mir geht es ausgezeichnet! Die alte Cognacpumpe macht manchmal Geschichten. Sie haben es ja erlebt. Nichts dahinter. Ich werde hundert … Zigarre?«

»Nein, danke.«

»Aber ich.« Groll zündete eine seiner geliebten Virginiers an. »Nun erzählen Sie, Manuel!«

Und der erzählte – alles, was er von Daniel Steinfeld erfahren hatte, alles, was er nun wußte. Eine Stunde lang erzählte er. Groll wanderte hin und her in dem mit Büchern angefüllten Zimmer und unterbrach selten durch eine Frage. Zuletzt sagte er: »Das also ist die Wahrheit. Es tut mir leid für Sie, Manuel, es tut mir ehrlich leid.«

»Es braucht Ihnen nicht leid zu tun. Ich kenne die Wahrheit, das ist das Wichtigste.«

»Aber daß Ihr Vater …«

»Darüber werde ich hinwegkommen«, erwiderte Manuel.

»Was machen Sie jetzt?«

Manuel war verlegen geworden.

»Ich bin mit Irene Waldegg verabredet …«

Groll nickte.

»Ich verstehe schon.«

»Ich rufe an, Herr Hofrat. Und ich besuche Sie wieder. Vielleicht morgen?«

»Morgen ist fein.« Groll drückte Manuel herzlich die Hand. »Und alles Gute, mein Lieber …«

Allein, hatte der Hofrat sich in den alten, geschnitzten Sessel hinter seinen Schreibtisch gesetzt und dem Rauch einer zweiten Zigarre nachgeblickt, die ihm nun zwischen den Lippen hing.

Bald war Seelenmacher erschienen. Groll hatte Tee gekocht und den Samowar auf das Tischchen neben dem Schreibtisch gestellt. Sie schlürften beide die heiße, duftende Flüssigkeit, während Groll seinen Freund informierte, wobei er wieder auf und ab zu gehen begann, weil er so leichter Luft bekam. Endlich war er fertig gewesen und vor Seelenmacher stehengeblieben.

»Jetzt kennst du die ganze Geschichte.«

Seelenmacher sah auf den Teppich und schwieg lange.

»Was hast du?« fragte Groll zuletzt, wobei er ein Fläschchen Magenbitter hervorholte und öffnete.

»Ich muß an so vieles denken«, sagte der Weinhauer. »Einmal, da erzählte ich deinem Manuel die Geschichte von den sechsunddreißig Gerechten, die es immer auf unserer Welt gibt, immer und zu allen Zeiten, die es einfach geben muß. Doktor Forster ist vielleicht so ein Gerechter gewesen. Daniel Steinfeld ist vielleicht ein solcher Gerechter. Und wenn er stirbt, wird ein anderer seinen Platz einnehmen. Immer wird ein Nachfolger da sein.« Seelenmacher sah auf seine großen Hände. »Ich habe ihm gesagt, daß er Frieden finden wird zuletzt, wenn er alles versteht und alles weiß …«

»Ich glaube nicht, daß Manuel schon Frieden gefunden hat«, sagte Groll.

Er trank das Fläschchen leer.

»Das glaube ich auch nicht.« Seelenmacher sah auf. »Zwei junge Männer gibt es in dieser Geschichte – Manuel Aranda und diesen Heinz Steinfeld. Sie sind einander ähnlich in ihrer Not … ihrer Unruhe, in ihrem Suchen und Verlangen und Wünschen … Sehr ähnlich … Heinz Steinfeld, der hat seinen Frieden ganz gewiß erst im Tod gefunden …«

»Was willst du damit sagen?«

»Als er gestorben war, war alles gut. Vorher nie, bestimmt nicht. Dein Manuel ist davongekommen. Aber das ist nicht mehr der Mann, der nach Wien kam vor zwei Wochen. Das ist ein anderer Mann, Wolfgang. Und ich glaube nicht, daß er jemals über das hinwegkommen wird, was er nun weiß …«

»Vielleicht zusammen mit einer Frau, die ihn liebt.«

»Selbst dann nicht …« Seelenmacher schüttelte den Kopf. »Das, was auch in ihm gestorben sein muß, kann niemand mehr lebendig machen. Er ist ein Gezeichneter geworden …«

In diesem Moment zuckte ein greller Blitz über den Himmel. Unmittelbar darauf krachte überlaut der Donnerschlag. Jäh kam Sturm auf. Der Fensterflügel klapperte. Groll schloß ihn hastig. Wieder blitzte es, und wieder. Der Donner riß nicht mehr ab.

»Ein Wintergewitter!« Der Hofrat sah auf die Straße hinunter. Es war nun fast Nacht geworden, Autos und Straßenbahnen fuhren mit Licht.

»Darum war mir gestern so mies. Ich habe das in den Knochen gespürt!«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da begann, mit ohrenbetäubendem Lärm, heftiger Eisregen herabzustürzen. So dicht waren die Körner, daß man das Haus gegenüber nicht erkennen konnte. Die Hagelschloßen knallten auf die Fahrbahn und sprangen von ihr empor. Menschen rannten in Hausflure. Autos und Straßenbahnen blieben stehen. Man sah keine fünf Meter weit.

»Der Kreis hat sich geschlossen«, sagte Seelenmacher. »Um die halbe Erde hat sein Weg diesen Doktor Aranda geführt – bis in die Buchhandlung Landau, zu Valerie Steinfeld. Er hatte keine Ahnung, daß sie da arbeitete. Und trotzdem. Und trotzdem! Du bist Naturwissenschaftler. Du magst mein Gerede oft nicht, besonders, wenn ich sage, daß alles vorausbestimmt ist, daß es keine Zufälle gibt …«

»Ich mag deine Art von Erklärung nicht«, sagte Groll, in das Unwetter starrend. »Du bist ein gläubiger Mensch. Ich versuche alles, was mit dem Glauben zusammenhängt, immer weit wegzuschieben. Mir fällt das Glauben eben zu schwer. Ich habe auch eine Theorie über den Zufall, aber die sieht anders aus als deine …«

»Ja, ich weiß. Ich glaube daran, daß es nur magische Zufälle gibt, also keine wirklichen … Du hast mir erzählt, daß dieser Friedjung Valerie Steinfeld einmal liebte …«

»Ja.«

»Und sie ihn … Wenn du willst, hast du hier das Liebespaar dieser Geschichte – ein tragisches, böses, aber dennoch das eigentliche … Im Tod berührten sich noch ihre Hände, noch im Tod … Es war eine Notwendigkeit, daß die beiden einander trafen, eine metaphysische Notwendigkeit, du magst das alles nicht, ja, ja … und trotzdem … ›Alles Getrennte findet sich wieder.‹ So ähnlich steht es doch bei deinem geliebten Goethe, nicht?«

Groll brummte: »Diesmal ist es nicht Goethe, sondern Hölderlin: ›Versöhnung ist mitten im Streit, und alles Getrennte findet sich wieder.‹« Sein Blick fiel auf den kleinen Rahmen am Fuß der Schreiblampe, er sah das Ginkgo-Blatt an, das da unter Glas lag.

»Ja, Ernst«, sagte Groll. »So heißt es. Das also ist der ›geheime Sinn‹ gewesen …« Der Mann, der sich selbst einmal einen ›frommen Heiden‹ genannt hatte, sprach, während draußen der Hagel prasselte und Blitze zuckten und Donner rollten, langsam: »Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident. Nörd- und südliches Gelände ruhn im Frieden seiner Hände …«

Ein blendender Blitz erhellte das Zimmer. Sofort folgte der Donnerschlag. Und dann begann das Telefon zu läuten.

Groll hob ab und meldete sich.

»Hier ist Nora Hill«, sagte eine Frauenstimme, kaum verständlich, denn in der Verbindung knisterte und rauschte es.

»Küß die Hand, gnädige Frau. Was verschafft mir …«

»Ich habe keine Zeit.« Die Stimme klang hastig. »Herr Hofrat – ich weiß, Sie werden mich nie verraten –, ich muß Ihnen einen Tip geben. Es ist dringend. Ganz dringend.«

»Sprechen Sie.«

Nora Hills Stimme kam in Bruchstücken, gestört durch Geräusche in der Leitung: »… doch bei einem Anwalt in einen Tresor gelegt, nicht wahr?«

»Ja, Und?«

»Rufen Sie diesen Anwalt sofort an! Sagen Sie ihm, er soll den Tresor öffnen und nachsehen, ob das Material von Manuel Aranda noch darin liegt!«

»Was bedeutet das?«

»Keine Zeit, es zu erklären … kann ich überdies nicht …«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau. Ich werde sofort … hallo!«

Groll schüttelte den Hörer. Die Leitung war tot.

In einer Telefonzelle am Stadtrand stand Nora Hill, auf ihre Krücken gestützt. Georg wartete draußen im Wagen. Nora sah in das Unwetter. Ich habe getan, was ich konnte, dachte sie.

Groll, hinter seinem Schreibtisch, hatte plötzlich ein dunkelrotes Gesicht bekommen, während er hastig die Nummer der Kanzlei Dr. Stein wählte. »Was ist?« Seelenmacher sah ihn besorgt an.»Wolfgang! Reg dich nicht so auf!«

»Ich erkläre dir alles sofort … Fräulein? Fräulein! Dieses elende Wetter! … Ja, ich höre Sie auch kaum! Hier ist Groll. Verbinden Sie mich bitte mit Doktor Stein …« Gleich darauf hatte er den Anwalt am Apparat. Das wüste Gewitter machte die Verständigung schwer. Groll mußte schreien. Schreiend äußerte er den Wunsch, Stein möge seinen Tresor öffnen. Zwei Minuten vergingen. Dann hörte Seelenmacher seinen Freund sagen: »Verschwunden. Alles … Nein, unternehmen Sie nichts … nicht das geringste … Sie hören wieder von mir.« Er legte auf und wählte neu.

»Wolfgang!« rief der Weinhauer.

»Gleich. Es hat sich alles noch einmal gedreht«, sagte Groll. Er telefonierte jetzt mit dem Ministerialrat Hanseder von der Staatspolizei, dem er den Diebstahl der Dokumente und der Filmrolle meldete. Er bat ihn um weitgehende Vollmachten. Hanseder versprach, schnellstens zu entscheiden.

Groll rief im ›Ritz‹ an.

»Bedaure, Herr Aranda ist nicht im Hause … Nein, wir wissen nicht, wo er sich befindet …«

Groll rief die Möven-Apotheke an.

Ein Mädchen erklärte: »Herr Aranda war da. Vor zehn Minuten ist er mit Fräulein Waldegg fortgefahren.«

»Wohin?«

»Das weiß ich nicht. Jemand hat telefoniert. Dann sind sie ganz plötzlich …«

»Danke«, sagte Groll. Er hatte eben aufgelegt, da klingelte das Telefon wieder. Sein Freund Hanseder war am Apparat: »Du hast freie Hand – aber wenn etwas schiefgeht, trägst du die Verantwortung. Wir haben mit der Sache nichts zu tun.«

»Nein, natürlich nicht«, sagte Groll böse.

Seelenmacher war an den Schreibtisch gekommen, während Groll in fliegender Hast die Nummer des Sicherheitsbüros wählte.

»Man hat die Dokumente aus dem Tresor gestohlen?«

»Ja! Und Manuel und die Waldegg sind weggefahren, keiner weiß wohin, nach einem Anruf …«

»Großer Gott!«

Grolls Erschöpfung schien weggezaubert. Staunend hörte Seelenmacher, wie er seinen Chef um Genehmigung einer Großfahndung mit allen verfügbaren Wagen und Mannschaften bat. Er erhielt die Erlaubnis. Bereits Minuten später fuhren die ersten Streifen, die eine Beschreibung von Irene und Manuel sowie von Manuels Wagen erhalten hatten, aus dem Hof des Sicherheitsbüros. Da telefonierte Groll gerade mit dem Inspektor Schäfer.

»Nehmen Sie sich einen Wagen und holen Sie mich ab.«

»Aber Sie sind doch krank, Herr Hofrat …«

»Krank, Scheiße! Einer muß das jetzt koordinieren! Holen Sie mich ab, sage ich Ihnen! In zehn Minuten sind Sie da! Ich ziehe mich an und warte auf der Straße! Kein Wort mehr, kommen Sie!« Groll knallte den Hörer in die Gabel und eilte in das Schlafzimmer, wo er sich anzukleiden begann. »Die Schweine«, sagte er dabei. »Sie dürfen es nicht schaffen … Wir müssen schneller sein diesmal … wir müssen!«

Zur selben Zeit eilte der Inspektor Ulrich Schäfer bereits auf einen Funkwagen zu, der im Hof des Sicherheitsbüros stand. Er startete den Motor und glitt durch einen Torbogen auf die Straße hinaus. Das Unwetter war so arg geworden, daß er, auch mit Licht, kaum etwas erkennen konnte und im Schritt fahren mußte. Plötzlich trat er jäh auf die Bremse. Ein Mann war vor der Kühlerhaube des Wagens aufgetaucht. Fluchend kurbelte Schäfer ein Fenster herunter, um den Passanten anzubrüllen, doch dieser eilte bereits zum rechten vorderen Schlag, öffnete ihn und ließ sich neben den Inspektor gleiten. Er hatte den Hut tief in die Stirn gedrückt und zog jetzt ein dickes Kuvert, einen Bogen Papier und einen Kugelschreiber aus der Tasche.

»Hier«, sagte der Unbekannte. »Hunderttausend Schilling. Keine Zeit, sie nachzuzählen, es stimmt schon. Unterschreiben Sie, daß Sie das Geld empfangen haben.«

Der Inspektor Ulrich Schäfer unterschrieb mit unsicheren Fingern. Der Mann riß ihm Papier und Kugelschreiber aus der Hand und sprang wieder aus dem Wagen. Im nächsten Moment war er in der Dunkelheit verschwunden. Schäfer saß da, das Kuvert in den Händen. Sie haben Wort gehalten, dachte er. Ich habe das ganze Geld. Ich kann das Sanatorium weiter bezahlen. Und vielleicht geschieht ein Wunder, vielleicht finden sie ein Mittel, vielleicht …

Hinter ihm hupten laut Autos.

Der Inspektor Schäfer steckte den Umschlag ein und fuhr im Schritt weiter. Er war erfüllt von lauter Glückseligkeit.

79

Der Sturm heulte um den Wagen, er rüttelte an ihm, er schüttelte ihn.

Der Sturm peitschte die dichten Hagelschauer nun schräg durch die Luft, ließ sie auf Dächer, gegen Hauswände, auf Straßen knallen, wo sie in kürzester Zeit schon einen dicken, körnigen Belag über dem glattgefrorenen Schnee bildeten.

Manuel schaltete die zweite Stufe des Scheibenwischers ein. Die Gummiblätter flogen auf dem Glas hin und her. Es half nicht viel, er sah kaum etwas. Die andauernd zuckenden Blitze blendeten. Der Donner, der ihnen jedesmal folgte, klang gedämpft durch das rasende Prasseln der Eisstückchen auf dem Wagendach.

»Wir hätten Geduld haben müssen, bis das vorbei ist«, sagte Irene, während Manuel in den Rennweg einbog.

»Aber sie hat gesagt, wir sollen sie so schnell wie möglich treffen! Sie wartet doch schon«, antwortete er, weit über das Steuer geneigt. »Außerdem schau, da hinten wird der Himmel hell.«

»Verrückt, im Januar … Aber ich erinnere mich, vor drei Jahren gab es auch so etwas, mitten im Winter …«

Vor vierzig Minuten etwa hatte im Büro der Möven-Apotheke das Telefon geläutet. Manuel saß hier auf einem Stuhl, nahe dem Schreibtisch, er kam von Groll und wollte mit Irene in der Mittagspause essen gehen. Das Telefon schrillte ununterbrochen.

Manuel winkte Irene, die an der Registrierkasse stand. Es befand sich fast ein Dutzend Menschen im Geschäft, viele waren einfach von der Straße hereingeeilt, als das Gewitter losbrach.

Irene kam schnell in das Büro und hob den Hörer ab.

»Möven-Apotheke!« Im nächsten Moment ertönte ein heftiger Donnerschlag. Irene fuhr zusammen. »Wer?« Ihr Gesicht erhellte sich. »Oh, Sie sind es. Guten Tag, Frau Barry!« Irene machte Manuel ein Zeichen.

Er nahm den zweiten Hörer, der auf dem Schreibtisch lag. Brausen, Rauschen und Verkehrslärm klangen an sein Ohr. Mit Mühe verstand er die Frauenstimme.

»… schon im ›Ritz‹ angerufen, aber …« Der Rest war unverständlich.

»Wie?« rief Irene. »Ich verstehe so schlecht! Was sagten Sie?«

»… Herr Aranda nicht im Hotel«, ertönte wieder Bianca Barrys Stimme.

»Nein, er ist hier, bei mir.« Ein besonders greller Blitz fuhr nieder. Der Donner dröhnte. »Was gibt es, Frau Barry?«

»Angst …«

Und Störgeräusche in der Leitung.

»Was?«

»Ich habe solche Angst … Deshalb rufe ich Sie an … Bitte kommen Sie … Kommen Sie …«

»Wohin? Was ist geschehen?« rief Irene.

Die Verständigung war fast unmöglich, Bianca Barrys Stimme völlig verzerrt und immer wieder für Sekunden unverständlich.

»Er hat mir verboten …« Das Folgende ging unter.

»Wer? Was? Ich höre Sie nicht!« schrie Irene. Ein paar Menschen im Verkaufsraum sahen herüber. Manuel schloß schnell die Tür. »Ein Mann … hat mich angerufen … vor zwei Stunden … Roman ist heute und morgen verreist … das muß dieser Mann gewußt haben …«

»Sind Sie zu Hause?«

»Eben nicht mehr! Ich spreche … Telefonzelle … schon in der Stadt … Schwarzenbergplatz …«

»Was machen Sie dort?«

»… dieser Mann hat uns gesehen … als wir in Fischamend waren … Ich bin schuld …«

»Sie? Woran?«

»An allem … habe Sie angelogen …«

»Sie haben uns …«

»Angelogen, ja! Ich konnte einfach nicht die ganze Wahrheit erzählen …«

»Welche ganze Wahrheit?«

»Über Heinz … und seine Mutter … und den Vater von Herrn Aranda …«

»Sie wissen die ganze Wahrheit über die alle?«

»Ja … ja! Aber ich habe sie Ihnen nicht gesagt …«

»Warum nicht?«

»… zu furchtbar … zu schrecklich … selber dabeigewesen …« Blitz. Einschlag. Blitz. Einschlag

»… will mich erpressen … dieser Mann … wenn ich nicht tue, was er sagt … braucht mich … muß es tun … sonst sind Sie in Gefahr … Lebensgefahr …«

»Aber …«, begann Irene verstört.

Manuel nahm ihren Hörer und gab ihr den seinen. Er schrie: »Sie müssen uns die ganze Wahrheit sagen, Frau Barry! Verstehen Sie? Sie müssen sie uns sagen!«

»Das will ich ja … bevor ich den Mann treffe … alles sollen Sie wissen … kommen Sie, kommen Sie, bitte … schnell … er wartet auf mich in einer Stunde … bis dahin …«

»Wo wartet er?«

»Fischamend … ›Merzendorfer‹ … dieses Restaurant …«

»Wie wollten Sie da hinkommen?«

»… Straßenbahn bis Zentralfriedhof … dann Autobus … Ich sage Ihnen alles, bevor ich diesen Mann sehe … Angst …«

Manuel sagte schnell: »Wo treffen wir uns?«

»Zentralfriedhof … Haupteingang … Straßenbahnhäuschen …«

»Wir kommen, so schnell wir können«, sagte Manuel. Er legte den Hörer nieder und sah Irene an. »Sie hat uns angelogen! Sie weiß die Wahrheit, die ganze Wahrheit! Jetzt werden wir sie erfahren!«

»Aber Daniel hat sie doch schon erzählt!«

Blitz. Einschlag. Blitz. Einschlag.

»Vielleicht kennt auch er sie nicht! Wir müssen jedenfalls zum Friedhof … los, komm, schnell …«

Irene, angesteckt von seiner Aufregung, streifte ihren weißen Kittel ab, setzte sich, zog die Seehundfellstiefel an, danach ihren Seehundfellmantel und griff nach der Pelzmütze. Sie liefen in den Verkaufsraum hinaus.

»Ich muß dringend weg!« rief Irene einer Angestellten zu.

»Wann kommen Sie wieder? Wohin …« Das Mädchen brach ab. Irene und Manuel waren schon aus dem Geschäft geeilt.

Eine Minute später fuhren sie bereits durch das Gewitter.

»Bianca Barry! Also sie wußte immer die Wahrheit«, sagte Manuel, mit aller Vorsicht den Wagen lenkend. »Die ganze Wahrheit. Wieso sie? Und wer ist dieser Mann? Was will er von ihr?«

»Ich weiß nicht, Manuel … Achtung! Der Laster!« Er verriß das Steuer. Um Zentimeter vermied er einen Zusammenstoß. »Vielleicht weiß Daniel wirklich nicht alles …«

»Der Mann hat uns in Fischamend beobachtet! Da haben uns auch Leute von Santarin beobachtet. Santarin hat Groll extra angerufen und ihm das zur Beruhigung mitgeteilt. Wer also ist …?«

»Wir werden hören, was die Barry sagt … nicht reden jetzt … Wir haben sonst noch einen Unfall …«

Sie hatten kaum noch geredet auf der langen Fahrt.

Die Simmeringer Hauptstraße schien Manuel endlos.

»Ein Uhr fünfzehn. Sie muß längst da sein. Längst!«

»Wir schaffen es ja, Manuel, beruhige dich … Das Gewitter ist auch schon vorbei …«

Tatsächlich war das Unwetter über diesen Teil der Stadt bereits hinweggezogen, die Wolkendecke hatte sich gelichtet.

Die Häuser wurden kleiner. Zur Rechten erblickte Manuel nun die kilometerlange Mauer des Zentralfriedhofs. Von Hagelschloßen weiß bedeckt waren die schmutzigen Schneehaufen an den Straßenrändern.

»Wir sind da«, sagte Manuel. Er fuhr auf den freien Platz vor dem mächtigen Haupteingang. Ein paar Taxen standen hier, die Chauffeure plauderten. Sonst war kein Mensch zu sehen.

»Wo ist Frau Barry?« fragte Manuel. Das gläserne Wartehäuschen bei der Straßenbahn lag verlassen.

Irene kurbelte ein Fenster herunter und blickte in die Runde.

»Nichts«, sagte sie.

Aus der Pförtnerloge rechts vom geöffneten Portal trat ein Mann und kam winkend, mit strahlendem Lächeln, das seine gelben Zähne entblößte, auf sie zu. Manuel starrte ihn an.

»Wer ist das?« Dann fiel es ihm ein. »Der Pförtner von damals! Als wir uns hier zum erstenmal trafen! Erinnerst du dich?«

»Ja«, sagte Irene. »Und er scheint sich an uns zu erinnern.« So war es.

»Da sind Sie ja, Fräulein! Und der Herr auch!« Der kleine alte Pförtner in seiner dunklen Uniform hob grüßend eine Hand an die Tellerkappe, während er sich zu dem geöffneten Wagenfenster neigte. Das spitze Gesicht war wieder sehr weiß, die Ohren und die Nase waren gerötet, auch die Augen. Nikotinverfärbt hing der Walroßschnurrbart herab. »Hab schon Ausschau gehalten nach Ihnen. Sie sind doch hier verabredet mit einer Dame, gelt?«

»Ja«, sagte Irene. »Woher wissen Sie das?«

»Frau Barry, stimmt’s?«

»Stimmt«, sagte Manuel. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«

Der alte Pförtner nickte.

»Wie sie gekommen ist mit dem Einundsiebziger, da hat es noch mächtig gehagelt. Drüben in das Straßenbahnhäusel ist sie gelaufen, ich hab es gesehen. Dann hat das Sauwetter aufgehört. Sie ist so hin und her gewandert. Und auf einmal ist sie zu mir gegangen und hat gesagt, daß Sie kommen werden, Fräulein Waldegg und Herr … Herr Aman …«

»Aranda.«

»Ja. Aber daß das noch eine Weile dauern wird. Furchtbar nervös war sie. Will hier nicht herumstehen, hat sie gesagt. Sie geht zum Grab von der Frau Steinfeld einstweilen, hat sie gesagt. Und ich soll es Ihnen sagen. Möchten so gut sein und hinkommen. Sie wartet dort.«

»Sie ist zum Grab gegangen?« Manuel neigte sich über Irene und sah den Pförtner an.

»Sag ich doch! Weg hier. Hat hier nicht warten wollen. Weiß nicht, warum. War ja auch wieder vorbei, das Gewitter. Wollen der Herr einen Einfahrtschein?«

»Ja, bitte.«

Dröhnend, schon in den Wolken, brauste eine eben gestartete Maschine über sie hinweg.

Der Pförtner riß einen Schein vom Block. Manuel gab ihm zwanzig Schilling.

»Ich danke vielmals, Herr Baron!« Der Pförtner salutierte wieder. Lächelnd sah er dem Wagen nach, der in die Allee hineinfuhr, welche das Haupttor mit der Dr.-Karl-Lueger-Kirche verband.

80

Die Krähen schrien, die Krähen kreischten, die Krähen krächzten.

Zu Hunderten hockten sie, dicht nebeneinander, in dem kahlen Geäst der alten Bäume an den Alleerändern, groß und scheußlich. Ihr heiseres, lautes Geschrei erfüllte die Luft.

Manuel lenkte den Mercedes um das Rondell vor der Kirche und bog in die Allee, die nach Südwesten ging. Auf den Wegen hatte sich eine neue körnige Eisschicht gebildet. Manuel konnte nur ganz langsam fahren. Noch viel mehr Schnee war gefallen, seit er zum erstenmal hier mit Irene gesprochen hatte. Der Schnee lag auf Gräbern und Grabsteinen, Sträuchern und Büschen, auf den Ulmen, Zypressen, Platanen, den Ahorn- und Kastanienbäumen. Da war sie wieder, die weiße, grenzenlose Wüstenei des Todes …

Manuel sah starr geradeaus, als er sagte: »Irene …«

»Ja?« Auch sie sah nach vorne.

»Ich weiß nicht, was das jetzt wieder zu bedeuten hat, was uns nun bevorsteht. Aber einmal muß das alles doch ein Ende haben, eine Lösung.«

»Ja.«

»Da ist auch noch Nora Hill. Sie will mich um etwas bitten, ich weiß nicht, worum. Ob ich ihren Wunsch erfüllen kann, hängt nun wieder davon ab, was Bianca Barry erzählt, was wir tun müssen danach … mit diesem Mann in Fischamend … was da geschieht … Aber wir werden schon Glück haben … wir haben doch schließlich immer noch Glück gehabt, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Irene, »ja.«

Er umkreiste ein kleineres Rondell, von dem sternförmig Alleen in alle Richtungen strebten. Der Wagen glitt an einer weißgestrichenen Bedürfnisanstalt vorüber. Manuel fuhr den Weg, den er, mit Irene am Steuer, schon einmal gefahren war. Seltsam, dachte er, daß ich ihn mir gemerkt habe.

Hier draußen war kein Mensch mehr zu sehen.

»Und wenn es soweit sein wird, daß wir alles wissen, daß wir anfangen könnten, alles zu vergessen …«

»Ich werde es nie vergessen«, sagte sie.

»Nein«, sagte Manuel, »ich auch nicht.« Er schwieg eine Weile. »Aber da es uns doch beiden geschehen ist«, sagte er dann, »da uns alles, was geschehen ist und geschieht, beide betrifft, würdest du, wenn es vorüber ist … würdest du daran denken können, meine Frau zu werden?«

Sie antwortete nicht.

»Bitte, Irene! Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Ich möchte dann, am Ende, mit dir Wien verlassen und in meiner Heimat mit dir leben …«

Immer noch schwieg Irene.

Plötzlich erhellte Sonnenschein die Schneewüste.

»Irene«, sagte Manuel, während er in die Allee zwischen den Gruppen 73 und 74 einbog, »bitte, Irene, antworte mir. Und wenn du nein sagen mußt. Und wenn du nicht meine Frau werden willst. Und wenn du nicht mit mir kommen willst. Bitte, Irene. Warum sprichst du nicht?«

Erstickt antwortete sie: »Ich kann nicht …«

Er sah schnell zu ihr hinüber und bemerkte, daß sie weinte.

»Irene! Was hast du?«

»Nichts«, sagte sie mühsam. »Gar nichts. Ich bin nur plötzlich so glücklich … trotz allem … obwohl wir nicht wissen, was uns erwartet … Ich bin so glücklich, daß du mich gefragt hast …«

Manuel trat hart auf die Bremse.

Der Wagen glitt zur Seite. Er hob den Gang aus dem Getriebe und wandte sich ihr zu.

»Das heißt …«

»Das heißt ja«, flüsterte Irene. »Ja, ja, ja!«

Manuel lächelte glücklich.

Er legte die Arme um sie. Ihre Lippen berührten sich. Und in der Süße dieses Kusses versanken Ungewißheit und Furcht, Trauer und Schmerz, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft für sie beide.

81

Die Mündung des Gewehrs befand sich genau über dem goldenen Buchstaben u in dem Wort VOLUPTAS.

Das Gewehr war eine amerikanische ›Springfield‹, Modell 03, Kaliber 7.62 Millimeter, Patronenlänge 75 Millimeter, Gewehrlänge 1250 Millimeter. Es besaß ein Magazin mit zehn Schuß und ein aufgesetztes Zielfernrohr. Dieses inklusive wog die ›Springfield‹ nur 4,3 Kilogramm.

David Parker trug wieder seinen rostbraunen Dufflecoat und schwere Schuhe. Er war so gekleidet wie am Nachmittag des 16. Januar, als er, aus der Luke einer nahen Bedürfnisanstalt, Alphonse Louis Clairon erschoß, der genau da gestanden hatte, wo nun der einundvierzig Jahre alte David Parker stand, nämlich auf einem Hügel hinter dem mannshohen grauen Marmorquader des Grabes der Familie Reitzenstein, das, zwischen tief eingeschneiten Büschen und Hecken, in der Abteilung L 73 lag. Über dem mächtigen Stein gab es einen Sockel, und auf diesem kniete, mit breit ausladenden Flügeln, ein menschengroßer grauer Marmorengel, welcher weinte. Die Hände hielt er vor das Gesicht geschlagen. Der Griff einer gesenkten Marmorfackel war an seiner rechten Hüfte befestigt, ihre Krone auf dem Sockel. In die Vorderseite des Sockels waren in Großbuchstaben, schwer vergoldet, diese Worte eingeschlagen worden:

EST QUAEDAM FLERE VOLUPTAS

Das geschürzte Gewand des Engels ließ unter dem abgewinkelten linken Bein eine dreieckige Öffnung entstehen. David Parker, groß, mit breitem Unterkiefer, viereckigem Gesicht, Sommersprossen und einer kurzen, wulstigen Narbe, welche ihm, unter dem blonden, zu einer Igelfrisur gestutzten Haar über die Stirn lief, hatte jene Öffnung von Schnee gesäubert, wie einst Louis Alphonse Clairon. So besaß er eine Schießscharte für seine ›Springfield‹. Der Lauf berührte als Fixierungspunkt die große linke Marmorzehe des monströsen Engels.

David Parkers Dufflecoat war durchnäßt, der Stoff war schwer geworden. Parker wartete schon seit einer Dreiviertelstunde hier. Er hatte das Ende des Unwetters im Freien überstanden, fluchend, die Kapuze seines Mantels hochgeschlagen und frierend.

Es ging nicht anders. Diesmal wollte er nicht erst im allerletzten Moment zur Stelle sein, diesmal hatte Gilbert Grant ihn rechtzeitig losgeschickt, gleich nachdem diese Frau namens Gerda mit ihrem Telefongespräch fertig gewesen war. Dann hatte er Gerda, die er zum erstenmal sah, im Wagen mitgenommen bis zu einer Straßenbahnstation auf der Simmeringer Hauptstraße. Er mußte warten, während sie in einer Telefonzelle ein Gespräch führte. Gerda sollte die Tram benützen für das letzte Stück des Weges, das war ihr eingeschärft worden von Gilbert Grant, diesem Versoffensten aller Auftraggeber. Eine Fahne hatte der Kerl wieder mal gehabt, eine Fahne!

Parker schüttelte sich angewidert, als er daran dachte, wie Grant ihm in dem Büro am Ende der riesigen Lagerhalle der Firma AMERICAR seine Aufgabe zu erläutern versucht hatte. Er war zu aufgeregt gewesen, der Süffel, um richtig reden zu können. Ein höchst elegant gekleideter Russe, Sartorin oder so ähnlich – Parker hatte den Namen nicht verstanden –, mußte den Scharfschützen richtig ins Bild setzen und ihm genau sagen, was er zu tun hatte.

David Parker wußte, daß eine Panne passiert war, daß es nun um sehr viel ging, daß er nicht versagen durfte. Ich werde schon nicht versagen, dachte er. Ich habe noch nie versagt.

Parker war bereits einige Zeit in Wien, Grant hatte ihn aus New York hergerufen.

»Routine. Wir wollen dich jetzt nur hier haben. Es wird gar keine Arbeit geben, wir erledigen diese Sache ganz friedlich. Reine Sicherheitsmaßnahme.«

Offenbar eine kluge Sicherheitsmaßnahme, denn plötzlich, sehr, sehr plötzlich, sollte diese Sache nun durchaus nicht friedlich erledigt werden, Parker ahnte nicht, weshalb. Er fragte auch nicht. Er fragte nie, er wußte, daß seine Bosse ihm doch nie die Wahrheit sagten. Grant hatte ihm wieder den großen weißen Lincoln gegeben, den er das letzte Mal benutzt hatte, aber diesmal war Parker vorsichtshalber durch Tor III in den Friedhof eingefahren. Vielleicht tat am Hauptportal der Pförtner von damals Dienst und erkannte ihn. Parker hatte seinen Wagen auch ein weites Stück entfernt stehenlassen und war zu Fuß hierhergegangen.

Clairon hat sich damals einen idealen Ort ausgesucht, dachte der Amerikaner. Wirklich den besten weit und breit. Ob er immer noch hier liegt, unter dem vielen Schnee? Parker trat ein paarmal hin und her. Er glaubte, hartgefrorene Unebenheiten festzustellen. Ich stehe auf ihm, dachte er.

Der Gedanke erheiterte ihn.

Parker sah die Allee hinauf.

Immer noch nichts.

Nun, der Wagen würde schon kommen. Es freute Parker, daß plötzlich die Sonne schien. Er dachte an die nicht mehr ganz junge Frau namens Gerda in dem kleinen Raum mit der Stahltür, in dem dieser Russe und dieser aufgeschwemmte Grant vor dem Kurzwellensender gesessen und einen regen Funkverkehr geführt hatten, den sie abbrachen, bevor Gerda, die gewiß ganz anders hieß, ihr Telefongespräch anfing.

Komisches Gespräch. Mit einer Frau Barry oder so ähnlich. Gerda tat, als wollte sie unbedingt ein Bild kaufen – diese Frau Barry, wer immer das war, mußte mit einem Maler verheiratet sein und alle seine geschäftlichen Angelegenheiten erledigen. Es wurde eine lange Feilscherei, dann versprach Gerda, jene Frau aufzusuchen.

Sie hängte ein.

»Hat es genügt?« fragte der Russe.

»Vollkommen.« Gerda nickte.

»Lassen Sie hören!«

Daraufhin begann Gerda, während draußen das Gewitter losbrach, mit einer völlig anderen Stimme zu reden – sie ahmte ohne Zweifel Frau Barry nach. Gerda schien eine Spezialistin für das Imitieren von Stimmen zu sein.

»Ausgezeichnet! Sie fahren also los! In der Simmeringer Hauptstraße gehen Sie in eine Telefonzelle und rufen die Apotheke an. Aranda ist immer noch dort mit der Waldegg, melden unsere Wagen. Sie wissen, was Sie zu sagen haben?«

»Ja.«

»Warten Sie, bis das Gewitter ganz arg geworden ist. Möglichst viele Geräusche von Blitzen in der Leitung! Donner, Krach, Störungen, das ist wünschenswert.« Der Russe wandte sich an Parker. »Sie bleiben solange vor der Zelle.« Er sagte zu Gerda: »Und Sie rufen gleich hierher zurück und melden, ob es geklappt hat.«

»Ja.«

»Hat es geklappt, sagen Sie es Parker. Der fährt zum Grab und erledigt alles wie besprochen.«

»Wenn dieses Wetter aber zu lange so weitergeht«, sagte Parker, »dann kann Gerda nicht in den Friedhof hineinmarschieren. Und was geschieht dann mit den beiden?«

»Das Wetter wird gut sein«, sagte Grant, etwas ruhiger. »Wir haben Wagen auf der Autobahn bei Sankt Valentin und bei Preßbaum. Sankt Valentin ist schon klar. In Preßbaum regnet es nur noch schwach. Das Gewitter zieht genügend schnell über den Wienerwald und die Stadt nach Nordosten.«

»Na schön, mir soll’s recht sein.«

»Alle Wagen sind im Einsatz rund um den Friedhof. Wenn du die geringsten Schwierigkeiten hast, melde dich sofort über Funk. Wir bleiben dauernd auf Empfang.«

Nun, es waren keine Schwierigkeiten aufgetreten, dachte Parker. Gerda hatte die Telefonzelle verlassen – da tobte das Gewitter noch mit größter Stärke – und ihm gesagt, er solle losfahren.

Also hat sie die Stimme dieser Barry offenbar gut nachgemacht und damit erreicht, daß die beiden, um die ich mich kümmern muß, nun herkommen, dachte Parker. Zum Abschied haben wir uns noch Glück gewünscht. Gerda hat gesagt: »Ich gehe beim Haupteingang hinein und dann gleich wieder durch das dritte Tor hinaus. Sie fahren durch das dritte Tor.«

»Okay.«

Im Rückspiegel hatte Parker diese Gerda noch einmal betrachtet. Kaum geschminkt, schlank, bestens gebaut. Sicherlich noch keine vierzig. Meine Kragenweite, hatte er gedacht. Sah prima aus in dem hellen Nerz und den hellen Stiefeln. Mit beiden Händen hielt sie einen Regenschirm fest, der umzuklappen drohte.

Diese Bianca Barry muß auch einen solchen Nerz und solche Stiefel haben, überlegte Parker. Gerda soll meine Kunden doch hierherlocken. Bevor sie in den Friedhof hineingeht, wird sie mit dem Portier ein wenig quatschen und sagen, daß die beiden zum Grab kommen mögen. Da könnten die dann fragen, wie die Dame gekleidet war. Gute Organisation. Was dieses versoffene Wrack von einem Grant noch fertigbringt. Ohne den Russen wäre er natürlich verloren …

Ein dumpfes Brausen ertönte. Drüben am Flughafen in Schwechat startet eine Maschine, dachte Parker.

Im nächsten Moment sah er über die Allee einen blauen Mercedes näherkommen. Parker blickte durch das Zielfernrohr. Die Nummerntafel stimmte. Na also, dachte er. Geht ja großartig. Zart hob er die Waffe an. Millimeter um Millimeter wanderte der Lauf der ›Springfield‹ nun so, daß Parker den linken vorderen Schlag des Mercedes stets im Fadenkreuz des Fernrohres hatte. Mit der Engelszehe als Drehpunkt ließ die Waffe sich ganz leicht führen.

82

»Ich sehe Frau Barry nicht«, sagte Manuel, der den Wagen zwischen dem vierten und fünften Weg in die Gruppe 74 hinein ausrollen ließ. Er blickte flüchtig zu dem entfernten Kreuz aus Gußeisen auf einem Grabhügel in der Abteilung F 74, das er, gemeinsam mit Irene, vor zwölf Tagen – vor zwölf Tagen erst! – in die hartgefrorene Erde gerammt hatte.

»Ich sehe sie auch nicht«, sagte Irene. »Was bedeutet das nun wieder? Verstehst du das?«

Manuel hatte den fünften Seitenweg erreicht und hielt an.

»Vielleicht wird sie von einem Baum verdeckt«, sagte er. »Warte einen Moment.« Damit öffnete er den Schlag an seiner Seite und stieg aus. Das Geräusch der anfliegenden Maschine war sehr laut geworden. Die kreischenden Krähen verstummten, die Luft begann zu zittern.

»Frau Barry!« schrie Manuel, vortretend und sich umblickend. Die Pelzmütze hatte er im Wagen liegen lassen. Näher und näher kam die Boeing. Nun fielen schon Schneeklumpen von Ästen und Grabsteinen.

»Frau Barry! Frau Barry!«

Das waren seine letzten Worte. Im nächsten Augenblick sah Irene, die im Wagen geblieben war, Manuel zwei Schritte nach vorn stolpern und dann fallen. Von jähem Entsetzen gepackt beobachtete sie, daß aus der rechten Schläfe seines Kopfes plötzlich Blut über die Eiskruste der Allee schoß, über den Schnee.

»Manuel!« schrie Irene.

Sie sprang ins Freie und rannte zu ihm. Die Blutlache um seinen Schädel wurde rasend schnell größer. Irene kniete neben dem Gestürzten nieder. Ihre Stiefel, ihr Mantel, ihre Hände färbten sich rot, als sie sich verzweifelt bemühte, Manuel auf den Rücken zu drehen. Aus einer großen Wunde an der rechten Stirnseite des Leblosen strömte Blut, Blut, gräßlich viel Blut.

Irene war es unmöglich, aufzuspringen, davonzurennen, zu schreien. Zu sehr hielt das Grauen sie gepackt.

»Manuel«, stammelte sie. »Mein Gott, Manuel …«

Die Maschine heulte und kreischte. Sie jaulte und donnerte und schien jeden Moment explodieren zu wollen. Ein Schatten streifte Irene gleich dem des Todesengels. Unendlich langsam hob sie den Kopf. Direkt über der Allee flog nun, in einem strahlend blauen Himmel, die Boeing, vier Rauchspuren ihrer Düsenaggregate hinter sich herziehend. Der Höllenlärm erreichte seinen Höhepunkt. Die Erde bebte. Irene senkte den Kopf, zögernd, ruckweise. Dabei erblickte sie mit tränenerfüllten Augen vor den violetten, schwarzen und grauen Wolkenwänden des abziehenden Gewitters, das noch im Osten der Stadt wütete, sehr hoch, sehr weit gespannt, schimmernd und scheinbar zum Greifen nah, einen Regenbogen.

Fußnoten

1 Es war niemals die Stimme von Paul Steinfeld. Recherchen des Verfassers beim Chief Librarian der British Broadcasting Corporation haben ergeben, daß alle ›Hirnschal‹-Briefe von einem geflüchteten deutschen Schauspieler verlesen wurden. Mit der Stimme dieses Schauspielers, der auch ständig als Nachrichtensprecher arbeitete, verwechselte Valerie Steinfeld beharrlich all die Kriegsjahre hindurch die Stimme ihres Mannes, die sie, seltsam genug, kein einziges Mal erkannte. Spezialisten nannten dem Verfasser zahlreiche einleuchtende Gründe technischer und psychologischer Art für dieses Phänomen.

Über Johannes Mario Simmel

Johannes Mario Simmel, 1924 in Wien geboren, gehörte mit seinen brillant erzählten zeit- und gesellschaftskritischen Romanen und Kinderbüchern zu den international erfolgreichsten Autoren der Gegenwarts. Seine Bücher erscheinen in 40 Ländern, ihre Auflage nähert sich der 73-Millionen-Grenze. Der Träger des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse wurde 1991 von den Vereinten Nationen mit dem Award of Excellence der Society of Writers ausgezeichnet. »Simmel hat wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor einen fabelhaften Blick für Themen, Probleme, Motive«, sagte Marcel Reich-Ranicki über den Schriftsteller.

Johannes Mario Simmel verstarb am 1. Januar 2009 84-jährig in der Schweiz.

Über dieses Buch

Mitreißend und herzbewegend zugleich erzählt Johannes Mario Simmel hier eine große Geschichte um Schuld und Sühne. Sie ist viel mehr als ein Roman von hochbrisanter Thematik, atemloser Spannung, harter Realistik und makabrem Humor. Simmel gelingt die Schilderung unvergeßlicher Gestalten, die Deutung ewig menschlicher Tragödien, aber, als Wichtigstes, der Nachweis, daß nichts ohne Sinn und zufällig geschieht, dass jeder von uns hineinverstrickt ist in das magisch geknüfte Webmuster des Lebens und darum verantwortlich selbst noch für den Geringsten unter seinen Mitmenschen.

Impressum

Copyright © 1975 bei Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München.

Copyright © 2010 der eBook Ausgabe by Knaur eBook.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Fritz Blankenhorn

Digitale Satzrekonstruktion: pagina GmbH, Tübingen

ISBN 978-3-426-40408-9

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