Dies stand darauf in dicker Bleistiftschrift:

Pasteur 1870: Seidenraupenseuche

Erreger: Mikroben

Was ist mit Insekten?

Kommen auch filtrierbare Viren als Erreger in Frage?

Wenn ja: Insekten-Kalamitäten (Nonnenfalter, Forl-Eule usw.)!

Die gleiche Prüfung bei schädlichen Nagern (vgl. Hundestaupe, Maul- und Klauenseuche usw.)

Literatur!

UND/ODER

Bakterielle Toxine

(Tetanus! Ransom 1898: Motorische Nerven!)

Schädlingsbekämpfung?

Spezifische Wirkung?

Literatur!

Manuel fühlte plötzlich, seit langer Zeit wieder einmal, wie ihm schwindlig wurde. Der Raum drehte sich um ihn. Er ließ sich auf den Teppich sinken und starrte Irene an. Sie hatte über eine Schulter mitgelesen, laut. Ihr Gesicht war bleich, riesengroß wirkten die Augen.

»Verstehen Sie das?« fragte Irene. »Wo kommt das her? Und da ist von Viren die Rede, von Toxinen … wieso … Was bedeutet das alles …?«

Er sagte: »Das bedeutet, daß wir noch gar nichts wissen, gar nichts. Was mache ich jetzt? Was mache ich jetzt bloß?«

»Wie meinen Sie das?«

»Jetzt kann ich nicht mehr heimfliegen. Jetzt muß ich unter allen Umständen hierbleiben. Hier, hier in Wien.«

»Wieso … warum …?«

»Weil das da – und es gibt nicht den geringsten Zweifel, ich erkenne die Balken-H’s, die verkehrt geschriebenen M’s, die verkehrt geschriebenen N’s! –, weil das mein Vater geschrieben hat«, sagte Manuel Aranda.

43

Majestätisch und mitreißend ertönten die ›Fidelio‹-Trompeten.

Langsam wurde die Musik etwas leiser.

Eine Männerstimme erklang! »Die Freiheit marschiert!«

Laut jubelten die Trompeten auf.

Eine zweite Männerstimme: »Mit den Heeren der Verbündeten in Europa und Afrika!«

Weiter die Trompeten, gedämpft.

Die erste Stimme: »Mit den alliierten Fliegern am Himmel Deutschlands und Italiens!«

Trompeten.

Die zweite Männerstimme: »Mit den Millionen Unterdrückter, die auf ihre Stunde warten!«

Trompeten.

Die erste Stimme: »Mit den Heeren der Arbeiter, die aus freiem Willen ihre Waffen schmieden in der Alten und der Neuen Welt!«

Die zweite Stimme: »Die Freiheit marschiert!«

Begeisternd, das Herz bewegend, setzten nun wieder voll die Trompeten ein, die Musik der marschierenden Freiheit …

Die erste Männerstimme erklang, während die Trompeten etwas leiser wurden: »Und das ist das Ende unserer Radio-Wochenschau. Vergessen Sie nicht, wir kommen wieder nächste Woche um die gleiche Zeit. Hören Sie unseren Ruf …«

Die zweite Stimme: »Erwachendes Deutschland!«

Die erste Stimme: »Denken Sie daran …«

Die zweite Stimme: Es kommt der Tag!«

Die erste Stimme: »Denn England greift an – und mit uns die jungen Völker!«

Und da waren sie noch einmal, triumphierend, wunderbar: die jubelnden Trompeten …

Valerie Steinfeld lauschte mit einem glücklichen Lächeln. Die erste Männerstimme, die zuletzt noch einmal erklungen war, das war Pauls Stimme. Die Stimme Pauls! Sie hatte sie wiedergehört. Er sprach stets in dieser ›Radio-Wochenschau‹, die immer an Samstagen von der BBC ausgestrahlt wurde. Ja, auch in dieser Sendung hatte er gesprochen. Fast jeden Abend hörte Valerie seine Stimme. Er mußte einer der wichtigsten Sprecher sein, dachte Valerie, während sie den ›Minerva 405‹ abschaltete und die Wellenlänge des Reichssenders Wien einstellte, wonach sie endlich die schwere Decke abstreifte, die über sie und den Apparat gebreitet war. Wie immer hatte Valerie auch an diesem Abend eine fremde Stimme für die ihres Mannes gehalten, den sie, wenn er wirklich redete, niemals erkannte.

Jetzt stand sie von dem alten Sofa auf, öffnete die Tür des Kanonenofens und schüttete aus einem hohen, viereckigen Blechkübel kleine, graue Kohlestücke von minderer Qualität nach. Es gab nichts anderes mehr. Die schlechte Kohle brannte und wärmte, das war die Hauptsache. Wenn gute Kohle natürlich auch viel länger brannte und besser wärmte. Ein Funkenregen sprühte aus der Klappe. Der Ofen begann zu bullern. Valerie schloß die Metalltür und stellte den Kübel hin. Sie trug noch das braune Kostüm mit der breit wattierten Jacke, das sie am Vormittag bei Dr. Forster getragen hatte, und eine Bluse darunter. Aus dem Teekammerl trat sie in das erste Magazin hinaus und rief: »Martin! Jetzt kannst du kommen!«

Danach ging sie in den kleinen, vollgeräumten Raum zurück, in dem nur die grünbeschirmte Schreibtischlampe brannte, und hob einen Kessel, dessen Wasser zu kochen begonnen hatte, vom Gasrechaud. Sie brühte eine Kanne Tee auf und holte Tassen, Löffel und eine Flasche mit Weinbrandverschnitt aus dem Geschirrkästchen, das an der Wand hing.

Aus der Tiefe der Verliese tauchte Martin Landau auf, in Mantel und Hut, den Kragen hochgeschlagen. Er legte ab und rieb sich die Hände.

»Eine Saukälte hat es da hinten«, sagte er. »Tee, Gott sei Dank!«

»Muß noch einen Moment ziehen.«

Um halb sieben Uhr hatten sie das Geschäft geschlossen, alle Lichter im Laden gelöscht, die Tagesabrechnung gemacht. Dann war es Zeit für Valerie gewesen, London zu hören, und wie immer, wenn sie das tat, war Martin Landau verschwunden, in das hinterste Magazin. Kohle wurde knapp. Das Wochenende stand bevor. Man hatte die Öfen in den Gewölben schon zu Mittag ausgehen lassen. Darum war Martin in Hut und Mantel verschwunden. Sogar einen Schal hatte er sich um den Hals gewunden. Nun nahm er ihn ab und warf ihn auf den alten Diwan. Als er sich bewegte, blitzte das Parteiabzeichen auf, das am linken Revers seines Zweireihers steckte. Der zarte, scheue Mann war urplötzlich verändert. Er wirkte energisch und ungeduldig. Es schien, als seien eine schwere Last und eine große Bedrückung von ihm abgefallen seit drei Tagen. Seit drei Tagen war Martin Landau ein anderer Mensch. Er sprach lauter und deutlicher. Er wusch nicht mehr so häufig seine Hände mit unsichtbarer Seife, und er sagte viel seltener ›immerhin‹. Ihm fiel das gar nicht auf. Valerie bemerkte es genau, und sie war sehr glücklich über diese Verwandlung. Daß er immer noch davonlief, wenn sie London hörte, war klar. So weit würde er sich niemals verändern.

»Los, los, fangen wir an!« Landau suchte nach Papier und Bleistiften auf dem vollgeräumten Schreibtisch, rückte die alte Remington beiseite, schob die vielen Talismane fort. »Wenn du am Montag wieder beim Anwalt sein sollst, mußt du das schon mitbringen! Und morgen müssen wir an die ganzen Kirchen und Standesämter schreiben wegen der Dokumente für dich und mich. Von mir haben sie nur den kleinen Ariernachweis verlangt, seinerzeit. Der Doktor Forster sagt, wir brauchen den Nachweis bis zu den Urgroßeltern?«

»Bis zu den Urgroßeltern. Jetzt wird der Tee gut sein.« Valerie goß die Tassen voll. »Zwei Tabletten Süßstoff?«

»Ja, bitte. Wie ich diesen Süßstoff hasse, dieses widerliche Dreckszeug!«

»Was sollen wir machen? Zucker gibt es auf Karten nur so wenig. Und du willst alles doch immer unbedingt süß.«

»Aber der Nachgeschmack, den der Mist hat! Gieß wenigstens einen ordentlichen Schuß von dem Fusel rein! Herrgott, habe ich gefroren da hinten!« Das sagte er ohne jede Anklage, er lächelte Valerie an dabei. Er verlor kein Wort des Ärgers über ihr Beharren darauf, die Sendung der BBC zu hören. (Er sah nur schnell nach, ob der Skalenzeiger des Radios richtig stand.) Und Valerie quälte ihn mit keinem Wort darüber, was sie gehört hatte. Sie erwiderte sein Lächeln. Sie hatte Mühe dabei, denn ihr war gar nicht mehr geheuer zumute nach allem, was sie an diesem Tag erfahren und gelernt hatte. Mehr und mehr wurde es Valerie bewußt, worauf sie sich da einließ. Ich muß mich darauf einlassen, dachte sie, nun schon in Fanatismus verfallen, immer wieder, ich muß! Und Martin durfte von ihrer Furcht, ihrer Bedrückung nichts merken. Er wurde so furchtbar leicht mutlos. Valerie zwang sich zu Gleichmut. Nur Martin nicht aufschrecken aus seiner Euphorie, um alles in der Welt ihm nur nicht seinen Optimismus, seinen Elan rauben durch ein unbedachtes Wort!

»Guter, alter Martin«, sagte sie und strich ihm über das glanzlose Haar. Er zuckte zusammen. Er konnte und konnte sich nicht daran gewöhnen, von anderen berührt oder gestreichelt zu werden, schon gar nicht von Frauen.

Valerie setzte sich.

»Wir machen erst einen Entwurf, und dann schreibst du die endgültige Fassung in die Maschine«, sagte Landau. Er hielt die Teetasse mit beiden Händen, um diese zu wärmen, und trank einen großen Schluck, wobei er sich den Mund verbrühte. »Au!« Schnell stellte er die Tasse hin. Einen Moment verzog er das Gesicht, als wollte er weinen, dann hatte er sich gefaßt und sagte, seine Lippen betastend, männlich-rauh: »Verflucht noch mal!«

»Wie fange ich an?«

»Gleich in medias res gehen. Schreib! … Ich, Valerie Steinfeld, geborene Kremser, geboren am …«

»Zweimal geboren.«

»Egal! Du schreibst ja keinen Roman. Geboren am 6. März 1904 in Linz … hast du?«

»… in Linz …« Valerie stenographierte.

Landau lehnte sich zurück, hielt die Jackenaufschläge fest und wölbte die schmale Brust nach vorn. Sein blasses Gesicht hatte sich gerötet. Die Stimme klang plötzlich wie die eines Offiziers.

»Gut. Wann hast du geheiratet? In der Dorotheerkirche, ich weiß, ich war ja dabei. Aber wann? 1923 im Oktober, nicht?«

»Am 5. Oktober 1923. Willst du das schon in den ersten Satz reinbringen?«

»Medias in res! Also: Geboren am 6. März 1904 in Linz, habe ich am 5. Oktober 1923 in der Dorotheerkirche zu Wien den Juden … nein, warte, das ist zu dick!«

»Finde ich auch.« Valerie nippte an ihrer Tasse. »Jetzt geht es. Jetzt kannst du trinken.«

Er trank und schüttelte sich.

»An diesen Süßstoff gewöhne ich mich nie! Nein, das mache ich anders …« Ich! Ich sagt er, dachte Valerie, plötzlich glücklich.

Die Freiheit marschiert …

»So mache ich das: In der Dorotheerkirche zu Wien gegen den Widerstand meiner Familie … Das ist besser, was?«

»Sehr gut, Martin!«

»… Widerstand meiner Familie Paul Steinfeld, geboren am …«

»11. Juni 1895 …«

»… geheiratet. Punkt. Meine Eltern, die mich sehr liebten, befürchteten, daß ich an der Seite eines jüdischen und, wie sie es sahen, haltlosen und nicht seriösen Mannes, der ihnen von der ersten Begegnung an so unsympathisch erschien, wie sie ihm erschienen, kein Glück finden würde … Jetzt haut es hin, wie? Dezent, aber immerhin! Du redest nicht direkt böse über Paul, man sieht, wie du dir Mühe gibst, objektiv zu berichten. Streng die Wahrheit, ohne Übertreibung, ohne Untertreibung, was du eben sagen mußt. Den Eltern sofort unsympathisch, das ist wichtig! Und daß sie grundsätzlich gegen Juden waren. Und daß Paul sie auch gleich nicht leiden konnte. Schon einmal eine sehr vorbelastete Ausgangsposition. Deine Eltern sind beide lange tot, also kannst du es ruhig beschwören. Was schaust du mich so an?«

Sie hatte ihn tatsächlich angeschaut, voll grenzenlosem Staunen darüber, wie dieser Hypochonder, dieser Angsthase sich veränderte, mehr und mehr.

»Weil du das so gut machst. Wirklich, prima, Martin!«

»Na ja, immerhin …« (ganz konnte er es doch nicht vergessen, dieses Wort) »… immerhin, das ist gar nicht so einfach. Auf den richtigen Ton kommt es an! Schreib weiter. Bald schon mußte ich erkennen … hm, hm … erkennen, wie recht meine guten … nein, streich das ›guten‹! … wie recht meine Eltern gehabt hatten, als sie meine Ehe mit Paul Steinfeld verhindern wollten.«

»… verhindern wollten.«

»… mit den Millionen Unterdrückter, die auf ihre Stunde warten …«

»Trotzdem … jetzt paß auf, Valerie, Schatz.« ›Schatz‹ – er hatte ›Schatz‹ gesagt! Noch nie hatte er so etwas gewagt, noch nie! »Paß auf, wie ich das jetzt drehe. Psychologie. Ist doch die Grundlage von dem ganzen Prozeß. Wir müssen klar psychologisch denken. Du warst mit Paul unglücklich und hast ihn dann mit mir betrogen. Aber er, er muß dich geliebt haben! Sonst hätte er dich doch gar nicht geheiratet! Sonst wäre er später auch nicht mißtrauisch und eifersüchtig geworden auf mich – habe ich recht?«

»Völlig, Martin.«

»Also dann, bitte: Obwohl Paul Steinfeld mich liebte, war ich unglücklich, weil er mein Wesen und ich das seine nicht verstand … Da haben die Brüder genau den Quatsch, den sie wollen!« Martin Landau strahlte Valerie an wie ein seliges Kind. Er hatte die Daumen in die Westenausschnitte gesteckt. »Hm … Paul hat dich doch Anfang 1924 nach Dresden fahren lassen, nicht?«

»Ja. Zum Kokoschka. Der war da Professor an der Akademie, und ich habe unbedingt wenigstens eine Weile lang bei ihm Unterricht nehmen wollen. Ich war doch so verrückt mit Malerei. Ich habe an der Volkshochschule noch Kunstgeschichte gehört, bis ich schwanger geworden bin. Gott, war das rührend vom Paul damals! Nur weil du doch so furchtbar gern den Kokoschka erleben willst, lasse ich dich fahren, hat er gesagt. Aber nicht lange. Höchstens einen Monat. Länger halte ich es nicht aus ohne dich!«

»Genau daran denke ich. Schreib, Schatz: Bereits im April 1924 trennte ich mich nach einer Reihe schwerer Zerwürfnisse von Steinfeld und fuhr nach Dresden, wo ich wegen meines großen Interesses für Kunstgeschichte Unterricht bei Oskar Kokoschka nehmen wollte. Verflucht.«

»Was ist?«

Er sagte zornig: »Kokoschka ist doch verboten. Entartete Kunst. Das geht nicht. Wer war denn damals noch in Dresden an der Akademie? Laß mich nachdenken … Flechner! Großartig! Heinrich Flechner! So ein richtiger naturalistischer Scheißkerl!« Valerie zuckte zusammen. Das Wort hatte sie noch niemals von Martin Landau gehört. Langsam wurde der Mann ihr unheimlich. »Der ist dann bei den Nazis ein ganz großes Tier geworden, einer von den Lieblingsmalern des Führers! Und zum Glück ist er 1940 verreckt. Zum Flechner wolltest du natürlich! Streich den Kokoschka. Unterricht bei Heinrich … nein, bei Professor Heinrich Flechner nehmen wollte.« Landau öffnete die Flasche, goß einen weiteren Schuß Weinbrandverschnitt in seine Tasse, trank und diktierte, wobei er mit einem Finger den Takt schlug: »Aber schon nach kurzer Zeit kam Paul Steinfeld mir nachgereist und bettelte und beschwor mich, zu ihm zurückzukehren … Jetzt machen wir wieder was Schönes, Schatz: Ich hatte nicht die Kraft, mich ihm zu widersetzen, und ich hatte nicht den Mut zu einer Scheidung nach so kurzer Zeit. Ich war erst zwanzig Jahre alt und völlig hilflos. Zu meinen Eltern zurückzukehren, schämte ich mich, denn ich hatte sie im Bösen verlassen … Gut, wie? Du hast dich geschämt, ein so junges Mädchen noch, das gegen den Willen seiner wohlmeinenden Eltern … begreift jeder! Deine Ehe war von Anfang an ein Martyrium, das du tapfer ertragen hast – auch ein bißchen aus Hilflosigkeit und Dummheit, ja, arische Dummheit, nicht diese widerliche jüdische Chuzpe, die hast du eben nicht! Schreib: Paul Steinfeld war ein außerordentlich dominierender – nein, um Gottes willen, ein Jude und dominierend! Streichen! – ein außerordentlich geschickter Mann, wenn es darum ging, sich andere Menschen gefügig zu machen.«

… mit den Heeren der Arbeiter, die aus freiem Willen ihre Waffen schmieden in der Alten und der Neuen Welt …

Landau goß seine Tasse halb voll Tee, halb voll Weinbrandverschnitt und warf angeekelt ein Stückchen Süßstoff in die Mischung.

»Wenn ich einen sitzen habe – ich vertrage doch überhaupt nichts –, kommen mir die besten Ideen«, erklärte er dazu. »Jetzt wird es nämlich kitzlig.«

»Jetzt kommst du«, sagte Valerie.

»Eben. Also, schreiben wir mal: Ich kehrte nach Wien zurück und nahm die eheliche Gemeinschaft wieder auf. Eine Zeit der Ruhe folgte. Das hatte – so drehen wir das! – zwei Gründe: Erstens war Paul Steinfeld sehr häufig und lange von Wien abwesend und auf Reisen. Zweitens lebte in den langen Zeiträumen meines Alleinseins wieder die Freundschaft zu einem Mann auf, den ich schon vor Paul Steinfeld, in den Räumen der Wiener Albertina, kennengelernt hatte. Es handelte sich um Martin Landau, geboren am 12. November 1903 in Wien, in dessen Buchhandlung ich heute angestellt bin …«

Valerie war plötzlich in Fahrt geraten, sie stenographierte und redete dabei: »Wir kamen über die Handzeichnungen Rembrandts ins Gespräch und begegneten uns häufig in den Ausstellungsräumen wieder. Diese Bekanntschaft, die zunächst nur ein Austausch rein geistiger und künstlerischer Interessen war, gestaltete sich bald zu einer echten Freundschaft …«

»Moment! Freundschaft, die in den Hintergrund trat, als ich Paul Steinfeld kennenlernte und mich in ihn verliebte … Jetzt kippen wir die Sache wieder um! … In der Zeit, in der ich nach meiner erzwungenen Versöhnung mit Paul Steinfeld – Versöhnung in Anführungszeichen – nun so oft und so lange allein in Wien leben mußte, begegneten Landau und ich einander wieder häufiger, die alte Freundschaft wurde stärker denn je, und in meiner Hilflosigkeit und ehelichen Enttäuschung durch Paul Steinfeld, der meine künstlerischen Interessen nicht nur nicht verstand, sondern sogar ständig verspottete und verhöhnte … Ja, schreib das, es ist wichtig!«

»… verspottete und verhöhnte …«

… die Freiheit marschiert …

Ich muß es tun. Ich muß es tun. Heinz muß gerettet werden. Auch Paul will das.

»… wurde aus einer so lange Zeit rein platonischen Freundschaft nun eine intime Beziehung, wobei uns – da hast du es! – die häufige Abwesenheit Paul Steinfelds zugute kam … Tut mir leid, Schatz, aber das muß nun immerhin alles gesagt werden.«

Valerie sah Landau an. Der hatte einen roten Kopf bekommen und hüstelte verlegen. Jetzt wusch er auch wieder symbolisch seine Hände. Es nahm ihn doch mit, was er da zusammenlog.

Valerie erwiderte, gleichfalls mit gerötetem Gesicht: »Schon gut. Natürlich muß das alles rein. Und auch das, was der Doktor Forster dazu noch gesagt hat.« Sie zog ihre Kostümjacke aus. »Mir ist auf einmal so heiß.«

»Warte, ich hänge sie über einen Bügel!« Landau sprang auf. Als er die Jacke schwungvoll nahm, fiel ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus einer der Taschen auf den alten, verzogenen Dielenboden.

Er bückte sich.

»Gib her!« Valeries Stimme klang erregt. Auch sie hatte sich erhoben. Er stotterte: »Aber was denn … wie schaust du denn aus?« Er faltete das Papier auseinander und las verständnislos und laut: »Pasteur 1870: Seidenraupenseuche …«

44

»… Erreger Mikroben …«

»Einen Moment, Herr Landau.« Manuel mußte schlucken, bevor er weitersprechen konnte. Der schmächtige, zarte Buchhändler saß ihm im Salon seines Hotelappartements gegenüber. Er war, wie vereinbart, pünktlich um 15 Uhr wieder erschienen. Man schrieb Montag, den 20. Januar. Landau hatte fließend erzählt, bis er von Manuel heftig unterbrochen worden war.

»›Erreger Mikroben‹. Das stand auf dem Papier?«

»So ähnlich jedenfalls, ja. Etwas über Pasteur und Viren und Bakterien bestimmt! Kann sein, daß es anders formuliert war. Ich erinnere mich an den Text noch ziemlich gut, ich las ihn nämlich noch einmal, weil Valerie sich so aufregte und das Papier sofort zurückhaben wollte und mir nicht sagte, woher sie es hatte und was es bedeutete. Eine richtige Szene gab es, sie war ganz hysterisch! Also, ich verstand kein Wort. Heute noch nicht … Was haben Sie? Sie sind ja ganz außer sich!«

»Alles in Ordnung.« Manuel bekam zu wenig Luft. Er versuchte, richtig durchzuatmen. Es gelang ihm nicht. »Das ist lange her … siebenundzwanzig Jahre … würden Sie das Papier wiedererkennen … das Papier … und die Schrift?«

»Das Papier vielleicht nicht, immerhin, siebenundzwanzig Jahre, Sie sagen es selber … Aber den Text sicherlich … Pasteur … Mikroben … so komische Sätze … Und dann die Schrift! Die Schrift …«

»Was war mit der?«

»An die erinnere ich mich noch ganz genau! Ganz sonderbar war die! So eigenwillig! Die H’s … und die M’s … mit den Rundungen nach unten und den Spitzen nach oben …« Landau fuhr zurück, denn Manuel hatte seine Brieftasche aus der Jacke gezogen und blitzschnell einen zusammengelegten Bogen Papier entfaltet. Es war jenes Papier, welches er seit dieser Nacht besaß – gefunden in Valerie Steinfelds Fotoschatulle. Er fragte heiser: »Ist es das?« Daraufhin kam etwa so lange keine Antwort, wie man braucht, um bis zehn zu zählen. Landau saß da, als sei er hypnotisiert, untl als sei er hypnotisiert, so starrte er das alte Papier an.

Schließlich stotterte er: »Woher haben Sie … wo ist das her? Wie … wie kommen Sie … zu dem da?«

»Das erkläre ich Ihnen später. Ist das der gleiche Bogen, der damals, vor siebenundzwanzig Jahren, Frau Steinfeld aus der Jackentasche fiel? Ist es die gleiche Schrift?«

Martin Landau flüsterte: »Ja, das ist die gleiche Schrift … Das ist das gleiche Papier …«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut!«

»Können Sie sich erklären, wie dieses Papier in den Besitz von Frau Steinfeld kam?«

»Nein, natürlich nicht. Sie hat es mir ja auch damals nicht gesagt …«

»Oder wieso sie es gerade an diesem Tag bei sich trug?«

»Keine Ahnung. Keine Ahnung, Herr Aranda! Ich erzähle Ihnen von einer Geschichte, die so lange her ist, vergangen und vorbei, und da halten Sie mir plötzlich dieses Papier hin …«

Manuel sagte leidenschaftlich: »Es ist eben nichts vergangen und vorbei. Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr! Hier, dieser Bogen ist der Beweis dafür, daß Valerie Steinfeld …« Er brach ab. Das war unmöglich. Er konnte so nicht reden mit diesem Martin Landau, der ja nicht wußte, was geschehen war, worum es ging. Wild schlug Manuels Herz. Die Spur! Er war der richtigen Spur gefolgt von Anbeginn! Und diese Spur führte zu Valerie Steinfeld, immer wieder, immer wieder zu ihr, so phantastisch das alles auch schien.

»Beweis wofür, Herr Aranda?« flüsterte Landau. Er war erschrocken, aber er war auch neugierig.

»Das kann ich Ihnen nicht sagen, leider.«

»Hängt es … mit Ihrem Vater zusammen?«

»Ja.«

»Oh. Und dieses Papier? Woher haben Sie dieses Papier?«

Manuel erklärte es dem nervösen Buchhändler. Während er sprach, dachte er: Cayetano müßte längst da sein. Ich habe in Schwechat angerufen. Verspätung, hieß es. Ankunftszeit ungewiß. Der Schnee. Was mache ich? So wie die Dinge jetzt aussehen, muß ich doch in Wien bleiben! Kann ich doch nicht einfach die Suche hier abbrechen, die ganz bestimmt die Lösung bringt. Immer näher rückt sie, immer näher! Aber darf ich hierbleiben? Ja. Nein. Doch, ja! Verbirgt sich die größte Gefahr nicht tatsächlich in Wien anstatt in Argentinien? Es sieht so aus, es sieht verflucht so aus. Ja, ich muß hierbleiben. Wenn ich bloß wüßte …

In diesem Moment fiel Manuel etwas ganz anderes ein.

Warum ist mir das nicht früher eingefallen? dachte er erbittert. Warum habe ich Landau nicht längst danach gefragt? Ich bin zu jung, zu jung für das alles. Ich überblicke es nicht …

Aber ich muß Klarheit finden! Ich muß die Situation beherrschen! Meine Jugend darf keine Rolle spielen! Wenn ich das Rätsel um die Verbrechen meines Vaters nicht löse, wer wird es dann tun?

Manuel fragte: »Herr Landau, wissen Sie, ob Herr Steinfeld einen Bruder hatte?«

Landau nickte. »Natürlich weiß ich das. Er hatte einen Bruder, ja, den Daniel.«

»Sie kannten ihn persönlich?«

»Kaum. Wir haben uns zwei-, dreimal getroffen. Paul und er mochten sich nicht.«

»Warum nicht?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht. Die Brüder sahen sich nur selten, obwohl Daniel in Wien lebte.«

»Hier in Wien?«

»Ja. Er ist allerdings schon 1937 emigriert …«

»Wohin?«

»Nach Prag. Er hat einen Lehrauftrag bekommen an der Universität dort.«

»Universität …« Manuel hörte seine eigene Stimme wie die eines anderen, eines lallenden Idioten.

»Er hat doch auch hier an der Universität gearbeitet. Professor war er.«

»Wo?«

»Am Chemischen Institut.«

Manuels Finger verkrampften sich in die Lehnen seines Sessels.

»Wo?«

»Am Chemischen Institut in der Währingerstraße«, antwortete Martin Landau, sein Gegenüber erschrocken betrachtend. »Was ist mit Ihnen, Herr Aranda? Was haben Sie bloß?«

»Nichts … nichts … Paul Steinfelds Bruder war Chemiker?«

»Ja, Professor für Chemie. Das hat er …«

45

»… gelehrt. Chemie. Wenn ich nicht irre, Biochemie«, erklang Martin Landaus Stimme aus dem kleinen, hochempfindlichen Lautsprecher, der, an das Telefon angeschlossen, auf dem Schreibtisch im kostbar eingerichteten Büro des Grafen Romath stand. In der schmalen Kupferkanne befanden sich nun Orchideen – es waren drei violette, phantastisch gelappte Exemplare der Gattung Sobralia macrantha.

Romath hielt den Kopf in eine Hand gestützt. Er sah elend aus. Das Gesicht trug einen zugleich trotzigen, angewiderten und verzweifelten Ausdruck.

Manuels Stimme erklang aus dem kleinen Lautsprecher: »Wie lange hat Daniel Steinfeld in Wien gelesen?«

»Viele Jahre, nehme ich an.«

»Und sicherlich hat er auch wissenschaftlich gearbeitet … im Laboratorium, an irgendwelchen Versuchen …«

»Ja.«

»Woher wissen Sie das?«

»Valerie hat es mir einmal gesagt. Ich verstehe nichts von Chemie. Ich weiß nicht, was er machte, womit er experimentierte. Irgendwie hatte es mit Insekten zu tun …«

»Mit Insekten?«

»Ja … mit der Bekämpfung von Insekten … Ich glaube, er suchte Mittel zur Bekämpfung von Schädlingen, wenn ich das richtig in Erinnerung habe …«

»Mittel zur Bekämpfung von Schädlingen!«

»Oh, das Papier …«

In diesem Moment ertönte, leiser, eine Stimme in englischer Sprache aus dem Lautsprecher.

»Able Peter, Able Peter, hier ist Sunset. Kommen Sie. Over.«

Der Graf zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Sein Gesicht verfärbte sich dunkel. Die Kiefer preßten sich aufeinander. Das Gespräch, das er hinter der verschlossenen Tür seines Büros belauschte, ging weiter, aber er verstand den Sinn der Worte plötzlich nicht mehr.

»Able Peter … Able Peter … kommen Sie sofort. Over!«

Der Graf erhob sich. Langsam ging er zu Adolph Menzels ›Maskensouper‹ und holte aus dem Versteck im Rahmen des Bildes den Miniatursender, dessen Antenne er herauszog. Er meldete sich bei den beiden Amerikanern, die in einem Wagen hinter dem ›Ritz‹ saßen.

»Na endlich, Able Peter!« Die Stimme aus dem Sender klang drohend. »Sehr freundlich von Ihnen, sich an das Gerät zu bemühen, wenn wir Sie rufen.« Die Besatzung des Streifenwagens nahe dem Hotel konnte Romath immer erreichen, sobald dieser das Abhörgerät in Manuels Salon benützte, indem sie sich mit Hilfe eines Spezialgeräts in die Telefonleitung schaltete. »Was ist los? Worüber reden die beiden?«

Nein, dachte der Graf. Nein, sie können mich nicht behandeln wie einen Hund. Ich lasse mir das nicht mehr bieten. Was geschieht, wenn ich ihnen sage, was sich da oben in dem Appartement gerade abspielt, auf welche neue Spur Manuel Aranda gekommen ist? Was werden diese Schweine tun? Die kennen keine Rücksicht. Die kennen nur Gewalt und Terror. Gegen alle. Auch gegen mich. Aber das ist mir jetzt egal! Ich will nicht immer wieder mit daran schuld sein!

»Landau erzählt, wie er und diese Valerie Steinfeld 1942 den Prozeß um die Abstammung des Jungen vorbereiteten.«

»Sonst nichts?«

»Was heißt das?«

»Heißt, was es heißt! Also?«

»Sonst nichts«, antwortete der Graf.

»Sind Sie ganz sicher?« Die Stimme klang lauernd, heimtückisch.

»Glauben Sie mir nicht?«

»Nein.«

»Hören Sie …«

»Halten Sie das Maul, Able Peter! Gestern am Nachmittag läßt Aranda bei Ihnen plötzlich einen Platz für die Maschine nach Buenos Aires heute abend um 23 Uhr 40 buchen. Für sich und drei Kerle. Sagt, daß die Kerle, die er erwartet, nur ganz kurz im ›Ritz‹ bleiben und ihre Zimmer gleich wieder frei sein werden. Dann kommt er heim und läßt alle Buchungen streichen. Warum?«

»Ich weiß nicht …«

»Er weiß es nicht, Joe. Der Süße weiß es nicht. Weil sich für Aranda ein neuer Gesichtspunkt ergeben, weil er etwas gefunden hat! Was, Able Peter, was?«

»Ich … ich weiß es doch nicht!«

»Sie wissen es, Sie Schwein!«

»Wie reden Sie …«

»Ruhig! Natürlich wissen Sie es. Wir wissen es schließlich auch. Das Ganze war nur ein Test von uns. Weil wir Ihnen nämlich schon seit einiger Zeit nicht mehr trauen …«

»Hören Sie, ich schwöre Ihnen …« Test? dachte Romath, verstummend. Das ist eine Falle. Die wissen nichts, nichts!

»… und weil wir Ihnen nicht mehr trauen, haben Sie einen Kollegen im Hotel bekommen, der Aranda auch abhört. Und Ihr Kollege, der weiß, was der junge Herr herausgefunden hat, er hat es ihn sagen hören!«

Bluff? dachte Romath verzweifelt. Bluffen die? Einen Kollegen, der auch die Gespräche abhört? Das gibt es nicht. Das müßte ich wissen. Muß ich es wissen? O Gott …

»Jetzt steht Ihr großes Maul endlich still, wie? Wir haben eine Nachricht für Sie. Der Chef ist ungehalten. Recht ungehalten.«

»Ich …«

»Kusch. Sie haben heute ab 23 Uhr frei im Hotel. Sie kommen auf jeden Fall um Mitternacht – pünktlich um Mitternacht! – in die Wohnung des Chefs. Verstanden?«

»Ja …«

»Das ist alles, Able Peter. Ende.«

Es klickte in dem Sender, dann war die Verbindung tot.

Der Graf stand reglos, er schien nicht einmal zu atmen. Sein Gesicht war jetzt schmutzig weiß. Zwei Minuten verstrichen so.

Aus dem kleinen Gerät auf Romaths Schreibtisch erklang die Stimme Landaus. Plötzlich verstand der Graf, was Landau sagte: »… gab ihr das Papier zurück. Ich bekam von Valerie ebensowenig eine Erklärung dafür, was es bedeutete, wie jetzt von Ihnen.«

»Ich sagte Ihnen doch, ich weiß es auch nicht … noch nicht!«

»Nun ja …« Landaus Stimme hatte einen leicht beleidigten Ton.

»Was heißt nun ja?« fragte Manuels Stimme.

»Nun ja, immerhin, das ist alles so unheimlich, nicht wahr? Vielleicht denken Sie, gewisse Dinge dürften Sie mir nicht erklären.«

»Unsinn! Ich weiß es wirklich nicht, Herr Landau. Erzählen Sie, was dann geschah, bitte.«

»Schön. Also, nach dem Zwischenfall mit dem Zettel war Valerie bald wieder beruhigt. Wir machten weiter. Sie hatte doch verlangt, daß auch das noch in ihre Erklärung aufgenommen werden sollte, was der Anwalt gesagt hatte, nicht wahr? Ich begriff nicht gleich und fragte: ›Was der Doktor Forster dir gesagt hat?‹ Und sie antwortete sehr verlegen: ›Na, ich habe es …‹«

46

»… dir doch erzählt, zu Mittag.« Valerie strich über ihre Bluse. Sie sah zu dem bullernden Ofen in der Ecke des Teekammerls.

»Ach so! Hm. Immerhin. Ja, natürlich, das muß hier auch noch mit hinein …« Martin Landau stand auf, nahm ein Wasserglas vom Wandregal und füllte es mit dem schlechten Weinbrand. Er trank, schüttelte sich. Dann legte er Valerie eine Hand auf die Schulter.

»Wir müssen es tun. Sonst hat das alles keinen Sinn. Aber es sind Lügen, Valerie, Lügen! Es hat nichts zu bedeuten für deine Liebe zu Paul, für meine Freundschaft zu ihm, überhaupt nichts. Er würde dasselbe sagen. Also, schreib: Mein Eheleben litt zudem schwer darunter, daß Paul Steinfeld und ich uns nicht nur in geistiger, sondern auch in geschlechtlicher Beziehung nicht verstanden …«

Valerie nahm Landau das Glas aus der Hand, trank hastig und diktierte sich selber dann laut: »Abgesehen von der allerersten Zeit unserer Intimität vor der Eheschließung und danach, zwang mich Paul Steinfeld …«

»Unsinn. Was heißt zwingen? Dazu kann man keine Frau zwingen. Du hast das über dich ergehen lassen, weil du ohnedies schon so verzweifelt warst und geglaubt hast, dein Leben ist verpfuscht. Und du bist ihm ja auch deshalb so schnell nach Dresden ausgerückt.«

»Also, wie formuliert man so etwas? Wirklich, Martin, das ist schrecklich …«

»Sachlich. Ganz sachlich bleiben. Es berührt dich überhaupt nicht. Es ist eine Lüge, die dich nicht berührt, Schatz. Trink noch einen Schluck. So ist es brav. Das formuliert man so: Abgesehen von der allerersten Zeit und so weiter und so weiter … bevorzugte – verstehst du? Bevorzugte! Das ist wichtig. Er muß auch normal mit dir verkehrt haben, sonst hätte er nicht eine Minute lang geglaubt, daß Heinz sein Sohn ist …«

»Ja. Ja, natürlich. Weiter, Martin, weiter!«

»Bevorzugte Paul Steinfeld eine besondere Art von Verkehr, die …« Landau kam ins Stottern. »… die … die mich nur … nur quälte und … und nicht … nicht befriedigte … und mich schwer abstieß … puh!« Er ließ sich auf den alten Diwan fallen. »Muß sein«, sagte er. »Muß einfach sein, Schatz, es hilft nichts.«

»Das sage ich ja selber.« Valerie schrieb. Sie hob den Kopf: »Aber ich schäme mich so, ich …«

»Natürlich schämst du dich! Und das muß auch noch hinein! … Scham, Verzweiflung, meine jugendliche Unerfahrenheit und die Erkenntnis, daß ich die Liebe meiner Eltern zu mir schwer verletzt, wenn nicht zunichte gemacht hatte, als ich Paul Steinfeld … gegen ihren so eindringlichen Wunsch … heiratete – ah, und noch etwas! –, sowie im Zusammenhang mit der damaligen allgemeinen Zügellosigkeit und dem Verfall von Sitte und Moral ließen mich selber haltlos werden und Trost bei Martin Landau suchen.«

»Pfui Teufel«, sagte Valerie. »Wenn man das liest, kann einem schlecht werden.«

»Wenn dir nicht schlecht würde, hätten wir es schlecht geschrieben«, antwortete Landau, absichtlich grob.

… denken Sie daran: Es kommt der Tag! …

Wenn er nur kommt, wenn er nur wirklich kommt, bald kommt, wenn wir ihn nur alle erleben, diesen Tag, wenn wir ihn überleben, oh!, dachte Valerie.

»Weiter!« Landau neigte sich vor. »In dieser Zeit habe ich den Weg zu Martin Landau gewählt und, ich gestehe es – obwohl mir diese Erklärung und dieses Eingeständnis als das Schwerste erscheinen, was ich in meinem Leben ertragen hatte –, häufige geschlechtliche Kontakte mit ihm gehabt. Jetzt einen Moment. Wann wurde Heinz geboren?«

»Am 27. Mai 1926.«

»Neun Monate zurück. April. März. Februar. Januar. Dezember … August 1925.«

»Mein Gott, August 1925. Da war Paul mit mir auf Ischia in Urlaub! Furchtbar heiß war es, aber schön, so schön …«

»Valerie!« Er hatte die Stimme ärgerlich gehoben. »Bitte, immerhin muß das hier stimmen. Er kann nicht mit dir zu dieser Zeit auf Ischia gewesen sein. Sonst hätten wir beide doch nicht … Im Gegenteil, er war wieder dauernd verreist und nur ein-, zweimal in Wien, kurze Zeit – denn wenn er gar nicht dagewesen wäre, hätte er doch auch nie geglaubt, daß es sein Sohn ist!«

»O Gott.«

»Nichts da, o Gott! Schreib: Besonders häufig war mein Mann in den Jahren 1924 und 1925 verreist. In dieser Zeit kam es daher zu zahlreichen intimen Vereinigungen mit Martin Landau. Schau nicht so, schreib!«

Sie schrieb.

»Paul Steinfeld und ich lebten damals …«

… denn England greift an – und mit uns die jungen Völker!

»Wohnungsnot, Martin!« rief Valerie.

»Ich denke schon daran … Lebten damals, als die Wohnungsnot in Wien noch sehr groß war, am Stadtrand, in Dornbach, bei einer gewissen Hermine Lippowski zur Miete in einer kleinen Villenetage, wo Martin Landau und ich uns unauffällig – warum schreibst du denn nicht weiter?«

Valerie sagte kaum hörbar: »Die Lippowski …«

»Wir müssen sie erwähnen. Ganz bestimmt wird man sie als Zeugin vernehmen.«

Valerie ließ sich in dem alten Lehnsessel zurücksinken und starrte ins Leere.

»Ich habe Angst, Martin«, flüsterte sie. »Ich habe solche entsetzliche Angst …«

47

»Da sind Sie ja! Pünktlich auf die Minute! Nein, was ich mich freue, Sie wiederzusehen, Frau Steinfeld! Grüß Gott, grüß Gott! Bitte, treten Sie ein!« rief Hermine Lippowski. Sie war durch den verwilderten, kahlen Garten vor ihrem Haus geeilt und hatte das Tor geöffnet. Valerie immer noch die Hand schüttelnd, zog sie diese über einen schmalen Schotterweg vorwärts.

Das war vor sechs Stunden gewesen, um 15 Uhr an diesem Samstagnachmittag.

Nach dem Besuch bei dem Anwalt Forster hatte Valerie sich beeilt, in die Buchhandlung zurückzukommen und Martin Landau alles zu berichten, was sie nun wußte.

Danach suchte sie im Telefonbuch die Nummer ihrer ehemaligen Hauswirtin.

»Hoffentlich lebt sie noch. Immerhin, das ist schon neunzehn Jahre her, daß ihr da eingezogen seid«, sagte Landau.

»Warum soll sie nicht mehr leben? Die war damals doch höchstens vierzig.«

»Und wenn sie umgezogen ist? Wenn sie kein Telefon hat?«

»Dann gibt es immer noch das Einwohnermeldeverzeichnis, in dem ich – da! Da ist sie! Lippowski, Hermine, XVII., Luchtengasse 137! Das war unsere Adresse! Das muß die richtige Lippowski sein!«

Es war in der Tat die richtige Hermine Lippowski, und als Valerie ihr sagte, daß sie dringend mit ihr sprechen müsse, schlug die Angerufene sofort vor, sich noch am gleichen Tag zu treffen: »Sagen wir um drei, bei mir?«

Und so läutete Valerie denn pünktlich um drei Uhr am Gartenzaun des kleinen, zweistöckigen Hauses draußen am Stadtrand, in Dornbach. Und Hermine Lippowski kam persönlich, um das Tor zu öffnen, wobei sie Valerie herzlich begrüßte. Leider sei sie fast ganz auf sich allein angewiesen, klagte Hermine Lippowski, an Valeries Seite durch den traurigen Garten gehend. »Alles muß man selber machen. Ich habe nur eine Bedienerin, die zweimal wöchentlich kommt, eine faule, unsaubere Person, aber was soll man tun, man muß froh sein, wenn man heutzutage überhaupt noch eine Kraft findet, nicht wahr, es wird immer schlimmer, man könnte glatt verzweifeln …«

Valerie lauschte benommen. Sie war erschrocken über das Maß, in dem Frau Lippowski sich verändert hatte. Schön war sie auch vor neunzehn Jahren nicht gewesen. Aber doch zierlich und schlank, mit einem herb wirkenden Gesicht (›apart‹ nannte man das), schwarzem Haar, schwarzen Augen und einer melodischen Stimme.

Jetzt war die Lippowski bei ihrer Kleinheit rund wie eine Kugel geworden, das Haar, ungepflegt und strähnig, stand ihr aschgrau vom Kopf ab, die Augen waren erloschen, halb verdeckt von den Lidern, der Mund war schmallippig und fest geschlossen, das Gesicht faltig. Valerie hatte rasch überlegt: Wenn diese Frau 1923 etwa vierzig Jahre alt gewesen war, dann konnte sie noch keine sechzig sein. Sie sah aber aus, als wäre sie schon über siebzig …

In der guten Stube ihrer Wohnung im Erdgeschoß servierte Frau Lippowski Tee und dazu alte, harte Kekse. Die gute Stube war noch genauso scheußlich eingerichtet und vollgestopft, wie Valerie sie in Erinnerung hatte. Hier schien die Zeit stehengeblieben zu sein.

Aus der Wohnung im ersten Stock ertönten lautes Kindergebrüll und eine Frauenstimme, dann fielen Gegenstände um.

Hermine Lippowski sah sich sogleich zu neuen Klagen veranlaßt: »Da hören Sie es! Umsiedler! Volksdeutsche! Hat man mir eingewiesen. Zwei kleine Kinder und ein Säugling. Das Geplärre und der Krach Tag und Nacht, es ist zum Verrücktwerden. Natürlich hätte ich auf alle Fälle vermietet, ich brauche das Geld. Ich hatte ein so nettes, ruhiges Ehepaar – ganz wie Sie und Ihr Mann damals. Aber nein, die Volksdeutschen haben sie mir geschickt vom Wohnungsamt. Habe ich nehmen müssen. Glauben Sie, diese Leute nehmen Rücksicht, irgend jemand nimmt heute noch Rücksicht? Da, jetzt fängt das verdammte Balg auch noch an!«

Tatsächlich erklang Wehgeschrei eines Babys durch die Decke.

Frau Lippowski stampfte mit dem Fuß auf vor Wut. Dann lächelte sie verzerrt.

»Ich habe noch gar nicht gefragt, wie es Ihnen geht! Ihnen und Ihrem lieben Mann und dem Heinzi.«

»Ich habe Sorgen, Frau Lippowski. Große Sorgen. Darum komme ich zu Ihnen.«

»Sorgen? Erzählen Sie. Erzählen Sie mir alles.«

Der Säugling brüllte weiter, die Kinder tobten, und Valerie berichtete stockend zuerst, fließend dann, zuletzt wieder stockend, denn eine immer größere Beklemmung hatte sich ihrer bemächtigt. Das waren ihre Schlußworte: »Und wenn man Sie jetzt vor Gericht befragt, Frau Lippowski, dann möchte ich Sie herzlich bitten, so auszusagen, wie ich es Ihnen geschildert habe.«

»Daß ich den Herrn Landau so oft habe kommen sehen, besonders wenn Ihr Mann verreist war, und daß Ihr Mann und Sie immer gestritten und eine ganz schlechte Ehe geführt haben?«

»Ja.«

Die Frau mit dem wirren Haar saß reglos, ohne zu antworten.

»Frau Lippowski, bitte! Sie wissen doch jetzt, worum es geht. Zu Ihnen kann ich doch Vertrauen haben. Sie haben mir einmal selber erzählt, daß Sie mit einem Juden verheiratet gewesen sind, der im Ersten Weltkrieg, 1918 noch, gefallen ist. Sie müssen doch Verständnis haben für meine Situation. Sie erinnern sich bestimmt noch gut an meinen Mann.«

»Ich erinnere mich noch gut an Ihren Mann.«

»Und Sie verstehen meine Lage?«

»Ich verstehe Ihre Lage, ja, Frau Steinfeld. Ich verstehe sie ausgezeichnet.«

»Also darf ich damit rechnen, daß Sie in meinem Sinne aussagen?«

»Nein«, sagte Hermine Lippowski, »nein, und tausendmal nein.« Valerie suchte nach Worten. Sie redete auf die dicke Frau ein, sie bat, sie bettelte, sie flehte.

Es half nichts.

»Nein«, sagte Hermine Lippowski, die ein schwarzes, hochgeschlossenes und altmodisches Kleid mit funkelnden schwarzen Glasknöpfen und alte, hohe Stiefeletten trug. »Nein, Frau Steinfeld. Mit mir können Sie nicht rechnen. Ich werde nicht für Sie aussagen.«

»Haben Sie Skrupel, zu lügen? Die müssen Sie nicht haben. Ich habe meinen Mann wirklich betrogen! Unsere Ehe war schlecht! Sie müssen unsere Streitereien doch gehört haben! Und Herrn Landau zu mir kommen gesehen!«

Über ihnen klatschten Ohrfeigen. Ein Junge heulte los.

»Ich habe keine Streitereien gehört. Nie. Soviel ich weiß, haben Sie eine sehr glückliche Ehe geführt. Und Herr Landau war niemals mehr als Ihr Freund – und der Freund Ihres Mannes.« Das dicke schwarze Ungetüm hob eine fleischige Hand. »Was noch nichts zu bedeuten hätte. Nicht das geringste hätte das zu bedeuten. Ich bin keine Nazisse. Ich bin Monarchistin. Es wäre mir ein Vergnügen, das Gesindel nach Strich und Faden anzulügen.«

»Ja, aber was ist es dann?«

»Ihr Mann ist Jude«, sagte die alte Frau, und nun trat ein Ausdruck von irrem Haß in ihre erloschenen Augen. »Jude ist Ihr Mann. Das habe ich nicht gewußt bis heute. Auf den Meldezettel damals hat er geschrieben: evangelisch!«

»Ja, er war getauft … seine Eltern auch schon.«

»Aber trotzdem Jude! Hätte ich eine Ahnung, nur die leiseste Ahnung gehabt, ich hätte Sie nie bei mir aufgenommen, Frau Steinfeld! Nie, nie, nie hätte ich Sie bei mir wohnen lassen!«

»Aber … aber warum nicht?«

Die schwarzgekleidete, fettleibige Person antwortete leidenschaftlich: »Weil ich Juden hasse. Deshalb, Frau Steinfeld.«

»Sie …«

»Ich hasse die Juden, jawohl! Mehr als alles andere! In diesem einen Punkt denke ich so wie die Nazis. Aber der Antisemitismus ist älter als die Nazis, jahrtausendealt! Sechstausend Jahre! Und mit Recht! Die Juden, das ist der Abschaum der Menschheit! Das Letzte vom Letzten. Das Verlogenste und Gemeinste und Verkommenste und Gewissenloseste und Schmutzigste! Ja, ja, starren Sie mich nur an!« Die Lippowski schlug mit einer Faust auf den Tisch. »Es gibt nichts Dreckigeres als die Juden! Nichts Verantwortungsloseres! Nichts Abstoßenderes! Nein, wirklich nichts Abstoßenderes!«

Über ihnen schrien jetzt Mutter und Kinder, das Baby plärrte.

»Frau Lippowski … Frau Lippowski …« Trotz Verblüffung und Schrecken war Valerie ein Einfall gekommen. »Schauen Sie, eben deshalb war ja auch meine Ehe so schlecht! Weil ich einen Juden geheiratet habe. Was glauben Sie, wie ich gelitten habe …«

Hermine Lippowski war ruhiger geworden, unheimlich ruhig, als sie endlich sagte: »Erzählen Sie mir nichts, Frau Steinfeld. Sie glauben, die alte Lippowski, die wohnt am Ende der Welt und hat von nichts eine Ahnung. Da irren Sie sich aber. Die alte Lippowski hat zufällig schon eine Ahnung, gerade in so einem Fall wie dem Ihren. Sie kennt nämlich eine Frau in München, die versucht dasselbe.«

»Dasselbe? Was versuche ich denn?«

»Den Staat zu betrügen. Das Gericht zu betrügen. Einen Lügenprozeß zu führen, weil Sie Angst haben um Ihren Heinzi!«

Valerie sah die Lippowski fest an und sagte entschlossen: »Was reden Sie denn da? Das ist doch Irrsinn!«

»Das ist die Wahrheit!«

»Nein, ist sie nicht! Ich führe den Prozeß, weil es sich so verhält, wie ich es Ihnen geschildert habe. Herr Landau ist bereit, zu beschwören, daß es sich so verhält.«

»Seine Sache! Er muß wissen, was er tut.«

»Ich habe ein sehr schweres Leben geführt, Frau Lippowski, das können Sie mir glauben. Ich habe immer und immer gehofft, daß meine Ehe doch noch gut wird. Das Kind war mir ein so großer Trost. Und zu dem Kind war auch mein Mann nett, bis zuletzt.« Valerie holte Atem, sie schrie nun beinahe: »Aber jetzt, wo er einfach auf und davon ist und mich hier hat sitzenlassen mit dem Buben, jetzt im Krieg, wo jeder wissen muß, wo er hingehört, wo jeder kämpfen und arbeiten muß, so sehr er kann, damit wir diesen Krieg gewinnen …« – ich bin verrückt, völlig verrückt bin ich! – »… jetzt, wo sie den Heinz aus der Schule geworfen haben …«

»Da!« Wie ein Raubvogel schoß der schwere, kleine Körper der Lippowski auf dem alten abgewetzten Lehnstuhl vor. »Nun haben Sie sich verraten! Wie ich gesagt habe: Ihren Buben wollen Sie retten, deshalb fangen Sie das alles an und bringen die Leute dazu, daß sie lügen und Meineide schwören – damit dem Heinzi nichts passiert, dem lieben Heinzi, der auch ein Jud ist!«

Der Lärm im ersten Stock ging immer weiter.

Valerie holte Atem. Sinnlos, dachte sie. Die Alte ist verrückt.

»Entschuldigen Sie also die Störung, Frau Lippowski. Nein, nein, bemühen Sie sich nicht. Ich finde schon den Weg. Ich kenne mich ja noch aus in diesem Haus.« Sie ging zur Tür. Plötzlich sauste etwas wie eine große Kugel an ihr vorüber – die Lippowski. Sie knallte mit dem Rücken gegen die Tür und versperrte Valerie den Weg. Sie sprach jetzt erregt, das Gesicht verzerrt.

»Meinetwegen gehen Sie! Aber eines will ich Ihnen noch sagen!«

»Lassen Sie mich durch!«

»Erst hören Sie mich an! Ich habe selber einen Juden zum Mann gehabt!«

»Ja, eben. Und er ist gefallen im Ersten Weltkrieg. Es ist mir unbegreiflich, daß gerade jemand wie Sie darum so über Juden sprechen kann. Ich verstehe das einfach nicht. Ich …«

Die dicke Frau packte Valerie, ehe diese zurückweichen konnte, an beiden Armen. Ihre Stimme überschlug sich.

»Warum ich so reden kann? Gerade weil ich verheiratet gewesen bin mit einem Juden!«

»Gerade weil …«

»Ich habe Sie angelogen!«

»Angelogen?«

»Ja! Ja! Ja! Mein Mann ist nicht gefallen 1918. Der hat ihn schön überlebt, den Krieg! In der Heimat! Unabkömmlich. Hat es sich gerichtet. Reich geworden ist er bis 1918. Und nach 1918 erst recht, der dreckige Schieber! Was glauben Sie, was der zusammengerafft hat in der Inflation! Siebzehn Jahre waren wir verheiratet!« Die Lippowski hielt Valerie eisern fest. Es war unglaublich, welche Kräfte diese kleine, fette Frau besaß. »Siebzehn Jahre! Die besten Jahre meines Lebens habe ich ihm gegeben! Und er? 1922, da kommt er plötzlich und sagt, er will sich scheiden lassen.«

»Scheiden lassen …«

»Ja, und eine heiraten, die neunzehn Jahre jünger ist als ich, dreiundzwanzig Jahre jünger als er! Seine Sekretärin! Ein Jahr ist das schon gegangen mit den beiden, jetzt war sie schwanger, jetzt hat er es eilig gehabt mit dem Heiraten!«

»Sie hätten sich doch weigern können, in eine Scheidung einzuwilligen!«

»Habe ich ja auch! Aber da sind seine Anwälte über mich hergefallen – Juden natürlich –, und die haben mich bedroht und eingeschüchtert und vollkommen verrückt gemacht, daß er mich auf alle Fälle verlassen wird, mein Mann, weil ich ihn auch betrogen habe, und daß er deshalb Klage erheben wird …«

»Haben Sie ihn denn betrogen?«

»Lächerlich! Ein ganz kleines Gschpusi, 1912, mit einem Offizier … Das kann man doch nicht vergleichen! Aber in meiner Angst, daß ich schuldig geschieden werde und völlig mittellos dastehe, habe ich Ja und Amen gesagt zu allem, und er hat sie heiraten können, die geile, junge Judensau!«

»Sie war eine Jüdin?«

»Eine Jüdin, klar! Dieses Pack heiratet doch am liebsten in der eigenen Mischpoche!« Der Säugling im ersten Stock schrie durchdringend. »Mir hat er das Haus da gekauft, der feine Herr, erschachert, ganz billig, in der Inflation, ich sage es ja, was hat der damals für Häuser gekauft! Und zu monatlichen Alimenten ist er verurteilt worden – lächerliche Summen bei seinem Reichtum! Abgeschoben hat er mich hier heraus nach Dornbach … Und weil mich hier keiner gekannt hat, habe ich die Geschichte von seinem Tod im Krieg und unserer großen Liebe erfunden … damit niemand etwas von meiner Schande erfährt … nach siebzehn Jahren Ehe auf und davon mit einer anderen!« Hermine Lippowski hob eine Faust gegen die Decke. »Aber Gott ist gerecht! So etwas läßt er nicht durchgehen, ah, nein! Es hat ihm kein Glück gebracht, dem Viktor, wie er sich an mir versündigt hat, nein, kein Glück!«

»Wieso? Ist Ihr Mann …«

»1938, ja! Als einer von den ersten! Sie haben ihn gerade noch vor der Flucht erwischt. Und auch sein Vermögen. Die Judensau hat sich schon vorher umgebracht, und den Judenbuben dazu. Gleich im März noch. Fort mit Schaden! Auch an ihr hat Gott mich gerächt!«

»Und Ihr Mann?«

»Ist in ein Lager gekommen, habe ich gehört … Die räumen ordentlich auf, die Nazis, das muß man ihnen lassen …!«

48

»Ich habe Angst, Martin, ich habe solche Angst …«, flüsterte Valerie nun, am Abend, im Teekammerl der Buchhandlung. »Diese Lippowski ist halb irre vor Haß und Kränkung und Alleinsein … Weiß Gott, was die anrichten wird, wenn sie als Zeugin aussagt! Der Doktor Forster wird sie bestimmt nicht anfordern, aber der Kurator, das Gericht, du sagst es ja selber!«

Mit einem Ruck erhob Landau sich, goß wieder das Glas voll Weinbrandverschnitt, trank und sagte mit fester Stimme: »Mach dich nicht verrückt, Schatz. Soll die Alte doch sagen, es ist alles nicht wahr, sie weiß von nichts! Der Forster wird sie schon in die Zange nehmen. Da ich dauernd bei euch draußen war in dieser Zeit, das muß sie zugeben! Das stimmt! Und Lärm bei Streitereien? Na, dann hat sie eben keinen gehört. Der Forster kann sicherlich auch so gemein sein wie sie! Er kann, zum Beispiel, erwähnen, daß sie mit einem Juden verheiratet war. Ob ihr das so angenehm sein wird?«

»Trink nicht so viel. Du verträgst doch nichts, und wir sind noch nicht fertig. Es ist gar nicht schön, wie das aussieht.«

»Ein Glück, daß ich in der Partei bin«, sagte er grinsend. (Nur Valerie wieder Mut machen!) »Wenn ein Parteimitglied schwört, dann ist das ein ganz anderer Schwur, als wenn ein gewöhnlicher Volksgenosse die Finger hebt.«

»Ich rede nicht von dir. Ich rede von unseren Zeugen! Deine Schwester …«

»Die Tilly wird erklären, sie weiß von überhaupt nichts, hat sie doch selber gesagt! Na schön, wir haben es ja auch nicht an die große Glocke gehängt, unser Verhältnis!«

»Aber eine Zeugin für uns ist sie damit auch nicht. Und bei der Agnes wissen wir noch nicht, was ihr Pfarrer sagen wird.«

»Daß sie lügen darf, natürlich!«

»Du bist ein Optimist, weil du einen sitzen hast! Vielleicht sagt er ihr, Meineid ist in jedem Fall eine Todsünde. Was dann?«

Die Agnes Peintinger hatte ihren Hochwürdigen Herrn, den Pfarrer Ignaz Pankrater, noch nicht aufsuchen können, denn dieser war für fünf Tage verreist.

Martin Landau setzte sich, betont forsch.

»Dann muß es eben ohne Zeugen gehen! Wir können nicht warten, bis wir wissen, was die Agnes tun wird. Am Montag soll das hier beim Anwalt sein. Nimm dich zusammen. Wo sind wir stehengeblieben?«

»… lebten damals …Miete …gewissen Lippowski …wo Martin Landau und ich uns unauffällig …«

»… treffen konnten«, diktierte er. »Na los, schreib!«

Sie schrieb.

Er fuhr fort: »Als ich feststellte, daß ich von Martin Landau ein Kind erwartete, sagte ich es diesem sofort. Er war entschlossen, mit Paul Steinfeld zu reden und ihm die Wahrheit zu erzählen. Punkt. Hm. Er … er …« Landau trank wieder und polterte lauthals: »Himmelarschundzwirn, ist das kompliziert!«

Valerie war wieder in Schwung gekommen, sie sprach, während sie stenographierte: »Er wollte unter allen Umständen erreichen, daß Steinfeld sich scheiden ließ und das Kind als das seine, Landaus, anerkannt wurde. Er liebte mich und wollte mich sofort heiraten, doch ein Anwalt belehrte uns, daß ein geschiedener Ehepartner nach österreichischem Recht nicht die Person heiraten dürfe, mit der er den Ehebruch begangen hatte …«

»Woher weißt du denn das?« Landau horchte auf.

»Das hat mir der Doktor Forster erklärt. Grundsätzlich hätte die Behörde dann doch noch einen Dispens erteilen können, und eine neue Eheschließung wäre möglich gewesen, aber davon, sagt der Doktor Forster, müssen wir ja nichts gewußt haben. Das alles hat er mir durch die Blume erklärt – indirekt natürlich …«

»Natürlich. Prima Anwalt, den Paul uns da empfohlen hat«, sagte Landau, sehr beeindruckt.

»Ich wäre also«, schrieb und sprach Valerie, »schuldhaft geschieden worden und hätte ein uneheliches Kind gehabt, ohne die Möglichkeit, dessen Vater zu heiraten. Vor dieser Situation schrak ich zurück. Mit meinen Eltern war ich inzwischen ganz zerfallen, ich hatte so viel Leid über die beiden alten Leute gebracht …«

»… und mein eigenes Leben zerstört …«, assistierte Landau.

»… zerstört und korrumpiert – Gedankenstrich –, nun sollte nicht auch noch das Kind unter meinen Verfehlungen leiden. Ich wollte an der Seite Paul Steinfelds ausharren und alles ertragen, was mir diese Verbindung an Leid bescherte, so entsetzlich bitter das auch war – Gedankenstrich –, um des Kindes willen … Paul Steinfeld nahm die Nachricht von einer Schwangerschaft verärgert auf, denn er wollte am liebsten kein Kind. Für eine Schwangerschaftsunterbrechung, die er vorschlug …«

»Das ist hervorragend! Echt jüdisch!« kommentierte Landau. (Mut, Mut, Valerie Mut machen!)

»… war es zu spät. Deshalb fand er sich mit den Tatsachen ab, kümmerte sich im Laufe der Jahre aber so wenig wie möglich um meinen Sohn und stand ihm stets ablehnend gegenüber. Dasselbe Gefühl der instinktmäßigen Abneigung brachte mein Sohn, als er älter wurde, in immer stärkerem Maße auch Paul Steinfeld entgegen, während er sich mehr und mehr zu Martin Landau hingezogen fühlte … den ich schon vor der Geburt des Kindes möglichst häufig einlud, um wenigstens so oft es ging in seiner Gesellschaft sein zu können …«

»Paul muß natürlich Verdacht geschöpft haben!«

»Das kommt jetzt … Paul Steinfeld akzeptierte Martin Landau nie ganz. Er war mißtrauisch und äußerte häufig den Verdacht, nicht der Vater von Heinz zu sein. Er machte mir unentwegt Eifersuchtsszenen, auch in Verbindung mit den verschiedensten Männern, die bei uns verkehrten, wobei er ständig auf seine ihm dubios erscheinende Vaterschaft anspielte … In dieser Weise führten wir viele Jahre hindurch eine Ehe, die nur eine Farce einer solchen war – Paul Steinfeld ging seinem Leben nach, ich dem meinen. Gemeinsam mit Martin Landau arbeitete ich an Volkshochschulen …«

»Das haben wir wirklich getan! Valerie, es kann gar nichts schiefgehen!«

»… wo wir Vorträge hielten und Kurse für Kunstinteressierte veranstalteten. So baute ich mir eine eigene Welt auf, in deren Mittelpunkt mein geliebter Junge stand …« Der Bleistift flog über das Papier. »Es war eine Erlösung für mich, als Paul Steinfeld 1938 über Nacht floh, obwohl er mich praktisch mittellos zurückließ … In dieser Situation … erwies sich Martin Landau als treuer Freund … Er bot mir sofort eine Stelle in seiner Buchhandlung an, und er wollte nun, nach dem Umbruch, auch eine Legitimierung unseres Sohnes betreiben, aber ich lehnte ab …«

»Warum?« fragte Landau.

»Die Bedingungen für Heinz waren damals günstig«, sprach und stenographierte Valerie. »Er war Ariern gleichgestellt, und ich hoffte, ihn durchzubringen, ohne die Vergangenheit aufrollen und den schweren Weg dieser Prozeßführung gehen zu müssen. Ich hoffte, den begabten Jungen einer guten Berufsausbildung zuführen und ihn zu einem wertvollen Mitglied der Gemeinschaft machen zu können …« Valerie schrieb immer schneller. »Die Entwicklung verlief jedoch ungünstig und verhinderte meine Pläne. So habe ich mich entschlossen, die schon 1938 von Martin Landau gewünschte Legitimierung meines Sohnes Heinz jetzt zu beantragen …«

Der Bleistift entglitt Valeries Hand. Die Hand fiel herab. Ein Beben ging durch ihren Körper, dann saß sie steif und starr da, ohne sich zu bewegen. Mit blicklosen Augen sah sie die vielen kleinen Schubladen des alten Schreibtisches an.

»Valerie!« Landau trat besorgt neben sie. Er schüttelte leicht ihre Schulter. Er redete hastig auf die Reglose ein: »Nicht, Valerie, nicht … bitte … Das ist doch alles großartig … Paul wäre begeistert … Er hätte es nicht so hingekriegt … Ich auch nicht … Nicht einmal der Doktor Forster … Der wird entzückt sein … Valerie … Valerie, sag etwas, bitte!«

Doch Valerie Steinfeld sagte kein einziges Wort, kein einziges Wort.

49

Der Schreibtisch des Teekammerls, das alte Sofa und der Fußboden waren von Papieren und Urkunden bedeckt. Urkunden und Papiere lagen auf dem Radioapparat, dem Schaukelstuhl, dem Gasrechaud. Es war einen Tag später, Sonntagabend. Valerie und Landau arbeiteten seit dem Vormittag. Sie schrieben hier und nicht bei Valerie, damit diese, wie jeden Sonntag, BBC hören konnte. Sie hatten um 13 Uhr der Sendung aus London gelauscht und danach mitgebrachten ›Eintopf‹ aufgewärmt, den beide stehend, die Teller in der Hand, gegessen hatten. Anschließend waren sie gleich wieder an die Arbeit gegangen.

Es war eine mühselige Beschäftigung. Sie mußten den lückenlosen ›Großen Ariernachweis‹ für sich erbringen.

Bei Paul Steinfeld verlangte das Gericht Klarheit darüber, daß er, seine Eltern und Großeltern ›Bluts‹- und ›Geltungsjuden‹ waren. Zum Glück hatten die Eltern ihren Sohn evangelisch taufen lassen und waren selber konvertiert, aus rein beruflichen Gründen. In Preußen gab es vor der Jahrhundertwende einen Numerus clausus für jüdische Anwälte. Paul Steinfelds Eltern stammten aus Preußen, und sein Vater war Anwalt gewesen. Zum Glück – denn die Urkunden verstorbener Juden hätten sich nach der Zerstörung sämtlicher Synagogen im Dritten Reich schwerlich noch auftreiben lassen. So konnte man sich an evangelische Pfarrämter wenden.

Die meisten Dokumente besaß Martin Landau schon von seiner Bewerbung um die Parteimitgliedschaft her. Valerie verfügte nur über jene Papiere, die Heinz einst in der Schule hatte vorlegen müssen – um danach aus der Hitler-Jugend gefeuert zu werden. Bereits die Taufscheine ihrer Großeltern besaß Valerie nicht. Sie war gezwungen gewesen, zusammen mit Landau, anhand der wenigen vorliegenden Papiere und eines großen vorgedruckten Formulars zurückzurechnen, zu überlegen und Pfarr- und Standesämter in eigener Sache anzuschreiben.

Dieses Formular war ein dicker Bogen von 60 mal 40 Zentimeter Größe, angefüllt mit liegenden und stehenden Rechtecken, Zeichen und Worten in jener gotischen Schrifttype, die das Dritte Reich so bevorzugte.

Am Kopf dieses Papieres, das Gedeih oder Verderb, Leben oder Tod, Glück oder Leid bescherte in jenen Jahren, stand groß und massig das Wort

Ahnentafel

»Dieser Pavel Matic, dein zweiter Urgroßvater mütterlicherseits«, dozierte Valerie, auf eine Urkunde klopfend, »hat deine zweite Urgroßmutter mütterlicherseits am 25. September 1772 geheiratet. Steht hier auf dem Geburtsschein deiner Großmutter mütterlicherseits. Geheiratet in Prag. In der alten Carl-Borromäus-Kirche. In dieser Kirche ist dein Urgroßvater auch getauft worden. Steht auch noch hier. Wann, steht nicht hier.«

»Na ja, na und?« fragte Landau irritiert. »Werden wir eben an diese Carl-Borromäus-Kirche in Prag schreiben und um einen Taufschein von meinem Urgroßvater bitten!«

»Und ihn nicht bekommen«, sagte Valerie.

»Wie?«

Sie sah ihn unruhig an.

»Was hast du denn? Nun rede schon!«

»Martin, sei mir nicht böse … Ich hätte nicht davon gesprochen … Du weißt, ich erzähle dir nie etwas …«

»Ich verstehe kein Wort.«

Sie blickte zu dem Radioapparat.

»BBC?« fragte er, auffahrend.

Sie nickte.

»Was haben die gemeldet?«

»Ich weiß es einfach so, ja?«

»Vom Londoner Rundfunk!«

»Ich weiß es, hör schon auf! Du mußt es dir leider anhören. Du erinnerst dich doch noch daran, wie die Tschechen den Heydrich umgebracht haben, nicht?«

Er nickte.

Reinhard Heydrich, Chef der Sicherheitspolizei des SD, stellvertretender Chef der Gestapo, dieser achtunddreißigjährige, langnasige, eiskalt blickende Erfinder der ›Endlösung‹, hatte sich, unermüdlich mehr und mehr Macht an sich raffend, zum amtierenden ›Reichsprotektor für Böhmen und Mähren‹ machen lassen. Am Vormittag des 29. Mai 1942 fuhr er im offenen Wagen von seinem Landsitz nach Prag zum Hradschin, seinem Amtssitz. Eine Bombe wurde in den Wagen geworfen. Die Täter waren zwei Angehörige der Freien Tschechischen Armee in England, Jan Kubis und Josef Gabcik, die ein RAF-Flugzeug ins Land gebracht hatte und die mit dem Fallschirm abgesprungen waren. Unterstützt wurden die beiden von der tschechischen Widerstandsbewegung.

Heydrich starb am 4. Juni. Die Deutschen nahmen furchtbare Rache. Am meisten hatten Juden zu leiden, von denen man viele Tausende sofort in Vernichtungslagern umbrachte. Umgebracht wurden, nach einem Gestapobericht, auf der Stelle auch 1331 Tschechen, darunter 201 Frauen. Das nahe Prag gelegene Dorf Lidice erlangte Weltberühmtheit: Die Deutschen erschossen alle männlichen Bewohner, trennten Frauen und Kinder, verschleppten diese, steckten jene in Lager und machten Lidice buchstäblich dem Erdboden gleich.

Die Attentäter Kubis und Gabcik wurden von Mitgliedern der Untergrundbewegung in Sicherheit gebracht. Priester der Carl-Borromäus-Kirche in Prag versteckten sie. Daraufhin belagerte die SS die alte Kirche, ebenso das Pfarrhaus nebenan, und die Attentäter sowie 120 Männer der Widerstandsbewegung, die gleichfalls in der Kirche waren, wurden ausnahmslos getötet.

»… die SS legte Brand und verwüstete die Kirche und vor allem das Pfarrhaus. Da verbrannte fast alles. Ganz sicherlich existieren die alten Taufbücher nicht mehr«, erzählte Valerie stockend.

Martin Landau sprach lange Zeit kein Wort.

Endlich flüsterte er: »Diese Schweine … diese verfluchten Schweine … Also nicht an die Kirche schreiben?«

Lebhaft antwortete Valerie: »Aber ja doch! Natürlich an die Kirche schreiben! Das war eine Aktion, die geheimgehalten wurde. Wenn wir, in Wien, davon wissen, dann wird man sagen, die wissen davon durch den Londoner Rundfunk.«

»Welchen Sinn hat es aber dann …«

»Unsere Sicherheit! Wir müssen uns ganz dumm stellen!« Valerie seufzte. »Ich habe dir ja gesagt, mit diesem Pavel Matic werden wir noch unser Kreuz haben. Ganz dumm stellen und zuerst an die Carl-Borromäus-Kirche schreiben. Die werden antworten, sie können uns nicht helfen. Vielleicht hatten sie die alten Taufbücher irgendwo verlagert. Das wäre Glück! Sonst müssen wir versuchen, herauszufinden, wo dieser Pavel Matic gestorben ist und wann und wer den Sterbeschein ausgestellt hat. Auf dem Sterbeschein muß das Datum und der Ort der Taufe angegeben sein …«

Landau ließ sich in den Schaukelstuhl sinken und fluchte laut.

»Hör auf«, Valerie. »Es geht nicht anders. Und wir schaffen es schon.« Sie drückte seine Hand. »Wirst sehen, in ein paar Wochen haben wir alles, was wir brauchen.«

Valerie irrte sich.

Noch dreizehn Monate später sollten drei Dokumente fehlen, noch dreizehn Monate später sollten sie flehende Briefe an Pfarreien, Standesämter und Friedhofsverwaltungen schreiben mit der Bitte um beglaubigte Abschriften von Dokumenten, die sie benötigten, damit sie die arische Abstammung irgendwelcher Menschen beweisen konnten, die seit 150, 160 oder 180 Jahren tot waren.

Sie arbeiteten den ganzen Nachmittag. Valerie trieb zur Eile an. Sie hatte die Verzweiflung von gestern überwunden, ihr Gesicht war von Energie, Kraft, ja Rücksichtslosigkeit gezeichnet. Sie tippte Brief um Brief. Weiter! Weiter! Sie mußten weiterkommen! Es war keine Zeit zu verlieren!

Um viertel neun Uhr abends fuhr sie plötzlich hoch.

»Was ist los«? rief Landau erschrocken.

»Nachrichten um acht. Ganz vergessen. Sonntag abend spricht immer Paul. Wir machen eine Pause, ja? Sei lieb Martin …« Sie sah ihn lächelnd an.

»Immer dasselbe«, knurrte er. Aber er nahm seinen Wintermantel, seinen Hut und seinen Schal und verschwand in den kalten Magazingewölben.

Valerie räumte schnell den ›Minerva 405‹ frei, schaltete ihn ein, setzte sich vor den Apparat, warf die Wolldecke über ihn und sich und drehte an dem Skalenknopf, bis sie die richtige Wellenlänge eingestellt hatte. Die Sendung lief bereits, und es war nicht die Stimme, die sie für jene Paul Steinfelds hielt und die niemals Paul Steinfelds Stimme war – es war die tönende Stimme Thomas Manns, der die neueste seiner in regelmäßigen Abständen ausgestrahlten Ansprachen an die ›Deutschen Hörer‹ verlas. »… Jetzt ist man bei der Vernichtung, dem maniakalischen Entschluß zur völligen Austilgung der europäischen Judenschaft angelangt. ›Es ist unser Ziel‹, hat Goebbels in einer Radio-Rede gesagt, ›die Juden auszurotten. Ob wir siegen oder geschlagen werden, wir müssen und werden dieses Ziel erreichen. Sollten die deutschen Heere zum Rückzug gezwungen werden, so werden sie auf ihrem Weg den letzten Juden von der Erde vertilgen.‹ – Kein vernunftbegabtes Wesen kann sich in den Gedankengang dieser verjauchten Gehirne versetzen. Wozu? fragt man sich. Warum? Wem ist damit gedient? Wird irgend jemand es besser haben, wenn die Juden vernichtet sind? Hat der unselige Lügenbold sich am Ende selber eingeredet, der Krieg sei vom ›Weltjudentum‹ angezettelt worden, es sei ein Judenkrieg und werde für und gegen die Juden geführt? Glaubt er, das ›Weltjudentum‹ werde vor Schrecken den Krieg gegen die Nazis untersagen, wenn es erfährt, daß deren Untergang den Untergang des letzten Juden in Europa bedeuten wird? Die Niederlage hält Gundolfs mißratener Sohn nachgerade für möglich. Aber nicht allein werden die Nazis zur Hölle fahren, sie werden Juden mitnehmen. Sie können nicht ohne Juden sein. Es ist tiefempfundene Schicksalsgemeinschaft. Ich glaube freilich, daß die zurückflutenden deutschen Heere an anderes zu denken haben als an Pogrome. Aber bis sie geschlagen sind, ist es irrsinniger Ernst mit der Ausrottung der Juden. Das Ghetto von Warschau, wo fünfhunderttausend Juden aus Polen, Österreich, Tschechoslowakien und Deutschland in zwei Dutzende elende Straßen zusammengepfercht worden sind, ist nichts als eine Hunger-, Pest- und Todesgrube, aus der Leichengeruch steigt. Fünfundsechzigtausend Menschen sind dort in einem Jahr, dem vorigen, gestorben. Nach den Informationen der polnischen Exilregierung sind alles in allem bereits jetzt siebenhunderttausend Juden von der Gestapo ermordet oder zu Tode gequält worden, wovon siebzigtausend allein auf die Region von Minsk in Polen entfallen. Wißt ihr Deutsche das? Und wie findet ihr es …?«

50

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Dr. Karl Friedjung mit böser, kalter Stimme. Er saß hinter einem großen Arbeitstisch in seinem Empfangszimmer im ersten Stock der Staatsschule für Chemie auf der Hohen Warte. Der Novembertag war trüb, es regnete in dichten, heftigen Schlieren. Wind trug sie wie Schleier vor sich her. »Kein einziges Wort glaube ich Ihnen, Frau Steinfeld, das wollen wir gleich einmal festhalten, ja?«

Valerie biß sich auf die Lippe. Sie saß dem Direktor der Anstalt gegenüber auf einem unbequemen, harten Stuhl. Neben ihr saß der große, schlanke Dr. Forster. Valerie trug ein blaues, zweiteiliges Kleid mit Faltenrock, die Männer trugen zweireihige Anzüge mit den damals modernen, besonders breiten, wattierten Schultern. Friedjungs Empfangszimmer war groß und spartanisch eingerichtet – kein Teppich, billige Möbel aus hellem Holz, Bücherwände, Aktenschränke. Durch ein mächtiges Fenster blickte man auf den verlassenen Sportplatz, der zum großen Teil unter Wasser stand. Die Bäume hatten das letzte Laub verloren, ihr Holz glänzte schwarz. Eine Tür des Raums war halb geöffnet. Man sah in Friedjungs privates Laboratorium.

»Aber ich sage die Wahrheit! Herr Direktor, ich …«

Friedjung winkte verächtlich ab.

»Lügen! Nichts als Lügen. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie mir mit so etwas kommen, hätte ich Sie überhaupt nicht empfangen!« Sein schmales Gesicht war blaß und wutverzerrt.

Warum ist dieser Mann derartig wütend? überlegte Forster, während er, an seinem rechten Ohr zupfend, ruhig einwarf: »Sie hätten uns empfangen müssen, Herr Direktor.«

»Meinen Sie!«

»Ich bin überzeugt davon. Wir haben in dieser Angelegenheit nämlich auch bereits den Herrn Gauleiter aufgesucht. Er empfing uns ohne weiteres. Und ohne eine derartige Reaktion, Herr Direktor.«

»Sie waren beim Gauleiter …«

»Gewiß.« Dreckskerl, verfluchter, dachte Forster. Nazischwein, elendes. Er lächelte höflich. »Es gehört zu meinen Pflichten, den Herrn Gauleiter und Sie persönlich davon zu verständigen, daß ich in meiner Eigenschaft als Rechtsfreund der Frau Steinfeld beim Landgericht Wien Klagebegehren des Inhalts eingebracht habe, daß Heinz Steinfeld nicht jüdischer Mischling Ersten Grades ist, sondern von durchwegs arischen Elternteilen abstammt. Die Klage hat die Nummer 25 Cg 4/42.«

»Die Nummer interessiert mich nicht! Das ist doch alles ein einziger jüdischer Dreh!«

Forster stand auf, er sagte: »Herr Direktor, ich bin zugelassener Anwalt. Ich bin Arier wie Sie. Sie werden sich für diese letzten Worte entschuldigen, oder ich werde eine Beleidigungsklage gegen Sie erheben.« Das wirkte. Friedjung verzog das Gesicht zu einem häßlichen Grinsen. »War nicht so gemeint. Also gut, Herr Doktor, ich entschuldige mich bei Ihnen, ja? Bei Ihnen! Und nun setzen Sie sich wieder.«

Forster setzte sich wortlos.

Eine Klingel schrillte draußen im Haus. Gleich darauf flogen Türen auf, und viele jugendliche Stimmen erklangen. Man hörte Schritte, Gelächter, Geschrei. Eine Pause hatte gerade begonnen.

Valerie sagte mit fester Stimme: »Der Herr Gauleiter hat uns zugesichert, daß, solange dieser Prozeß läuft, keinerlei Schritte gegen meinen Sohn unternommen werden. Das sollen wir auch Ihnen mitteilen.«

Friedjung ballte die Fäuste auf der Tischplatte. Er schien – Valerie berichtete dem nicht anwesenden Martin Landau später, was sich in der Staatsschule für Chemie ereignet hatte – kaum fähig, seine Erregung zu beherrschen.

Ist das nur ein Choleriker? dachte Forster unruhig. Oder was regt diesen Mann so auf, wenn Valerie Steinfeld spricht, wenn er sie bloß ansieht? Sind die beiden schon einmal aneinandergeraten? Gibt es da ein Zerwürfnis zwischen ihnen? Forster nahm sich vor, seine Mandantin danach zu fragen.

Friedjung sagte, jetzt mit gepreßter Stimme: »Keinerlei Schritte, ja? Gut. Sehr gut. Ausgezeichnet. Hervorragend ausgedacht.«

»Herr Direktor, bitte!« Überwertigkeitskomplexe, dachte Forster. Der Lump. Der Supermensch. Herrenrasse. So sieht das aus. »Es ist genau, wie Frau Steinfeld sagt. Jedes Verfahren gegen Heinz ruht bis zum Abschluß des Prozesses.«

Draußen, auf den Gängen, lachten Jungen laut.

»Wie lange wird der Prozeß dauern?«

»Das ist völlig unbestimmt. Vielleicht lange …«

»Ah, ja?«

»… vielleicht ist er schon sehr bald beendet. In einem für Heinz positiven Sinn, der die Wahrheit ein für allemal festlegt.«

»Welche Wahrheit?«

»Daß er Arier ist.« Forster und Valerie waren in den letzten drei Wochen häufig zusammengewesen, sie hatten alle Einzelheiten genau durchgesprochen, gemeinsam das Klagebegehren aufgesetzt, und Valerie befand sich in einem Zustand, den man fast manisch-depressiv nennen konnte: Einmal war sie euphorisch und sah alles in glücklicher Weise sich lösen, gleich darauf befiel sie Angst, und sie hatte furchtbare Träume. Immer wieder aber war es in diesen Wochen Forster gewesen, der ihr neuen Mut gegeben hatte.

»Arier!« schrie Friedjung plötzlich los, so heftig, saß selbst Forster zusammenfuhr. »Ich will Ihnen mal was sagen, Frau Steinfeld! Ihr Sohn ist kein Arier! Ihr Sohn ist ein jüdischer Mischling!«

»Herr Direktor, zum letztenmal …« rief Forster.

»Ach, Sie! Sie sollten sich schämen, so etwas zu verteidigen! Meinetwegen beschweren Sie sich doch beim Gauleiter! Er kennt mich!« Friedjung schrie weiter, über den Schreibtisch geneigt, Valerie direkt ins Gesicht: »Ich kann nicht verhindern, daß jetzt gemauschelt und das Recht verdreht werden wird. Nein, das kann ich nicht! Aber eines kann ich, denn hier bin ich der Herr, Frau Steinfeld, ja? Nehmen Sie gefälligst zur Kenntnis: Was sich Ihr Sohn erlaubt hat, das ist unverzeihlich, ja? Das vergebe ich ihm nie! Die Würde dieses Hauses verbietet es.« Leise wurde die Stimme, noch weiter neigte Friedjung sich über den Tisch. »Sie führen also jetzt einen Abstammungsprozeß, ja? Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Es hängt natürlich auch vom Zufall ab, ja, und von dem Glück, das Sie bei diesem Lügenwerk haben …«

»Herr Direktor!« Forster sprang wieder auf.

»… und ob Sie eine gute Lügnerin sind, ja, oder eine schlechte, ja, und ob man Ihnen Ihre Lügen glaubt!« (Warum ist dieser Mann nur so erregt, so außer sich? grübelte Forster): »Ihnen sage ich, Frau Steinfeld: Der Judenbengel …«

»Jetzt ist es aber genug!« schrie Forster. Vielleicht hilft schreien, dachte er. Es half nicht.

»Genug? Dann gehen Sie doch. Das hier ist mein Büro, ja? Hier sage ich, was ich denke. Und ich sage: Der Judenbengel kommt mir nicht mehr an mein Institut – und wenn Sie noch so gut lügen, und wenn Sie noch so viel Glück haben, und wenn Sie das Gericht betrügen und diesen Prozeß gewinnen! Er kommt mir nicht mehr ins Haus, haben Sie das verstanden, ja?«

Friedjung keuchte. Er sah noch bleicher aus und ließ sich in seinen Sessel fallen. Forster sah, daß Valeries Hände zitterten, daß sich ihre Lippen bläulich verfärbt hatten. Er ergriff ihren Arm.

»Kommen Sie, gnädige Frau. Jedes weitere Wort an diesen Herrn ist vergeudet. Ich werde Sie und mich vor seinem Betragen zu schützen wissen.« (Ach, wie denn? dachte Forster. Dieser Mann ist ja nicht zurechnungsfähig! Was gibt es bloß zwischen ihm und Frau Steinfeld? Auch der wildeste Nazi würde sich nicht so aufführen.) Forster warf einen Blick zurück.

Dr. Karl Friedjung saß hinter dem großen Arbeitstisch und starrte Valerie, die gleichfalls zurücksah, mit einem Ausdruck pathologischen Hasses an. Er keuchte noch immer. Sein Mund war halb geöffnet. Und seine Hände waren so fest geballt, daß die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten.

Im Vorzimmer, wo zwei Sekretärinnen auf ihren Maschinen eifrig tippten, half Forster Valerie in den Mantel. Er zog seinen an, nahm die Regenschirme und seinen Hut, grüßte kurz und verließ mit Valerie den Raum.

Die Gänge des Hauses und die breite Treppe waren erfüllt von plaudernden, rufenden und fröhlich herumrennenden Jungen in weißen Mänteln. Es roch nach Chemikalien im ganzen Institut. Vor dem Eingang blieb Forster stehen. Während er seinen Schirm aufspannte, fragte er: »Haben Sie eine Erklärung für dieses wahnwitzige Benehmen des Herrn Friedjung, gnädige Frau?«

Valeries Gesicht war ausdruckslos.

»Keine Erklärung.«

»Aber das war doch nicht normal! Gnädige Frau!«

Valerie sagte: »Er ist eben so ein Mensch. Ein Mensch zum Fürchten. Ich … ich fürchte mich schrecklich vor ihm, Herr Doktor.«

»Aber warum?«

»Weil er so ist … weil er immer so war ..«

»Was heißt immer?«

»Seit ich ihn kenne.«

»Und seit wann kennen Sie ihn?«

»Wie meinen Sie …« Valerie fuhr herum. Ihre Augen flackerten. »Seit Heinz mit ihm zu tun hat, natürlich. Was dachten Sie?«

Zwecklos, dachte Forster. Entweder sie sagt die Wahrheit, oder sie will mir etwas verschweigen. Das wäre schlimm. Aber tun kann ich nichts dagegen. Er meinte, einen Arm um ihre Schulter legend: »Nun beruhigen Sie sich. Dieser feine Herr hat zum Glück in unserem Prozeß nicht das Geringste zu sagen. Kommen Sie, schnell, da sehe ich eine Straßenbahn!« Sie eilten beide unter ihren Schirmen durch den eisigen Regen und den böigen Wind zur nahen Haltestelle.

Warum sagt Valerie Steinfeld mir nicht die Wahrheit? grübelte Forster, während er durch Pfützen lief, die hoch aufspritzten. Warum nicht? Er war davon überzeugt, daß sie ihm etwas verschwieg, er hatte ein feines Gefühl für so etwas. Und, dachte er, sie wird mir die Wahrheit nicht gestehen, ich werde sie nie erfahren.

51

»Was war, Mami? Was hat er gesagt?«

Mit diesen Worten kam Heinz Steinfeld in das große Wohnzimmer gestürzt. Sein schwarzer, dicker Gummiregenmantel triefte, durchnäßt waren der Monteuranzug, den er darunter trug, und die schweren Schuhe, dreckbespritzt war die ganze Kleidung. Aus dem blonden Haar flossen Regentropfen über das schmale Gesicht mit den Sommersprossen.

Es war 23 Uhr 30 an diesem selben Novembertag, und es regnete noch immer. Heinz hatte eine Arbeitsverpflichtung als Rollenpendler annehmen müssen, das Arbeitsamt hatte sehr schnell reagiert. Nun verließ er täglich die Wohnung um 15 Uhr und kam nie vor 23 Uhr 30 heim. Oft wurde es später. Die Kinos, zwischen denen er die Filmrollen hin und her transportierte, lagen im VI. Bezirk, in Mariahilf, er hatte also auch noch einen langen Weg zu seinen Arbeitsstätten. Gewöhnlich war Heinz zu müde, um noch etwas zu essen, wenn er endlich nach Hause kam. In dieser Nacht jedoch war er fieberhaft erregt. Sein Gesicht, naß und erschöpft, leuchtete auf, als er sah, daß außer Valerie auch noch Martin Landau anwesend war.

»Guten Tag, Vater!«

»Tag, mein Junge«, sagte Martin Landau mit unsicherer Stimme. »Nun rede schon, Mami! Der hat Augen gemacht, der Friedjung, wie du mit dem Anwalt angerückt bist, was?«

Valerie saß, im Hausmantel, auf einer Couch.

»Ja«, sagte sie und lächelte, »der hat Augen gemacht, Heinz! Das war vielleicht eine Überraschung für den!«

»So hat er sich das nicht vorgestellt, was?« Heinz lachte.

Martin Landau fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Valerie hatte ihn gebeten, an diesem Abend bei ihr zu bleiben, bis Heinz heimkehrte. Sie besaß nicht den Mut, ihn allein zu erwarten.

»Nein, so hat er sich das nicht vorgestellt. Zieh dich doch aus, Heinz, du bist ja völlig durchnäßt. In der Küche steht warmes Essen im Rohr. Die Agnes hat dir was Feines gemacht. Sie schläft schon. Komm, wir gehen in die Küche.

»Gleich, Mami, gleich.« Heinz war sehr aufgeregt. »Ich habe es ja gewußt, daß er kuschen wird, wenn du mit dem Anwalt anrückst! Der feige Hund. Ganz klein ist er geworden, was?«

»Ja, Heinz.« Valerie lächelte noch immer.

»Das ist doch klar, daß ich weiterstudieren darf, sobald wir den Prozeß gewonnen haben, nicht?«

»Das ist völlig klar«, sagte Valerie. »Darüber haben wir natürlich gesprochen. Friedjung war …« Sie mußte Atem holen.

Heinz bemerkte nicht, daß es eine Unterbrechung aus Schwäche war. Er sah nicht, wie seine Mutter sich an der Lehne der Couch festhielt.

»Ganz schön durcheinander, was?« Heinz lachte laut. »Ach, prima! Das gönne ich dem Drecksack! Das hat er nicht erwartet! Der hätte sich überlegt, mich rauszufeuern, wenn er gewußt hätte, daß wir jetzt vor Gericht gehen.«

Martin Landau sah, daß Valerie nicht sprechen konnte. Lächeln konnte sie noch.

Martin Landau sagte: »Ja, mein Junge. Der hätte sich das gründlich überlegt. Ist ihm irrsinnig unangenehm, die Sache, sagt deine Mutter. Na, der Anwalt hat ihm ordentlich Zunder gegeben, das kannst du dir ja vorstellen, nicht?«

»Und wie!« Um Heinz bildete sich auf dem Fußboden eine Pfütze. Niemand bemerkte sie. »Der dämliche Hund! Das wird ein Tag werden, wenn ich wieder zurückkomme in das Institut! Als Arier! Was, Mami?«

Valerie nickte. Sie lächelte noch immer.

»Ich danke dir ja so, daß du dich zu dem Prozeß entschlossen hast … und auch dir, Vater … Natürlich ist das nicht angenehm für euch beide, verstehe ich vollkommen …«

»Es geht doch um dich«, sagte Landau. »Was heißt da nicht angenehm?«

»… aber wenn es vorüber ist, werden wir alle glücklich sein, so glücklich! Ich bin es jetzt schon! Jetzt schon!«

Martin Landau sagte langsam: »Es wird freilich eine Weile dauern, Heinz. Vielleicht eine lange Weile. Von heute auf morgen gewinnt man einen solchen Prozeß nicht.«

»Weiß ich doch!« rief der Junge. »Meinetwegen soll der Prozeß dauern, so lange er will! Daß ich kein Halbjud bin, das wissen jetzt alle! Der Friedjung, der Gauleiter, das Gericht! Das ist das Wichtigste! Was hast du denn, Vater?«

»Dein neuer Beruf … Ich habe gerade denken müssen, wie schwer das für dich ist …«

»Schwer? Überhaupt nicht! Zuerst, ja … oder bei einem solchen Sauwetter wie heute … Da ist es natürlich nicht gerade angenehm! Aber ich habe mich daran gewöhnt, ganz schnell! Und wenn ich auch spät nach Hause komme – ich kann doch lange schlafen! Das konnte ich früher nicht! Man trifft so interessante Leute, weißt du? Und während man auf die Rollen wartet, sieht man auch immer ein Stück Film … immer dasselbe Stück von jeder Rolle … nie den ganzen Film … komisch, nicht? Nein, deshalb brauchst du dir keine Gedanken zu machen!« Heinz lief, verdreckt und naß, wie er war, schnell zu Landau und zu seiner Mutter. Er umarmte und küßte beide. »Ich danke euch! Ich danke euch! Ach, ich danke euch so!« rief er. Dann kam er ein wenig zu sich. »Ich zieh mir rasch etwas Trockenes an. Jetzt habe ich sogar noch Hunger! Und ich bin gar nicht müde! Kommt ihr beide in die Küche, wenn ich esse? Ich will ganz genau hören, wie das war bei dem Schwein, dem Friedjung!«

»Wir kommen«, sagte Valerie. Ihr Lächeln war eingefroren. Heinz warf ihr eine Kußhand zu und verschwand.

Eine lange Stille folgte.

Dann sagte Landau: »Wir durften ihm nicht die Wahrheit sagen.«

»Nein, das durften wir nicht.« Nun war Valeries Lächeln verschwunden. Nun sah sie zu Tode erschöpft aus. »Wer weiß, wie lange dieser Prozeß dauert? Wer weiß, was geschieht mit uns allen, mit der ganzen Welt? Solange Heinz glaubt, daß er wieder studieren darf, ist er glücklich. Das muß er sein. Er darf nicht verzweifelt sein, wenn er vor Gericht kommt«, sagte Valerie. Sie sprach abgehackt. »Der Bub muß Hoffnung haben, Hoffnung. Und wenn wir den Prozeß gewinnen, dann werde ich diesen Friedjung zwingen, ihn wieder im Institut aufzunehmen …« Wie willst du so einen Mann zwingen?, dachte Landau, aber er schwieg und nickte. »Das sind alles Sorgen von morgen. Jetzt müssen wir eines nach dem anderen erledigen. Zuerst kommt der Prozeß. Der ist das Allerwichtigste. Und wir werden ihn gewinnen …«

»Toi, toi, toi!« Landau klopfte dreimal gegen Holz.

Valerie stand auf. Mit einer Stimme, die Landau vollkommen fremd, mechanisch und ohne jede menschliche Schwingung vorkam, sagte sie: »Sehen wir nach Heinz. Er wird schon in der Küche sein.«

Er war nicht in der Küche.

Sie fanden ihn in seinem Zimmer, ausgezogen bis auf ein Unterhemd und eine Unterhose. Die nassen Kleidungsstücke lagen verstreut umher. Heinz war in seinem Bett auf den Rücken gesunken. Er schlief. Die Müdigkeit, mit der er sich jede Nacht heimschleppte, hatte ihn übermannt. »Der arme Kerl«, sagte Landau.

Valerie war zum Bett geeilt. Sie zog die Decke unter dem Körper ihre Sohnes hervor und breitete sie über ihn. Martin trat näher. Heinz lag mit dem Kopf auf einem Kissen. Sein Haar und sein Gesicht waren immer noch regennaß. Er schnarchte zweimal. Er schlief sehr tief. Dann sagte er etwas im Schlaf, mit einem glücklichen Ausdruck im Gesicht.

»Goldene Stadt …«

»Was?« Landau neigte sich mit Valerie über den Jungen. »Was redet er?« Der Schlafende sprach undeutlich: »Golden … die Stadt … die Stadt … aus Gold … diese Stadt …«

Martin richtete sich auf.

»›Die goldene Stadt‹ – der neue Film von Veit Harlan! Mit der Söderbaum! Er läuft jetzt in den Kinos.«

»Und Heinz fährt die Rollen hin und her«, flüsterte Valerie. »Bis in den Schlaf hinein verfolgt ihn das …« Sie küßte ihren Sohn zart, dann ging sie mit Landau auf Zehenspitzen zur Tür und knipste das Licht aus. Der Junge bewegte sich. Die beiden Erwachsenen blieben in dem dunklen Zimmer stehen, Valerie eine Hand auf der Türklinke.

»Gold«, sagte Heinz Steinfeld im Schlaf. »Eine … ganze … Stadt … aus … Gold …«

52

Das Telefon läutete.

Martin Landau zuckte in seinem Sessel zusammen, ein verängstigter, kranker, alter Mann. Er machte eine hilflose Gebärde, als wollte er sagen: Sehen Sie, mich kann schon ein Telefon halb zu Tode erschrecken.

Manuel erhob sich und ging über den honiggelben Velours und die Chinabrücken zu einem Tischchen, auf dem das Telefon stand. »Hallo?«

»Sie werden aus Paris verlangt, Herr Aranda, einen Augenblick, bitte«, sagte eine Mädchenstimme. Es knisterte und knatterte in der Leitung. Als die Verbindung gleich darauf zustande kam, war sie sehr schlecht. Manuel verstand nur mit Anstrengung. Aber er erkannte sogleich die Männerstimme, die spanisch sprach.

»Cayetano!«

»Endlich! Fast fünf Stunden warte ich schon auf dieses Gespräch.« Der Erste Direktor und Vertreter von Manuels Vater in der QUIMICA ARANDA hatte eine laute, nervöse Art zu reden. »Mein lieber Manuel« – er kannte den Sohn seines Chefs seit dessen Kindheit –, »wir sitzen hier fest.«

»Wo hier?«

»Orly. Ein Schneesturm. Du machst dir keine Vorstellung. Es schneite schon, als wir zwischenlandeten – und gleich darauf ging die Welt unter! Der Flughafen ist geschlossen. Keine Maschine kann starten oder landen. Du solltest sehen, wie das hier ausschaut – die wissen nicht, wohin mit den Passagieren! Ich rufe an, damit du dir keine Sorgen machst. Wir sind okay – die Anwälte und ich. Aber wir müssen warten, bis der Sturm vorüber ist und man die Pisten geräumt hat.«

»Wie lange wird es dauern?« Manuel fühlte ein Ziehen in der Herzgegend. Cayetano und die Anwälte in Paris festgehalten. Die Entdeckung des Papiers mit den Notizen in der Handschrift seines Vaters. Streichung aller Buchungen für diese Nacht. War das schon eine Ahnung gewesen? Sollte, mußte, würde er nun doch in Wien bleiben? Er mußte! Mit jeder Stunde erfuhr er hier mehr, was Valerie und seinen Vater so geheimnisvoll verband. Hätte er heute nachmittag nicht diesen schmalbrüstigen Buchhändler angehört, der für kurze Zeit seines Lebens ein Mann, tapfer und ohne Furcht gewesen war, bevor er sich wieder in das zurückverwandelt hatte, was seine wirkliche Wesensart war, er hätte nicht erfahren, daß dieser Martin Landau das Papier mit den Viren- und Toxin-Vermutungen seines Vaters in Valerie Steinfelds Besitz gesehen hatte – 1942 …

»Sie sagen, es wird bis morgen früh dauern. Die Aussichten sind ungünstig. Der Sturm wird mit jeder Minute ärger. So etwas haben sie angeblich in Paris noch nie erlebt.«

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wenn Sie hier sind, sind Sie hier.«

»Hast du wegen der Ermordung deines Vaters schon etwas …«

»Ja. Nicht am Telefon. Ich erwarte Sie also irgendwann morgen.« Manuel verabschiedete sich und legte den Hörer nieder.

»Entschuldigen Sie …«

»Keine Ursache. Es ist spät geworden. Ich muß ohnedies gehen. Natürlich komme ich wieder, aber immerhin, Sie verstehen, Tilly …«

»Herr Landau, sagen Sie mir bitte noch eines: Hat sich jemals herausgestellt, weshalb dieser Direktor Friedjung derartig brutal und niederträchtig mit Valerie Steinfeld sprach?«

»Nie, nein.«

»Sie hat auch keine Erklärung dafür gegeben?«

»Sie hatte keine. Ich meine: Sie sagte, sie hätte keine.«

»Sie glauben, sie verschwieg etwas?«

»Ich weiß es nicht. Immerhin, sehen Sie, es gab furchtbar rabiate Nazis. Vielleicht war dieser Friedjung einer von ihnen. Valerie behauptete es jedenfalls.«

»Vor Ihnen und Doktor Forster?«

»Ja. Wir fragten sie ein paarmal im Lauf der Zeit. Immer dasselbe. Sie war maßlos erbittert über Friedjung. Aber mir scheint heute, wenn ich zurückdenke, daß sie es war, weil er nicht grundlos so bösartig reagierte. Nein, nicht grundlos.«

Wieder läutete das Telefon.

Manuel zuckte die Schultern und ging an den Apparat. Er erkannte die tiefe, fast heisere Frauenstimme sofort.

»Guten Tag, gnädige Frau.«

»Sie sind nicht allein?« fragte Nora Hill.

»Nein. Was kann ich für Sie tun?«

Er hörte ihr dunkles Lachen.

»Ich habe seit Tagen nichts von Ihnen gehört, mein Freund. Da macht man sich Sorgen. Geht es Ihnen gut!«

»Danke, ja.«

»Sie haben viel erfahren mittlerweile, nehme ich an.«

»Das kann man behaupten.«

»Meine Prophezeiung war also richtig. Ich habe Ihnen nun etwas Interessantes zu zeigen. Eine Überraschung.«

»Sie haben eine Überraschung?«

»Ja, bin ich nicht die gewesen, die den Anfang gemacht hat? Wollen Sie mich besuchen?«

»Natürlich! Wann darf ich …«

»Einen Moment. Haben Sie Traveller-Schecks?«

»Traveller-Schecks?«

»Traveller-Schecks.«

»Ja«, sagte er verblüfft.

»Über größere Beträge?«

»Ja«, sagte er zum zweitenmal.

»Bringen Sie mit, was Sie haben. Die Überraschung kostete nämlich Geld. Fünftausend Dollar. Aber ich denke, sie ist ihr Geld wert.«

»Fünftausend Dollar?«

»Heute abend zehn Uhr?«

»Gut. Aber hören Sie …«

»Ich freue mich. Also bis dann, mein Freund«, sagte Nora Hill. Die Verbindung war unterbrochen.

Nora Hill …

Manuel stand versunken beim Fenster.

Zufall, daß sie gerade jetzt anrief? Absicht? Geplant? Sie war doch auch in diese Sache verstrickt. Lockte sie ihn in eine Falle? Unsinn, alle Beteiligten wußten ja vom Manuskript seines Vaters im Tresor des Anwalts. Was für eine Überraschung?

53

Die Bar des Hotels ›Ritz‹ lag einen Meter höher als der Boden der zweiten großen Innenhalle. Man mußte ein paar Stufen emporsteigen, um die Bar zu betreten. Die Stufen waren breit, der Eingang war in die rechte Seitenwand der Halle gebrochen, die außerdem vier große, unverglaste Fensteröffnungen aufwies. Mit ihren Mahagoni-Paneelen, Stilmöbeln, großen Teppichen und vielen kleinen Appliken, welche jetzt, am Abend, brannten, machte die Bar einen behaglichen und feudal-altmodischen Eindruck – wie das ganze ›Ritz‹. Über den Paneelen wurden die Wände von Delfter Kacheln verdeckt. Die Theke war hoch, die Hocker davor waren mit rotem Samt überzogen, auch die Stühle und Sofas in den kleinen Logen, die durch mannshohe Holzwände voneinander getrennt wurden. Flaschen hinter der Theke standen auf Regalen in einem flachen Glasschrank mit vielen Türchen. Hinter den Flaschen befand sich ein Spiegel. In der Halle draußen spielte das Fünf-Mann-Orchester, lauter ältere Herren, wie jeden Abend seine Evergreens, sehr dezent, etwas unsicher und etwas falsch. Gerade war ›Charmaine‹ an der Reihe.

Vor dem Abendessen, dem Theater oder dem Ausgehen nahmen viele Gäste in der Bar noch einen Drink. An der Theke unterhielt sich laut eine Gruppe amerikanischer Geschäftsleute. Einer führte das große Wort. Die anderen lachten dienstbeflissen über seine Scherze. Alle Logen waren besetzt. Die Tische trugen Platten aus Kacheln der gleichen Art wie die der Wände. Der Chefmixer und seine drei Gehilfen hatten Hochbetrieb.

»Ich bin sehr froh, daß Sie meine Einladung zum Abendessen angenommen haben, Irene«, sagte Manuel. Er saß neben der jungen Frau mit dem kastanienbraunen Haar und den gleichfarbigen Augen in einer Eckloge. Sie trug ein Kleid aus schwarzem Seiden-Jersey, das mit phantastischen Mustern in Grau und Gold bedruckt war. Irene sah sehr schön aus an diesem Abend. Sie hatte den ersten schlimmen Schock der Ereignisse überwunden. Alle Männer, die an der Loge vorbeigingen, drehten sich nach ihr um.

Irene antwortete leise: »Und ich bin sehr froh, daß Sie noch nicht heimfliegen.« Sie zögerte, dann: »Wann werden Sie nun abreisen?«

»Das weiß ich noch nicht. Nach dem, was wir in der Foto-Schatulle entdeckten … und was Landau mir erzählte …«

»Ja?« Das kam ein wenig atemlos.

»Nun, ich meine, danach hat sich doch vieles geändert! Die Lage sieht völlig anders aus. Ich möchte, wenn es irgendwie geht, hierbleiben. Jetzt glaube ich plötzlich, daß ich doch hier schneller und besser an mein Ziel komme als in Buenos Aires. Aber ich will natürlich Cayetano hören. Und auch, was mir diese Nora Hill zu sagen hat.«

»Sie muß eine faszinierende Frau sein, nicht wahr, trotz ihrer …« Irene brach ab.

»Was für ein Unsinn«, sagte Manuel, der fühlte, wie ihm warm wurde. »Wenn jemand faszinierend ist, dann …« Verlegen sprach er seinen Satz gleichfalls nicht zu Ende. Sie sahen einander an, und nun lächelte Irene zum erstenmal. Sie öffnete ihre Abendtasche.

»Ich habe Ihnen ja etwas mitgebracht …«

»Guten Abend, meine Herrschaften«, erklang in diesem Moment die Stimme des Grafen Romath. Manuel sah auf, Irene ließ das Täschchen sinken. Der Mann mit dem schlohweißen Haar und dem schwarzen Anzug verbeugte sich tief, als Manuel ihn Irene vorstellte. Romath sah heiter und sorglos aus. Niemand wäre auf den Gedanken gekommen, diesem Mann stünde noch ein unheimliches mitternächtliches Rendezvous bevor. Es war Romath von Kindheit an beigebracht worden, daß es nichts Wichtigers im Leben gab, als sich wie ein Gentleman zu betragen, was immer auch geschah. Er machte Irene Komplimente über ihr Aussehen und das Kleid, vergewisserte sich, daß alles in Ordnung war, und sagte dann: »Alles Gute, Herr Aranda. Alles, alles Gute.«

»Danke. Aber ich fliege noch nicht – wir sehen uns gewiß noch«, sagte Manuel.

»So meinte ich es nicht.«

»Wie denn?«

»Sie haben doch – die gnädige Frau ist ja selbst in den Fall verwickelt, also natürlich informiert –, Sie haben doch so viele Sorgen. Mögen sie bald verschwinden. Mögen Sie einmal wieder froh und unbeschwert sein – beide«, sagte der Graf, verneigte sich und ging weiter mit kleinen, leicht trippelnden Altmännerschritten.

»Er ist nett, nicht wahr?« sagte Irene.

»Ja.« Manuel blickte Romath nach. Dabei fiel sein Blick auf einen Pagen, der eben die Bar betrat. Der Junge hielt einen Stock, an dessen oberem Ende eine schwarze Schiefertafel befestigt war. Mit weißen Buchstaben stand darauf: TELEFON FÜR – und darunter, in Kreideschrift: Herrn Manuel Aranda.

Er erhob sich.

»Verzeihen Sie!« Manuel trat aus der Loge.

»Herr Aranda? Zelle fünf«, sagte der Page.

Manuel eilte durch die Halle zu dem Gang, der in das Café hinüberführte; hier befand sich die Reihe der Telefonzellen. Er betrat Nummer fünf. Der Apparat schrillte. Manuel hob ab.

»Ja? Hier ist Aranda.«

»Gott sei Dank, Sie sind im Hotel. Ich habe Glück. Hier ist Martha Waldegg. Kann ich sprechen? Sind Sie allein?«

»Ja. Guten Abend, Frau Waldegg«, sagte Manuel.

»Mein Mann ist bei Freunden. Ich bin zu Hause. Man kann durchwählen nach Wien. So findet mein Mann keinen Beleg bei der Telefonrechnung. Haben Sie Irene gesehen?«

»Einige Male. Sie sitzt in der Bar. Wir wollen zusammen essen.«

»Um Gottes willen! Sie darf nicht wissen, daß ich … Herr Aranda, Sie haben mir versprochen …«

»Ich sage ihr kein Wort. Und ich habe ihr auch kein Wort gesagt. Sie rufen an, vermute ich, weil ich Sie nun besuchen darf.«

»Ja.«

»Wann?«

»Übermorgen. Mittwoch. Da fährt mein Mann in der Früh nach Wien und kommt erst am Donnerstag wieder. Das Grundstück, ich erzählte Ihnen davon ….«

»Ich erinnere mich. Also Mittwoch, gut. Um wieviel Uhr?«

»Sie können nicht mit dem Wagen fahren – über den Semmering und die Berge. Da liegt zuviel Schnee. Sie müssen die Bahn nehmen.«

»In Ordnung.«

»Haben Sie Papier und einen Bleistift?«

Beides lag auf einem schmalen Bord unter dem Apparat.

»Ja.«

»Also, Sie fahren vom Südbahnhof aus. Der liegt direkt neben dem Ostbahnhof. Ein Riesenneubau. Am besten nehmen Sie den ›Venetia-Expreß‹. Der fährt um 8 Uhr 05 in Wien ab und ist um 13 Uhr 29 in Villach. Dann geht ein Zug ab Villach um 16 Uhr 26. Da sind Sie um 22 Uhr 05 wieder in Wien. Geben Sie Irene eine Erklärung … daß Sie geschäftlich einen Tag weg müssen, zum Beispiel.«

»In Ordnung. Niemand wird etwas erfahren. Ich erzähle allen irgendeine Geschichte.«

»Danke, Herr Aranda! Drei Stunden Aufenthalt haben Sie. Wenn man eine Stunde für die Taxifahrt zu unserem Haus und zurück zum Bahnhof rechnet, bleiben immer noch zwei Stunden. Zeit genug! Ich kann Ihnen alles erzählen. Notieren Sie sich die Adresse: Fliederstraße 143. Unsere Villa liegt ziemlich einsam. Meiner Haushälterin habe ich freigegeben, wir werden ganz allein sein.«

»Also dann bis Mittwoch nachmittag, Frau Waldegg.«

Als Manuel durch die Halle in die Bar zurückging, wischte er sich mit einem Taschentuch die Stirn trocken. In der Zelle war es heiß gewesen. Und die Einladung von Irenes Mutter hatte ihn aufgeregt. Er kam weiter, Schritt um Schritt, mehr und mehr Licht fiel in die Dunkelheit, durch die er zuerst getappt war.

›La vie en rose‹ spielte das Orchester der rührenden alten Herren nun. Irene sah Manuel entgegen.

»Cayetano. Aus Paris«, sagte er, sich setzend. »Schneesturm, ärger denn je. An einen Abflug ist nicht mehr zu denken. Er hofft, daß er es morgen schaffen wird.« Manuel bemerkte, wie Irene etwas auf der Tischplatte mit der Hand verdeckte. »Was ist das?«

»Was ich Ihnen mitgebracht habe«, sagte Sie.

Es war ein Foto von ihr, ein Farbfoto, und es zeigte nur Irenes Kopf. Sie lachte. Die braunen Augen und das braune Haar leuchteten, die schönen Zähne glänzten.

»Oh!«

»Sie wollten doch ein Bild von mir. Und heute nacht haben wir das dann in unserer Aufregung vergessen.«

»Danke, Irene.« Er empfand leichte Bedrückung. Vor ein paar Minuten habe ich mit deiner Mutter telefoniert, dachte er. Und versprochen, dir nichts davon zu sagen. Manuel kam sich plötzlich vor wie ein Betrüger, ein Verräter. Er sagte: »Sie müsen aber etwas auf die Rückseite schreiben!«

»Es steht schon da«, sagte Irene.

Er drehte das Foto um und las:

Es war kein Zufall, daß der Rabbi die Suppenschüssel umwarf. Daran glaubt der Weinhauer Seelenmacher. Ich glaube auch daran.

Irene Waldegg

54

Die Bauernstube hatte einen Boden aus breiten Dielen. Bunt bemalte große Möbel standen im Raum, am Fenster hingen karierte Vorhänge, an den Wänden zwei Bilder – das eine zeigte einen röhrenden Hirsch, das andere hohe Berge im Alpenglühen.

In der Mitte des Zimmers stand Yvonne Werra. Sie trug ein Hüftmieder, grobe Wollstrümpfe und Holzpantinen. In der rechten Hand hielt sie einen dicken Strick. Neben ihr stand eine Ziege, einen großen Eimer vor sich, aus dem das Tier von Zeit zu Zeit durstig trank. Und hinter der Ziege, halb über sie geneigt, stand ein schlanker, kräftiger Mann, der nur einen Tirolerhut trug. Seine nackte Haut war sehr weiß. Der Mann hatte dunkles Haar, dunkle Augen, und sein Gesicht war vor Erregung verzerrt. Er coitierte die Ziege, die sich das ruhig gefallen ließ und von Zeit zu Zeit vergnügt meckerte.

Der Mann keuchte.

Yvonne schlug mit großer Heftigkeit den Strick über seinen Rücken. Das war keine Nylonpeitsche. Die Schläge taten weh, sollten weh tun. Dunkle Striemen bildeten sich auf der weißen Haut des Mannes.

In der Ecke des Raums gab es einen Kachelofen und eine Bank. Auf ihr stand ein Tonbandgerät. Es lief. Ein gemischtes Quartett sang und jodelte.

»Auf der Alm, da gibt’s ka Sünd …«

Die Ziege neigte den Kopf und trank aus dem Eimer.

Yvonne schlug wieder.

»Fest!« keuchte der Mann. »Noch fester! Ja, so … so …«

Sein Leib flog. Das Tier ließ alles ungerührt mit sich geschehen.

Yvonne schrie den Mann an: »Schamst du dich gar nicht, du Saubazi, du elendiger? Gestern erst hab ich dich mit der Ente erwischt! Wirst aufhören jetzt?«

»Nein … nein … ich höre nicht auf«, stammelte der Mann.

»Du Scheißkerl! Die arme Ziege! Aber das sag ich dem Herrn Pfarrer! Eingesperrt gehörst, du Lump! Du gehst mir ja noch auf die Rösser!« Das Quartett jodelte fröhlich.

Die Ziege meckerte fröhlich.

Der Mann ächzte: »Rösser … ah, was, Rösser! So eine Ziege ist mir das Liebste von der Welt …«

»Du verkommener Sauhund! Da hast du! Und da! Und da!«

Der Strick klatschte wieder auf den kräftigen, weißen Rücken. Der Mann mit dem Tirolerhut jaulte auf und starrte gierig Yvonnes nackten Unterleib an.

»Ich denke, das genügt«, sagte Nora Hill. Sie schaltete den in die Bücherwand ihres Wohnzimmers eingebauten Fernsehapparat ab. Das Bild der Bauernstube verschwand, die Jodler verstummten. »Ich bin wirklich immer bereit, Ihnen etwas Kurzweiliges zu bieten. Und ich wollte, daß Sie sich den Herrn ansehen. Wer weiß, ob es für Sie nicht noch einmal wichtig sein wird, ihn zu kennen.«

Manuel hatte Irene nach dem Abendessen im ›Ritz‹ heimgebracht und war dann hier heraus zu Nora Hill gefahren. Sie trug an diesem Abend ein fußlanges Kleid aus Goldbrokat mit aufgedruckten Blumen und Blättern und einen Ring mit einem großen Solitär. Ihr schwarzes Haar war an einer Seite hochgekämmt, man sah das rechte kleine Ohr. In ihm steckte ein zweiter Solitär des gleichen Umfangs.

Auf den Leichtmetallkrücken schwang die Frau mit den gelähmten Beinen zu ihrem Sessel bei dem offenen Kamin zurück, der mitten im großen Wohnzimmer ihres Appartements stand. Mächtige Holzscheite brannten.

»Was heißt, wer weiß, ob es für mich nicht noch einmal wichtig sein wird? Wer ist dieser Mann?« fragte Manuel.

»Immer mit der Ruhe. Ich sagte Ihnen doch, ich hätte eine Überraschung. Machen Sie uns zuerst zwei neue Drinks, lieber Freund.«

Nora Hill sah Manuel aufmerksam zu, wie dieser die Gläser an der Bar auf Rädern, welche neben ihm stand, mit Whisky, Eiswürfeln und Sodawasser füllte. Das Feuer prasselte im Kamin.

»Danke.« Nora Hill nahm ihr Glas. Heute abend hatte sie eine überlange goldene Zigarettenspitze. Sie blies ein paar Rauchringe. »Arme Yvonne«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. »Sie kommt wirklich ein bißchen oft an solche Herren. Sind alle ganz verrückt nach ihr. Heute kann sie nicht nackt arbeiten. Ein kleiner Unfall vor zwei Tagen. Und noch blaue Flecken am Leib. Deshalb das Korsett.«

»Unfall?«

»Berufsrisiko! Passiert immer wieder etwas. Nichts Interessantes. Interessant ist der Mann, den ich Ihnen zeigte. Ein alter Stammkunde. Seit drei Jahren. So lange haben wir Emma.«

»Wen?«

»Die Ziege. Sie heißt Emma. Hinter der Villa gibt es einen Stall in einem der kleinen Häuser. Wir besitzen auch Gänse und Kaninchen und Hühner. Sogar einen Esel, Hugo. Man braucht einiges in diesem Gewerbe. Emma haben wir gekauft, als dieser Herr den Wunsch nach einer Ziege äußerte. Er sagte, er würde immer wiederkommen, und er bezahlt phantastisch. Was wollen Sie? Er ist – vielleicht haben Sie es gesehen – sehr zart gebaut. Darum … Wenn ihn also nur Emma glücklich machen kann, nicht wahr?«

»Gewiß, gewiß.«

»Alle sind glücklich – der Herr, wir, sogar Emma.«

»Die auch?«

»Die auch. Emma trinkt so gerne Bier. Es gibt nichts Schöneres für sie! Immer, wenn sie benützt wird, stellen wir einen ganzen Eimer voll Bier vor sie hin. Sie sahen es ja gerade.«

»Wird sie nicht betrunken?« erkundigte sich Manuel höflich.

»Total betrunken zuletzt. Aber sie ist dann besonders fröhlich und guter Dinge und läßt Herrn Penkovic praktisch alles tun, was der mit ihr tun will.«

»Wie heißt der Kerl?«

»Vasiliu Penkovic. So nennt er sich jedenfalls. Angeblich Rumäne. Aus Temesvar. Verdient viel Geld.«

»Womit?«

»Spezialaufträge. Er arbeitet für Ost und West. Eine Art Privatdetektiv. Beschäftigt sich hauptsächlich mit der Beobachtung und Bespitzelung von Menschen. Herr Penkovic ist ein Künstler auf seinem Gebiet. Bei mir verkehrt doch wirklich die große Welt. Viele Herren haben sich, wenn Not am Mann war, schon an Vasiliu Penkovic gewandt. Er hat sie alle hervorragend bedient.

Im Moment allerdings scheint es ihm schlecht zu gehen.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Er bot mir etwas zum Kauf an, was jemand bei ihm bestellt hatte. Es ist sonst nicht seine Art, solche Doppelgeschäfte zu machen. Er muß also ziemlich dringend Geld brauchen. Und er ist gut informiert, wie immer. Er wußte, als er mich besuchte, zum Beispiel, daß ich Sie kenne. Er zeigte mir, was er zu verkaufen hatte, weil er der Ansicht war, daß es für Sie wertvoll ist. Ich war der gleichen Ansicht, und also kaufte ich. Deshalb bat ich Sie, Traveller-Schecks über einen Betrag von fünftausend Dollar mitzubringen. Sie haben sie doch mitgebracht, mein Freund?«

»Ja. Aber ich weiß nicht, ob das, was Sie da liebenswürdigerweise gleich für mich gekauft haben – warum eigentlich?«

»Weil Penkovic nicht mit Ihnen persönlich verhandeln will.«

»Da sind Sie aber ein Risiko eingegangen.«

»Das glaube ich nicht, mein Freund.«

»Fünftausend Dollar sind eine Menge Geld. Dafür kann man schon etwas verlangen!«

»Sie bekommen auch etwas! Ich bin sicher, daß ich nicht voreilig gehandelt habe. Penkovic ist teuer. Aber er liefert gute Ware.«

»Kann ich sie sehen?« Nora erhob sich, turnte auf den Krücken zu einem kleine Sekretär, entnahm ihm einen Umschlag und kam zu Manuel zurück. »Hier, bitte.«

Er öffnete das Kuvert.

Sechs Farbfotos fielen heraus.

Sie zeigten stets die gleichen drei Menschen – auf der Straße, in einem einsamen Steinbruch, am Rande eines Waldes, immer in eifrige Gespräche vertieft. Die Fotos mußten im Sommer aufgenommen worden sein, in hellem Sonnenschein. Die drei trugen leichte Kleidung. Zwei von ihnen kannte Manuel, den dritten nicht. Der dritte war untersetzt, hatte eine Glatze und Basedow-Augen. Von den anderen beiden war der eine ein Mann, der zweite eine Frau.

Der zweite Mann hatte einen olivenfarbenen Teint, schwarz behaarte Hände und schwarzes Kraushaar. Es war jener kleine Ernesto Gomez, Mitglied der argentinischen Botschaft, der Manuel im ›Ritz‹ besucht und fast drohend aufgefordert hatte, seine Nachforschungen in Wien unverzüglich einzustellen und nach Buenos Aires heimzukehren.

Die Frau endlich – Manuel erkannte auch sie sofort, er hatte genügend Aufnahmen von ihr in der vergangenen Nacht gesehen – war Valerie Steinfeld.

55

»Valerie Steinfeld und Ernesto Gomez von der argentinischen Botschaft!«

»Richtig, mein Freund.«

»Und der zweite Mann?«

»Wenn man Herrn Penkovic glauben will, und warum sollte man das nicht, dann ist der zweite Mann ein gewisser Thomas Meerswald. Ein merkwürdiger Mensch. Er …«

»Wieso merkwürdig? Was macht er?«

»Lassen Sie mich doch ausreden! Mein Gott, sind Sie ungeduldig! Die Aufnahmen wurden im Sommer 1966 gemacht, sagte Penkovic. Damals war dieser Meerswald gerade einmal in Wien.«

»Wieso gerade einmal? Wo ist er gewöhnlich?«

»Penkovic sagte, Meerswald hätte zur Zeit, da die Aufnahmen entstanden, eine Fabrik in der Nähe von Wien gehabt – mit Büros in der City. Aber er sei selten anzutreffen gewesen, denn er befand sich andauernd auf Reisen, vor allem durch Südamerika, und da besonders durch Argentinien. Das ist doch merkwürdig – oder?«

»Ja. Und was für eine Fabrik war das, von der Penkovic sprach?«

»Er sagte, Herr Meerswald würde Pflanzenschutzmittel herstellen.«

»Was?«

»Pflanzenschutzmittel.«

»Aber das ist … das ist doch …«

»Beruhigen Sie sich, Herr Aranda. Trinken Sie noch etwas. Habe ich zuviel versprochen? Sehen Sie. Nora Hill verspricht nie zuviel. Sind fünftausend Dollar zuviel bezahlt für diese Bilder? Sie sind nicht zuviel bezahlt für diese Bilder. Und deshalb seien Sie jetzt so freundlich und holen erst einmal Ihr Heft mit den Traveller-Schecks hervor. Sie haben doch gewiß Schecks in jeder vorgedruckten Höhe, nicht wahr? Fünfzig Dollar, hundert, fünfhundert, tausend Dollar auch?«

»Was bedeutet das? Was hatte Valerie Steinfeld mit diesen beiden Männern zu tun?«

»Tausend Dollar auch?«

»Die steckte ja bis zum Hals in der Affäre! Das wird ja immer schlimmer!«

»Herr Aranda!«

»Ja, Tausender auch.«

»Nehmen Sie fünf Tausender-Schecks und schreiben Sie zum zweitenmal Ihre Unterschrift darauf. Ich habe Sie gerne. Wirklich. Ich wollte nur Traveller-Schecks haben, weil Sie die nicht mehr sperren lassen können, wenn ich sie einmal in der Hand halte und meiner Bank präsentiere …«

»Unglaublich«, sagte Fedor Santarin. Er lachte bewundernd, während er seinen Brillantring an einem Ärmel rieb. »Nicht zu fassen. Nora, das Goldkind! Penkovic sagte mir, daß er ihr die Fotos für viertausend Dollar verkauft hat. Die erstaunlichste Frau, die ich kenne.«

»Warum erledigt sie eigentlich solche Geschichten für Sie, Santarin?« fragte Jean Mercier.

»Oh, aus reiner Gefälligkeit. Ich tue ihr auch eine, wissen Sie«, sagte der Russe lächelnd. Er saß mit dem Franzosen in dem Zimmer, das wie für ein kleines Mädchen eingerichtet war, zwischen Puppen, Baby-Doll-Hemdchen und Kinderunterwäsche.

Ein Mikrophon an der Esse des Kamins in Noras Wohnzimmer übertrug das Gespräch von Manuel Aranda hierher, wo die Worte aus einem Lautsprecher kamen. Der Nagel, an dem er hing, hielt auch ein Bild Schneewittchens und der Sieben Zwerge. Das Bild befand sich am Kopfende des Bettes, auf dem Fedor Santarin wieder Platz genommen hatte.

»Die Fotos haben mächtig gewirkt«, sagte Jean Mercier. Er saß auf einem kleinen roten Holzsessel. »Die geben ihm den Rest. Sollte er die Absicht gehabt haben, seinen Rückflug nur zu verschieben, dann wird ihn das jetzt dazu bringen, ganz in Wien zu bleiben. Santarin, Sie sind ein Schuft, aber Sie sind auch ein Genie.«

»Ich weiß«, sagte der Russe. Er öffnete ein Märchenbuch, das auf dem Nachttisch neben dem Bettchen lag. Das Buch war eine Attrappe und hohl. Ein Sortiment der verschiedensten Kondome befand sich darin. Der Russe nahm eines, rollte es zwischen zwei Fingern ab und blies es wie einen Luftballon auf. Dann hielt er die Öffnung zu, damit die Luft nicht entweichen konnte und betrachtete die Inschrift auf dem Präservativ. Sie lautete: I LOVE YOU.

»Niedlich«, sagte Santarin. Was sich in Noras Zimmer abspielte, entsprach genau seinem Plan, und Mercier und Grant wußten das. Santarin, der Penkovic seit langer Zeit kannte, hatte den Rumänen mit den Fotos zu Nora geschickt und ihm befohlen, viertausend Dollar für sie zu verlangen. Und Nora war von Santarin angewiesen worden, die Fotos zu diesem Preis zu kaufen, danach umgehend Manuel Aranda in Kenntnis zu setzen und ihm jene Geschichte zu erzählen, die sie gerade erzählt hatte.

»Sie sagen Aranda, Sie hätten die Fotos für ihn gekauft und lassen sich das Geld zurückgeben. Ich schieße Ihnen die viertausend Dollar vor. Sie geben mir den Betrag zurück, sobald Sie ihn von Aranda haben.«

»Und wenn er nicht kauft?«

»Er kauft, seien Sie ganz beruhigt«, hatte Santarin gesagt.

»Viertausend Dollar – so viel Geld?«

»Die Fotos müssen so viel Geld kosten, damit sie Aranda besonders wichtig erscheinen. Menschen sind komisch.«

»Wozu wurden die Bilder gemacht? Das sind doch Kopien. Warum haben Sie Penkovic vor zwei Jahren diese Valerie Steinfeld beschatten lassen? Und was versprechen Sie sich jetzt von der ganzen Sache?« hatte Nora gefragt.

»Nicht«, hatte Santarin gesagt.

»Was, nicht?«

»Nicht so viele Fragen stellen, bitte. Penkovic stellt auch keine. Sie tun, was ich ihnen sage, und das ist alles. Verstehen wir uns?«

»Wir verstehen uns«, hatte Nora geantwortet.

»Madame, ich danke Ihnen.« Santarin hatte ihr die Hand geküßt …

»Ja«, sagte der Russe jetzt, auf dem Kinderbett, während er langsam die Luft aus dem Schutzmittel entweichen ließ und es dann wegwarf, »ich denke, nun wird Aranda bleiben. Die Gefahr ist gebannt. Sie waren ganz hübsch aufgeregt bei dem Gedanken, er könnte Wien verlassen, wie, Mercier?«

»Na, Sie und Grant vielleicht nicht?«

»Grant und ich auch«, gab Santarin zu. Er holte die längliche Konfekt-Tüte aus seinem grauen Anzug und offerierte dem bleichen Mercier Bonbons. Der wählte umständlich.

Der Russe sagte, während Mercier kaute: »Ganz am Anfang dieser Geschichte, als Aranda das Manuskript seines Vaters fand, da bestand natürlich auch die Gefahr einer sofortigen Abreise. Man hätte sie mit Gewalt unterbunden, nicht wahr, Mercier? Nanu, verschlucken Sie sich nicht. Was haben Sie denn?«

»Sie sind schon ein Schwein«, sagte Mercier. Natürlich hast du und Grant Clairon umlegen lassen, bevor der Aranda umlegen konnte, dachte er. »Ein kluges Schwein«, sagte Santarin. »Aber Aranda ist nicht abgeflogen. Er blieb. Er hat uns allen doch damals schon am Telefon gesagt, daß er bleibt, bis das Geheimnis enträtselt ist. Also habe ich den Plan gemacht, nach dem wir jetzt vorgehen. Und alles klappte glänzend.«

»Bis Sonntagabend. Da bestellte Aranda plötzlich die Flugkarte. Was war da los?«

»Tja, was?« Natürlich werde ich dir nicht erzählen, daß Aranda erst am Sonntag den Film sah, der zu dem Manuskript gehört, dachte Santarin. Der Film kann auch nicht ausschlaggebend gewesen sein. Keinesfalls. Es ist schon so, wie ich immer angenommen habe: Der junge Mann wußte am Anfang nicht, was in dem Manuskript stand. Erst am Sonntag offenbar, nach dem Besuch bei Yvonne, hatte er den Code-Schlüssel. Das Manuskript wurde dechiffriert. Gut, wollen wir einmal annehmen, daß das Gewissen des jungen Aranda sich daraufhin allzu stürmisch meldete, daß er kopflos heim wollte, um das Wichtigste zu retten, zu vernichten, zu verhindern – aber dann muß noch etwas geschehen sein, was ihn von diesem Entschluß wieder abgebracht hat. Und was das war, das weiß nicht einmal ich. Mir fiel sofort Penkovic ein. »Wir werden auch noch herausbekommen, was Aranda so durcheinandergebracht hat«, sagte Santarin zuversichtlich.

»Wenn Sie sich dahinterklemmen«, sagte Mercier höflich. Man kann auch zu klug sein, dachte er, ebenfalls zuversichtlich. Du, mein Lieber, hast dafür gesorgt, daß der junge Herr nun mit größter Wahrscheinlichkeit in Wien bleiben wird. Das heißt, daß das Manuskript und der Film seines Vaters in dem Tresor des Anwalts bleiben werden. Herr De Brakeleer ist schon nach Bremen geflogen, um mit seinem Meisterschränker zu reden. Und heute vormittag hat der Inspektor Ulrich Schäfer die Annonce aufgegeben, die morgen im ›Kurier‹ erscheinen wird. Einer meiner Leute war in der Inseratenannahme und wartete, bis Schäfer kam. Der hat genau den Text über den Geigenlehrer aufgegeben, den wir ihm vorschrieben. Sobald das Inserat erschienen ist, werden wir uns mit ihm in Verbindung setzen. Haltet mich nur alle für einen Idioten, etwas Besseres kann mir gar nicht geschehen.

»Nun den letzten Scheck, dann haben wir es überstanden«, ertönte Noras Stimme.

»Das sind die tausend Dollar, die sie einsteckt«, sagte der Russe. »Noch ein Stückchen Konfekt? Zieren Sie sich nicht! Nougat ist am besten.« Und ob ich herausbekommen werde, was Aranda so durcheinandergebracht hat, dachte Santarin. Heute nacht noch. Wenn der Graf Romath zu Gilbert Grant kommt. Ich werde auch da sein, ich bleibe nur noch hier, um zu sehen, ob alles glatt läuft, dann verschwinde ich. Dieser Romath wird ausspucken, was er weiß, oder er wird tun, was ich ihm befehle. Aber was geht das dich an, du französisches Fünfgroschen-Hirn?

»Bei Gelegenheit geben Sie mir übrigens zweitausend Dollar«, sagte der Russe. »Wir arbeiten doch jetzt zusammen. Unkosten werden geteilt.«

»Natürlich«, sagte Mercier und dachte: So sieht also der einzige wirkliche Idealist unter uns Dreien aus. Der Franzose wußte einiges über Fedor Santarin. Der Russe hatte nicht nur während des ganzen Krieges gegen Hitler an der Front gestanden, er hatte auch seine Frau, seine Mutter, seine Kinder, er hatte alle Angehörigen verloren. Er war freiwillig Agent geworden. Ein einsamer Fanatiker, der sich zynisch und überlegen gab und in dessen Gehirn ein Gedanke brannte wie ein unauslöschliches Feuer: Nie, nie, nie wieder soll mein Land überfallen werden können! Voilà, ein anständiger Mensch, dachte Mercier. Man muß ihn eigentlich bewundern. Ach, zum Teufel mit anständigen Menschen in unserem Metier. Das sind die ärgsten!

»Wenn dieser Meerswald Pflanzenschutzmittel herstellt – war er da auch auf dem Kongreß?« erklang die Stimme Manuels.

»Danke für die Schecks, mein Freund. Auf dem Kongreß?« Noras Stimme hob sich zweifelnd. »Das weiß ich nicht. Sein Betrieb hat zwar Verbindungen in die ganze Welt, aber er ist nicht einer von den wirklich großen, wissen Sie. Ihnen war der Name ja auch unbekannt, nicht wahr?«

»Ja. Madame, kann ich … darf ich …«

»Was denn?«

»Ich müßte telefonieren, aber …«

»Aber Sie haben Angst, Ihr Gespräch könnte abgehört werden, wie?«

»Nora! Nora!« sagte Santarin entzückt. Er blies noch ein Präservativ auf, mit dem Text CHERIE, JE T’AIME. Der Russe lachte. »Schauen Sie, Mercier! Ob die das in allen Sprachen haben? Was für ein Haus!« Er starrte in das Schachtel-Märchenbuch. »Wo sind wohl die für sowjetische Gäste? Ah, da hätten wir schon eines!«

»Natürlich habe ich Angst«, erwiderte Manuels Stimme dazwischen. »Warum eigentlich? Es kann sich bestimmt jeder denken, wen ich anrufen will!«

In ihrem großen Wohnzimmer streckte Nora Hill den zierlichen Körper auf dem bequemen Sessel.

»Ihren Hofrat, natürlich.«

»Ja. Also könnte ich doch eigentlich ruhig …«

»Ruhig. Da steht der Apparat. 34 55 11.«

»Was ist das?«

»Die Nummer des Sicherheitsbüros. Oder wollten Sie ihn schon zu Hause anrufen? Es ist noch nicht einmal halb elf.«

»Sie haben recht.«

Eine halbe Minute später erklang Grolls Stimme aus dem Hörer: »Guten Abend, Manuel. Sie wollen mich sprechen?«

»Dringend, Herr Hofrat. Kennen Sie einen gewissen Thomas Meerswald?«

»Gewiß. Wie kommen Sie auf den?«

»Und einen gewissen Vasiliu Penkovic?«

»Diesen Dreckskerl, freilich! Sagen Sie, Manuel …«

»Was wissen Sie über die beiden?«

»Nicht am Telefon. Wo sind Sie überhaupt?«

»Bei Frau Hill.«

Nach einer kurzen Stille der Verblüffung lachte Groll.

»Herr Hofrat ! Ich habe noch eine Entdeckung gemacht! Wann können wir uns sehen?« fragte Manuel. Die sechs Fotos lagen vor ihm auf dem Rauchtischchen. Das Telefon stand daneben. »Ich komme sofort zu Ihnen. Ich …«

»Das geht nicht. Wir haben seit heute früh einen Liebespaar-Mörder im Verhör. Ich kann noch nicht weg. Aber bis zwölf bricht der garantiert zusammen. Wenn es wirklich so dringend ist …«

»Das ist es!«

»… dann kommen Sie nach Mitternacht in meine Wohnung. Porzellangasse, Nummer …«

»Ich weiß, ich komme. Und ich danke Ihnen, Herr Hofrat.«

»Aber rufen Sie vorher aus einer Zelle an. Ich muß die Haustür für Sie aufsperren.«

»Ich rufe noch einmal an.« Manuel legte auf und nahm seine Brieftasche, um die sechs Fotografien hineinzulegen. Dabei glitt der gefaltete Bogen, den er in Valerie Steinfelds Schatulle gefunden hatte, auf das Tischchen.

Er griff schnell danach, doch Nora war schneller.

»Was ist denn das für ein altes Papier?«

»Geben Sie es sofort zurück!«

Nora öffnete den Bogen halb und las laut: »Pasteur 1870: Seidenraupenseuche …«

In dem Kleinmädchenzimmer fuhr Santarin aus dem Bett hoch.

»Da! Ich habe Nora gesagt, sie sollte auf alles achten, was Aranda bei sich trägt!«

»Bitte, Madame, geben Sie es mir zurück!« klang Manuels Stimme, laut und heftig. Danach ertönten Schritte.

»Au! Was haben Sie denn? Ich gebe es Ihnen ja schon. Sie waren sehr grob zu mir …«

»Entschuldigen Sie. Es tut mir leid.«

Wieder erklangen Schritte.

»Pasteur 1870, Seidenraupenseuche … altes Papier … ob es das ist?« fragte Mercier, der aufgesprungen war.

»Durchaus möglich.« Santarin nickte. »Wenn Nora nachher zu Ihnen kommt, lassen Sie sich dieses Papier genau schildern.«

»Natürlich.«

»Heute bewacht ihr Aranda. Sie gehen dann sofort zu einem Ihrer Streifenwagen draußen. Ihre Leute sollen zu Grants Wohnung fahren und ihm alle Einzelheiten bekanntgeben.«

»Wieso zu Grants Wohnung?«

»Weil ich auch da sein werde. Ich muß schnellstens Bescheid wissen über alles. Ich habe noch eine kleine Unterredung heute nacht.«

»Mit wem?«

»Das erzähle ich Ihnen morgen. Tun Sie, was ich sage!«

»Ja, freilich, gewiß«, stammelte Mercier, erschrocken über Santarins ungewöhnliche Schärfe. Idealisten, dachte er. Das Ärgste! In Noras Zimmer erhob sich Manuel.

»Sie wollen doch nicht schon gehen?«

»Ich …«

»Wohin? Gerade erst halb elf. Was machen Sie bis Mitternacht?«

»Ich weiß nicht, ich … Das alles regt mich so auf … Sie verstehen gewiß … Diese Valerie Steinfeld … Mehr und mehr rückt diese Frau in den Mittelpunkt …«

»Dann werde ich Ihnen am besten ein Stück meiner Geschichte weitererzählen – und damit ein Stück weiter in Valerie Steinfelds Geschichte. Was halten Sie davon? Wenn Sie schon da sind … Und ich sagte Ihnen doch, daß ich Ihnen alles berichten will, was ich mit Valerie Steinfeld erlebt habe, was ich von ihr weiß …«

Manuel setzte sich wieder.

»Bitte, erzählen Sie.«

»Gut.« Nora lächelte. »Allerdings habe ich nur bis halb zwölf Zeit. Dann kommt dringender Besuch, und Sie werden mich entschuldigen müssen.«

»Natürlich. Ich fahre dann ja zu Groll.« Manuel steckte die Brieftasche ein. Die sechs Fotografien ruhten nun neben dem Bild, das Irene ihm geschenkt hatte.

»Also, ich habe meinem Freund in Lissabon erzählt, was in Wien geschehen war …«

56

»… mein Gott, ist dieser arme Teufel, der Paul Steinfeld, glücklich gewesen, zu hören, daß es seiner Frau und dem Jungen gut geht und daß sie den Prozeß begonnen haben. Nach Dienstschluß, spät, ging er mit mir noch aus und betrank sich«, sagte Jack Cardiff.

»Ihr habt euch beide betrunken«, sagte Nora lächelnd.

»Wir beide – natürlich. Ich habe den Mann gern, wirklich gern. Ein feiner Kerl. Laß uns nur hoffen, daß weiter alles glatt geht. Inzwischen ist Steinfelds Euphorie natürlich längst wieder abgeklungen. Als ich London verließ, brachte er mich zum Flughafen. Er sieht schrecklich schlecht aus. Aber sag das nicht seiner Frau!« bat Jack Cardiff.

»Natürlich nicht«, antwortete Nora.

»Überhaupt nichts von seinen Ängsten und Sorgen.«

»Kein Wort.«

»Sie würde sonst wieder unruhig werden.«

»Ja. Und sie muß jetzt ruhig sein. Ganz ruhig.«

Dieses Gespräch fand in der Nacht zum 13. Dezember 1942 statt, am Strand von Estoril, dem berühmten Kurort, der 24 Kilometer von Lissabon entfernt liegt. Vollmond beleuchtete die Landschaft, ließ die Wellen mit ihren Schaumkronen blitzen und erhellte den feinen, weißen Sand, den mit Palmen umgebenen Prachtbau des Spielcasinos oben auf dem Hügel, die Fassaden der Luxushotels, die maurischen Villen in ihren riesigen Gärten, den Golfplatz, die alten Palmen und die dunklen Pinienwälder. Aus den Fenstern aller Häuser flutete der Schein strahlender Lichter. Im übrigen Europa waren sie schon lange ausgegangen.

In einiger Entfernung lag das alte Fischerdorf Cascais. Mondlicht fiel auf die Männer, die ausfuhren zum Nachtfang, lautlos, winzige Silhouetten in winzigen Booten.

Der braungebrannte, helläugige Jack Cardiff war bereits vor drei Tagen aus London zurückgekehrt. Seit dem 17. November hatte Nora auf ihn gewartet und voll Sehnsucht und Ungeduld all jene Missionen ausgeführt, die ihr in Wien von ihrem Chef Carl Flemming und in Lissabon von der deutschen Botschaft aufgetragen worden waren. Drei Tage hatte sie dann das Wiedersehen mit Jack gefeiert. Was für Tage! Sie waren nicht aus Cardiffs Wohnung an der Avenida da Liberdade gekommen und selten aus seinem breiten Bett. Heute abend endlich hatten sie beschlossen zum erstenmal auszugehen. Sie waren mit Cardiffs Wagen nach Estoril gefahren, sie hatten im Casino Roulette gespielt und beide gewonnen, sie hatten in dem angeschlossenen Restaurant gegessen, Wein getrunken und waren schließlich zu dem weißen Sandstrand hinuntergewandert. Der Bademeister war längst nicht mehr da, die Kabinen waren versperrt gewesen. Sie hatten im Freien ihre Badeanzüge angezogen und waren weit hinausgeschwommen. Wieder auf dem verlassenen Strand, hatten sie einander geliebt …

Jack Cardiff trug ein Tuch um die Lenden, Nora eine Badejacke um die Schultern. Und nun, endlich, hatte er ihr von seiner Begegnung mit Paul Steinfeld erzählt.

Nora richtete sich plötzlich auf, zog die Beine an den Leib und ließ den feinen Sand durch die Zehen rieseln.

»Was hast du, Darling?«

»Steinfeld«, sagte sie. »Jetzt erst reden wir über ihn. Ist es nicht schrecklich, wie rücksichtslos man wird, wenn man glücklich ist?«

»Grauenhaft«, bestätigte er und öffnete ein Lederköfferchen, in dem sich, zwischen Zwingen, eine Flasche Whisky, ein Siphon und ein Thermos mit Eiswürfeln befanden. Zwei Gläser, für die es ebenfalls Zwingen gab, standen neben ihnen im Sand. Jack machte Drinks.

»Mud in your eye.«

»Mud in your eye«, sagte Nora.

Sie tranken.

»Ach, Jack!« Sie legte einen Arm um seine Schulter und streichelte mit ihrem Fuß sein Bein. »Wenn wir nur niemals dafür werden zahlen müssen.«

»Wofür?«

»Daß wir so glücklich miteinander sind.«

Er trank, dann zündete er zwei Zigaretten an, eine für Nora, eine für sich. »Teutonisches Weltschmerz-Gefühl! Ist es der natürliche Zustand des Menschen, unglücklich zu sein?«

»Nicht reden«, flüsterte sie. »Nicht darüber reden. Ich bin auch schon ruhig. Es ist nur so wunderbar … es wird immer wunderbarer … jedesmal mehr …«

Sie sahen beide zu einem weit ins Wasser hinausragenden Steg aus schweren Holzbohlen, der vor ihnen lag und von dessen Ende man schon in beträchtliche Tiefe springen konnte. Auch der Steg glänzte im Mondlicht. Aus der Ferne erklang Musik – eine sentimentale Melodie. Nora legte ihren Arm fester um Cardiffs Schulter. Sie saßen lange so da, schweigend.

»Woran denkst du?« fragte Nora zuletzt.

»Ach, an gar nichts.«

»Doch, sag es!«

»An Whisky«, sagte Cardiff. »Was für eine herrliche Erfindung er ist.«

»Unsinn. Nun sag es schon!«

»Weißt du, es ist zu komisch, ich …«

»Du hast gebetet, ja?«

»Ja«, sagte er.

»Ich auch«, sagte Nora. »Worum hast du gebetet, Jack?«

»Nein, sag du es zuerst.« Er nahm ihr Glas, warf seinen Zigarettenstummel hinüber zu dem Bohlensteg, machte zwei neue Drinks und klirrte heftig mit den Eiswürfeln dabei.

»Ich habe den lieben Gott gebeten, daß er uns diesen Krieg überleben läßt«, sagte Nora. »Und daß wir uns immer weiter so lieben wie heute – auch nachher, im Frieden, in unserem alten Gasthof in Sussex …«

Er nickte.

»Der alte Gasthof. Ich war einmal mit Steinfeld dort und habe ihm alles gezeigt. Das Fachwerk, die Wirtsstube, alle Zimmer, die Pappeln rund um den Gasthof. Er war begeistert. So etwas Schönes hat er noch nie gesehen, sagte er.«

»Ich habe auch für Steinfeld gebetet und für seine Frau und für den Jungen und für die Agnes, und daß wir alle Glück haben mögen, Glück genug, um davonzukommen. Und du? Worum hast du gebetet, Jack?«

»Um genau dasselbe«, sagte er. »Um all das, worum du gebetet hast, Darling, und noch darum, daß wir immer genug Geld haben, um genug Whisky zu kaufen.«

»Ist das wirklich wahr?«

»Ja.«

»Wir haben um dieselben Dinge gebetet«, sagte Nora. »Ganz genau dieselben. Ist das nicht seltsam, Jack?«

»Ich finde, es wäre seltsam, wenn jeder von uns um etwas anderes gebetet hätte. Hier, Darling, dein Glas. Auf daß Gott unsere Gebete auch erhören möge. Wir wollen noch ein paarmal so beten, ja?«

»Ja.«

»Solange der Vorrat reicht«, sagte Jack Cardiff.

Sie tranken.

»Wir sind schon eine komische Rasse, wir Menschen, wie?« sagte Cardiff.

»Steinfeld ist nicht gesund, weißt du. Seine Frau hat solche Angst, daß er sich aufregt. Aufregungen sind Gift für ihn. Ich habe auch noch gebetet, daß er keine Aufregungen mehr hat. Ob der liebe Gott es gehört hat? So viele Menschen beten jetzt zu ihm.«

»Die Gebete jener, die sich lieben, hört der alte Mann mit dem weißen Bart immer.«

»Dann sorgt er auch dafür, daß sie immer genug Whisky haben«, sagte Nora.

Cardiff hob einen Finger.

»Nur wenn sie sich so sehr lieben wie wir«, sagte er. »Er muß das Zeug einteilen, Darling, weißt du. Und es gibt solche und solche Lieben.«

»Und wir haben eine solche?«

»Ja«, sagte Jack Cardiff, »wir zwei, wir haben eine solche.«

57

Am 7. April 1766 gab Kaiser Joseph II. ein 5 365 000 Quadratmeter umfassendes Gebiet von Auen und Auwäldern nahe der Donau, das bis dahin den Habsburgern als Jagdrevier gedient hatte, für die Bevölkerung frei, ›um dorten zu reiten, zu fahren und daselbst sich mit erlaubten Unterhaltungen zu ergötzen‹.

Schausteller, Wirte, Kaffeesieder, Lebzelter und Kuchenbäcker siedelten sich sofort in großer Zahl an. Am Pfingstsonntag 1852 wurde der ›Wurstel-Prater‹ eröffnet, 1945 bei schweren Kämpfen zwischen SS und vorrückender Roter Armee völlig zerstört und erst nach Jahren vollständig wiederaufgebaut. Zuletzt gab es wieder die Geister-, Grotten-, Berg- und Talbahnen, die Liliputbahn, welche durch die Auen fuhr, Restaurants und Trinkhallen, Kasperl- und Marionettentheater, Schießbuden und Schaubuden, Lachkabinette, Luftschaukeln, Hippodrome, Kinos, Varietés, Karussells, das Pratermuseum, Tierschauen, sogar noch ein paar Zauberer, Neonreklamen, tobende Nervenkitzel-Attraktionen und das Riesenrad, welches, 1945 durch Brand und Bomben fast völlig vernichtet, sich, zur Gänze erneuert, bereits 1946 wieder drehte.

Es drehte sich auch am frühen Nachmittag des 17. Januar 1943, einem sonnigen, kalten Tag. Schnee lag seit Wochen über dem Land. Laut Verordnung hatte das Riesenrad auch bei Eis und Schnee in Aktion zu bleiben, ebenso wie alle Vergnügungsbetriebe gehalten waren, das Jahr durch zu arbeiten.

Soldaten saßen in den Kabinen des Riesenrades, Mütter mit Kindern, Verwundete mit Krücken oder dicken Verbänden, Krankenschwestern, junge Mädchen, Angehörige. Die Kinder jubelten. Die Erwachsenen hatten ernste, blasse Gesichter, und sie lächelten bloß manchmal, wenn sie miteinander sprachen.

In einem Waggon des betagten Riesenrades saßen nur zwei Frauen dicht nebeneinander auf einer Bank. Nora Hill war es durch großes Trinkgeld gelungen, den Angestellten an der Sperre vor dem Einstieg in die Kabine zu bestechen. Sie trug an diesem Tag einen rasierten Bibermantel, der blaugrau schimmerte, einen aufgeschlagenen Filzhut, beige wie ihr zweiteiliges Jackenkleid, braune Schuhe und eine braune Eidechsenledertasche. Sie war so auffällig geschminkt wie immer, und an ihrem rechten Gelenk blitzte das breite Platinarmband mit den großen Brillanten. In der Handtasche lag die automatische Smith & Wesson, die Jack Cardiff Nora vor Monaten gegeben hatte, damit sie immer eine Waffe bei sich tragen konnte, weshalb sie ihrem Chef Carl Flemming die erfundene Geschichte von dem britischen Überläufer erzählen mußte, der sie im Café Pöchhacker ansprechen und diese Pistole als Erkennungszeichen verlangen würde. Der Überläufer war natürlich nicht erschienen, obwohl Nora sich pro forma regelmäßig von dem schweigsamen Albert Carlson, Flemmings Chauffeur, in jenes Café, das knapp außerhalb des Rings, an der verlängerten Kärntnerstraße lag, bringen und zwei Stunden später wieder abholen ließ.

Heute war sie mit Stadtbahn und Straßenbahnen in die Stadt gefahren, um zu ihrer Schneiderin zu gehen und noch andere Dinge zu erledigen, wie sie Flemming gesagt hatte. Sie brauchte den Wagen nicht, sie konnte sehr gut auch wieder mit Straßenbahnen und Stadtbahn in die große, vielzimmerige Villa am Rande des Lainzer Tiergartens zurückkehren. Nora Hill war seit einer Woche in Wien. Diesmal hatte sie Zeit vergehen lassen, bevor sie Valerie Steinfeld anrief und sich mit ihr verabredete. »Riesenrad. Morgen. 14 Uhr 30. Bei der Kasse.«

Valerie war pünktlich gewesen. Sie trug einen Breitschwanzpersianer – Pauls Weihnachtsgeschenk 1937! –, einen kleinen schwarzen Hut und darunter ein schwarzes Kostüm. Sie war glücklich, Nora wiederzusehen. Kaum hatte sich das Rad in Bewegung gesetzt, fragte Valerie natürlich nach ihrem Mann.

»Es geht ihm ausgezeichnet, er ist sehr glücklich über Ihren Entschluß, den Prozeß zu führen, und er schickt Ihnen all seine Liebe.«

Licht fiel blendend durch die Fenster der Kabine und ließ Valeries blondes Haar aufleuchten, das unter dem Hut hervorquoll.

»Und er ist gesund?«

»Vollkommen.«

»Seine Leber?«

»In Ordnung. Machen sie sich keine Sorgen. Er hat viele gute Freunde, die sich um ihn kümmern.«

»Das ist schön. Davor habe ich nämlich Angst gehabt, daß er sehr einsam sein wird in London.«

Die Kabine, groß wie ein Straßenbahnwagen, war nun bereits ziemlich hoch gestiegen. Häuser in der Tiefe, Menschen und Straßen wurden kleiner und kleiner. Immer neue kamen ins Bild, Kirchen, der Donaukanal, der Strom, die Brücken über ihn. Die Kabine bewegte sich lautlos. Mächtige Eisenträger des Rades glitten an den Fenstern vorüber.

»Wann fliegen Sie wieder nach Lissabon?«

»Ende des Monats. Ihr Mann ist natürlich begierig zu erfahren, wie der Prozeß angefangen hat. Geht alles gut?«

Valerie sah Nora an.

»Könnte nicht besser gehen!« sagte sie strahlend.

»Und was macht Heinz?«

»Der ist begeistert!«

»Ich habe es Ihnen im voraus gesagt. Weil er den Vater haßt.«

»Ja«, sagte Valerie. Sie fuhr schnell fort: »Nach dem Krieg wird das natürlich anders werden, der Bub ist nur verhetzt. Ein guter Bub! Wenn wir erst alle wieder glücklich zusammen sind, wird er seinen Vater gern haben wie früher, wie vor 38. Ganz bestimmt! Das soll Ihr Freund meinem Mann sagen, bitte.«

»Gewiß.«

»Und daß Heinz ein ausgezeichneter Schüler ist«, fuhr Valerie mit betont fröhlicher Stimme fort. »Und daß der Direktor ihn jetzt besonders freundlich behandelt, seit er weiß, daß ich den Prozeß begonnen habe.«

»Er weiß das?«

Valerie nickte eifrig.

»Ich habe ihn besucht, mit dem Doktor Forster. Ein wunderbarer Anwalt übrigens! Und ihn informiert. Ich war auch beim Gauleiter. Na, die haben Augen gemacht! Und von einer Höflichkeit waren sie!« Valerie lachte wieder herzlich. »Besonders der Friedjung, der Direktor der Chemieschule! Küß die Hand vorn, gnädige Frau, und küß die Hand hinten! Er hat so etwas direkt erwartet, sagte er. Er hat sich nie vorstellen können, daß Heinz kein Arier ist. Dafür turnt er zu gut!«

»Das hat er gesagt?« Nora beobachtete Valerie aufmerksam.

»Ja!« Ohne jede Hemmung sprach die schlanke Frau mit den blauen Augen. Ist das Erregung, Freude, das diese Augen feucht glänzen läßt? überlegte Nora. »Der Direktor behandelt Heinz wie ein rohes Ei! Solange der Prozeß läuft, und der kann lange laufen, sagt Forster, wird dem Buben nicht das Geringste geschehen. Endlich muß ich mir keine Sorgen mehr machen. Es war eine wunderbare Idee von meinem Mann.«

»Mein Freund wird ihm alles erzählen. Es freut mich für Sie, daß alles so gut geht, Frau Steinfeld«, sagte Nora. Nun war der Waggon schon sehr hoch gestiegen. Wie Spielzeug sah alles in der Tiefe aus, die Berge des Wienerwaldes, die weiße Weite hinter der Donau waren zu erblicken.

»Und was ist mit Herrn Landau?«

»Oh, Martin!« Valerie lachte. »Der ist wie verwandelt! Mutig auf einmal, tapfer, frech, ja richtig frech! Den haben wir alle verkannt. Der leidet jetzt nur darunter, daß er in der Partei ist. Darum hat er sich geradezu auf diesen Prozeß gestürzt! Genauso wie die Zeugen, die wir brauchen! Seine Schwester haßt die Nazis! Die wird natürlich alles beschwören, was nötig ist! Und die Agnes Peintinger! Und die Frau Lippowski …«

»Wer?«

»Bei der haben wir gewohnt, als Heinz geboren wurde. Eine alte Dame. Aber so etwas von mutig! Und wie ich Ihnen helfen werde, Frau Steinfeld, hat sie gesagt. Ich war selber mit einem Juden verheiratet, einer Seele von einem Menschen! Auf mich können Sie sich verlassen! Ja, das hat sie gesagt. Alle halten zu mir und zum Paul! Das muß er wissen!«

Immer noch stieg die Kabine aufwärts, immer mehr Sonnenschein durchflutete sie.

Valerie öffnete ihre Handtasche und kramte darin. Sie sagte: »Das ist wirklich ein idealer Treffpunkt. Kein Mensch kann uns hier belauschen. Und ich will Ihnen alles zeigen. Sehen Sie! Durchschläge, die ich vom Doktor Forster bekommen habe. So fing es an. Das war die Klage, die er eingereicht hat …« Sie gab Nora einige dünne Papiere.

Nora überflog die Seiten.

›An das Landgericht Wien I., Justizpalast … Klagende Partei: mj. Heinz Steinfeld … mit Beschluß des Amtsgerichtes Währing 6G 503/42 vom 26. 11. 1942, vertreten durch seine Mutter Valerie Steinfeld … diese vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Otto Forster, Wien I., Rotenturmstraße 143 (Vollmacht vom 24. 10. 1942) … Beklagte Partei: Ein zur Verteidigung der ehel. Geburt und blutmäßigen Abstammung zu bestellender Kurator … KLAGE wegen Bestreitung der ehel. Geburt und wegen blutmäßiger Abstammung … Streitwert RM 2500 …‹

»Da haben wir die ganze Wahrheit auf den Kopf gestellt und behauptet, daß ich immer schon eine schlechte Ehe geführt habe … Aber das hat der Paul doch wollen! Wenn er das lesen könnte, er würde lachen müssen!« sagte Valerie und lachte selber wieder. Sie wies mit dem Finger. »Hier, zum Beispiel … ›Die Verschiedenheit im Wesen der beiden Ehegatten‹ … Da kommen viele solche Sachen vor! Großartig, nicht?«

»Großartig«, sagte Nora. Sie bemerkte, daß Valeries Hände zitterten. Valerie bemerkte, daß Nora es bemerkte. Sie lachte wieder. »Aufgeregt, ich bin so aufgeregt, weil alles so gut geht! Der Richter, den wir kriegen, ist auch ein Antinazi, sagt Forster. Kann man überhaupt so viel Glück haben?«

Nun hielt die Kabine am höchsten Punkt ihrer Bahn an, leicht schaukelnd.

Jede Kabine hielt hier fünf Minuten lang. Die Millionenstadt lag in der Tiefe, Menschen waren nicht mehr zu sehen, die Häuser winzig klein, die Berge des Wienerwaldes sanfte Hügel, die Donau war ein Bächlein. Ein Lautsprecher schaltete sich ein.

Metallisch, leiernd, von einer Platte oder Walze, erklang eine ölige Männerstimme. Sie ertönte in jedem Waggon, der den Zenit der Bahn erreicht hatte.

»Das Wiener Riesenrad, ein Wahrzeichen der Hauptstadt der Ostmark und ein Symbol für den weltberühmten Prater, bildet mit seiner weithin sichtbaren Silhouette einen besonderen Anziehungspunkt für alle Besucher Wiens. Man war nicht in Wien, wenn man nicht mit dem Riesenrad gefahren ist …«

»Ich muß Ihnen gratulieren«, sagte Nora, während die Stimme leierte. »Ach, mir! Natürlich bin ich auch sehr froh … aber Paul! Paul wird erst froh sein, nicht wahr? Wann fliegt Ihr Freund wieder nach London?«

»Bald nach meiner Rückkehr.«

»Mein Gott, er soll Paul nur alles genau erzählen! Wie gut alles geht … nichts vergessen … Sie dürfen auch nichts vergessen!«

»Kein Wort«, sagte Nora und las, die Seiten überfliegend: ›… Paul Steinfeld vereinigte nicht nur im Wesen, sondern auch dem Äußeren nach in sich in leicht erkennbarer Weise die typischen Merkmale der jüdischen Rasse … Beweis: zahlreiche vorzulegende Fotografien, Aussagen von Zeugen …‹

»… Das Wiener Riesenrad wurde 1896 von dem englischen Ingenieur Walter Basset errichtet. Die von demselben Konstrukteur gebauten Riesenräder in Chicago, London, Blackpool und Paris wurden bald abgetragen und verschrottet. Nicht so das Wiener Riesenrad …«

›… Der Kläger ist von allen diesen Merkmalen völlig frei, so daß … als über jeden Zweifel erhaben angesehen werden muß, daß er … nicht aus dem ehelichen Verkehr mit dem Ehegatten … sondern aus dem Verkehr … mit Martin Landau stammt …‹

Valerie reichte Nora weitere Papiere.

»Dann ist die erste Tagsatzung gekommen. Das hat bis zum 18. Dezember gedauert … Ich war gar nicht dort, Forster hat mir geschrieben …«

Nora las:

›… findet beim Landgericht am 18. Dezember 1942 statt. Zum Kurator wurde Rechtsanwalt Dr. Hubert Kummer bestellt … ein rein formeller Termin, bei dem Ihre Anwesenheit nicht erforderlich ist … Mit Handkuß, ergebener Dr. Otto Forster …‹

Die Lautsprecherstimme hatte unterdessen weitergeredet.

»… der Durchmesser des Rades beträgt 61 Meter, der höchste Punkt über dem Boden 64 Meter und 75 Zentimeter. Das Rad …«

»Und hier!« Valerie gab Nora einen neuen Bogen.

Diese las.

›… wurde dem Kurator Dr. Kummer bei der ersten Tagsatzung eine Frist bis zum 15. Januar 1943 zur Erstattung der Klagebeantwortung erteilt …‹ Immer noch schaukelte die Kabine sanft auf der Höhe des Rades, immer noch erklang die Lautsprecherstimme.

»… die Achsenmitte befindet sich 34 Komma 2 Meter über dem Boden. Die Tragkonstruktion aus acht Pylonen wiegt 165 Komma 2 Tonnen …«

Valerie sagte mit strahlendem Gesicht: »Und der Kurator, der Doktor Kummer, ist auch ein Antinazi, hat Forster mir erzählt. Unglaublich, nicht?«

»Ja«, sagte Nora. »Unglaublich. Ein Wunder fast.«

Valerie kramte wieder in ihrer Tasche.

»Bei der ersten Tagsatzung hat Forster den Richter zum erstenmal gesehen, einen gewissen Doktor Gloggnigg. Und er hat mir erzählt, daß er den schon kennt aus anderen Prozessen … ein alter Sozi! Hier, bitte, noch ein Brief von Forster …«

Nora las: ›… 15. Januar 1943 … Sehr geehrte gnädige Frau … Klagebeantwortung des Kurators nunmehr eingelangt … hat das Gericht die mündliche Streitverhandlung für den 20. März 1943, 10 Uhr, Justizpalast, III. Stock, Saal XXIX, anberaumt …‹

Valerie sagte atemlos: »Merken Sie, wie die das verschleppen? Streitverhandlung erst am 20. März! Das sind hervorragende Zeichen, sagt Forster. Sind es doch auch, nicht wahr?«

Nora nickte und las:

›… die Klagebeantwortung des Kurators ist – wie zu erwarten war – rein formell gehalten und enthält keine erwähnenswerten Gesichtspunkte … Mit Handkuß, ergebener …‹

»… das Riesenrad dreht sich mit einer Geschwindigkeit von Null Komma 75 Metern in der Sekunde. Wir hoffen, daß Ihnen diese Fahrt noch lange in schöner Erinnerung bleiben wird. Heil Hitler!«

Der Lautsprecher schaltete mit einem lauten Knacken ab.

Gleich darauf setzte sich die Kabine, sanft schaukelnd, ganz langsam wieder in Bewegung.

»Von der Klagebeantwortung des Kurators hat mir der Doktor Forster ebenfalls einen Durchschlag geschickt«, sagte Valerie. »Hier …«

Nora nahm einen Briefbogen.

›… gewärtige ich zunächst die Vorlage der Urkunden, auf welche sich die Klage beruft, die jedoch derselben nicht angeschlossen gewesen sind … Die diesem vermutlichen Urkundeninhalt widersprechende Behauptung, der Kläger sei nicht von Paul Steinfeld, sondern von Martin Landau gezeugt worden, bestreite ich so lange, als nicht der ordnungsgemäße Nachweis für diese Behauptung erbracht wird, welchen Nachweis der Kläger zu führen hat …‹

»Nur das Geschwätz, das er halt schreiben hat müssen, sagt der Doktor Forster«, erklärte Valerie nervös, weil sie sah, daß Nora das letzte Schriftstück weniger rasch überflog als die anderen. »Brauchen Sie gar nicht zu Ende zu lesen!«

»Ich will aber«, sagte Nora.

›… behalte mir vor, gegebenenfalls, je nach schließlicher Gestaltung der Beweisanträge des Klägers, den Antrag auf anthropologische und erbbiologische Untersuchung des Klägers und Begutachtung durch Sachverständige darüber zu stellen, daß die Merkmale der Abstammung von dem nichtarischen Erzeuger vorliegen, bzw. ausgeschlossen sind … Im Hinblick auf die von mir als Kurator bei der ersten Tagsatzung grundsätzlich geltend gemachte Bestreitung beantrage ich im übrigen die kostenpflichtige Abweisung des Klagebegehrens …‹

Das sieht nun gar nicht schön aus, dachte Nora und sagte: »Aber da steht …«

»Ja, ja, ja! Ich bin zuerst auch erschrocken. Doch dann hat Forster mir gesagt, diesen Satz hat der Kurator einfach schreiben müssen – um sich zu schützen!« Valerie zuckte die Achseln, lachte und verstaute die Papiere wieder in ihrer Tasche. »Hier muß sich doch dauernd einer vor dem andern schützen, nicht wahr? Hat überhaupt nichts zu bedeuten.«

Nun wurden die Spielzeughäuser wieder größer, nun erschienen wieder Menschen auf den Straßen.

Nora sah die scheinbar so frohgemute Valerie an.

»Und wenn man eine Blutgruppenuntersuchung macht?«

»Dann macht man sie eben!«

»Sie sind so optimistisch. Die Blutgruppenuntersuchung kann doch alles zerstören.«

»Kann sie nicht«, sagte Valerie lachend, indessen die Menschen, die Häuser, Kirchen und Straßenbahnen größer und größer wurden, indessen die Erde zu ihnen heraufzusteigen schien.

»Wieso nicht?«

»Forster kennt einen Arzt mit einem serologischen Laboratorium. Wir haben zur Sicherheit unsere Blutgruppen schon überprüfen lassen, der Martin, der Heinz und ich! Der Arzt ist absolut zuverlässig. Der sagt kein Wort«, log Valerie fließend. »Da besteht überhaupt keine Gefahr! Und es ist nach diesem Untersuchungsergebnis möglich, daß Martin Landau der Vater ist!«

»Großartig«, sagte Nora beeindruckt.

»Bitte nehmen Sie das!« Valerie drückte Nora einen sehr kleinen Gegenstand in die Hand.

Es war ein Reh aus Blei, kaum so groß wie ein Pfennigstück. »1937, zu Silvester, da waren wir eingeladen … zweieinhalb Monate, bevor er weg mußte, der Paul. Nach Mitternacht haben wir Knallbonbons gezogen. In einem, an dem Paul und ich zogen, war das da … ein kleines Reh. Wir haben uns so gefreut darüber, denn mein Mann hat mich immer Rehlein genannt, wissen Sie? Weil ich so schlank war. Er hat gesagt, es wird uns Glück bringen, dieses kleine Reh, ich soll es aufheben. Ich, ich habe schon Glück hier! Ich möchte, daß es ihn jetzt beschützt!« Valerie sprach plötzlich wie ein verlegenes junges Mädchen. »Er soll es jetzt haben. Bitte, nehmen Sie es mit nach Lissabon! Und von Lissabon soll Ihr Freund es nach London bringen. Zu Paul. Wollen Sie …?«

»Natürlich«, sagte Nora Hill und steckte das Stückchen geformtes Blei ein.

Groß waren die Häuser, die Menschen, die Straßen inzwischen wieder geworden.

Nora erhob sich.

»Wir werden uns nicht mehr sehen. Ich melde mich wieder, wenn ich zurück bin. Zuerst steige ich aus der Gondel. Sie folgen und bleiben noch ein paar Minuten hier. Wir kennen uns nicht.«

»Ich danke Ihnen, Fräulein Hill. Ihnen und Ihrem Freund. Der liebe Gott wird Ihnen beiden Ihre Güte vergelten.«

Der Waggon stand still.

Ein Angestellter schloß die gläserne Schiebetür auf. Ohne sich umzublicken ging Nora Hill schnell durch den Schnee zum Praterstern und dem Tegetthoffdenkmal. Dort hielten Straßenbahnen.

Es waren jetzt mehr Menschen beim Rad. Valerie wurde gestoßen, als sie langsam, wie träumend, die Kabine verließ.

»Na! Bewegen S’ Ihnen vielleicht!«

Valerie lächelte noch immer. Sie ging in eine andere Richtung als Nora, ein Stück weiter in den Prater hinein.

Sie ging immer langsamer. Das Lächeln war nun von ihrem Gesicht gewischt. Sie taumelte plötzlich. Mit letzter Kraft erreichte sie eine verschneite Bank und ließ sich schwer darauf fallen.

Sie war atemlos wie nach einer übermenschlichen Anstrengung. Der Mund stand offen. Die Lippen waren blutleer. Valeries Hände zitterten, ihr ganzer Körper bebte. Sie saß auf der verschneiten Bank und fühlte plötzlich Schweiß über ihren Rücken rinnen, trotz der Kälte. Alles, was sie denken konnte, war: Paul. Er muß beruhigt sein. Ich mußte lügen. Hoffentlich habe ich gut gelogen. Hoffentlich ist Paul beruhigt. Ach Paul, mein Geliebter. Das Reh ist nun unterwegs zu dir …

58

»Herein!« sagte Nora laut. Sie hatte vor einer Minute das große Wohnzimmer ihres Appartements im ersten Stock des skurrilen, kreisrund gebauten Hauses am Lainzer Tiergarten betreten. Nun klopfte es. »Herein!« rief Nora noch einmal. Es war 16 Uhr 40, und es dämmerte schon. Fast zwei Stunden hatte Nora für die Heimfahrt benötigt.

Die Tür zum Wohnzimmer mit dem breiten Kamin, in welchem ein fröhliches Feuer brannte, öffnete sich. Chauffeur Albert Carlson trat ein. Elektrisches Licht brannte bereits und ließ Carlsons hageres, hungrig wirkendes Gesicht mit den stechenden Augen und den zusammengewachsenen Brauen fahl und gespenstisch wie einen Totenschädel erscheinen.

»Ah, Carlson. Was gibt’s?« Nora warf ihren Mantel über einen Sessel.

Der Chauffeur trug Zivil. Er starrte sie schweigend an.

»Carlson! Was wollen Sie?«

»Dich«, sagte er heiser.

Sie sah ihn gleichmütig an.

»Haben Sie den Verstand verloren? Scheren Sie sich raus! Los!«

»Aber ich denke doch nicht daran«, sagte Carlson, näherkommend. Nora hatte schnelle Reaktionen. Sie fuhr herum und griff nach einem Telefonhörer. Ehe sie abheben konnte, hatte er ihr auf die Hand geschlagen.

»Das läßt du sein, kapiert?«

»Ich wollte …«

»Die Torwache beim Parkeingang anrufen, ja.«

»Nein, Konrad.« Konrad war der Diener.

»Der ist nicht da, Puppe.« Er stand jetzt dicht neben ihr. Sie wollte zurückweichen, doch er hielt eisern ihre Hand fest. »Es ist überhaupt niemand da. Das ganze Personal hat Ausgang bis Mitternacht. Der Chef kommt erst spät. Ich soll ihn abholen um neun. Nur die Torwache ist da – und das Tor ist weit weg. Wir haben Zeit genug … Kein Mensch ist im Haus … nur wir zwei …«

Seine Augen hatten einen glasigen Ausdruck.

Nora war immer weiter vor ihm zurückgewichen. Jetzt stieß sie gegen eine Wand. Er legte eine Hand auf ihre Brust.

»Lassen Sie das, oder ich schreie!«

»Schrei doch.« Carlson grinste. »Schrei doch, du Hure! So laut du willst! Hört dich kein Mensch bis zum Parktor.«

»Nehmen Sie die Hand weg!«

Als Antwort riß er das Oberteil des braunen Jackenkleides auf. Nur ein schwarzes Seidenhemd bedeckte noch Noras Brüste. Sie zeichneten sich deutlich durch den dünnen Stoff ab.

»Das ist ja eine Wucht!« Er streichelte und kniff beide Brüste über der schwarzen Seide. »Warum immer nur für den Chef? Warum nicht auch für mich?« Er preßte seinen Körper gegen den ihren, sie fühlte seine Erregung.

»Sie … Sie … ich werde das Herrn Flemming erzählen …«

»Einen Dreck wirst du erzählen, du Nutte. Weißt du noch, wie du diese Steinfeld zum erstenmal getroffen hast? In der Buchhandlung, dann in der Stephanskirche?« Er fuhr dauernd mit einer Hand über ihre Brüste, mit der anderen hielt er ihren Arm fest. Sie erstarrte vor Schrecken.

»Kannst dich noch genau erinnern, was?«

»Keine Ahnung …«

»Keine Ahnung, sagt sie! Hast mich also wirklich nicht gesehen?«

»Sie waren das? Das war nicht nur …« Nora biß sich auf die Lippe.

»Einbildung von diesem Buchhändler, wolltest du sagen, wie?« Er lachte, und wieder traf sie sein Atem. »Jetzt hast du dich aber schön verquatscht. Nein, das war keine Einbildung! Den blauen Mantel und den Homburg habe ich immer getragen, wenn ich hinter dir her war …« Er kniff eine Brustwarze.

Sie schrie leise auf.

»Immer?«

»Immer, ja«, sagte Carlson. »Seit einem Jahr.«

»Aber warum?«

»Weil ich dich ficken will. Halt bloß das Maul, ja? Damals wußte ich noch nicht genug. Inzwischen habe ich mich erkundigt über diese Steinfeld. Bin auch ihr nach. Zu einem Anwalt namens Forster. Aufs Amtsgericht in Währing. Da habe ich dämlich getan und ein paar Fragen gestellt. Führt einen Prozeß, die Dame. Abstammung von ihrem Balg. Daß das kein Halbjud ist. Der Steinfeld, ihr Mann, ist nämlich ein Jud. Sitzt in England.«

»Das ist nicht wahr!«

»Klar ist es wahr. Habe meine Freunde. Hier und dort. Auch im Justizpalast. Und wo warst du heute? Im Prater! Wieder mit der Steinfeld. Allein im Waggon wart ihr, und gequatscht habt ihr, die ganze Zeit …«

»Das ist doch Irrsinn!«

»Gar kein Irrsinn. Du bist dauernd in Lissabon. Dorthin kann er Nachrichten kommen lassen, der Jud. Die kriegst du. Gibst sie hier in Wien weiter. Der Rückweg ist derselbe. Hat mich eine Weile gekostet, bis ich das alles zusammen hatte. Jetzt ist es soweit. Zieh dich aus.«

»Was … was?«

»Los! Genug gequatscht! Ich will dich jetzt haben. Ich muß dich haben. Ich bin verrückt nach dir. Seit dem ersten Tag. Du, du hast mich behandelt wie Dreck, als wäre ich überhaupt kein Mann …«

»Das ist nicht wahr!«

»… aber jetzt sieht alles anders aus. Ich halte auch das Maul, wenn du mich drüber läßt. Sonst erzähle ich dem Chef alles. So schnell, wie du dann im KZ bist, ist noch keiner reingekommen. Vorwärts!«

KZ? dachte Nora in fieberhafter Eile. Vielleicht. Vielleicht auch nicht, denn Flemming liebt mich und vielleicht läßt er dich hochgehen, du Schwein. Aber Valerie Steinfeld! Wenn Flemming erfährt, was sie vor hat, ist sie in Gefahr, sie und ihr Sohn und Martin Landau. Fremde Leute für Flemming. Auf die wird er keine Rücksicht nehmen! Und wenn er herausbekommt, daß Jack die Verbindung nach London ist, läßt er mich nicht mehr nach Lissabon. Ach was, dachte Nora, die fünf Minuten. Soll der Scheißkerl doch haben, was er will. Es geht um zu viel.

»Bitte, bedienen Sie sich«, sagte Nora Hill verächtlich.

Im nächsten Moment schlug Carlson ihr wuchtig ins Gesicht.

Sie schrie auf vor Schmerz.

»Schrei! Ja, schrei! Das habe ich gerne! Ich bediene mich, du hochmütiges Aas. Aber so, wie ich will … ich hab meine eigene Tour …«

Carlson streckte die Hand aus. Mit einem Ruck riß er Nora den Rock vom Leib. Er starrte die graubestrumpften Beine, das schwarze Höschen an.

Wieder griff er zu. Jetzt keuchte er.

»Was soll denn das?« protestierte Nora. »Ich lasse dich ja … ich tue alles … ich …«

Er schlug sie wieder ins Gesicht, auf die andere Wange diesmal. Der Schlag brannte. Der Mann geriet schnell außer sich. Noras Entsetzen wuchs. Ein Irrer … ein Irrer …

»Hilfe!« schrie Nora. Sie machte den Versuch, zu entkommen, zur Schlafzimmertür zu rennen. Sie hatte Angst um ihr Leben. Die Angst war stärker als alle Überlegung. Er stellte ihr ein Bein. Hart schlug sie auf den Boden.

Mit zwei Sätzen war Carlson bei der Eingangstür und sperrte ab. Er sprang zu Nora zurück.

»Sei doch vernünftig«, flehte sie. »Du kannst mich ja haben …«

Carlson beugte sich vor und schlug mit beiden Fäusten in Noras Bauch.

»Das ist der Anfang von meiner Tour, verstehst du?«

Nora hatte jede Überlegung vergessen, wilde Panik hielt sie gepackt vor diesem Mann mit dem wirren Haar, den glasigen Augen und dem schweißbedeckten Gesicht.

»Hilfe!« schrie sie. »Hilfe! Hilfe!«

»Schrei! Schrei! Schrei weiter!« Er zerrte an dem schwarzen Hemd. Es riß knirschend. Wie hypnotisiert starrte Carlson auf die weißen Brüste, die sich mit Noras keuchendem Atem hoben und senkten. »Verrückt … verrückt hast du mich machen wollen mit deinem feinen Getue, du Hure … Ich bin verrückt nach dir, ja … wirst gleich sehen, wie verrückt …«

»Aber ich lasse dich doch … warum tust du mir weh?«

»Weil es mir Spaß macht … das ist meine Tour …« Er zerrte seine Hose herunter und stürzte sich auf Nora, die sich verzweifelt wehrte, als er die Hände um ihren Hals legte.

»Nicht … nicht … ich …«

»Sehr schön, sehr schön …« Carlson war in Raserei geraten. Blitzschnell löste er seine Seidenkrawatte, schlang sie um Noras Hals und drehte sie zu einem Knebel zusammen. Nora würgte, bekam keine Luft, bäumte sich auf. Er lockerte die Krawatte.

»Davon hab ich geträumt … So will ich es … Hab’s an mir selbst probiert … Hinterläßt keine Spuren, die Seide … das ist das Feine …« Er zog mit einer Hand ihr Höschen über die Schenkel. Auch das Höschen riß.

»Bitte … bitte … komm her … tue es … aber nicht …«

Der Knebel drehte sich wieder zu. Schwer fiel Carlson auf Noras nackten Leib, wobei seine Ellbogen ihre Oberarme trafen, so daß sie diese nicht bewegen konnte. Sie lagen auf einem dicken Teppich vor dem Kamin.

»Mach die Beine breit!«

Sie wand sich unter ihm.

»Wirst … du … die … Beine … spreizen … du … Aas?« Carlson drehte den Knebel zu. Nora rang nach Luft. Sie bekam keine. Der Mund stand weit offen. Der Kopf flog hin und her. Sie öffnete die Schenkel.

Im nächsten Moment war er in ihr, brutal, rücksichtslos. Schmerz ließ sie röcheln. Carlson geriet völlig außer sich.

»So … ja, so … so will ich es haben … so ist es gut … so habe ich es mir vorgestellt. Das machen wir von jetzt an immer so … Jetzt werde ich dir zeigen … dir zeigen … was ein Mann ist!« Er stieß heisere Laute aus. Immer wieder drehte er den Knebel zu. Dann bäumte sich jedesmal Noras Körper auf, die Spitzen der Brüste reckten sich Carlson entgegen, während Nora um ihr Leben kämpfte. Je erregter Carlson wurde, desto öfter zog er die Krawatte zusammen.

Nora fühlte, wie eine Ohnmacht näher kam. Ihr Schoß brannte wie Feuer. Der Mann geriet in ein wahres Delirium. Seine Stöße waren die einer unbarmherzigen Maschine.

»Ah … jetzt!«

Nora bewegte sich nicht mehr. Sie hatte das Bewußtsein verloren. Als sie wieder zu sich kam, war sie allein. Sie besaß keine Vorstellung davon, wie lange sie so auf dem Boden gelegen hatte, nackt, besudelt, mit verdrehten Gliedern. Es war dunkel im Raum, nur das Kaminfeuer erleuchtete ihn. Vorsichtig richtete Nora sich auf. Als sie versuchte, einen Schritt zu machen, fiel sie um.

Erst nach einer Weile hatte sie genügend Kraft, um durch den Wohnraum in ihr Schlafzimmer zu taumeln und das elektrische Licht anzudrehen. In einem Spiegel betrachtete sie sich. Ihr Gesicht war kreideweiß, das Make-up verschmiert. Sie hob den Kopf, um den Hals sehen zu können. Keine Spur, wie Carlson gesagt hatte. Nackt, mit herabhängenden Strümpfen, ohne Schuhe, stand Nora da. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen. Keuchend starrte sie zur Deckenlampe empor.

»Und das machen wir jetzt immer so!«

Sie fuhr zusammen.

Sie hatte Carlsons Stimme gehört, deutlich, ganz deutlich!

Entsetzt sah sie zur Tür.

Da war niemand.

Einbildung. Angst.

Aber er war da, er war im Haus. Oder holte er schon Flemming ab? Dann mußte sie sich waschen, schminken, umziehen, die zerrissenen Kleidungsstücke verstecken, damit Flemming nichts merkte, wenn er kam. Sie erhob sich halb …

»Und das machen wir jetzt immer so!«

Die Worte klangen in ihren Ohren. Sie preßte beide Hände an den Kopf.

Todesangst habe ich durchlitten, gräßliche Todesangst. Wenn ich mich ergebe, wenn ich nichts gegen Carlson unternehme, wird er es wirklich wieder und wieder mit mir tun auf ›seine Tour‹. Und wenn er einmal in der Ekstase den Knebel zu fest und zu lange anzieht?

Das halte ich nicht aus. Nicht ein einziges Mal mehr.

Aber was soll ich tun? Wenn ich mich wehre, verrät er mich. Und was geschieht dann mit all diesen Menschen? Nora vergrub den Kopf in den Händen die nackten Arme auf die nackten Knie gestützt. Sie überlegte verzweifelt …

Als Carl Flemming, groß, stark, gut aussehend, mit kurzgeschnittenem, drahtigem Haar, das an den Schläfen schon ergraute, eineinhalb Stunden später nach Hause kam, eilte er sofort in den ersten Stock, klopfte an Noras Tür und trat schnell ein. Sie saß beim flackernden Kaminfeuer, rauchte und hielt ein Glas in der Hand.

»Mein Herz …« Der Chef des Wiener ›Arbeitsstabes Flemming‹ des Berliner Auswärtigen Amtes eilte auf Nora zu und küßte sie zärtlich. »Entschuldige, es hat lange gedauert heute. Ich mußte in der Stadt essen …«

»Carl.«

Ihre Stimme ließ ihn aufhorchen.

»Was hast du?«

»Ich muß dir etwas erzählen. Setz dich, bitte.«

»Was, jetzt gleich?«

»Jetzt gleich, ja«, sagte Nora Hill, trank ihr Glas aus und stellte es fort.

»Was gibt’s, Nora? Was mußt du mir sagen?« Er sank neben ihr in einen Sessel.

»Eine Menge«, antwortete Nora Hill. »Es handelt sich um eine gewisse Valerie Steinfeld …«

59

»Was haben Sie Flemming erzählt?« Manuel starrte die Frau mit den gelähmten Beinen, die ihm gegenübersaß, verblüfft an.

»Alles«, sagte Nora Hill. Sie hob ihre Zigarettenspitze, sog den Rauch ein und blies ihn durch die Nase wieder aus. »Nach reiflicher Überlegung schien es mir der beste Weg. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte. Hier. In diesem Raum. Vor diesem Kamin.«

»Sie haben Valerie Steinfeld verraten?«

»Das sage ich doch. Valerie Steinfeld und Martin Landau, den ganzen Plan des Prozesses … alles.«

»Und Flemming? Wie reagierte er? Was geschah danach?«

Es klopfte.

»Ja!« Nora Hill sah zur Tür.

Georg, seit langer Zeit Noras Geliebter, Vertrauter und Vertreter, trat ein. Sein Smoking war tadellos gebügelt wie immer und seine plissierte Hemdbrust makellos rein.

»Ich bitte um Verzeihung, Madame, aber es ist schon fünfzehn Minuten vor zwölf. Der Herr wartet seit einer halben Stunde. Er läßt sagen, daß er Madame dringend bittet, zu kommen.«

»Was, schon dreiviertel?« Nora machte ein erschrockenes Gesicht. »Wie die Zeit vergeht, wenn man erzählt! Man vergißt ganz die Gegenwart, nicht wahr, Herr Aranda?« Nora Hill hatte die Gegenwart, während sie erzählte, keinen Augenblick vergessen. Unterhalb des breiten Randes aus Lapislazuli-Steinchen, der den Kamin umgab, befand sich neben Noras Sessel ein Klingelknopf. Durch Druck auf ihn konnte sie jederzeit Georg herbeirufen. Er hatte auf den Ruf gewartet an diesem Abend. Und Nora hatte den Knopf gedrückt, als sie Manuel gerade berichtete, wie Carl Flemming an jenem Abend vor sechsundzwanzig Jahren in denselben Raum getreten war, in dem sie sich nun befanden.

»Sagen Sie dem Herrn, ich bitte um Verzeihung und komme sofort, Georg.«

»Gewiß, Madame.«

»Und bringen Sie Herrn Aranda zu seinem Wagen.«

»Ja, Madame.«

»Aber hören Sie … Sie können doch nicht gerade jetzt …« Manuel war aufgesprungen.

Nora griff nach den Krücken und erhob sich.

»Es tut mir leid, mein Freund.«

»Bitte, erzählen Sie mir wenigstens, was geschehen ist, nachdem Sie Flemming alles gebeichtet hatten!«

»Ich muß diese Unterhaltung jetzt wirklich abbrechen. Ich sagte Ihnen doch, ich erwarte heute noch wichtigen Besuch – erinnern Sie sich nicht?«

»Bitte! Bitte, noch fünf Minuten!«

»Ausgeschlossen. Wissen Sie, wer der Mann ist? Ich sage es Ihnen, weil ich sicher bin, daß Sie mich nicht verraten werden. Ein Steuerfahnder …«

»Steuerfahnder?«

»Ich habe eine Betriebsprüfung.«

»Hier?«

»In einem anderen Teil meiner Betriebe – in den Bars. Hier könnte ich keine bekommen.«

Diener Georg beeilte sich, zu erklären: »Prostitution ist nämlich in Österreich steuerfrei. Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs!«

»Ja«, sagte Nora, »tatsächlich. Nach dem Gerichtsentscheid bringt Prostitution eine ›Abnützung und Wertminderung des eigenen Körpers‹ mit sich. Abgaben an das Finanzamt kämen also einer Doppelbesteuerung gleich. Und die wäre natürlich unstatthaft. So weit, so schön. Aber in den Bars stimmt einiges nicht, wie Sie sich denken können. Zum Glück ist der Prüfer ein verständnisvoller Mann, nicht wahr, Georg?«

»Sehr verständnisvoll, Madame. Deshalb kommt er jetzt auch hierher.«

»Wir müssen eben sehen, wie wir gewisse Dinge zurechtbiegen … Sie verstehen … Georg …«

Der Diener berührte Manuels Arm.

»Lassen Sie mich los!« Manuel schlug nach ihm.

Georg packte den Arm plötzlich hart.

»Nicht, Herr«, sagte er lächelnd. »Tun Sie das nicht. Kommen Sie, ich bringe Sie hinunter.«

»Madame … Madame, etwas Zeit wird das doch noch haben, bitte …«

»Leider nicht, mein Freund. Ich darf den Beamten nicht länger warten lassen. Und es wird stundenlang dauern. Dabei muß dieser Mann morgen früh ganz zeitig im Amt sein. Wir haben Probleme von ziemlichem Ausmaß zu bewältigen. Sie entschuldigen – es geht um sehr viel Geld …«

»Madame …«

»Nein. Machen Sie mich nicht ärgerlich, Herr Aranda! Ich sage doch: Kommen Sie wieder. Ich habe noch viel zu erzählen. Und vergessen Sie Ihren Hofrat nicht. Der wartet ab zwölf auf Sie. Es ist fast Mitternacht. Sie kommen ohnedies zu spät. Sie könnten gar nicht mehr hierbleiben, auch wenn ich Zeit hätte. Schließlich sind die Fotos doch im Moment wichtiger als alles andere – oder?«

Manuel gab auf.

»Sie haben recht.«

»Aber Sie rufen an! Sie kommen wieder!«

»Bestimmt.«

»Gut.« Sie reichte ihm eine kühle, trockene Hand. Er küßte sie.

»Mein Herr«, sagte Georg.

»Machen Sie sich keine Mühe! Ich kenne mich hier schon aus.«

»Nein, nein, ich begleite Sie selbstverständlich. Madame wünscht es so.«

Die beiden Männer sahen einander an. Georg lächelte unerschütterlich. Manuel zuckte die Schultern. An der Seite des Dieners verließ er den Raum, nachdem er sich vor Nora verneigt hatte.

Sie wartete einen Moment, dann schwang sie auf ihren Krücken in den Gang mit den vielen Türen und den neunundvierzig Stellungen des Giulio Romano hinaus. Manuel und Georg verschwanden eben hinter einer Biegung vor der Treppe, die in die Halle hinabführte. Musik, Stimmen und Gelächter drangen zu Nora herauf.

Sie wartete wieder einige Sekunden, dann schwang sie den Gang hinab. Die Lämpchen über manchen Türen brannten, auch die über der des ›Kleinmädchen-Zimmers‹, das Nora betrat, ohne anzuklopfen.

Jean Mercier erhob sich aus dem roten Sesselchen.

Nora warf die Tür hinter sich zu.

»Großartig, Madame, ganz großartig!« rief der Franzose.

»Santarin schon fort?«

»Er ist erst vor einer halben Stunde gegangen. Bis dahin haben wir beide alles gehört, was Sie dem jungen Aranda erzählten. Santarin läßt sich herzlich bedanken. Er ist so zufrieden wie ich. Aber daß Sie Ihre Erzählung gerade an dieser Stelle unterbrochen haben, das war die Spitze! Herrlich! Und ob Aranda nun wiederkommt!«

»Ja, davon bin ich auch überzeugt«, sagte Nora Hill und dachte: Wenn ich bloß nicht so sehr in der Hand dieser gottverfluchten Hunde wäre. Sie fragte lächelnd: »Hat Ihnen der Film mit dem Fliegenden Holländer geholfen?«

»Außerordentlich, Madame. Ich bin Ihnen sehr verbunden für Ihre Hilfe … Und nun verraten Sie mir bitte noch schnell, was für ein Papier das ist, das Aranda bei sich trägt. Alt … Pasteur … Seidenraupenseuche … Santarin bittet Sie, es nun mir zu sagen … Er hat das alles mit Ihnen besprochen, nicht wahr?«

»Ja.« Nora seufzte. »Also passen Sie auf …«

60

Der Hofrat Wolfgang Groll trug seinen alten Morgenmantel und Pantoffeln. Die Krawatte hatte er abgelegt, das Hemd geöffnet. Er stand vor dem summenden Samowar in seiner Bibliothek und füllte zwei Tassen mit Tee. Eine stellte er auf den Schreibtisch, auf dem sich Bücher und Manuskripte häuften, die andere reichte er Manuel, der in einem tiefen Fauteuil saß.

»Zucker … Zitrone …«

Der beleibte Kriminalist mit dem silbernen Haar, der, wie es schien, keine Ermüdung kannte, eilte hin und her, öffnete den Flügel eines Fensters und kehrte schließlich in seinen geschnitzten hohen Lehnstuhl hinter dem Schreibtisch zurück.

Am Fuß der Bronzelampe lehnte der kleine vergoldete Rahmen, in dem sich, unter Glas, ein goldgelbes Ginkgo-Blatt befand.

Im Lichtkegel lagen das Papier mit der Handschrift von Manuels Vater und davor die sechs Farbfotos, die Manuel von Nora Hill gekauft hatte. Groll nahm die Zigarre aus dem Mund, schlürfte Tee, rauchte wieder und biß sich auf die Lippe.

»Na!« sagte Manuel.

Es schien, als schreckte der Hofrat tief aus Gedanken auf.

»Jetzt haben Sie aber wirklich Zeit genug gehabt«, meinte Manuel.

»Zeit wozu?«

»Nachzudenken, was Sie mir zu all dem zu sagen haben. Oder ist Ihnen das so sehr in die Glieder gefahren?«

»Ja«, sagte Groll, »das ist es. Wie dieser Bogen zu Frau Steinfeld gekommen sein kann, das weiß ich nicht. Dazu kann ich überhaupt nichts sagen. Das ist … unheimlich ist das! Und in Verein mit den Fotos …«

»Ja? Ja?«

»Es gibt Fälle, die man nicht lösen kann. Ich fürchte, das ist so ein Fall.«

»Aber wieso? Ich finde, wir kommen einer Lösung näher und näher!«

Groll seufzte.

»Sie kennen die drei Menschen auf den Fotos! Das haben Sie selber vorhin gesagt – oder nicht?«

Groll seufzte wieder.

»Das habe ich gesagt. Und nach Ihrer Beschreibung ist der Mann, den Sie bei Nora Hill in … in Aktion sahen, auch Vasiliu Penkovic.«

»Und warum hat er die Fotos aufgenommen?«

»Ich habe keine Erklärung dafür … keine stichhaltige.«

»Dann fragen Sie diesen Penkovic doch! Lassen Sie ihn kommen.«

»Das geht leider nicht«, sagte der Hofrat trist.

»Warum nicht?«

»Penkovic hat sich in unserem Land schon einiges geleistet, das dringend aufklärungsbedürftig war – und noch ist. Denn immer, wenn man ihm an den Kragen wollte, bekam das Innenministerium von den Sowjets einen Wink. Höflich, verstehen Sie? Eine Bitte, nur ein kleiner Wunsch. Man möge Herrn Penkovic doch in Ruhe lassen. Wenn man es nicht täte, könnte die Sowjetunion das als einen unfreundlichen Akt ansehen.«

»Und so wird man Herrn Penkovic also immer weiter in Ruhe lassen!«

»Manuel …« Groll strich sich durch das Haar. »Nach allem, was Sie bisher mit unseren Behörden erlebt haben und was ich Ihnen über die Situation Österreichs erzählte – glauben Sie, daß irgend jemand es wagen würde, vorsätzlich die Sowjets zu verärgern? Nein«, sagte Groll, »das ist das Verfluchte an dieser Geschichte! Ich kenne Penkovic gut. Affären um Fotos, die er aufgenommen hat und die dann irgend jemandem zugespielt wurden, gab es schon ein paarmal. Wir haben uns mit Herrn Penkovic unterhalten, ihn höflich gebeten, uns zu helfen.«

»Und?«

»Er mußte immer herzlich um Entschuldigung bitten: Er hatte keine Ahnung, wovon wir redeten. Was wir mit ziemlicher Sicherheit wissen: Penkovic übernimmt – er ist ein glänzender Mann für so etwas – häufig Aufträge von sowjetischer Seite, Leute zu beschatten und zu fotografieren« – Groll wies auf die Bilder – »wie hier. Nur hat er diesmal auch noch ein zweites Geschäft daraus gemacht.«

»Welches Interesse hatten die Sowjets daran, diese drei Menschen zu beschatten?«

»Nun, vielleicht wollten sie herausbekommen, ob die Amerikaner Entwicklungsaufträge für B-und C-Waffen erteilt hatten. Vielleicht waren sie auch schon weiter und verdächtigten Ihren Vater, von sich aus zu experimentieren. Immerhin wußten sie es zuletzt, und Ihr Vater verkaufte seine Erfindung an Sowjets und Amerikaner …«

»Ich verstehe kein Wort«, sagte Manuel.

»Sie werden gleich verstehen. Dieser Gesandtschaftsattaché Ernesto Gomez arbeitete seit langer Zeit mit Thomas Meerswald zusammen, das wissen wir.«

»Was heißt das! Sie arbeiteten zusammen?«

»Meerswald gelang es, Gomez für sich zu gewinnen. Vielleicht gab er ihm Geld. Vielleicht ist Gomez ein Idealist. Auf alle Fälle ist er eine Ausnahme. Denn sonst weiß ich nichts darüber, daß argentinische Vertretungen im Ausland derlei Dinge untersuchen.«

»Was?«

»Sehen Sie: Es gibt eine ganze Menge deutscher Betriebe in Argentinien mit hochqualifizierten Spezialisten! Vielleicht gibt es darunter auch getarnte Rüstungsbetriebe. Ich weiß es nicht. Jedenfalls halten sich, das ist bekannt, in diesen Betrieben zahlreiche Nazi-Kriegsverbrecher verborgen. Gomez hat Meerswald geholfen, solche Nester aufzustöbern.«

»Warum? Was konnte Meerswald tun?«

»Meerswald war ein Fanatiker.« Groll betrachtete den untersetzten Mann mit den Basedow-Augen und der Glatze auf einem der Fotos. »Er hatte eine Fabrik für Insektenbekämpfungsmittel in Wien. Aber die diente ihm nur als Tarnung.«

»Verstehe ich wieder nicht!«

»Meerswald war in Wirklichkeit einer der größten Jäger gesuchter Personen und verborgener Produktionsstätten für Massenvernichtungsmittel in ganz Südamerika. Er hatte ein Dokumentationszentrum in seinem Stadtbüro aufgebaut. Angeblich in Geschäften, in Wahrheit aber immer auf der Jagd, war er dauernd unterwegs in der ganzen Welt. Er hatte viele Mitarbeiter. Aber alle heißen Spuren verfolgte er selber.«

»Warum reden Sie in der Vergangenheitsform von ihm?«

Der Hofrat strich um die Linien des Ginkgo-Blattes.

»Weil er tot ist.«

»Tot?«

»Man fand ihn am Morgen des vierundzwanzigsten November 1966 erschossen im Zimmer seines Hotels in Buenos Aires. Der Täter wurde nie entdeckt. Am gleichen Tag explodierte hier im Dokumentationszentrum eine Brandbombe. Das Büro und alle Unterlagen wurden völlig eingeäschert, ein Panzerschrank glühte durch. Es war das perfekte Verbrechen – in zwei Teilen, auf zwei Kontinenten. Auch hier in Wien haben wir nie eine Spur gefunden«, sagte der Hofrat Groll.

61

Und der Schnee fiel vor dem halb geöffneten Fenster, lautlos, weiter, weiter, ohne Ende.

Groll erhob sich und füllte die Teetassen nach.

»Nun? Werden Sie langsam meiner Meinung, daß dies ein Fall ist, den man nicht lösen kann?«

»Nicht lösen?« Manuels Augen glühten, sein Gesicht war weiß. »Und ob ich ihn lösen werde! Jetzt erst recht! Jetzt bringt mich nichts mehr davon ab!«

»Ja, Jimmy«, sagte Groll leise.

»Was? Ach – lassen Sie das doch!« Manuels Worte überstürzten sich. »Es gibt nur eine Erklärung dafür, daß Valerie auch auf diesen Bildern ist! Sie war eingeweiht! Vielleicht eine Mitarbeiterin Meerswalds! Vielleicht wußte sie sogar, was mein Vater tat – schließlich hat sie ihn zuletzt getötet. Es sieht also ganz so aus!«

»Eine Sache kann so aussehen und doch ganz anders sein«, sagte Groll.

»Valerie Steinfeld – eine Frau! – tötet Ihren Vater, weil der ein Nervengift herstellt? Manuel!«

»Haben Sie eine andere Erklärung?«

»Eben nicht.«

»Also!«

»Wenn Valerie Steinfeld etwas gewußt hätte, dann hätte auch Gomez es gewußt – und Ihr Vater wäre von den Behörden in Argentinien zur Rechenschaft gezogen worden und nicht von einer alten Frau hier in Wien. Das ist doch Irrsinn!«

»Diese Fotos sind kein Irrsinn! Man kann Neutralität auch übertreiben, Herr Hofrat! Wenn Ihnen schon die Aktivitäten von Gomez und Meerswald bekannt waren, warum haben Sie dann Valerie Steinfeld nicht im November 1966, als Meerswald ermordet wurde …« Manuel brach ab.

»Valerie Steinfeld verhört?« fragte Groll. »Sie haben Ihre Frage schon selber beantwortet, nicht wahr? Weil wir damals noch keine Ahnung hatten, daß sie mit beiden Männern in Verbindung stand. Das erfahre ich heute nacht – durch diese Fotos. Und jetzt können wir Valerie Steinfeld nicht mehr fragen.«

»Mein gottverfluchter Vater«, sagte Manuel. Die Tasse, die er in der Hand hielt, klirrte gegen die Untertasse. Er starrte den Kriminalisten an.

»Warum?« fragte er. »Warum, Herr Hofrat? Warum? Warum hat Nora Hill von Meerswald so gesprochen, als ob er noch lebt?«

»Wahrscheinlich mußte sie lügen. Auch sie wird unter Druck stehen, ganz bestimmt, schon lange.«

»Warum …« Manuel sah Groll hilflos an. »Warum die Lügen … der Terror … die Erpressung … das Gift? Warum die Toten? Warum müssen Menschen einander töten? Ermorden und vernichten – seit Jahrtausenden? Immer perfekter, immer skrupelloser? Warum?«

Groll strich über ein loses Deckblatt der Virginier.

»Beim Menschen«, sagte er, »gelten nicht die gleichen Tötungshemmungen wie bei allen Tieren, die in sozialen Verbänden zusammenleben.«

»Aber weshalb nicht?«

»Ich will es Ihnen zu erklären versuchen, Manuel …« Groll hielt den dünnen Rahmen der Glasscheibe, unter der sich das Ginkgo-Blatt befand, als wolle er sich auf etwas stützen. »Bei den Tieren ist es doch so, nicht wahr: Kommt es zum Kampf mit einem Artgenossen – etwa um ein Weibchen oder um den Besitz eines Reviers –, dann ist schließlich einer der Überlegene …«

»Ja. Und er könnte den andern umbringen! Die Waffen dazu – Zähne, Krallen, Gehörn – besitzt er!« Manuel richtete sich auf. »Aber er tut es nicht!«

Groll nickte.

»Er tut es nicht. Der Unterlegene flieht entweder und wird eine Weile verfolgt – oder er streckt, falls er nicht fliehen kann, die Waffen, mit einer Demuts-, einer Unterwerfungsgeste. Beim Hund kann man das oft genug sehen. Wie unter seinen Vorfahren, den Wölfen, üblich, wirft sich der Besiegte auf den Rücken und bietet dem Sieger die ungeschützte Bauchseite. Mit dem Erfolg, daß beim Sieger automatisch eine instinktive, also eine angeborene Hemmung einklinkt: Er kann einfach nicht zubeißen.« Groll redete eindringlicher. »Natürlich gibt es gelegentlich Unglücksfälle. Ein Hirsch forkelt einen andern zu Tode. Aber das sind Ausnahmen. Auch bei Hundebeißereien gibt es Todesfälle. Das kommt daher, daß solche Hunde, wie es oft bei Haustieren geschieht, diesen oder jenen Instinkt – in unserem Fall den der Tötungshemmung – verloren haben.«

»Und warum ist es beim Menschen anders?« rief Manuel. »Warum hat Valerie Steinfeld meinen Vater umgebracht? Warum ist Meerswald umgebracht worden? Warum hat mein Vater den Tod der ganzen Weltbevölkerung vorbereitet und ermöglicht – ohne Skrupel, ohne Gewissen?«

»Das hat mancherlei Gründe, unter anderem auch schlicht biologische.«

Groll trank wieder. Er trank viel Tee, wenn er nachts schrieb, arbeitete, sprach. »Es fing damit an, daß der Mensch, im Gegensatz zu seinen Affenverwandten, nicht mit den Zähnen kämpft, sondern mit den Händen. Nur Kleinkinder beißen in Angriff und Abwehr. Solange der Mensch noch mit den Händen zupackte oder zuschlug, war kaum mit Todesfällen zu rechnen. Schlimmstenfalls ging es zu wie in einem Krimi, in dem Gangster und Polizisten sich prügeln. Dann aber kamen die Vormenschen auf die Idee, mit Knüppeln und Steinen auf tierische Feinde oder Beute loszugehen – und anschließend aufeinander.« Asche fiel über Grolls Schlafrock, er bemerkte es nicht. »Knüppel und Stein waren der Anfang der Fernwaffen – vom Pfeil und vom Speer über das Gewehr bis zur Fliegerbombe und zur Interkontinentalrakete, zur Bakterienbombe und zum abgesprühten Bazillengift. Die Gegner rückten immer weiter auseinander! Die Beschwichtigungs- oder Unterwerfungsgeste – die geöffnete, unbewaffnet erhobene Hand, die man dem Feind zukehrte – ist längst überhaupt nicht mehr zu sehen!«

»Das genügt mir nicht. Ich …«

»Warten Sie! Die Hauptsache aber ist, daß wir Menschen – wie jene Hunde, die ihre Gegner umbringen – im Lauf unserer Entwicklung eine ganze Reihe von Instinkten verloren haben, weil wir uns sozusagen zu Haustieren unserer selbst machten – und zu dem, was da verschwunden ist, gehört wohl auch die instinktive Tötungshemmung! Indem unser Großhirn die stammesgeschichtlich älteren Hirnteile buchstäblich überwuchert hat, indem es uns die tödlichsten Waffen hat erfinden lassen, sind gleichzeitig jene angeborenen Mechanismen geschrumpft, die ihren Sitz im Zwischenhirn hatten. Und zu ihnen gehörte das alte Gesetz: Du sollst nicht deinesgleichen töten. Kain, lieber Manuel, steckt in jedem von uns. Genügt Ihnen das?«

Manuel nickte.

»Ja, das genügt mir.« Er sprach langsam und sehr deutlich. »Jetzt begreife ich mich selber. Jetzt weiß ich, warum ich nicht aufhören werde, diesen Fall zu verfolgen, auch wenn er unlösbar ist, wie Sie glauben. Nun bin ich der Jäger, der Menschenjäger bin ich nun! Je mehr mich abstößt, was mein Vater getan hat, desto stärker zieht es mich an.«

Das seltsam gespaltene Blatt betrachtend, dachte Groll an zwei Sätze Goethes in dessen ›Campagne in Frankreich‹: ›Ich hatte mir aus Kants Naturwissenschaft nicht entgehen lassen, daß Anziehungs- und Zurückstoßungskraft zum Wesen der Materie gehören und keine von der anderen im Begriff der Materie getrennt werden könne. Daraus ging mir die Urpolarität aller Wesen hervor, welche die unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen durchdringt und belebt …‹

62

Eine Stunde zuvor …

»Ein Bogen altes Papier«, sagte Fedor Santarin.

»Schon brüchig und gelb«, sagte Gilbert Grant.

»Mit der Hand beschrieben.«

»Erste Zeile: ›Pasteur 1870, Seidenraupenseuche‹!«

»Zweite Zeile: ›Erreger Mikroben‹.«

»Dann etwas von Insekten.«

»Und von bakteriellen Toxinen und Schädlingsbekämpfung – oder so ähnlich.«

Grant und Santarin beschrieben das Papier in Manuel Arandas Brieftasche so genau, wie Nora Hill es Jean Mercier hatte beschreiben können, wie dieser es der Besatzung eines seiner Streifenwagen beschrieben hatte, wie ein Mann der Besatzung es Gilbert Grant beschrieb – knapp vor Mitternacht.

»Nein«, sagte der Graf Romath. »Ich habe nie von diesem Papier gehört. Aranda hat nicht mit Landau darüber gesprochen.«

»Sie lügen, Sie alter Päderast«, sagte Grant schwerzüngig. Sein Gesicht war sehr rot, rot waren die Äderchen in den Säuferaugen. Er hielt ein Glas mit Bourbon in der Hand.

»Ich sage die Wahrheit.« Romath tastete nach der Perle an seiner Krawatte. Nein, dachte er, nein. Ich habe genug.

»Graf«, sagte Santarin, charmant lächelnd, »warum streiten Sie es ab? Sie haben doch schon am Nachmittag gehört: Es ist noch ein zweiter Mann im Hotel. Und dieser Mann erklärt, daß Aranda und Landau sehr wohl über jenes Papier sprachen. Ausführlich.«

»Wenn er es erklärt, warum fragen Sie dann noch mich?« Ich wußte ja, es ist Bluff, gar nichts wissen die, dachte Romath.

Die drei Männer saßen im Wohnzimmer von Gilbert Grants hypermodern eingerichteter Villenetage in Hietzing. Große Unordnung herrschte. Zeitungen, Magazine und Kleidungsstücke lagen herum. Flaschen, Gläser und ein Eiskübel standen teils auf dem Tisch, teils auf dem Fußboden, Aschenbecher quollen über.

»Weil unser Mann nicht alles gehört hat. Nur einen Bruchteil. Er wurde gestört. Sie haben in Ihrem Büro Ruhe gehabt, alles zu hören, Graf!« Santarin zupfte an dem Seidentüchlein in der Brusttasche seiner Jacke. Die Wahrheit sah so aus: Der Hauselektriker, der die Abhöranlage installiert hatte, ein williger, billiger und geschickter Arbeiter mit einer schlicht kriminellen Veranlagung, der stets unter Geldnöten litt (er spielte Roulett in Baden), hatte sich tatsächlich häufig in die Leitung eingeschaltet, wenn Manuel Besuch empfing. Der Mann durfte es nie lange tun, es wäre aufgefallen. Er reparierte in diesen Tagen eine kompliziert verlegte Lichtleitung im Vorraum der Telefonzentrale. Wenn die Mädchen viel zu tun hatten, konnte er unbemerkt einen Kopfhörer ans Ohr pressen und für kurze Zeit Gespräche in Manuels Appartement belauschen. Er tat das im Auftrag Grants, der den Auftrag wiederum auf Anregung Santarins erteilt hatte. Santarin traute keinem Menschen auf der Welt. Er mißtraute sogar sich selbst.

Der Hauselektriker, Alfons Nemec mit Namen, sollte den Grafen und dessen Berichte an den Funkwagen überwachen. Er hatte etwas von einem alten Papier und einer Seidenraupenseuche aufgeschnappt und auch die erregten Worte Landaus mitbekommen. Nemec war sofort ins Freie geeilt und hatte das Gehörte, auf einen Zettel geschrieben, dem Mann am Steuer des weißen Chevrolets gereicht, der hinter dem Hotel parkte. Damit war Grants Zentrale informiert, so kam es, daß Romath aufgefordert wurde, seinen Chef zu besuchen …

Aber es war immer noch zu wenig, was Grant und Santarin wußten. Sie mußten mehr wissen, alles. Der Russe wurde noch höflicher.

»Sie antworten nicht, Graf. Ich nehme an, Sie überlegen, was wichtiger ist: das Geld, das Aranda Ihnen bezahlt, damit Sie uns nicht richtig informieren – oder die Freiheit. Was für eine Überlegung! Die Freiheit ist natürlich wichtiger, lieber Graf, immer.«

»Ich bekomme kein Geld von Aranda! Ich schweige, weil ich auf Ihre Verdächtigungen nichts mehr erwidern werde.«

»Und ob Sie werden!« Grant goß sein Glas wieder voll. »Bitten, erwidern zu dürfen, werden Sie, Sie Scheißkerl!« Der Amerikaner ließ ein Stückchen Eis auf den Teppich fallen, seine Hände waren unsicher. Er wies zu einem Schrank. »Da drin liegen die Aussagen von zwei Pagen, beide unter sechzehn, mit denen Sie es getrieben haben, Sie Schwein.«

»Nicht zu vergessen die Aussage des dritten Jungen«, sagte Santarin freundlich. »Der Lehrling in der Blumenhandlung des ›Ritz‹.«

»Der süße Blumen-Karli«, sagte Grant. »So hieß er doch bei Ihnen, nicht wahr? Erst vierzehneinhalb, damals, tck, tck, tck.«

»Die drei Knaben arbeiten inzwischen in anderen Hotels«, sagte Santarin, unerschütterlich liebenswürdig. »Aber sie sind noch in Wien. Sie werden von den kleinen Engeln erpreßt, Graf. Sie bezahlen die kleinen Engel.«

»Ja, mit unserm Geld«, sagte Grant, etwas lallend. »Wir geben es Ihnen. Wenn wir es nicht mehr Ihnen geben, sondern den drei Kleinen direkt und noch eine Prämie dazu, dann gehen sie sofort zur Polizei, erstatten Anzeige und beschwören, daß Sie versucht haben, mit Geld ihr Stillschweigen zu erkaufen.«

»Sie stellten aber dem Blumen-Karli immer noch nach«, sagte Santarin, in seiner Konfekttüte fischend, »und das arme Kind ertrug das einfach nicht mehr! Das arme Kind besprach sich mit den anderen armen Kindern, und gemeinsam kamen sie zu der Ansicht, daß man Sie einfach anzeigen muß.«

Romath ballte die Fäuste.

»Es ist zu schlimm«, sagte Santarin, »daß Sie der Polizei bereits seit Jahrzehnten als abwegig bekannt sind.«

»Ein Verfahren«, sagte Grant, »wurde 1963 durch größte Bemühungen Ihrer guten Anwälte niedergeschlagen, weil sie es so drehen konnten, daß es aussah, als würden Sie von ein paar Minderjährigen erpreßt.«

»Jetzt wird es wieder so aussehen«, meinte Santarin milde, »aber man wird es Ihnen nicht mehr glauben.«

»Diesmal wird man Sie verurteilen«, sagte Grant. »Sie kommen als recht alter Herr ins Zuchthaus. Vielleicht beenden Sie Ihren Lebensabend dort. Wird ein feiner Skandal werden. Direktor eines Wiener Luxushotels. Letzter Sproß einer der bekanntesten Familien Österreichs. Uraltes Geschlecht von Hinterladern!« Er schrie Romath an: »Sie tun, was wir Ihnen jetzt sagen, oder Sie gehen hoch, kapiert?«

Romath fuhr zusammen.

»Nicht doch«, sagte Santarin. »Sie dürfen den Grafen nicht so erschrecken, Gilbert. Sehen Sie, ihm ist ganz schlecht. Etwas zu trinken, Graf?«

»Nein … Was … was wollen Sie von mir?«

»Das Papier«, sagte Santarin.

»Wie soll ich das herbeischaffen?«

»Ah, auf einmal wissen Sie von ihm!« rief Grant.

»Weil Sie von ihm sprachen …«

»Wenn Sie frech werden, kriegen Sie ein paar in die Fresse!« Grant hob einen Arm.

»Gilbert!« sagte der Russe streng. Er wandte sich an den Grafen. »Aranda trägt das Papier noch in seiner Brieftasche. Er wird heute spät heimkommen. Sie fahren jetzt gleich ins ›Ritz‹ zurück. Hier. Nehmen Sie das da.«

Der Russe legte ein Glasröhrchen, welches mit winzigen silbernen Kügelchen gefüllt war, auf den Tisch.

»Was ist das?«

»Ein außerordentlich starkes Schlafmittel, das den Vorzug hat, dennoch recht ungefährlich zu sein. Sobald es seine Wirkung getan hat, ist es im Körper nicht mehr nachzuweisen.«

»Aber …«

»Sie haben uns berichtet, daß Aranda vor dem Schlafengehen immer noch einen Whisky aufs Zimmer bestellt – stimmt’s?«

»Das stimmt …«

»Wo bestellt er den Whisky?«

»Beim Etagenkellner.«

»Großartig. Dann werden Sie zunächst warten, bis Aranda im Hotel ist. Anschließend gehen Sie in die Remise des Etagenkellners im vierten Stock – da wohnt Aranda – und veranstalten eine unangesagte Überprüfung. So etwas ist doch üblich, wie?«

»Ja, gewiß …«

»Sie prüfen so lange, bis Aranda seinen Drink verlangt. Wenn der Kellner dann den Whisky eingegossen hat, lenken Sie ihn ab …«

»Wie?«

»Irgendwie, zum Teufel! Sie fragen etwas. Sie beanstanden etwas. Sie lassen etwas fallen. Der Kellner muß das Glas nur einen Moment aus den Augen lassen. In diesem Moment werfen Sie sechs bis acht von diesen Kügelchen in das Whiskyglas. Sie schmelzen sofort. Das ist alles. Eineinhalb oder zwei Stunden später, wenn Sie sicher sein können, daß er tief schläft, gehen Sie in Arandas Appartement …«

»Das kann ich doch nicht! Die Eingangstür wird versperrt sein, der Schlüssel innen stecken!«

»Wir haben Ihnen gesagt, daß Sie das Nebenappartement nicht vermieten dürfen. Es ist doch leer, nicht wahr?«

»Ja.«

»Na also.« Santarin nahm noch ein Stück Konfekt. Der Brillantring an seiner Hand blitzte rot, grün und weiß, als er die Hand bewegte. »Aranda schläft bei offenem Fenster, das wissen wir. Sie kommen von draußen, über die Balkone. Keinerlei Schwierigkeit. Er wird schlafen, als wäre er tot. Sie holen das Papier – Sie wissen ja jetzt, wie es aussieht, was darauf steht. Sie haben Zeit. Auch wenn der Bogen nicht mehr in der Brieftasche ist – dann suchen Sie ihn eben. In aller Ruhe. Es kann überhaupt nichts passieren. Morgen früh bringen Sie das Papier hierher.«

Romath saß reglos.

»Sie wollen nicht?«

»Was bleibt mir übrig? Sie haben mich in der Hand«, sagte der weißhaarige Hoteldirektor und sah den Russen ausdruckslos an.

»Ich wußte ja, Sie nehmen Vernunft an, lieber Graf.«

»Vernunft, ja«, sagte Romath. Er steckte das Glasröhrchen ein. »Nun möchte ich doch etwas trinken!«

Grant lachte dröhnend und machte einen Drink, den er dem Grafen reichte. Der trank gierig.

»Noch einen, bitte«, sagte er.

»Nein, nein, Sie müssen Auto fahren. Die Straßen sind in einem verheerenden Zustand«, sagte Santarin.

»Aber ich brauche noch …«

»Haben Sie nichts im Büro?«

»Nein. Und in die Bar kann ich nicht gehen oder mir etwas bringen lassen. Das würde auffallen. Ich trinke sonst auch nicht.«

»Hier.« Grant überreichte dem Grafen eine volle Flasche, die er aus einer Wandbar nahm. »Kleine Geschenke erhalten die Freundschaft.«

»Ich danke Ihnen.«

»Verschwinden Sie, los!« sagte der Amerikaner unvermittelt brutal.

»Keine Zeit zu verlieren. Nun hauen Sie schon ab!«

»Gilbert, bitte!« Santarin verzog schmerzlich das Gesicht. Er entschuldigte sich für den Amerikaner, begleitete den Grafen in den Vorraum, half ihm in den Mantel und wünschte ihm alles Gute. Im Stiegenhaus wartete er, bis Romath die Eingangstür erreicht hatte. Dann drückte er auf den elektrischen Öffner. Die Tür fiel wieder ins Schloß. Bald darauf startete ein Wagen.

Santarin ging in Grants Wohnung zurück. Der massige Amerikaner lag in einem Sessel, die dicken Beine von sich gestreckt, ein Glas in der Hand. Er sagte mühsam: »Jetzt wird es klappen, verflucht noch mal.«

»Hoffentlich.« Santarin sah seinen Kollegen ernst an. »Dieses elende Saufen! Sie gehen noch drauf dabei! Es ist schrecklich für mich, Ihren Verfall miterleben zu müssen.«

»Ich kann es nicht lassen, das wissen Sie doch.«

»Dann müssen Sie eine Kur machen.«

»Ich kann das alles aber nur noch mit Whisky aushalten.«

»Wieso? Was ist denn passiert?«

»Die Menschen«, sagte Grant lallend. »Die Menschen tun mir leid.«

»Das ist doch besoffener Quatsch!«

»Nein, Fedor, nein …« Der Amerikaner hatte Tränen in den Augen.

»Sie und die Menschen leid tun«, sagte Santarin. »Das ist ja ein Witz, Als sie in Chicago bei diesem Syndikat Geldeintreiber waren und Kunden, die nicht zahlen wollten, halbtot schlugen, taten Ihnen da die Menschen leid?«

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