»Mut! Einmal, als wir uns schon sehr gut kannten und er mir vertraute, war er dabei, als Valerie sagte, sie höre BBC. Da erzählte er dann, wie er sie an diesem ersten Gerichtstag gefunden hatte.« Der Mann, dem ein Wachhund in einem Konzentrationslager die rechte Gesichtshälfte zerfleischt und das rechte Ohr abgebissen hatte, blickte ein Papier an und lachte. »Wie ordentlich es damals zuging bei den Gerichten!« Manuel las, am Ende des in Maschinenschrift übertragenen Stenogrammprotokolls:

Ende: 12 Uhr 30

Dauer: 5 halbe Stunden

Gebühr: RM 21.40

2 Ausfertigungen: RM 4.80 (je RM 2.40)

Zusammen: RM 26.20

»Das hat dieser Trampel getippt, Gloggniggs Stenographin, das Fräulein Bohnen«, sagte Forster. »Ich sehe sie manchmal. Drei große Kinder hat sie. Frau Senatspräsidentin ist sie.«

»Nein!«

»Wenn ich es Ihnen sage! Sie wohnt nur drei Straßen von hier, oben beim Türkenschanzpark. 1945, im August, hat sie geheiratet. Einen sehr netten, anständigen Richter …«

»Herr Doktor, Sie sind damals eher ernst gewesen, obwohl die Verhandlung doch glänzend verlief. Warum?«

»Weil ich wußte, daß es jetzt kein Zurück mehr gab. Eine paradoxe Reaktion. Nun war alles in Fluß. Wenn etwas schiefging, waren die Folgen nicht absehbar – für keinen von uns.«

»Und wie verliefen die Untersuchungen?«

»Das weiß ich eben nicht mehr genau. Irgendwann im Mai wohl fanden sie statt.«

»Erst im Mai – so spät?«

»Wie ich Ihnen schon sagte – alle Ämter und Behörden waren hoffnungslos überfordert in jener Zeit. Unmassen von Arbeit, der größte Teil der Männer bei der Wehrmacht … Die Blutgruppenuntersuchung erfolgte, glaube ich, etwas früher. Sicherlich weiß Herr Landau noch, was damals passiert ist und wann. Ich erinnere mich nur, daß die nächste Verhandlung ein neuer Richter führte – nicht mehr dieser Gloggnigg.«

»Wieso nicht Gloggnigg?«

»Der wurde bald nach dem ersten Termin befördert und nach Berlin versetzt. Soll dort noch sehr gewütet haben.«

»Wissen Sie etwas über seinen weiteren Weg?«

»Verschwunden nach Kriegsende. Tot vielleicht. Vielleicht untergetaucht. Ich habe nie mehr etwas von ihm gehört.«

Rasch zog Manuel die Fotografie seines Vaters aus der Brieftasche und legte sie Forster hin. Er hatte das Bild auch Nora Hill und Martin Landau gezeigt. Sie hatten erklärt, nie einem Mann begegnet zu sein, der Manuels Vater ähnelte, so wie er auf dem Foto zu sehen war. Manuel fuhr fort, das Bild zu präsentieren. Er war entschlossen, jede noch so kleine Chance wahrzunehmen.

»Das ist Ihr Vater?« fragte Forster.

»Ja. Erinnert Sie das Bild an jemanden, den Sie im Krieg hier kannten – an diesen sadistischen Gloggnigg zum Beispiel?«

Forster betrachtete das Foto genau.

»Warum sagen Sie nichts?«

»Es ist zum Verrücktwerden«, murmelte der Anwalt. »Ich habe dieses Gesicht schon einmal gesehen …«

»Was?«

»… aber es ist nicht Gloggnigg, da bin ich ganz sicher.«

»An wen erinnerte Sie mein Vater dann?«

Forster überlegte lange. Endlich reichte er das Bild kopfschüttelnd zurück.

»Es tut mir leid, ich weiß es nicht.«

»Aber Sie fühlen sich an jemanden erinnert, den Sie kannten?«

»Ja«, sagte Forster. »Ja … das tue ich bestimmt …«

»An wen, Doktor? An wen? Denken Sie nach, bitte!«

»Und wenn Sie mich totschlagen«, sagte Forster, »ich habe keine Ahnung mehr.«

15

WARSCHAU + 22 + 1 + 2030 UHR + +

IRENE WALDEGG GENTZGASSE 50 A + WIEN 18 + OESTERREICH + + HERZLICHEN DANK FÜR SCHNELLE HILFE UND TELEGRAMM + FREUE MICH SEHR BEI IHNEN WOHNEN ZU DUERFEN + EINTREFFE MIT CHOPINEXPRESS 27. JANUAR + GRUSS DANIEL STEINFELD + + +

16

Bianca Barry trug einen hellen, sportlich geschnittenen Nerz, helle Stiefel und ein Tuch um das Haar. Sie stand am Straßenrand vor dem großen Tor 11, dem Hauptportal des Zentralfriedhofs. Es schneite nicht an diesem Nachmittag, aber die Wolken, die den Himmel bedeckten, waren dunkel, und ein eisiger Ostwind wehte.

»Das ist sie«, sagte Irene. Sie saß neben Manuel, der den blauen Mercedes lenkte, und sie trug gleichfalls Stiefel, ein Kopftuch und ihren Breitschwanzpersianer.

»Pünktlich wie wir«, sagte Manuel. Es war genau 15 Uhr an diesem Donnerstag, dem 23. Januar. Manuel trat auf die Bremse und ließ den Wagen vor der Frau des Malers ausrollen. Sie öffnete schnell den Schlag hinter Irene und glitt in den Fond.

»Guten Tag«, sagte Bianca Barry hastig. »Fahren Sie gleich weiter, bitte.«

»Wohin?«

»Immer geradeaus.« Bianca reichte Irene, die sich halb umgedreht hatte, die Hand. »Es hat Sie gewiß erstaunt, daß ich Sie gerade hier treffen wollte, aber der Zentralfriedhof liegt auf dem Weg …«

»Weg wohin?« fragte Manuel.

»Nach … Ich will Ihnen etwas zeigen … Es ist noch weit dahin. Die Straßenbahn, der Einundsiebziger, hat eine Station weiter Endhaltestelle – bei Tor drei. Dort sind aber kaum Menschen, man fällt mehr auf als beim Hauptportal. Darum bin ich schon hier ausgestiegen. Hier ist immer etwas los.«

»Und Ihr Wagen?« fragte Irene. »Zum Begräbnis sind Sie doch in Ihrem Wagen gekommen?«

»Mit dem ist Roman nach Linz gefahren. Zu dieser Galerieeröffnung. Wir haben nur ein Auto. Damals, als Ihre Tante begraben wurde, war Roman für zwei Tage nach Zürich geflogen. Da konnte ich den Wagen benützen.«

Der Mann neben dem Fahrer des grauen Peugeot, der Manuels Mercedes in großem Abstand folgte, sprach russisch in ein Handmikrophon: »Lesskow … Ich rufe Lesskow … Hier ist Tolstoi …«

»Wir hören euch, Tolstoi«, ertönte eine Stimme aus einem Lautsprecher unter dem Armaturenbrett. Heute hatten die Sowjets die Bewachung Manuels übernommen. »Was ist los?«

»Sie fahren weiter Richtung Flughafen …«

»Ihr folgt ihnen, Tolstoi. Wohin sie auch fahren. Bei dem geringsten Zwischenfall gebt ihr sofort Alarm und greift ein …«

»Verstanden, Lesskow, Ende.«

In Manuels Wagen hatte Bianca Barry eine Zigarette angezündet. Sie rauchte nervös.

»Nun beruhigen Sie sich aber«, sagte Irene. »Ihr Mann ist doch nicht in Wien!«

»Sie wissen nicht, wie eifersüchtig er ist. Vielleicht hat er jemanden beauftragt, mich zu beobachten …«

»Unsinn!«

»Ja, natürlich Unsinn. Ich habe sehr achtgegeben. Niemand ist mir gefolgt. Diese ganze Geschichte hat mich nur so sehr aufgeregt. Und dann kamen auch noch Sie, und ich mußte Ihnen etwas vorlügen. Glauben Sie mir, ich habe den Tag herbeigesehnt, an dem ich Sie wiedersehen konnte, um die Wahrheit zu erzählen über Heinz und mich …«

»Manuel war durch die Mitte des kleinen Ortes Schwechat, der umgeben von Industrieanlagen lag, gefahren und erhöhte nun auf einer breiten, neuen Straße, welche schnurgerade lief, die Geschwindigkeit. Das Gelände war flach. Plötzlich ertönte ein donnerndes Brausen. Manuel zog den Kopf ein und blickte kurz nach oben. Sehr groß, in geringer Höhe, flog eine Maschine über die Straße hinweg, Sekunden vor dem Aufsetzen. »Da drüben liegt der Flughafen«, sagte Bianca. Manuel sah, im Schnee, Hallen, parkende Maschinen und Hangars. Die landende Maschine verschwand hinter einem Schneeberg.

»Immer noch weiter?« fragte Manuel.

»Ja.« Bianca war ruhiger geworden. »Das, was ich Ihnen zeigen will, liegt noch ein ganzes Stück entfernt. Der Ort … Es klingt pathetisch und lächerlich … Für mich ist er unvergeßlich geblieben, dieser Ort! Sie sind die ersten, denen ich erzähle, was dort geschah. Es ist eine Geschichte, die mich und Heinz angeht, nur uns zwei! Nie werde ich sie vergessen. Ihnen will ich sie verraten. Sie haben von dem Prozeß gehört, der damals geführt wurde. Sie sollen wissen, was Heinz und ich in dieser Zeit taten, was … was an jenem Ort geschah … Aber ich muß der Reihe nach erzählen. Das passierte erst im Sommer 1943. Vorher, Ende 1942 und im Winter 1943, zum Jahresanfang, da war noch alles in Ordnung, da war alles noch wunderbar …«

17

»Ein gesegnetes Weihnachtsfest wünsche ich dir, Heinz!«

»Und ich dir, Bianca!«

»Und daß alles gutgeht!«

»Bestimmt geht alles gut. Die nächsten Weihnachten feiern wir richtig. Da kommst du zu mir, oder vielleicht komme ich zu euch. Da ist dann längst alles vorbei und der Prozeß zu Ende, und ich bin Arier, und dein Vater wird nicht mehr böse auf mich sein!«

Diese Worte wurden gegen 19 Uhr 15 am 20. Dezember 1942 geflüstert, ja, geflüstert, von Mund zu Mund. So dicht standen Bianca und Heinz unter den Arkaden der uralten Minoritenkirche. Hier, in fast völliger Finsternis, durch keinen Menschen gestört, trafen Bianca und Heinz einander seit mehr als einem Monat dreimal wöchentlich, stets um dieselbe Zeit.

Zwei Zufälle waren ihnen zu Hilfe gekommen.

Heinz Steinfeld war als Rollenpendler vom Sechsten in den Neunten und Ersten Bezirk versetzt worden. Die Kinos im Sechsten Bezirk gehörten der gleichen Verleihkette an wie jene, in denen er nun arbeitete. Eine reine Austauschmaßnahme hatte das für seine Arbeitgeber bedeutet – für ihn das Glück! Denn Bianca war, wohl als Ermunterung und Lohn für scheinbar so einwandfreies Betragen, aber auch, damit man sie noch mehr unter Kontrolle hatte, von der Leiterin ihrer BDM-Gruppe zu einem Schulungskurs für Mädelscharführerinnen geschickt worden. Mädelschaftsführerin war sie schon gewesen, als man sie degradierte. Nun sollte sie plötzlich noch weiter befördert werden. Drei Monate dauerte der Lehrgang. (Biancas Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen. Der Gauredner Egmont Heizler tat alles, um die Schmach zu tilgen, die seine Tochter ihm angetan hatte.) Die Abende fanden in einem alten Palais an der Herrengasse nahe der Freyung statt. Bianca konnte bei den schlechten Verkehrsverhältnissen immer wenigstens zehn Minuten erübrigen, um in die finsteren Arkaden der Minoritenkirche zu eilen, Heinz die Fahrt von einem Kino im Ersten zu einem Kino im nahen Neunten Bezirk, gerade bevor Biancas Schulungskurs begann, für dieselbe Zeit unterbrechen. Er fuhr vorher und nachher nur um so schneller. Das alte Rad mit den grauen Schachteln der Filmrollen, die er transportierte, begleitete ihn stets in die Finsternis der Arkaden.

Bis es zu diesem wundervollen Zusammentreffen von Umständen gekommen war, hatte Biancas beste Freundin, der sie vertrauen konnte, Heinz regelmäßig an einer bestimmten Stelle im Sechsten Bezirk zu bestimmter Zeit einen Brief Biancas übergeben, und er wiederum hatte der Freundin einen für Bianca bestimmten Brief in die Hand gedrückt. Jeden zweiten Tag traf er mit der Freundin zusammen, eine Menge Briefe wurden geschrieben, voll Liebe und mit Rührung, Herzklopfen und Angst wurden sie gelesen und danach stets sofort vernichtet. Nur kurze Zeit war die persönliche Verbindung abgerissen gewesen. Nun bestand sie wieder, enger denn je zuvor.

Diese Minuten, die Bianca und Heinz dreimal wöchentlich unter jenen Arkaden verbrachten, in Dunkelheit, Kälte, oft in Regen, waren für sie die schönsten und kostbarsten. Sie flüsterten sich Treueschwüre und Liebesbeteuerungen ins Ohr, sie umarmten, küßten und streichelten einander.

»Hier ist mein Geschenk für dich«, flüsterte Heinz und reichte Bianca ein kleines Päckchen.

»Und hier das meine …« Sie gab ihm ein größeres Päckchen.

»Nicht jetzt aufmachen, später!«

»Die Klage ist schon eingereicht«, verkündete Heinz glücklich.

»Und du glaubst …«

»Was denn? Du nicht? Natürlich geht jetzt alles gut! Ich bin nur wütend darüber, daß meine Mutter diesen Prozeß nicht früher geführt hat.«

»Deine Mutter hat es schwer, Heinz …«

»Ja, sicherlich. Ich bin ja schon ruhig. Ach, Bianca, daß wir uns jetzt immer sehen können! Jede Nacht vor dem Einschlafen schaue ich das Foto von dir an, das du mir geschickt hast.«

»Das tue ich auch, Heinz. Mit dem Foto von dir. Ich habe es gut versteckt, immer.«

»Ich auch, natürlich.«

»Wenn ich nicht zu Hause bin, trage ich es bei mir …«

»Das ist leichtsinnig! Wenn es dir aus der Tasche fällt …«

»Es fällt mir nicht aus der Tasche. Willst du wissen, wo ich es habe?«

»Ja … ja …« Er preßte sich enger an sie, er spürte ihren heißen Atem im Gesicht, als sie sprach.

»Greif in meine Bluse … in die linke Hälfte vom Büstenhalter … ja … da … oh, Heinz …«

Die Minoritenkirche liegt an der Rückfront des Bundeskanzleramtes, das sich am Ballhausplatz befindet und damals Sitz des Reichsstatthalters war. Hier sieht man einen Teil des ältesten Wien – winzige Gäßchen, schöne Palais mit seltsamen Gestalten aus verwittertem Stein an den Fassaden. Die Kirche war im Lauf der Jahrhunderte zum Teil zerstört worden. Ein Eck des Daches fehlte, ebenso der oberste Teil des Turms, der bei einer Türkenbelagerung abgeschossen worden war. In die Wände des Arkadenganges hatten ungezählte Verliebte ihre Namen oder ihre Initialen in den Stein gekratzt. Auch Heinz hatte das getan. Da, wo sie nun standen, gab es in Kopfhöhe ein primitives Herz, darin die Buchstaben B. H. und H. S., darunter die Jahreszahl 1941, danach einen waagerechten Pfeil, und dieser deutete auf eine kleine liegende 8 – das mathematische Zeichen für ›Unendlich‹. 1941 hatten sie einander kennengelernt, und bis in die Unendlichkeit hinein wollten sie einander lieben.

Heinz streichelte Biancas Brustwarze. Sie stöhnte leise, und ihre Hände wühlten in seinem blonden, kurzgeschnittenen Haar.

»Nicht, tu das nicht, Heinz … bitte, nicht … Ja, ja … tu es weiter …«

»Ich halte das nicht mehr aus, Bianca, ich will …«

»Ich doch auch! Wenn du mich nur anrührst, werde ich halb verrückt!«

»Wann, Bianca, wann?«

»Der Winter geht vorüber … Wenn es wieder Frühling wird … Wenn es warm ist …«

»Ja, ja …«

»Dann, Heinz, dann …«

»Ich muß weg.«

»Ich auch.«

»Vor dem Heiligen Abend sehen wir uns nun nicht mehr – du hast ja keinen Schulungsabend mehr.«

»Nein, aber am achtundzwanzigsten wieder.«

»Ich werde hier sein wie immer. Und, Bianca, am Heiligen Abend, um diese Zeit, da gehe ich noch einmal aus dem Haus und schaue in den Himmel … Tu das auch … Vielleicht ist es klar, und es sind Sterne da …«

»Ja, Heinz … Dann werden wir dieselben Sterne sehen und aneinander denken …«

»Und wenn nur Wolken da sind, sehen wir dieselben Wolken.«

»Lieber Himmel, liebe Wolken, liebe Sterne, lieber Heinz …«

Sie umarmten und küßten einander noch einmal lange. Dann hastete Bianca fort, und Heinz wandte sein schwer bepacktes Fahrrad und schob es nach der anderen Richtung durch die Arkaden. Jetzt mußte er sich beeilen! Er sauste wie ein Rennfahrer über die abendlich verdunkelten Straßen zu dem Kino im Neunten Bezirk. Er schaffte es rechtzeitig wie immer. Der Vorführer in seiner Kabine nahm ihm die Kartons ab.

»Warte ein paar Minuten, dann geb ich dir die nächsten zwei Rollen. Die eine ist noch nicht ganz abgelaufen.« Aus dem Kinosaal klangen die Stimmen von Schauspielern. Der linke Vorführapparat arbeitete summend. In die rechte Maschine legte der ältere Mann einen neuen Akt ein.

Heinz setzte sich auf eine kleine Bank und öffnete das Päckchen, das Bianca ihm geschenkt hatte. Ein grauer, dicker Wollschal mit Fransen, ein paar dicke, graue Wollhandschuhe lagen darin, ein Tannenzweig und ein Kuvert. Heinz riß es auf, nahm den Briefbogen heraus und las: ›Mein Liebster! Du bist doch immer nachts unterwegs, und da ist es so kalt. Darum bekommst Du diese Geschenke. Ich habe sie selber gestrickt – heimlich, zu Hause, vor dem Einschlafen. Der Schal war ja leicht, aber die Finger der Handschuhe! Dazu habe ich schon meine ganze Liebe gebraucht. Fröhliche Weihnachten, geliebter Heinz, Deine treue Bianca.‹ Und darunter: ›P. S. In großer Sehnsucht.‹

Zu dieser Zeit saß Bianca Heizler in einem Saal des alten Palais an der Herrengasse. Drei Dutzend Mädchen saßen um sie herum. Vorn, an der Stirnseite des Saals, vor einer herabhängenden Hakenkreuzfahne und einer Hitlerbüste aus Gips, stand ein älteres Mädchen auf einem Podest und deklamierte voller Begeisterung ein Gedicht aus einem ledergebundenen Band: »Mein Führer, sieh, wir wissen um die Stunden, in denen du hart an der Bürde trägst – in denen du auf unsre tiefen Wunden die liebevollen Vaterhände legst und noch nicht weißt: wie wirst du uns gesunden …« Bianca saß seitlich. Vorsichtig und langsam öffnete sie das kleine Päckchen, das Heinz ihr gegeben hatte. Eine Schachtel lag darin. Bianca hob den Deckel ab. In gelbe Watte gebettet erblickte sie einen Silberring, der eine Emailleplatte trug wie einen flachen Stein. Die Platte zeigte eine phantastisch gezeichnete Schmelze in Rot, Grün, Weiß, Gelb, Schwarz, Blau und Lila.

Eine kleine Karte lag in der Schachtel. Bianca las, vorgeneigt, was Heinz dazugeschrieben hatte, während die Leiterin des Kurses weiter die Hymne an den Führer vortrug: »… darum ist unsere Liebe auch so groß, darum bist, Führer, du der Anfang und das Ende …«

›Meine geliebte Bianca! Diesen Ring haben wir doch vor ein paar Monaten in dem Geschäft gesehen, und er hat Dir so gefallen. Also habe ich ihn damals schon angezahlt und jetzt endlich abgestottert …‹

Wo hatte er das Geld her? überlegte Bianca. Ach, er wird es sich zusammengespart haben von seinem lächerlichen Lohn …

»… wir glauben dir, treu und bedingungslos …«, trompetete die BDM-Führerin vorne, unter der Fahne.

›… Heb den Ring auf, versteck ihn, ich weiß, jetzt kannst Du ihn höchstens tragen, wenn wir uns treffen. Aber noch etwas Geduld, nur noch etwas Geduld, und Du wirst ihn immer tragen können, solange Du mich so liebst wie Dich Dein Heinz.‹

»… und unser Werk des Geistes und der Hände ist die Gestaltung unseres Dankes bloß!« endete die BDM-Führerin.

Mit einem Lächeln schob Bianca Heizler den Ring auf einen Finger der linken Hand …

18

»… und ich trage ihn noch immer, das ist er«, sagte Bianca Barry, 27 Jahre später, während sie ihre linke Hand hochhielt. Manuel wandte kurz den Blick von der Straße, über welche der Schnee wehte, Irene betrachtete den Ring länger.

Manuel bemerkte, daß die Straße schmäler wurde. Häuser tauchten auf, der Eingang einer Ortschaft. Ein Schild: FISCHAMEND. Eine Brücke über einen zugefrorenen Bach. Gleich dahinter ein Tor durch einen hohen Turm mit Zinnen und Fenstern und einer Haubenkuppel.

»Jetzt sind wir gleich da«, sagte Bianca. Manuel hatte das Tor passiert.

»Halten Sie da drüben.«

Sie befanden sich auf einem großen, langgestreckten Platz, der von niedrigen Häusern gesäumt wurde. Die Hauptstraße führte durch den Ort weiter. Manuel bog nach rechts und blieb stehen.

»Steigen wir aus«, sagte Bianca.

Sie traten ins Freie. Die Luft war hier sehr rein und schneidend kalt. Als Manuel den Wagenschlag an seiner Seite absperrte, kam ein grauer Peugeot, in dem zwei Männer saßen, durch die Turmeinfahrt gerollt und fuhr den großen Platz ein Stück weiter hinauf, bevor auch er hielt. Niemand stieg aus.

Eine Falle? überlegte Manuel kurz. Oder war das einer jener Wagen, die ihm immer folgten?

»Das ist ein uralter Ort«, sagte Bianca. »Der Turm da entstand im elften Jahrhundert.«

Irene wies auf ein sauber und gepflegt aussehendes kleines, einstöckiges Gebäude. In geschwungenen weißen Neonleuchtbuchstaben war über den unteren Fenstern das Wort MERZENDORFER zu lesen. Das Haus hatte eine große geöffnete Einfahrt. Man sah einen verschneiten Hof, in dem alte Bäume standen.

»Ein berühmtes Feinschmeckerlokal für Fischliebhaber«, erklärte Irene. »Im Sommer sitzt man im Freien, unter den Kastanienbäumen, unter Blumenranken, die sich an Drähten entlangziehen. Der Ziehbrunnen da links, der ist gewiß auch uralt. Wollten Sie hierher mit uns, Frau Barry?« Die Frau des Malers hörte nicht. Sie starrte ein Haus in der Mitte des Platzes an. Dort gab es ein ›Kolonialwarengeschäft‹.

»Frau Barry!«

Sie wandte den Blick nur langsam von dem Geschäft fort.

»Ja, bitte?«

»Ich sagte, wollten Sie mit uns zum ›Merzendorfer‹ …«

»Nein. Hierher, auf diesen Platz. Und dann noch ein Stück weiter.« Sie wies mit der ausgestreckten Hand nach Norden. »Da hinten ist die Station der Hainburger Bahn. Und hinter der Bahn gibt es eine Fabrik für Lacke. Ziemlich große Fabrik. Wurde nach dem Krieg neu aufgebaut. Im Frühsommer 43 haben sie Heinz da dienstverpflichtet. Als Hilfsarbeiter.«

»Hilfsarbeiter? Aber er verstand doch etwas von Chemie!«

»Nicht von organischer. Oder zu wenig. Er schuftete hier wie die Zwangsarbeiter, wie die Gefangenen.«

»Hier?« Manuel sah Bianca an. »Aber das ist doch …«

»Weit weg von der Gentzgasse, bei Gott! Heinz mußte jeden Morgen um fünf Uhr aufstehen und mit Straßenbahn, Stadtbahn und Hainburger Bahn fahren. Die Lage war damals schon kritisch. Nach Stalingrad forderte Goebbels den Totalen Krieg. Auch Frauen mußten in die Fabriken. Und niemand konnte sich aussuchen, wohin er gesteckt wurde.«

Der Peugeot stand immer noch reglos, mit abgestelltem Motor. Die beiden Männer am Steuer sahen die drei Menschen an, nur Manuel bemerkte es.

Irene fragte: »Ist das die Fabrik gewesen, in der …«

»Ja«, sagte Bianca Barry, »diese Fabrik, jetzt neu aufgebaut, wurde bei einem der schweren Angriffe auf das Industriegebiet hier und weiter oben bei Schwechat getroffen und flog in die Luft. Da drüben …« – wieder wies sie mit der Hand – »… ist Heinz ums Leben gekommen. Aber um Ihnen das zu sagen und zu zeigen, habe ich Sie natürlich nicht hergebracht. Kommen Sie mit mir. Sie werden gleich alles verstehen«, sagte Bianca Barry, einen letzten Blick auf das ›Kolonialwarengeschäft‹ werfend. Sie ging voraus, die Hauptstraße hinauf, zwischen den niederen Häusern weiter. »Entschuldigen Sie mich einen Moment«, sagte Manuel. »Ich muß telefonieren.«

Damit betrat er schon die Einfahrt zu dem Restaurant ›Merzendorfer‹. Er rief zweimal, bevor ein Kellner erschien. Um diese Zeit des Tages war es hier still. Manuel äußerte seinen Wunsch, der Kellner führte ihn in ein kleines Büro, in dem ein Telefonapparat stand, und ließ ihn allein.

Hofrat Wolfgang Groll meldete sich sofort, nachdem der Beamte in der Telefonzentrale des Sicherheitsbüros die Verbindung hergestellt hatte. Manuel sagte, wo er sich befand und in welcher Gesellschaft.

Groll unterbrach ihn: »Und ein grauer Peugeot mit zwei Männern ist Ihnen gefolgt.«

»Woher wissen …«

»Unser Freund Santarin hat angerufen und mich beruhigt. Das sind seine Leute. Die passen auf Sie auf. Wir können ja leider niemanden ständig zu Ihrem Schutz …«

»Ja, ja, ich weiß. Und es war sicher Santarin?«

»Sicher«, sagte Groll. »Ich rief zurück. Was machen Sie da unten, Manuel? Was will diese Bianca Barry Ihnen zeigen?«

»Keine Ahnung. Ich erzähle es Ihnen, wenn ich nach Wien zurückkomme …«

19

Weiß, weiß, weiß war alles in der bizarren Au-Landschaft: die uralten Bäume, die Weidenstrünke, das dichte Unterholz; die zugefrorenen Altwassertümpel; die Sumpfwiesen zu beiden Seiten der breiten, freigeräumten Allee, die von der Hauptstraße in Fischamend fort zur Donau führte. Erstarrt war diese Welt, unheimlich und faszinierend. Hier wehte kein Wind.

Sie gingen nebeneinander, Bianca in der Mitte. Die Frau in dem hellen Nerzmantel sah sich um, wie man sich, träumend, auf einer Straße umsieht, die zurück in die Jugend führt.

»Sie haben die Allee freigeräumt«, sagte Bianca. »Viele Gäste vom ›Merzendorfer‹ machen einen Spaziergang hinunter zum Wasser. Und die Fischer kommen mit ihren Motorrädern vom Strom herauf. Damals gingen sie noch zu Fuß, die alten Männer, die hier hausten. Es ist alles noch wie damals, alles … Und ich erkenne alles wieder … jeden Baum, jeden Tümpel, die Büsche ..«

Über Bianca hinweg sahen Irene und Manuel einander an. Sie bemerkte es nicht. Mehr und mehr versank sie in Erinnerung.

»Ich war schon lange nicht hier … bestimmt zwei Jahre. Früher bin ich oft hergekommen. Und ich ging immer diese Straße hinunter zum Strom …«

Die Bäume wurden niedriger, das Unterholz wurde dichter. Die zwei Russen aus dem Peugeot waren am Anfang der Allee stehengeblieben und sahen den drei Menschen nach, die sich mehr und mehr von ihnen entfernten.

»Damals«, sagte Bianca, »war es Sommer. Anfang Juni 1943. Schon irre heiß. An diesem Sonntag hatte Heinz drüben im Werk Luftschutzdienst. Mit ein paar anderen. Eine Routinesache, jeder kam immer wieder dran. Es gab noch keine Luftangriffe auf Wien. Die Männer hatten nichts zu tun, es machte nichts, wenn einer einmal wegging …«

Wir müssen ganz nahe am Wasser sein, dachte Manuel. Er konnte es riechen.

»Heinz und ich fanden das herrlich. Als mein Kursus in der Herrengasse beendet war, hatten wir immer neue Treffpunkte gesucht und gefunden – in Stadtbahnunterführungen, einsamen Parks, Kirchen. Und immer neue Ausreden und Alibis. Meine Freundin half mir sehr, auf sie konnte ich mich verlassen. Inge hieß sie. Inge Pagel. Sie half mir auch damals und hier …«

»Wie?« fragte Irene.

»Ich war früher im Sommer mit Heinz immer nach Klosterneuburg hinauf an die Donau gefahren«, sagte Bianca. Und erklärend an Manuel gewandt: »Nördlich von Wien. Mein Vater hatte in diesem Juni 43 gerade eine große Vortragsreise, quer durch Österreich. Ich war mit Mutter allein. Ich sagte, Inge und ich würden nach Klosterneuburg fahren an jenem Sonntag. Inge hatte auch einen Freund. Mit dem fuhr sie wirklich hinauf. Ich nahm die Hainburger Bahn und fuhr hierher … In einem Monat begannen meine Ferien! Dann konnte ich Heinz öfter hier treffen, viel öfter … Er würde dann eben mehr Luftschutzdienst haben an Sonntagen – den von anderen Arbeitern übernehmen! Oder ich konnte auf ihn warten, um fünf Uhr war er mit der Arbeit fertig. Zu Hause wollte er erzählen, daß er Überstunden machen mußte. Es war alles schon geplant. Aber dieser sechste Juni, dieser Sonntag, das war das erste Mal. Ich kam gegen zehn Uhr an. Heinz erwartete mich nicht am Bahnhof, sondern hier in dieser Allee, er hatte mir den Weg genau erklärt. Niemand sollte uns sehen. Und da gingen wir dann, Hand in Hand, heiß war es, ein wunderschöner Tag, keine Wolke am Himmel … Als wir zum Strom kamen, lag da das Boot eines Fischers, angebunden an einem Pflock … Mein Gott«, sagte Bianca, »schauen Sie doch, da liegt wieder ein Boot …«

Sie waren nun durch gefrorenes Schilf geschritten und standen am Ufer der Donau, deren Wasser grau, träge und langsam vorbeifloß. Man sah nicht den ganzen Strom, denn direkt gegenüber, keine zwanzig Meter entfernt, erstreckte sich eine lange, mit Gebüschen und Bäumen bewachsene schmale Insel. Auch sie war völlig weiß und in Schnee versunken. »Wir nahmen das Boot und ruderten hinüber«, sagte Bianca, und ihre Stimme klang atemlos, und ihre grauen Augen waren nun dunkel. »Keinen Menschen sahen wir, nicht einen einzigen. Die Luft glühte … Ich war so aufgeregt wie noch nie in meinem Leben. Und Heinz war es auch, genauso aufgeregt wie ich …«

20

Knirschend glitt der alte Kahn ein Stück den Strand der Insel empor. Heinz sprang an Land und half Bianca beim Aussteigen. Sie hielt vorsichtig eine Tasche, in welcher sich der Tagesproviant, den ihre Mutter bereitet hatte, und ihr Badeanzug befanden. Bianca trug ein blaues, ärmelloses Kleid, Heinz kurze Hosen, Sandalen und ein weißes Hemd. Eine Badehose hatte er in der Hand. Nun zog er das Boot weit auf den Sandboden der Insel. Saftig grün leuchteten das Gras und die Blätter des Unterholzes, silbern und hell die Blätter der alten Bäume. Bianca sah, jenseits der kleinen Insel, den breiten Strom, das andere Ufer, Auwälder, Schornsteine und Fabriken, weit, weit fort das alles, im glitzernden Sonnenglast dieses Tages.

»Komm, wir gehen da hinüber«, sagte Heinz. Er schritt durch den Sand voraus auf eine Stelle mit hohem Gras zu. Sie folgte ihm, und ihr Herz schlug bis zum Hals.

»Hier ist es schön. Ganz weich … und keiner kann uns sehen vom Ufer …« Er trampelte eine Stelle glatt. Dann richtete er sich auf. Sie stand dicht vor ihm. Ihr Blick suchte den seinen. Er errötete.

»Was ist? Wir wollen doch schwimmen … oder nicht?«

»Doch, natürlich. Nur …«

»Nur was?«

»Du mußt dich umdrehen, wenn ich mich ausziehe.«

»Ja«, sagte Heinz. Während er schon sein Hemd aufknöpfte, wandte er ihr den Rücken. Er zog das Hemd über den Kopf. Er streifte die Hose ab, die Unterhose, die Sandalen.

Bianca entkleidete sich gleichfalls. Sie bemerkte, daß ihre Hände zitterten, als sie den Büstenhalter öffnete, als sie das Höschen herabzog, ihre Schuhe abstreifte. Laut fühlte sie ihr Herz klopfen, so laut! Mit einem jähen Entschluß drehte sie sich um. Im gleichen Moment wandte auch Heinz sich ihr zu. Sie standen einander gegenüber, völlig nackt, von der Sonne beschienen. Sie sahen einander mit flackernden Augen an. Dann glitt sein Blick über ihre vollen Brüste tiefer, den ganzen Körper hinab. Auch sie betrachtete ihn, bemerkte seine Erregung. Ein heftiger Schauer durchrieselte ihren Körper.

»Schön …«, stammelte Heinz. »So schön bist du …«

Er streckte die Arme aus und zog sie an sich. Sie fühlte seinen Leib. Ihre Knie gaben nach. Sie schlang die Arme um ihn.

»Bianca …«

»Du …« Mit ihm sank sie in das Gras. Sie lag auf dem Rücken, er über ihr. Sie flüsterte: »Ich … habe Angst … ich habe doch noch nie … es soll weh tun …«

»Es tut nicht weh …«

»Woher weißt du das? Hast du schon einmal …«

»Nein … Es ist auch für mich das erste Mal … Das weißt du doch … Ich liebe doch nur dich … Vorher hat es keine gegeben.«

»Dann wird es doch weh tun … Heinz … bitte, Heinz …«

»Willst du es denn nicht?«

»Ich will es genauso wie du …«

»Keine Angst«, sagte er, ihre Brüste streichelnd. »Gar keine Angst, Bianca, Liebes, Liebling … Ich habe gelesen, wie man das machen muß … Ich weiß es genau … Wenn man vorsichtig ist … und es langsam tut … Wir haben Zeit … den ganzen Tag haben wir Zeit …« Sie bemerkte, daß er etwas aus einer Papierhülle nahm.

»Was machst du?«

»Wir müssen doch vorsichtig sein, Bianca … Ich passe auf … Ich passe sehr auf … Gib die Hände da weg … Sei locker … ganz locker … Ich tu dir nicht weh … bestimmt nicht …«

Sie seufzte tief, schloß die Augen und ließ sich zurücksinken. Er begann den ganzen Körper mit Küssen zu bedecken, die Lippen, die Lider, die Stirn, die Schultern, die Arme, die Brüste, den Leib, die Scham. Er drückte ihre Schenkel auseinander und kniete zwischen ihnen nieder. Er küßte sie dort.

»Heinz, Heinz …«

»Laß dir Zeit … Und hab keine Angst … Ich weiß, was man tun muß … Es stand alles in diesem Buch …« Er verstummte und erregte sie weiter, behutsam und sanft.

Plötzlich öffnete Bianca weit die Augen.

»Komm jetzt!«

Er glitt über sie. Bianca wand sich und stöhnte ein wenig, als er sie nahm. Sie stöhnte noch einmal, gleich darauf. Erschrocken hielt er inne.

»Tut es doch weh … sehr? Soll ich …«

»Nein … nein …« Sie preßte ihn an sich. »Es ist schon vorbei. Du hast es herrlich gemacht … Es tut schon nicht mehr weh … langsam … Mach langsam weiter, ganz langsam … Jetzt wird es wunderbar … ganz wunderbar … O ja, ja, ja …«

Bianca hatte den Kopf seitlich gedreht. Sein Kopf lag an ihrem Hals. Sie sah den tiefblauen Himmel, sehr groß ein paar Gräser über sich, sonst nichts. Und sie fühlte, wie tief in ihrem Innern etwas zu klopfen, wie etwas zu drängen begann, sie hatte das Gefühl, zu schweben, zu fliegen, es war, als zöge sich ihr ganzes Bewußtsein auf eine Stelle zusammen, mehr, mehr, immer mehr. Und dann kam es – sie wußte nicht, was mit ihr geschah, noch nie hatte sie so etwas erlebt, etwas so Unerhörtes. Sie legte die Schenkel um seine Hüften, sie preßte ihre Arme gegen seinen Rücken.

»Ja, ja … genauso mach weiter … ganz genauso …«

Er antwortete nicht. Seine Bewegungen blieben dieselben.

»Jetzt gleich … gleich … da … da!« Sie schrie laut auf. Er preßte seinen Mund auf den ihren, als sie sich zu verströmen begann. Es nahm kein Ende. Da war es wieder. Und wieder. Und noch einmal. Wenn ich jetzt sterben würde, dachte Bianca, ich wäre der glücklichste Mensch von der Welt. So schön ist das also. So unbeschreiblich schön. Und ich hatte solche Angst davor, solche Angst. Ach, Heinz, Heinz, mein Geliebter …

21

So begann es.

Und es ging weiter, mit Unterbrechungen, in denen sie still lagen und sich ansahen, mit Pausen, in denen sie – nackt – ins Wasser liefen.

Sie saßen ganz dicht nebeneinander, ihr Kopf an seinem, und sie sahen auf des Wasser des Stroms, das in der Sonne glänzte. Sie küßten sich. Von neuem stieg Erregung in ihnen hoch. Sie sanken ins Gras. Und sie waren glückselig, beide.

Dann lagen sie wieder nebeneinander, momentan entspannt, sie rauchten, sie redeten leise …

»Diesen Tag werde ich nicht vergessen, und wenn ich hundert Jahre alt werde …«

»Ich auch nicht, Bianca, ich auch nicht …«

»Niemand hätte so wie du …«

»Niemand liebt dich so wie ich …« Er neigte sich über sie. »Es geht alles, wie wir es uns gewünscht haben. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern …«

»Aber die Untersuchungen«, murmelte sie, ermattet, mit geschlossenen Augen. Die Sonne stand nun bereits tief. Ihr Kopf lag in seinem Schoß. »Die waren doch schon. Wir haben die Ergebnisse nur noch nicht.« Heinz sprach glücklich. »Das kann gar nicht mehr lange dauern, und wir werden benachrichtigt. Dann noch eine Gerichtsverhandlung, und ich bin frei! Frei, Bianca … ein Arier wie die anderen … Wieder ins Institut darf ich … Wir werden uns zeigen können, öffentlich, überall … kein Verstecken mehr … Alle Jungen werden mich beneiden …«

Bianca fühlte plötzlich eine Woge der Erregung in sich aufsteigen.

»Und alle Mädchen mich …« Sie wandte den Kopf, um sich noch enger an ihn zu schmiegen. Sein Körper reagierte sofort. Er sagte atemlos: »Bianca … du …«

Halb zehn Uhr abends und schon dunkel war es, als sie sich endlich anzogen. Der Mond schien, die Sterne leuchteten, die Luft war immer noch warm. Er half ihr in die Kleider, sie ihm. Sie küßten und streichelten sich dabei. Langsam gingen sie über den Sand der Insel zu der Stelle, an welcher das Boot lag. Sie hatten die Arme umeinandergelegt. Plötzlich bemerkte Heinz etwas.

»Psst!«

Er legte einen Finger auf den Mund, duckte sich und rannte dann los. Beim Boot, das sah Bianca im Licht des Mondes, kniete ein Mensch, der gerade versuchte, den Kahn ins Wasser zu schieben. Er kam nicht mehr dazu, denn Heinz stürzte sich auf den Überraschten und riß ihn zu Boden. Bianca lief.

Heinz! Heinz! Wenn Heinz etwas geschah …

Heinz geschah nichts. Der Mensch, den er umgerannt hatte, lag auf dem Rücken – ein kleiner, magerer Mann mit ausgemergeltem Gesicht. In den dunklen Augen stand Todesangst. Sein Haar war kurz geschoren, die Wangen waren eingefallen, spitz standen die Knochen hervor. Bleich und unrasiert war das armselige Gesicht, schmutzig waren die grün-grauen Fetzen, die der Mann am Leib trug. Ja, Fetzen waren das nur noch – eine Hose, eine Jacke, ein Hemd ohne Kragen darunter, Stiefel mit Sohlen voller Löcher. Der Mann hatte einen ebenso zerrissenen Mantel und einen schmierigen Brotbeutel in den Kahn gelegt.

Heinz kniete über ihm.

Der Mann sprach verzweifelt, er konnte nur wenige Brocken deutsch: »Nichts tun … bitte … ich gut … Herr … mich lassen … mich lassen, bitte …«

»Heinz! Wer ist das?« Bianca war herangekommen.

»Frau … mir helfen … ich gut … arm … schwach … Mann mir wehtun …« Heinz hatte den Liegenden an einem Arm gepackt. »Ah! Nicht … nicht …« Der Mann rollte auf den Rücken, die Jacke rutschte hoch. Auf seinem Hemd standen mit weißer Ölfarbe die Buchstaben SU. »Ein Kriegsgefangener!« Bianca preßte die Hände an die Brust. »Ein Russe!«

»Ja.« Seine Stimme, eben noch so zärtlich, war nun kalt. »Ausgerissen. Geflohen. Hat sich hier versteckt …«

»O Gott, hier … auf der Insel …«

»Geschlafen …« Der halb verhungerte Mann sprach gegen den Boden, keuchend, undeutlich. Heinz hielt seinen Arm eisern fest.

»Ganzen Tag … in Busch …«

»Lüg nicht, du Schwein!«

Bianca fuhr zusammen. Es war ihr, als hörte sie einen fremden Menschen reden, nicht Heinz.

»Geschlafen … gelaufen in Nacht … immer nur Nacht laufen, verstehen … Tag zu gefährlich …« Der Mann stöhnte auf. »Fuß …«

»Was ist mit dem Fuß?« Heinz sah, daß in dem einen Stiefel ein Brettchen steckte, das mit einem Tuch am Bein festgebunden war.

»Nicht gut … krank … treten auf Stein … fallen …«

»Verstaucht oder geprellt«, sagte Heinz. »Du bist geflohen, stimmt das?«

»Ja … ja … bitte, Herr …«

»Wo?«

»Steyr … großes Lager dort … Fabrik …«

»Wie lange bist du schon unterwegs?«

»Wochen … zwei … Kameraden kaputt … hat Polizei … verstehen? Nur mich nicht …«

Heinz antwortete nicht. Schnell durchsuchte er die Taschen des Liegenden.

»Keine Waffen«, sagte er, nachdem er auch noch in den Brotbeutel gesehen hatte. Er ließ den Russen los. Der rollte herum und richtete sich auf.

Er saß nun. In seinen dunklen Augen glomm ein irres Feuer: Angst, Angst, Angst!

»Wie bist du auf die Insel gekommen?« fragte Heinz. Seine Stimme, dachte Bianca wieder, seine Stimme! Sie ist ganz anders, er ist ganz anders, ein fremder Mensch kniet da vor mir. Heinz. Mein Geliebter. Was ist geschehen?

»Ich schwimmen.«

»Mit dem Fuß? Lüg nicht!«

»Nicht lügen … mit Fuß, ja … mich verstecken, verstehen?«

»Und jetzt, wo es wieder Nacht ist, hast du das Boot nehmen und abhauen wollen!« Heinz neigte sich weit vor. »Aber nicht zu diesem Ufer! Nicht den Weg zurück natürlich. Nein, hinüber zum Nordufer! Und von dort dann weiter, was? Ins Protektorat. Ist ja ganz nahe. Die Tschechen würden dich verstehen … und verstecken …«

»Nein, nein, ich …«

Heinz schlug den Russen ins Gesicht.

»Heinz!« rief Bianca entsetzt.

»Sei ruhig!« zischte er.

»Ich nach Hause … Frau und Kinder … drei Kinder … nicht wissen, ob kaputt … Krieg nix gut …« Mit einer jähen Bewegung erhob sich der Russe. Kniend umklammerte er Biancas Beine. Er sah zu ihr auf, Tränen in dem zerfurchten Gesicht. »Bitte, Frau, bitte, sagen Mann, er mich lassen …«

Bianca versuchte sich freizumachen. Der Russe hielt ihre Beine eisern fest. Er zitterte, sie konnte es spüren.

»So weit ich schon … und jetzt … gute Frau … guter Mann … mich lassen gehen, ja?«

»Ja«, sagte Bianca mit erstickter Stimme.

»Danke … danke … spassiba …« Eine russische Wortflut brach los. Der Kriegsgefangene küßte Biancas Hände. Er kniete immer noch vor ihr, das verletzte Bein häßlich abgewinkelt.

»Loslassen!« Heinz riß die Hände des Russen fort. Der fiel seitlich in den Sand. Er hob die Arme schützend vor das Gesicht. Heinz sprang auf.

»Komm Bianca!«

»Was wird aus ihm?«

»Das wirst du schon sehen …«

Er schob das Boot ins Wasser.

Der Russe begann laut in seiner Muttersprache zu reden, mit gefalteten Händen.

»Steig ein!« schrie Heinz Bianca an.

»Aber der Mann …«

»Der bleibt hier!«

»Wie kommt er von der Insel fort?«

»Überhaupt nicht!«

»Was?«

»Los, los, komm schon!« Heinz zerrte Bianca ins Boot. Danach stieß er mit einem Fluch den Russen zurück, der sich ihm auf den Knien genähert hatte. Der Russe fiel kraftlos wieder um. »Du siehst ja, der hat überhaupt keine Kraft mehr. Zu diesem Ufer zurückschwimmen, das wird er auch nicht mehr können. Und wenn doch, dann kommt er nicht weit. Ohne Boot über den Strom kommt der nie!«

»Herr … Herr … bitte …«

Heinz schob den Kahn so heftig an, daß Bianca auf den Sitz im Heck fiel. Er sprang nach und begann sogleich zu rudern. Der kleine Russe stand am Rand der Insel, seine Arme hingen herab, sein Kopf war gesenkt, Bianca hörte ihn schluchzen.

»Wir haben seinen Mantel … und seinen Brotbeutel …«, rief Bianca. »Natürlich. Das muß so sein. Den nehmen wir mit!«

»Mit wohin?«

»Zur Gendarmerie.« Heinz ruderte verbissen. Seine Stimme klang abgehackt. »Schau mich nicht so an, Bianca! Ich tue nur meine Pflicht!«

Die Ruder tauchten tief ins Wasser. Bianca blickte zurück. Auf der Insel stand noch immer der Russe. Mit einer Bewegung der absoluten Hoffnungslosigkeit ließ er sich nun langsam sinken, fiel, in Zeitlupe sozusagen, blieb liegen auf dem weißen Sand, ein hilfloses, ausgeliefertes, elendes Bündel Mensch.

22

Die Allee vom Ufer nach Fischamend sah im Mondlicht unwirklich und phantastisch aus. Sie leuchtete. Es leuchteten die Altwassertümpel, in denen Frösche quakten. Es leuchteten die Äste und Zweige und Blätter der alten Weiden, Linden, Kastanien, und die weißen Stämme der Birken in den Auwäldern.

Heinz ging schnell. Er trug den zerrissenen Mantel und den Brotbeutel des Russen. Auch der Mantel zeigte die Ölfarbenbuchstaben su. Bianca hatte Mühe, Schritt zu halten.

Sie redete hastig: »Du wirst es nicht tun, Heinz …«

»Natürlich werde ich es tun!«

»Bitte, nein! Der Mann ist verletzt … halb verhungert …«

»Wir führen Krieg mit Rußland! Einen Krieg auf Tod und Leben! Hast du das vergessen?«

»Aber du … aber du …«

»Was, aber ich?« Er blieb stehen und sah sie so zornig an, daß sie zu zittern begann. »Aber ich Halbjud – wolltest du das sagen, ja? Ich Halbjud habe es nötig? Das hast du sagen wollen, wie?«

»Nein, Heinz, nein! Lieber, guter Heinz, nie habe ich das sagen wollen, nie!« rief sie verzweifelt.

»Nein, nie?« Er musterte sie mit schmalen Lippen. War das der Mensch, in dessen Armen sie gelegen hatte, stundenlang, immer wieder, der erste Mann in ihrem Leben? War das Heinz, den sie so liebte? O Gott, was war geschehen? »Dann ist es ja gut. Ich bin nämlich kein Halbjud! Ich bin ein Arier wie du – kein Untermensch wie der dort!« Er wies mit dem Kinn den Weg zurück. Er sagte, plötzlich leise, mit durchdringender, bebender Stimme: »Und ich gehe den Weg, den ich zu gehen habe!«

»Was für einen Weg?«

»Den geraden! Wenn meine Mutter schon ihr Leben ruiniert hat, weil sie diesen geraden Weg nicht gegangen ist – mir passiert das nicht! Mir nicht, Bianca! Es gibt nur einen ehrenhaften und richtigen Weg jetzt – zur Gendarmerie!«

Damit eilte er weiter.

Sie lief ihm nach.

Zwei Kilometer lang war die Straße. Zwei Kilometer lang bat, bettelte und flehte Bianca Heinz an, seinen Sinn zu ändern. Er antwortete bald schon nicht einmal mehr auf ihre Worte. Aufrecht, den Kopf zurückgeworfen, marschierte er Fischamend zu.

Die ersten Häuser. Die Hauptstraße. Ende der Au-Allee.

Heinz bog in Richtung Marktplatz ein. Bianca eilte immer an seiner Seite. Immer noch versuchte sie, ihn umzustimmen.

»Wenn du mich liebst, tust du es nicht … Der arme Hund ist doch erledigt, wenn sie ihn erwischen … Und sie erwischen ihn – der kann doch nicht weiter, ohne Boot, mit seinem Fuß … Heinz! Heinz, hörst du denn nicht? Die stellen ihn an die Wand! Die bringen ihn um!«

»Quatsch nicht!«

»Wie redest du denn … Natürlich bringen sie ihn um!«

»Und wenn schon! Was machen denn seine Leute mit unseren Soldaten?« Leer lag die Hauptstraße, kein Mensch war zu sehen. Nun erreichten sie den Marktplatz. Er war leer und verdunkelt. Nur über dem Eingang zu einem Geschäft, dessen Auslage vernagelt war, brannte eine blaue Lampe. Das war das Gebäude, in dem sich der Gendarmerieposten befand, Heinz wußte es, und er hatte es Bianca gesagt. Das Gebäude hatte einem Juden gehört. Aus dem Lebensmittelgeschäft zur ebenen Erde war eine Wachstube geworden. Streifen mit Hunden kamen und gingen. Sie bewachten die Industrieanlagen und die Umgebung der Flakstellungen hier, durchstreiften die Auen.

»Heinz!« Bianca hatte ihn am Arm gepackt. »Tu es nicht!«

Er sah sie an, schmal die Augen, schmal der Mund.

»Natürlich tue ich es! Und kein Mensch wird mich daran hindern! Keiner! Auch du nicht! Oder?«

»Wie kann ich es? Wie kann ich dich hindern, Heinz? Der arme Kerl auf der Insel … Ich muß immerzu daran denken, was aus ihm wird … Heinz … Heinz!«

»Ich tue nur, was jeder gute Deutsche tun muß.«

»Heinz! Bitte! Bitte, Heinz! Was für ein Tag war das … Wir lieben uns doch … Wir lieben uns doch so sehr … und heute … gerade heute …«

»Glaubst du vielleicht, ich bin ein Schuft, ein Verräter? Glaubst du, ich lasse den Kerl da laufen? Morgen ist sein Bein besser, und er schwimmt ans Ufer und holt sich das Boot und haut ab … Nein! Nein!«

»Wenn du hineingehst, Heinz, wenn du da hineingehst …« Bianca mußte unterbrechen und keuchend Atem holen.

»Ja? Ja? Was ist dann?«

»Dann kann ich dich nicht mehr lieben!« rief sie im Paroxysmus der Verzweiflung. Es war die ärgste Drohung, die ihr einfiel. Eine Drohung, niemals ernst gemeint, dachte sie verzweifelt. Aber vielleicht glaubt er, sie ist ernst gemeint, vielleicht … Er sieht mich an … anders als früher. Er öffnet den Mund, er will sprechen, er bekommt kein Wort heraus. Er schluckt.

Heinz sagte heiser, sich mehrmals räuspernd, während es in seinem Gesicht zuckte: »Also gut. Dann mußt du wählen.«

»Was? Was muß ich wählen?«

»Zwischen dem Russen und mir.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Ganz einfach.« Heinz stand jetzt hoch aufgerichtet. »Ich gehe da hinein und zeige den Russen an – dann bleibt zwischen uns alles, wie es ist, für immer. Oder …«

»Oder?«

»Oder der Russe ist dir wichtiger. Gut, dann gehe ich nicht da hinein. Dann habe ich ihn nicht gesehen …«

»Heinz! Heinz!«

»Aber dann gehe ich von dir fort! Jetzt in dieser Minute. Zurück ins Werk. Dann ist es aus zwischen uns …«

»Heinz! Bist du verrückt geworden?«

»Überhaupt nicht. Dann ist es aus. Wenn du das von mir verlangst – gut, ich will es tun. Aber lieben kann ich dich dann nicht mehr. Leben kann ich dann nicht mehr mit dir. Zu tun haben will ich dann nichts mehr mit dir …«

Sie sahen sich an, nah, ganz nah.

»Nun?«

Fast unhörbar flüsterte Bianca: »Geh nicht hinein, Heinz.«

Ohne ein Wort reichte er ihr den alten, schmutzigen Mantel und den Brotbeutel des Russen. Ohne ein Wort drehte er sich um und ging den Platz hinauf, in Richtung seiner Fabrik.

»Heinz!« rief sie, leise und überwältigt. »Heinz! Heinz, bitte …« Sie stand nun allein auf dem harten Erdboden, vor dem Haus mit der blauen Lampe.

Bianca sah immer noch Heinz nach. Jetzt verschwand er schon in der Dunkelheit. Nur das Geräusch seiner Schritte war noch zu hören, und auch dieses wurde schnell leiser …

23

»Das war das letzte Mal, daß ich Heinz in meinem Leben gesehen habe«, sagte Bianca Barry, sechsundzwanzig Jahre später an derselben Stelle des Marktplatzes von Fischamend stehend. »Nie mehr, nein, nie mehr sah ich ihn wieder …«

Manuel und Irene, die neben ihr standen, schwiegen.

Endlich blickte Bianca sie wieder an.

»Da drüben war die Gendarmerie untergebracht«, sagte sie. »Dort, wo jetzt das Kolonialwarengeschäft ist. Oft kam ich hierher, schon seit den ersten Jahren nach dem Krieg. Ich bin immer zum Strom hinuntergegangen und habe zur Insel geschaut, zu unserer Insel. Dort war ich nie mehr …«

»Und Heinz hat niemals mehr versucht, mit Ihnen in Verbindung zu treten?« fragte Irene.

»Niemals, nein.« In Biancas Stimme klang seltsamer Stolz. »Ich habe alles versucht, alles! Meine Freundin hat ihm Briefe über Briefe gebracht, in denen ich um ein Rendezvous gebettelt, gefleht habe. Er ist niemals erschienen. Meine Freundin hat versucht, mit ihm vernünftig zu sprechen, ihn umzustimmen – auch vergebens. Er hat mich damals vor die Wahl gestellt. Ich habe gewählt. Das ist alles. Er hat sich an die Spielregeln gehalten.«

»Aber das ist doch …«, begann Manuel und brach ab, als er Irenes Blick bemerkte.

»Was ist das?« fragte Bianca.

»Nichts.« Manuel fröstelte plötzlich. Es wurde dämmrig.

»Damals, in jener Nacht«, sagte Bianca, »da stand ich noch zehn Minuten hier, auf diesem Fleck. Ich konnte mich nicht rühren. Dann lief ich zum Bahnhof. Immer noch mit dem Russenmantel und der Brottasche. Der letzte Zug nach Wien war abgefahren. Ich mußte zu Fuß gehen.«

»Was, von hier bis nach Wien?«

»Ja«, sagte Bianca. »Über fünf Stunden war ich unterwegs. Irgendwo hinter Schwechat habe ich den Mantel und den Beutel weggeworfen. Mutter war halbtot vor Angst, als ich endlich ankam. Ich mußte ihr die Wahrheit sagen – wenigstens, daß ich Heinz getroffen hatte. Meine Freundin konnte mir da nicht mehr helfen.«

»Und?«

»Nichts und«, sagte Bianca. »Mein Vater war ja verreist, zum Glück. Und Mutter hatte fürchterliche Angst vor ihm. Eine schwache, hilflose Person. Sie weinte bloß, und sie ließ mich schwören, daß ich Heinz nun nicht mehr sehen würde. Ich schwor. Mir war alles so egal, so egal. Ich konnte nicht mehr. Meine Füße bluteten. Ich war vollkommen erschöpft. Mein Vater hat nie etwas erfahren …«

Wieder folgte ein Schweigen.

Dann sagte Bianca: »Verstehen Sie jetzt, warum ich Sie hierher geführt habe? Daß ich Ihnen die Insel zeigen wollte, wenn ich Ihnen meine Geschichte mit Heinz erzählte?«

»Ja«, sagte Irene.

»Es war der wichtigste und der schönste und der schrecklichste Tag für mich«, sagte Bianca. »Jetzt kennen Sie mein Geheimnis. Es hat nur einen Mann gegeben, den ich ohne alle Grenzen, besinnungslos und bedingungslos liebte. Sie sollten sehen, wo es geschehen ist, damals, an jenem Sonntag im Juni, Sie sollten es sehen. Es hilft Ihnen nicht weiter, Herr Aranda, bei Ihrer Suche, nicht wahr?«

»Es hilft mir sehr weiter«, sagte er hilflos und erschüttert über diese junge Frau. »Ich verstehe jetzt alles, was damals geschah, viel besser … die Verzweiflungen … und die Glückseligkeiten …«

Bianca sagte: »Es war wundervoll, wie er sich benahm, damals, so wundervoll, nicht wahr?«

Manuel konnte nur nicken, aber Irene sagte laut: »Ja.«

»Die Wahl, vor die er mich stellte … Er war ein einzigartiger Mensch … und niemals, niemals«, sagte Bianca, »werde ich einen anderen Menschen so bewundern, so verehren, so lieben können wie ihn, nein, niemals. Heinz ist mein Vorbild und meine Sehnsucht und mein ganzer Lebensinhalt geworden, mein ewiger Geliebter …«

24

Zu dieser Zeit lauschte der Anwalt Dr. Rudolf Stein gerade der bewegten Klage einer gewissen Victoria Rayo. Seine achtundzwanzigjährige, sehr attraktive und elegante Besucherin, Wienerin, erzählte dem Anwalt, an den sie sich, wie sie sagte, wegen seiner großen Erfahrung in solchen Fällen gewandt hatte, diese Geschichte: Fünf Jahre lang war sie die Freundin und Verlobte eines überaus vermögenden Fabrikanten in Innsbruck gewesen. Während dieses Zeitraums hatte sich der um viele Jahre ältere Mann zwei schweren Tumor-Operationen unterziehen müssen, was eine Heirat immer wieder verzögerte. Victoria Rayo sollte jedoch, so hatte ihr Freund feierlich versprochen, im Falle seines Todes die Haupterbin sein, eine Schwester, mit der er in Feindschaft lebte, nur ihren Pflichtteil erhalten. Eine Woche zuvor, am Abend ehe er sich in das Krankenhaus begab – eine neuerliche Operation war notwendig geworden –, hatte der reiche Mann angeblich der Schwester, die ebenfalls in Innsbruck lebte, ein Testament in die Schreibmaschine diktiert und es dann mit fast gelähmter rechter Hand mühsam unterzeichnet. Das Testament war durchaus in dem versprochenen Sinn abgefaßt gewesen, jedoch hatte der Kranke es unbegreiflicherweise verabsäumt, das nicht handgeschriebene Dokument von zwei Zeugen unterschreiben zu lassen. Solches erschien bei einem gewieften Geschäftsmann höchst ungewöhnlich, fand Victoria Rayo.

Ihr Freund starb während der Operation. Unmittelbar nach dem Begräbnis holte die Schwester heimlich das Testament aus dem Haus und brachte es zum Bezirksgericht, wo es denn auch sofort für ungültig und die Schwester zur Universalerbin erklärt worden war. Gegen diese Entscheidung erhob Steins Besucherin Klage. Sie sprach den Verdacht aus, die Schwester selber habe das Testament verfaßt und mit einer hingekrakelten Unterschrift versehen. So weit hatte Victoria Rayo ihren Fall erläutert, als plötzlich von draußen, aus dem Sekretariat der Kanzlei, das Geschrei mehrerer Mädchen und das Toben einer Männerstimme durch die gepolsterte Bürotür drangen. Dieses Büro war sehr groß, alte Möbel standen darin, die schweren Vorhänge der Fenster, die auf den Kohlmarkt hinausgingen, waren geschlossen, elektrisches Licht brannte und ließ die silbergraue, mannshohe Tür des Tresors, der hinter dem Schreibtisch des Dr. Stein in die Mauer eingelassen war, mild schimmern, das verchromte große Rad der Panzerplatte aufleuchten.

»Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein. Ich muß sehen, was da los ist … Es dauert nur einen Moment …« Stein eilte aus dem Büro und schloß die Doppeltür hinter sich. Im Sekretariat, in dem vier Mädchen arbeiteten, wütete ein riesiger Betrunkener. Er jagte hinter den kreischenden Sekretärinnen her, fegte Akten und Papiere von Tischen, hob und zertrümmerte einen Stuhl und warf sich mit einem heiseren Aufschrei auf Stein, als er dessen ansichtig wurde.

»Du Schwein, du hast mir mein Geld gestohlen!« brüllte er.

Stein, überrumpelt durch die plötzliche Attacke, stürzte. Der Betrunkene, der nach Schnaps stank, als wären seine Kleider mit Fusel getränkt, fiel über ihn und versuchte, Stein zu schlagen und zu würgen. Dabei fluchte und brüllte er unentwegt weiter. Sein übler Atem traf des Anwalts Gesicht. Aus einer anderen Tür kam der Kompagnon Weber. Die Mädchen schrien laut um Hilfe. Eines von ihnen versuchte, die Polizei zu alarmieren. Mit einem Anlauf stürzte der jüngere Weber sich auf den Betrunkenen, der Riesenkräfte entwickelte. Nun rollten die drei Männer auf dem Boden umher. Der Telefonapparat, von dem aus das Mädchen die Funkstreife rufen wollte, krachte zu Boden und brach entzwei. Hausbewohner kamen herbeigeeilt und versuchten, ungeschickt und einander behindernd, den Anwälten zu helfen. Das Chaos war vollkommen …

Währenddessen hatte die elegante junge Dame, die sich Victoria Rayo nannte, eine Kamera mit aufgestecktem Blitzlichtwürfel aus der Handtasche genommen. Ruhig und schnell begann sie das Büro und den Tresor zu fotografieren, indessen von draußen Kampfeslärm, das Fluchen der Männer und das Kreischen der Mädchen zu ihr schollen.

Als der erste Blitzlichtwürfel nach vier Aufnahmen verbraucht war, steckte ihn die Dame in eine Kostümtasche, der sie einen neuen entnahm. Sie ging jetzt dicht an die Tresortür heran und fotografierte sie von allen Seiten, insbesondere den kegelstumpfförmigen Einstellknopf über dem großen Chromrad und den Kreis aus Zahlen und feinen Strichen, welcher jenen Konus umgab, sowie das Schild der Herstellerfirma, das sich, nahe dem Boden, in der unteren linken Ecke der Tresorwand befand und Angaben über Herstellungsjahr, Typenbezeichnung, Seriennummer und ähnliches eingestanzt trug.

Draußen wurde es plötzlich ruhiger.

Victoria Rayo erhob sich ohne Eile, nahm wieder Platz, steckte die Kamera ein, entzündete sich noch eine Zigarette, damit man den Geruch der abgebrannten Blitzlichter nicht wahrnehmen konnte, und kreuzte die schönen Beine.

Im Sekretariat hatten sich Weber und Stein erhoben. Der betrunkene Riese war ihnen plötzlich entwischt und, indem er sich einen Weg durch die Menge der Gaffer schlug, blitzschnell aus der Eingangstür der Kanzlei gestürzt.

»Wie ist der Kerl hereingekommen?« fragte Stein, das Haar glättend und seine Krawatte hochziehend.

»Einfach so. Wie er jetzt raus ist«, sagte eines der verstörten Mädchen.

»Tür aufgerissen und auf uns los! Der eine Apparat ist hin. Aber wir haben noch den zweiten. Sollen wir nicht doch die Polizei …«

»Das hättet ihr früher tun müssen!« rief Dr. Stein wütend. »Jetzt erwischen sie den Burschen nie mehr. Wieso konnte er denn überhaupt in den Vorraum?«

»Es hat geklingelt. Da habe ich auf den Knopf für den elektrischen Türöffner gedrückt – ganz automatisch. Das mache ich doch hundertmal am Tag«, sagte ein anderes Mädchen. Stein sah sie brütend an, dann nickte er. »So was kommt eben einmal vor«, sagte er und ging in sein Büro zurück, wo er sich bei Victoria Rayo entschuldigte und erklärte, was vorgefallen sei.

»Das ist bisher noch nie passiert. Kein Grund zur Aufregung, gnädiges Fräulein. Schon wieder alles in Ordnung«, sagte Stein. »Tja, Ihr Fall … Ich möchte keine falschen Hoffnungen erwecken. Groß sind die Chancen nicht! Aber es gibt noch verschiedene Möglichkeiten, die doch Erfolg versprechen, wenn …«

»Ja, wenn?«

»Wenn ich mit dem Bezirksgericht in Innsbruck korrespondiert habe. Eventuell muß ich einen Kollegen einschalten. Doch ich warne Sie, gnädiges Fräulein: Solche Sachen dauern lange.«

»Das weiß ich. Aber Klaus hat mir doch sein Ehrenwort gegeben, daß ich …« Victoria Rayo begann zu schluchzen.

»Beruhigen Sie sich, bitte! Es ist noch gar nichts entschieden. Schlimmstenfalls kann man versuchen, einen Vergleich mit der Schwester zu schließen. Aber das alles wird seine Zeit dauern, ich sage es noch einmal … Wir wollen jetzt nur ein ganz kurzes Protokoll aufnehmen. Wo kann ich Sie in der nächsten Zeit erreichen?«

»Ich muß nach Innsbruck, meine Sachen aus der Villa holen. Ich will nach Wien zurück. In fünf, sechs Tagen bin ich gewiß wieder hier …«

»Vorher werde ich kaum etwas erreicht haben. Das Wochenende steht bevor.«

»Wann immer Sie mich brauchen, ich komme sofort«, sagte die junge Dame. Sie hatte nicht die geringste Absicht, noch einmal diese Kanzlei aufzusuchen.

Heute abend, um 23 Uhr 20, bin ich schon wieder in Graz, dachte die Frau, die sich Victoria Rayo nannte. Diese Kamera ist wunderbar, sie hat noch nie versagt. Mercier wird zufrieden sein.

25

»Vor grauen Jahren lebt’ ein Mann im Osten, der einen Ring von unschätzbarem Wert aus lieber Hand besaß …« Ernst Deutsch – zwei Monate später, am 22. März 1969, sollte er, achtundsiebzigjährig, an Herzschwäche sterben – spielte seine berühmteste und bewegendste Rolle. Als ›Nathan der Weise‹ war er auf der Scheibe des Farbfernsehgerätes zu sehen, das Valerie Steinfeld beim Preisausschreiben einer Zeitung, unmittelbar vor ihrem Tode, gewonnen hatte. Der moderne Apparat stand auf einer alten Truhe des Wohnzimmers. Zurückgelehnt in einem breiten, ausladenden Sofa mit Rückenlehne und Armstützen saßen Irene und Manuel und lauschten den Worten des großen Menschendarstellers.

»… der Stein war ein Opal, der hundert schöne Farben spielte, und hatte die geheime Kraft, vor Gott und Menschen angenehm zu machen, wer in dieser Zuversicht ihn trug …«

Nachdem Manuel Bianca Barry von Fischamend nach Wien zurückgebracht hatte, war er mit Irene in die Gentzgasse gefahren. Gemeinsam hatten sie ein Abendessen bereitet, den Tisch im Speisezimmer gedeckt, bei Kerzenlicht gegessen.

Von schwerer Krankheit und hohem Alter gezeichnet war Deutschs edles Gesicht, von einer unheimlichen, schon jenseitigen, jeden Betrachter bannenden Atmosphäre umgeben war sein Nathan, der, über alle Technik des Fernsehens siegend, den Geist edelsten Menschentums ausstrahlte und verkündete, ganz besonders nun, in der berühmten Szene des Stückes, in welcher Sultan Saladin den weisen Nathan fragt, welche Religion denn die beste sei – die des Muselmannes, des Juden oder des Christen. Worauf Nathan mit einer Parabel antwortet, mit der Geschichte des Ringes …

»… Was Wunder, daß ihn der Mann im Osten darum nie vom Finger ließ; und die Verfügung traf, auf ewig ihn bei seinem Hause zu erhalten? Nämlich so: Der Vater ließ den Ring von seinen Söhnen dem geliebtesten; und setzte fest, daß dieser wiederum den Ring von seinen Söhnen dem vermache, der ihm der liebste sei … So kam nun dieser Ring von Sohn zu Sohn auf einen Vater endlich von drei Söhnen, die alle drei ihm gleich gehorsam waren, die alle drei er folglich gleich zu lieben sich nicht entbrechen konnte. Zu Zeit schien ihm bald der, bald dieser, bald der dritte … würdiger des Ringes, den er denn auch einem jeden die fromme Schwachheit hatte zu versprechen. Das ging nun so, solang es ging. Allein, es kam zum Sterben, und der gute Vater kömmt in Verlegenheit …« Manuel dachte: Wie wunderschön Irene ist und, ohne es zu wissen, selber zutiefst betroffen von den Worten des großen Dichters. Aber ach, wer hat je auf Nathans Weisheit, die Tausende von Jahren älter ist als er, gehört und nach ihr gehandelt?

Der Weise hatte seine Parabel weitergesponnen: Dem sterbenden Vater der drei Söhne war ein Einfall gekommen. Heimlich ließ er einen Künstler rufen und bestellte bei diesem zwei weitere Ringe, dem echten völlig gleich. Der Künstler vollbrachte ein Meisterwerk.

»… da er ihm die Ringe bringt, kann selbst der Vater seinen Musterring nicht unterscheiden. Froh und freudig ruft er seine Söhne, jeden insbesondre. Gibt jedem insbesondre seinen Segen – und seinen Ring – und stirbt. Du hörst doch, Sultan?«

»Ich hör’, ich höre! Komm mit deinem Märchen nur bald zu Ende. Wird’s?«

»Ich bin zu Ende.« Ernst Deutsch hob den Blick. »Denn was noch folgt, versteht sich ja von selbst. Kaum war der Vater tot, so kömmt ein jeder mit seinem Ring, und jeder will der Fürst des Hauses sein. Man untersucht, man zankt, man klagt. Umsonst: Der rechte Ring war nicht erweislich …« Deutsch machte eine lange Pause, er sah den Sultan an. »… fast so unerweislich, als uns itzt – der rechte Glaube … Die Söhne verklagen sich; und jeder schwur dem Richter, unmittelbar aus seines Vaters Hand den Ring zu haben …«

Irene fühlte Manuels Blick. Sie dachte: So kurz kennen wir uns erst. Auf uns beiden lasten Schmerz und Ruhelosigkeit, das Geheimnis. Wir sind die Erben dieses Geheimnisses, das Valerie und Manuels Vater verbunden haben muß. Wir werden keinen Frieden finden, ehe wir es kennen. Und dennoch, trotz dieser Situation – noch nie fühlte ich mich einem Mann so sehr verwandt und vertraut wie Manuel. Noch nie hatte ich so sehr das Gefühl, daheim zu sein in seiner Gegenwart. Bei keinem Mann, den ich kannte. Nicht bei meinen Eltern. Bei Valerie, ja, bei ihr schon – doch anders, völlig anders. Was würde ich tun, wenn dieser Mann, den ich so kurz erst kenne, mich bittet, seine Frau zu werden? Welch ein Wahnsinn, dachte Irene sofort. Ach, aber wenn er mich dennoch fragte …

Nathan erzählte nun von dem Richter, den die drei Söhne anriefen. Zuerst war dieser ungehalten. Aber dann …

»… doch halt! Ich höre ja, der rechte Ring besitzt die Wunderkraft, beliebt zu machen; vor Gott und Menschen angenehm. Das muß entscheiden! Denn die falschen Ringe werden doch das nicht können! – Nun, wen lieben zwei von euch am meisten? Macht, sagt an! – Ihr schweigt? Die Ringe wirken nur zurück und nicht nach außen? Jeder liebt sich selber nur am meisten? – Oh, so seid ihr alle drei betrogene Betrüger! Eure Ringe sind alle drei nicht echt. Der echte Ring vermutlich ging verloren. Den Verlust zu bergen, zu ersetzen, ließ der Vater die drei für einen machen …«

Manuel dachte: Ich kannte schöne Frauen in Buenos Aires. Natürlich war ich beliebt. Der reiche Junge. Sohn eines großen Unternehmers. Ich hatte Glück bei Frauen. Hauptsächlich deshalb, ich mache mir nichts vor. Wie hießen diese Frauen, wie sahen sie aus? Ich weiß es kaum noch. Ich weiß nur eines: Keine war wie Irene, die Tochter der Mörderin meines Vaters!

Sie, die nie wissen wird, daß ihre Mutter eine Mörderin war. Ihr, ausgerechnet ihr mußte ich begegnen. Wenn ich sie fragte, ob sie mit mir kommen, ob sie mich heiraten möchte – würde sie mit Nein antworten? Ach, mit Nein, gewiß. Das alles ist doch Wahnsinn. Wieso eigentlich? Wahnsinn, weshalb? Darf ich sie fragen? Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht … Der Richter, hatte Ernst Deutsch dem Sultan erzählt, wollte die drei Söhne fortschicken, doch dann gab er ihnen noch einen Rat …

»… mein Rat ist aber der: Ihr nehmt die Sache völlig wie sie liegt. Hat von euch jeder seinen Ring von seinem Vater: So glaube jeder sicher seinen Ring den echten. – Möglich: daß der Vater nun die Tyrannei des einen Rings nicht länger in seinem Hause dulden wollte! Und gewiß, daß er euch alle drei geliebt, und gleich geliebt …«

Wenn er mich fragte, dachte Irene, wenn er mich doch fragte! Ja, ich würde mit ihm gehen! Alles hier aufgeben. Die Apotheke verkaufen oder verpachten. Mich hält nichts mehr. Oder doch? Die Eltern?

»Wohlan!« ertönte die Stimme Nathans, der vom Rat des Richters erzählte. »Es eifre jeder seiner unbestochnen, von Vorurteilen freien Liebe nach! Es strebe von euch jeder um die Wette, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott zu Hilf’! …«

Ich würde meine Eltern verlassen, dachte Irene, um mit Manuel gehen zu können. Die alte Agnes hat ihren Geistlichen Herrn. Meine Eltern haben einander. Ob er mich fragt?

Ob ich es wagen darf, sie zu fragen? dachte Manuel.

»… und wenn sich dann der Steine Kräfte bei euren Kindes-Kindeskindern äußern: So lad’ ich über tausend tausend Jahre sie wiederum vor diesen Stuhl. Da wird ein weis’rer Mann auf diesem Stuhle sitzen als ich und sprechen. – Geht! – So sagte der bescheidne Richter …«

Irene wandte plötzlich den Kopf und sah Manuel an.

»Wunderbar«, sagte sie. »Nicht wahr?«

»Ja«, sagte er atemlos, »ganz wunderbar.«

Danach blickten sie beide schnell nach vorne zu der Mattscheibe, und sie sprachen nicht miteinander, sie sahen sich nur immer wieder von der Seite an. Aber als Lessings ›Dramatisches Gedicht‹ zu Ende war, verriet keiner dem andern einen einzigen seiner Gedanken. Sie waren plötzlich beide sehr verlegen. Manuel verabschiedete sich bald. Irene begleitete ihn hinunter, denn sie mußte das Haustor aufschließen. Es schneite noch immer.

Das Licht im Stiegenhaus erlosch.

Wird er mich küssen? dachte Irene.

Ich möchte sie so gerne küssen, dachte Manuel. Aber ich wage es nicht.

»Gute Nacht, Irene«, sagte er.

»Gute Nacht, Manuel«, antwortete sie.

26

»Sie machen sich keine Vorstellung davon, was die bei der anthropologischen Untersuchung aufführten! Was die alles untersuchten! Die irrwitzigsten Messungen nahmen sie vor! Und ein gewaltiges Instrumentarium gab es …« Martin Landau holte Atem. »Vorgeschrieben vom Reichssippenhauptamt, in Erlassen und Paragraphen und Weisungen festgelegt für Untersuchungen zur Rassenbestimmung, für Vaterschaftsprozesse, Abstammungsprozesse, Klärung der Frage, ob ein Mensch im Zweifelsfalle zur nordischen, arischen Herrenrasse gehörte oder zu einer minderwertigen Rasse von Sklavenvölkern, Untermenschen, Tiermenschen, die eben noch geeignet waren für schwerste Arbeit oder ausgemerzt werden mußten vom Antlitz der Erde – nach dem Willen von so fetten Schweinen wie dem Pornographen und Judenhasser Streicher, dem aufgeschwemmten, versoffenen Doktor Ley, dem kleinen Doktor Goebbels mit seinem Klumpfuß, dem morphiumsüchtigen Göring, dem halbirren Heß, immerhin dem Stellvertreter des Führers, von Quadratschädeln mit Specknacken, Psychopathen, Drüsengestörten, pervertierten Kleinbürgern wie Himmler und menschlichen Karikaturen wie Rosenberg und Ribbentrop!«

»Wären sie nicht so entartet und mißgestaltet gewesen, hätten sie wohl nicht mit solch furchtbarem Fanatismus ihren Traum von der herrlichen blonden, blauäugigen Superrasse geträumt«, sagte Manuel Aranda.

Er saß mit dem Buchhändler an einem Fenstertischchen des Glaspavillons auf dem Cobenzl.

Manuel hatte Juan Cayetano und die beiden Anwälte nach Schwechat zum Flughafen gebracht. Sie waren in der Mittagsmaschine abgeflogen. Alles war geregelt, Cayetano konnte, mit sämtlichen Vollmachten versehen, das Werk nun weiterführen.

Zum Abschied hatten die Männer einander umarmt.

»Paß auf dich auf, Junge …« Cayetano war bewegt gewesen.

Manuel hatte im Flughafenrestaurant gegessen und war dann zum Cobenzl hinaufgefahren, wo er sich mit Landau verabredet hatte. Denn gemäß der Warnung Grolls vermied er nun in seinem Appartement im ›Ritz‹ wichtige Gespräche oder Telefonate.

Der Buchhändler war mit dem neuen Treffpunkt einverstanden gewesen. »Wenn Sie noch zum Flughafen müssen, dann nehme ich die Straßenbahn und einen Bus, der da hinauffährt. Sonst wird es zu spät. Sie müssen mich aber in die Stadt zurückbringen, damit ich rechtzeitig im Laden bin. Sie wissen doch, Tilly …«

»Selbstverständlich«, hatte Manuel gesagt.

Nun aß Landau bereits das zweite Stück Cremetorte und berichtete von den Untersuchungen, die das Gericht nach der ersten Verhandlung angeordnet hatte. Er trank Kaffee wie Manuel, der, an Bianca Barrys Erzählung denkend, fragte: »Diese anthropologische Untersuchung – wann fand die statt?«

»Im Mai 43. Am zehnten. Kann auch der elfte oder der zwölfte gewesen sein, ich erinnere mich nicht genau daran. Heiß war es, furchtbar heiß. Damals kam der Sommer sehr früh.«

Ja, das hatte Bianca auch gesagt …

»Und die Blutgruppenuntersuchung? Wann wurde die vorgenommen?«

»Etwa eine Woche danach.« Landau wischte sich den fettigen Mund ab und legte die Kuchengabel fort. »Sie sind erstaunt, daß so viel Zeit zwischen der Verhandlung und den Untersuchungen verging? Vor allem war das dem Doktor Forster zu verdanken. Der trödelte herum mit der Beantwortung aller Briefe und Eingaben. Der wollte den Prozeß so lange wie möglich führen, verstehen Sie? Daß wir diesen Krieg nicht gewinnen würden, das war Mitte 43 nur noch Idioten nicht klar. Und dann dauerte es Wochen, bis die Institute ihre Berichte an das Gericht und an Forster schickten.«

Das bedeutet, dachte Manuel, daß Heinz Steinfeld bei seinem großen Erlebnis mit Bianca auf jener Donauinsel und danach bei jenem anderen, erschreckenden mit dem geflohenen russischen Gefangenen die Untersuchungen schon hinter sich hatte, ohne die Ergebnisse zu kennen. So erklärte sich seine euphorische Stimmung …

»Wir wurden der Reihe nach aufgerufen«, berichtete Landau. »Heinz kam zuerst dran. Es dauerte endlos. Valerie und ich saßen in einem großen Wartezimmer. Sie war furchtbar nervös, das können Sie sich vorstellen, nicht wahr? Außer uns beiden warteten noch zwei Menschen. Sehr höflich. Sie flüsterten miteinander. Ab und zu lächelten sie uns an. Und trotzdem kam es ihretwegen fast zu einer Katastrophe.«

»Weshalb?«

»Da saß also zunächst eine junge Frau, fast ein Mädchen noch, sehr schlank, hübsch, groß, brünettes Haar, helle Augen …«

27

… und neben ihr saß, trotz der Hitze in einem korrekten schwarzen Anzug mit Weste, ein Japaner. Er war mindestens zwei Köpfe kleiner als das Mädchen neben ihm, sehr zierlich und von zartem Körperbau. In seinem olivenfarbenen Gesicht mit den hohen Wangenknochen sah man, hinter einer runden Stahlbrille, schräggestellte dunkle Augen. Der kleine Herr hatte schwarzes, glänzendes Haar. Einen schwarzen Hut hielt er auf den Knien, in zierlichen, olivfarbenen Händchen. Er hatte beim Hereinkommen mit einer tiefen Verbeugung gegrüßt und gelächelt. Ergebenheit und Höflichkeit durch weitere Verbeugungen zum Ausdruck bringend, hatte er – wie Valerie und Landau vor ihm – einer jungen Assistentin im weißen Mantel zwei Vorladungen überreicht. Die Assistentin war verschwunden. Vor einer guten Stunde hatte sich das ereignet. Der japanische Herr – sein Alter konnte man nicht bestimmen, vielleicht war er fünfundzwanzig, vielleicht war er vierzig – lächelte zwar immer noch, wenn er zufällig zu Valerie und Landau herübersah, aber er schien Sorgen zu haben. Und sorgenvoll flüsterte er mit der um so viel größer wirkenden jungen Frau. Valerie trug ein leichtes Sommerkleid, Landau einen hellen Anzug. Er beobachtete seine Freundin unglücklich. Sie wurde immer nervöser, rutschte auf der Bank herum, schlug andauernd ein Knie über das andere und betupfte die schweißfeuchte Stirn mit einem Taschentuch. Sie denkt an Heinz, natürlich, überlegte Landau. An Heinz, der hinter einer dieser Türen halbnackt oder nackt vor SS-Doktoren und SS-Dozenten steht und gewogen, gemessen, abgezirkelt und vom Kopf bis zu den Füßen begutachtet wird …

Mehrmals versuchte Landau, ein Gespräch in Gang zu bringen, aber Valerie antwortete nicht. Ihr Gesicht war bleich, sie konnte die Hände nicht ruhig halten. Nun, nach mehr als einer Stunde, sagte sie gleichermaßen angsterfüllt und zornig: »Wie lange brauchen die denn noch? Das ist ja zum Verrücktwerden …«

»Valerie!« Landau konnte sie eben noch zum Schweigen bringen, als eine Tür aufflog und ein sehr großer, starker Mann in das Wartezimmer trat. Er hatte millimeterkurz geschnittenes blondes Haar, Schmisse in dem kantigen Gesicht, und er trug einen weißen Ärztemantel. Man sah jedoch auch eine schwarze Uniformhose, Schaftstiefel und den Kragen eines Braunhemds mit schwarzem Schlips.

Dieser Arzt nahm von Valerie und Landau keinerlei Notiz, sondern wandte sich sofort an den kleinen Japaner.

»Herr Yoshida …«

Der Japaner sprang auf und verneigte sich lächelnd. Seine Begleiterin sah plötzlich ängstlich aus.

»Zu Ihren Diensten«, sagte Herr Yoshida sanft.

Der andere stellte sich vor: »SS-Sturmbannführer Doktor Kratochwil, Heil Hitler!«

»SS-Sturmbannführer Kratochwil? Sie sind der Leiter des Instituts!« Der kleine Japaner sprach mit schwerem Akzent deutsch.

Valerie und Landau hörten gespannt zu.

»Der kommissarische Leiter, jawohl.« Privatdozent Dr. Odilo Kratochwil hatte eine abgehackte, markige Art zu reden. Er hielt zwei Papiere in der Hand. »Kam heute später. Dringende Sitzung im Gauhaus. Finde Ihre Vorladungen auf meinem Schreibtisch. Schweinerei. Wahnsinnige Schweinerei!«

»Schweinerei, ich bitte, wieso?« flüsterte Herr Yoshida.

Kratochwil wippte ein paarmal in den Knien.

»Haben ein paar Kerle wieder Mist gemacht. Schon zusammengestaucht worden von mir. Ihre Vorladung erhielten Sie über die Adresse des japanischen Generalkonsulats?«

»Ja, Herr Sturmbannführer. Da arbeite ich nicht nur, da wohne ich auch. Fräulein Wiesner erhielt ihre Vorladung am gleichen Tag. Wir sind sehr besorgt. Nach einer so langen Verlobungszeit … Wir haben sie den Behörden doch gemeldet … Niemand hat etwas einzuwenden gehabt … Das Aufgebot ist bestellt … Und da sollen wir nun zuerst noch untersucht werden …«

Valeries Lippen waren nur ein Strich, ihre Augen halb geschlossen.

»Das ist es ja!« polterte Odilo Kratochwil, der so nonchalant Uniform und Arztmantel kombinierte. »Sie werden vorgeladen, weil ein vertrottelter Übereifriger auf dem Standesamt uns benachrichtigt hat und weil es bei uns – Gott sei’s geklagt! – eben auch ein paar Idioten gibt, die nicht wissen, was sie unseren Verbündeten in diesem Weltenkampf schuldig sind!«

»Ich verstehe nicht …«

»Herr Yoshida, und Sie, gnädiges Fräulein, Sie wurden zu Unrecht vorgeladen! Sie benötigen kein Rassengutachten, um zu heiraten! Erlaß des Führers! Die heroische japanische Rasse ist der nordisch-arischen völlig ebenbürtig und gleichgestellt!«

Die junge Frau sprang auf.

»Dann dürfen wir also heiraten?«

»Natürlich dürfen Sie heiraten!« Sturmbannführer Kratochwil verneigte sich charmant.

Valeries Hände ballten sich zu Fäusten. Landau sah es entsetzt.

Die beiden dürfen heiraten! hetzten Valeries Gedanken. Der kleine, schlitzäugige Japaner und die große deutsche Frau. Heiraten dürfen die! Und mein Heinz, den haben sie aus der Schule geworfen, der muß jeden Morgen um fünf Uhr aus dem Bett und als Hilfsarbeiter schuften, bloß weil er ein arisches Mädchen geküßt hat.

»… alte Samurai-Tradition, stolze Heldenrasse …«, hörte sie den Kerl im weißen Mantel, diesen uniformierten Menschenschinder, sagen, während ihre Gedanken weiterjagten: Der kleine Japaner kann ja nichts dafür!

Aber was sind das für Rassengesetze? Was ist das für ein verbrecherischer Betrug, das alles? Weil Japan in diesem Krieg an unserer Seite kämpft, sind die Japaner also so fein wie die feinsten Arier! Und wenn sie hundertmal einer anderen Welt angehören, eine andere Kultur haben, vollkommen anders aussehen als wir, und wenn sie im letzten Weltkrieg noch gegen uns gekämpft haben!

»… Stahlachse Tokio–Berlin–Rom …« Kratochwil dienerte jetzt vor Herrn Yoshida und dessen Verlobter.

Das ist ungeheuerlich! dachte Valerie bebend. Wie der Dreckskerl dem Japaner nun auch noch hineinkriecht! Damit er nur ja keine Unannehmlichkeiten mit höheren Bonzen kriegt! Wie die beiden sich voreinander verneigen! Mein Paul, der hat im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz bekommen aus deutscher Hand – für Tapferkeit vor dem Feind. Und was ist er heute? Ein dreckiger Jude, den sie umgebracht hätten, wenn er nicht geflüchtet wäre.

»Hahaha!« dröhnte der SS-Sturmbannführer, blutrot liefen die Schmisse in seinem zerhackten Gesicht an, während er Herrn Yoshida die Hand schüttelte und ihm auf die zierliche Schulter klopfte. »Also dann, nichts für ungut.« Er wandte sich an die junge Frau. »Und Ihnen wünsche ich alles Glück der Erde für Ihren Ehebund, Fräulein Wiesner.«

»Also, das ist doch …«, begann Valerie, schneeweiß im Gesicht, am ganzen Körper zitternd vor Wut. Blitzschnell packte Landau ihren Arm und preßte ihn, so fest er konnte. Der Schmerz brachte Valerie halbwegs zu sich. Sie stöhnte auf: »Au!«

Der Mann mit dem Ärztemantel über der Uniform fuhr herum. Seine Augen waren tückisch.

»Gibt’s was?«

»Nichts, nichts«, stammelte Landau.

»Frau Steinfeld, nicht wahr?« Die Stimme des SS-Sturmbannführers wurde scharf. »Sie sagten etwas! Ich hörte es! Was war es denn? Ein Einwand etwa?«

»Um Gottes willen!« rief Landau.

»Was denn sonst? Ich möchte es wissen! Los, Frau Steinfeld, was denn sonst?« hetzte Kratochwil.

Valerie antwortete, mit letzter Anstrengung, beherrscht: »Ich sagte nur, daß wir schon fast eineinhalb Stunden warten.«

»Werden noch viel länger warten müssen. Ihr Sohn ist noch nicht fertig. Wir arbeiten gründlich hier. Bitte höflichst, sich in Geduld zu fassen, Frau Steinfeld. Allerhöflichst!« Kratochwil blickte Valerie verächtlich an, dann wandte er sich wieder Yoshida zu: »Alles Gute, mein Lieber! Kenne Japan nicht, leider. Soll aber auf große Studienreise gehen nach dem Endsieg! Bis dahin – Heil Hitler!« Kratochwil riß eine Hand empor.

»Heil Hitler!« sagte Herr Yoshida.

»Heil Hitler!« sagte Fräulein Wiesner.

Auch sie hatten die Arme gehoben.

Glücklich lächelnd verließen sie den Warteraum. Sturmbannführer Odilo Kratochwil sah ihnen zufrieden nach. Valerie und Landau würdigte er keines Blickes. Er verschwand hinter der Tür, die er krachend hinter sich zuwarf.

»Diese Hunde«, flüsterte Valerie. »Hunde! Hunde! Hunde!«

28

»Um halb fünf waren wir alle drei dann endlich untersucht und durften gehen«, erzählte Martin Landau. Er hatte während seines Berichtes noch eine Portion Kaffee bestellt – mit viel Schlagsahne. »Heinz war bester Laune, Valerie einem Zusammenbruch nahe. Ich auch. Diese Kerle hatten uns alle behandelt wie ihr Chef. Heinz schien das nicht wahrzunehmen. Der letzte Dreck waren wir für die. Sogar ich, mit meinem Parteiabzeichen!«

»Und man sagte kein Wort über die Untersuchung?«

»Natürlich nicht. Die redeten kaum mit uns. Nur wenn es unbedingt erforderlich war. Heben Sie den Arm, drehen Sie den Kopf, ausatmen, einatmen – mehr nicht. Da war die junge Ärztin in der Sensengasse viel freundlicher!«

»Die junge Ärztin wo?«

»Im Gerichtsmedizinischen Institut. Was haben Sie denn? Warum schauen Sie so – ach, weil Ihr Vater auch dort …«

»Ja«, sagte Manuel, »weil mein Vater auch dort …« Im Kreis, dachte er, nun hat diese Geschichte sich völlig im Kreis gedreht, nun ist er geschlossen. Geschlossen um ein Geheimnis …

»Die Blutabnahme für die Gruppenbestimmung ging ganz schnell«, erzählte Landau weiter. »Sie nahmen uns das Blut aus den Fingerspitzen …« Er fuhr entsetzt herum, denn jemand hatte ihn an der Schulter gepackt. Es war seine Schwester. Sie trug wieder ihren Persianermantel, der mit Nerz verbrämt war, und die mit Nerz verbrämte Persianerkappe.

»Hab ich dich endlich erwischt!« sagte sie leise.

»Wer hat dir verraten …«

»Niemand«, sagte Tilly Landau. »Aber es ist mir in den letzten Tagen aufgefallen, daß du am Abend manchmal so nervös warst, wenn ich dich abholte. Und dann das Gerede von dieser Bibliothek, die du kaufen wolltest. Ich habe im Geschäft gefragt. Kein Mensch hat gewußt, wo diese Bibliothek ist, du hast keine Adresse genannt. Da habe ich heute aufgepaßt. Und gesehen, wie du aus der Buchhandlung fortgegangen bist. Ich hatte den Wagen dabei.«

»Gnädige Frau«, sagte Manuel, sich erhebend, »bitte, verzeihen Sie mir! Ich bin an allem schuld! Ich habe Ihren Bruder genötigt, gezwungen, geängstigt, damit er …«

»Ihnen von Valerie und uns und der Vergangenheit erzählte, das habe ich mir gedacht«, sagte Tilly Landau schnell. »Bis zur Sieveringer Kreuzung konnte ich der Straßenbahn nachfahren. Dann habe ich dich aus den Augen verloren, Martin. Aber ich habe mir gesagt, du mußt hier draußen irgendwo mit diesem Herrn zusammentreffen, und so war ich in Sievering in ein paar Lokalen, und über die Höhenstraße bin ich dann hierhergekommen. Martin, Martin, was hast du mir versprochen?«

»Tilly, du hörst doch, Herr Aranda sagt selber …«

»Das habe ich gehört. Warum hast du es mir nicht sofort erzählt? Nötigen? Erpressen? Drohen? Dem hätte ich was erzählt! Der hätte was erlebt! Der wird noch jetzt was erleben, das lasse ich mir nicht gefallen, daß einer einfach in unser Privatleben eindringt! Ich werde …«

»Gar nichts werden Sie«, sagte Manuel, der Tilly endgültig unerträglich fand.

»Nein? Na, das wollen wir erst einmal sehen! Los!« Sie zerrte ihren Bruder hoch. »Schluß jetzt hier! Wir beide sprechen uns noch, Herr Aranda!« Panik klang in ihrer Stimme auf, als sie sich an den Bruder wandte. »Hast du alles vergessen, was ich sagte? Willst du unbedingt auch draufgehen bei dieser Geschichte?«

»Draufgehen …«, stammelte Landau.

»Bewacht werdet ihr, damit du es nur weißt … Zwei Kerle in einem Riesenwagen draußen … auf dem Parkplatz … Sie hatten Ferngläser an den Augen, als ich kam. Und dann nahm einer einen Telefonhörer, während ich ausstieg, und sprach über Funk …«

»Über Funk …« Martin Landau wurde blaß. »Oh, Tilly, wenn die mir etwas tun …«

»Spät fällt dir das ein, sehr spät!«

Gäste hatten sich umgedreht, alarmiert durch die lauten Stimmen. »Wir gehen los!«

Landau machte eine traurige Bewegung mit den Händen, als wollte er sagen: Was kann ich tun?

Manuel stand schweigend da. Sein Gesicht war rot vor Zorn. Aber, dachte er, was kann ich tun? Überhaupt nichts. Er sah zu, wie Tilly ihren Bruder durch das Lokal zerrte. Da, auf einmal, drehte der kleine Mann sich um und rief laut und trotzig zu Manuel zurück: »Das Ergebnis der Blutgruppenuntersuchung wurde Mitte Juni bekanntgegeben!«

»Und?« rief Manuel.

Wieder starrten die Gäste.

»Halt den Mund!« zischte Tilly.

Doch diesmal gehorchte ihr Bruder nicht.

»Verheerend!« rief er schnell. »Die Gruppen schlossen meine Vaterschaft aus! Hundertprozentig! Alles war zu Ende!«

29

»Alles ist zu Ende«, sagte Valerie Steinfeld.

Sie trug ihren schwarzen Verkäuferinnenmantel aus Glanzstoff und sah elend aus. Bleich war das Gesicht, unter den Augen lagen tiefe Schatten, sie sprach hoffnungslos. »Was soll jetzt geschehen? Bei der nächsten Verhandlung wird die Klage abgewiesen werden. Dann ist Heinz endgültig als Mischling gestempelt. Was werden sie mit ihm tun? Und was soll mein Mann erfahren? Davor habe ich ganz furchtbare Angst. Etwas müssen wir ihm doch mitteilen, Fräulein Hill. Aber was? Die Wahrheit …«

»Langsam«, sagte Nora Hill. »Ruhig, Frau Steinfeld. Das Ergebnis der Blutgruppenuntersuchung ist Ihrem Anwalt bekanntgegeben worden – wann?«

»Vor fünf Tagen«, sagte Valerie. »Am sechzehnten Juni.«

»An dem Tag kam ich gerade wieder aus Lissabon zurück.« Nora trug ein zweiteiliges Sommerkleid aus weißem Leinen. Die beiden Frauen saßen in dem Teekammerl der Buchhandlung Landau, in dem es angenehm kühl war trotz der unbarmherzigen Hitze, die seit Tagen über Wien lag. Elektrisches Licht der grünen Schreibtischlampe brannte. Direkt unter ihr lag das winzige Reh aus Blei, das Valerie im Januar Nora Hill gegeben hatte, damit sie es nach Lissabon beförderte, damit Jack Cardiff es weiter nach London beförderte, damit Paul Steinfeld einen Talisman besaß, der ihm Glück brachte. Mittlerweile hatte der Glücksbringer den weiten Rückweg angetreten und war nach Wien und zu Valerie heimgekehrt. Paul Steinfeld hatte zu Jack Cardiff gesagt: »Meine Frau braucht jetzt auch Glück.«

»Sie wird es Ihnen wieder schicken, das kleine Reh. Es wird dauernd unterwegs sein«, hatte Cardiff gesagt.

»Ein hübscher Gedanke«, hatte Paul Steinfeld erwidert …

Nun strich Valerie mit einem Finger über das kleine Stückchen geformtes Blei.

»Paul muß etwas geahnt haben … Er hatte schon immer einen so unheimlichen Instinkt … Mein Gott, was soll jetzt geschehen?«

»Weiß es Heinz bereits?« fragte Nora.

»Nein. Aber natürlich muß er es erfahren. Ich schiebe es hinaus und hinaus … Ich habe einfach nicht den Mut … Die Agnes weiß es … Die hat tagelang gebrochen vor Aufregung und im Bett liegen müssen. Aussehen tut sie wie ein Gespenst.« Im Verkaufsraum ertönte silberhell das Glockenspiel der Ladentür. »Und erst der arme Martin«, fuhr Valerie fort, während man leise und undeutlich Stimmen von draußen vernahm. »Der fürchtet sich zu Tode. Keine Nacht kann er mehr schlafen. Seine Schwester weiß auch noch nichts, er hat es ihr nicht gesagt, aus Angst. Aber sie bohrt und bohrt, er wird es ihr auch sagen müssen … und dann! Was die Tilly dann aufführen wird! Und was dem Martin passieren wird! In der Partei! Ich bin schuld! Ich habe alle diese Leute – die Frau Lippowski, die weiß auch noch nichts – hineingezogen in den Fall. Meinetwegen haben sie falsch geschworen! Was wird das nun für Folgen haben – für sie alle? Fräulein Hill, der Richter ist ein ganz wilder Nazi, der Kurator ein charakterloses Subjekt, ich habe Sie angelogen damals, im Riesenrad …«

»Ja, das fürchtete ich schon.«

»Nur, um Paul zu beruhigen! Jetzt … jetzt weiß ich nicht mehr, was ich tun soll …« Valerie hob den Kopf und sah Nora an.

»Was sagt Forster?«

»Der gute Doktor Forster … Er will einen Ausweg finden … Er überlegt sich etwas … Ich soll ruhig sein … und Martin auch … wir alle … Das ist das Wichtigste jetzt, daß wir nicht die Nerven verlieren …«

Nora Hill richtete sich auf.

»Sie dürfen wirklich nicht die Nerven verlieren, Frau Steinfeld!«

»Das sagen Sie so! Aber an meiner Stelle …«

»Ich vermag mich sehr gut an Ihre Stelle zu versetzen! Es muß einen Ausweg geben. Es gibt immer einen.«

»Hier nicht.«

»Doch! Wir kennen ihn nur noch nicht. Wir haben ihn noch nicht gefunden. Der Ausweg hat gar nichts dagegen, daß wir ihn finden.« Nora lachte mit Anstrengung. »Das kleine Reh wird Ihnen Glück bringen, passen Sie auf! Wir finden den Ausweg!«

»Wie denn?« fragte Valerie verzweifelt. »Wenn die Untersuchung doch eine Vaterschaft Martin Landaus eindeutig ausgeschlossen hat. Eindeutig! Fräulein Hill, das ist eine exakte Untersuchung, da gibt es keinen Irrtum, keinen Fehler, kein Versehen!«

Nora legte eine Hand auf Valeries Hand.

»Lassen Sie mir Zeit. Ein paar Tage. Ich muß mit meinem Freund reden. Dieser Carl Flemming ist ein ganz außerordentlich gescheiter Mann …«

30

»Halt! Moment!«

Manuel hatte sich aus seinem tiefen Sessel neben dem Kamin in Nora Hills Wohnzimmer erhoben. »Jetzt verstehe ich überhaupt nichts mehr! Carl Flemming? Sie haben Frau Steinfeld gesagt, daß Sie damals ausgerechnet mit Flemming, Ihrem Chef, diesem Nazi, über einen Ausweg nachdenken wollten?«

»Ja.«

»Aber wie konnten … Ich meine, das war doch Irrsinn …«

»Gar kein Irrsinn, lieber Freund.« Nora Hill trug einen cremefarbenen Abend-Hosenanzug aus leichter Seide, mit großen Blumen und Blättern in Grün und Rosa bedruckt und tief dekolletiert. Die Hosen waren, besonders unten, sehr weit geschnitten. Nora hatte ihren Smaragdschmuck angelegt.

Eine alte Uhr an der Wand zeigte die Zeit: 22 Uhr 35. Nach seinem so jäh unterbrochenen Gespräch mit Martin Landau war Manuel zuerst in die Möven-Apotheke gefahren, um Irene zu sehen. Von ihr aus hatte er Nora Hill angerufen und sie gebeten, noch am gleichen Abend kommen zu dürfen. Sie war einverstanden gewesen.

»Ich freue mich immer, Sie zu sehen, lieber Freund …«

Manuel hatte anschließend den Hofrat Groll im Sicherheitsbüro besucht. Nach einem späten Abendessen im ›Ritz‹ war er zu Nora Hills Villa hinausgefahren. Viele Autos parkten vor dem phantastischen Rundbau. Es herrschte großer Betrieb an diesem Abend. Nora Hill war mit Manuel in ihr Appartement gegangen und hatte, da er gleich vom negativen Ausgang der Blutgruppenuntersuchung sprach, auch sofort über ihr Treffen mit der ratlosen Valerie Steinfeld berichtet, bis er sie unterbrach.

Nun meinte die schöne Frau mit den gelähmten Beinen sanft: »Als Sie das letzte Mal hier waren – wir mußten unser Gespräch unterbrechen, der Steuerprüfer wartete, Sie erinnern sich …«

»Ja, ja …«

»… da sagte ich Ihnen doch, daß Flemmings Chauffeur mich hier, in diesem Zimmer, vergewaltigte und daß ich, als Flemming dann heimkam, ihm in meiner Angst alles erzählte – das von Valerie Steinfeld und das, was Carlson gemacht hatte, nicht wahr?«

»Ja, das sagten Sie mir.«

»Sie waren entsetzt über meinen Verrat, lieber Freund. Sie konnten mich nicht begreifen.« Nora lächelte. »Ich hatte mir das alles wohl überlegt. Ich kannte Flemming. Er war ein Nazi, ein Karrierist, aber er war kein Narr. Nein, wahrhaftig nicht.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Manuel.

»Setzen Sie sich zuerst wieder, Sie machen mich ganz nervös.«

»Madame, bitte!«

»Ich erzähle ja schon weiter, lieber Freund. Nun, an jenem Januarabend hörte Carl Flemming sich alles, was ich ihm berichtete, schweigend an. Er trank, und ich trank – so wie wir beide heute trinken, in demselben Zimmer, sechsundzwanzig Jahre später. Und als ich endlich fertig war, stand er auf …«

31

… und ging einige Minuten, ohne ein Wort zu sprechen, vor dem Kamin, in dem ein fröhliches Feuer prasselte, hin und her, mit länglichem, markant geschnittenem Gesicht, klugen und zugleich leidenschaftlichen Augen, buschigen schwarzen Brauen und kurzgeschnittenem schwarzem, hartem Haar.

Nora betrachtete ihn gespannt. Sein Schweigen begann ihr neue Furcht zu bereiten. War es doch falsch gewesen …? Sie zündete eine Zigarette an.

Der Leiter des ›Arbeitsstabes Flemming‹ lehnte sich an jene Bücherwand, in deren Mitte Manuel Aranda sechsundzwanzig Jahre später den eingebauten Apparat eines Hausfernsehens erblicken sollte, betrachtete Nora brütend und begann die ›Marseillaise‹ zu pfeifen.

»Carl! Sag etwas!«

Flemming hörte zu pfeifen auf und zuckte die Schultern.

»Wir haben zwei Probleme zu lösen, Liebling. Ein leichtes und ein schwereres. Das schwerere ist mein Chauffeur.«

Nora sah ihn an, und ein Gefühl widerwilliger Bewunderung für diesen Mann erfüllte sie.

»Was machen wir mit Carlson?« fragte sie.

»Langsam. Reden wir zuerst von dem leichten Problem. Ich liebe dich viel zu sehr, als daß ich dir Vorwürfe machen könnte. Es bedeutete auch nur Zeitverschwendung. Und Zeit haben wir jetzt nicht zu verschwenden. Irgend etwas Ähnliches traute ich dir stets zu. Du bist der Typ für derlei. Und für mehr. Zum Beispiel für eine Doppelagentin.«

»Carl! Du denkst doch nicht im Ernst …«

»Nun, früher oder später muß man es in Erwägung ziehen, Liebling …« Flemming ergriff ihre rechte Hand und küßte die Innenseite. »Wenn man bedenkt, wie wenige brauchbare Informationen du bringst – und wie viele unbrauchbare, falsche – von diesem Jack Cardiff …«

»Cardiff ist wirklich auf unserer Seite!« rief sie. »Er verrät sein Land und will Deutschland helfen – aus Überzeugung! Er kann doch nichts dafür, wenn das Material, das er liefert, nicht immer richtig und brauchbar ist!«

»Kann er nichts dafür?« Flemming lächelte freundlich.

»Er tut, was er kann! Vielleicht wird er beobachtet, steht längst unter Verdacht …« Nora phantasierte wild drauflos. »Sie geben ihm vielleicht absichtlich falsche Nachrichten … Wer weiß, in welcher Gefahr er schwebt …«

»Aber Liebling«, sagte Flemming kopfschüttelnd. »Eine einzige kleine Bemerkung von mir, eine völlig verständliche Bemerkung – und du benimmst dich, als ob … man könnte fast glauben, du liebst diesen Cardiff.«

»Ich …«

»Schluß damit. Du liebst ihn nicht, ich weiß. Du liebst mich.« Nora starrte Flemming an. Meinte er, was er sagte? Ahnte er die Wahrheit? Kannte er sie längst? Bis an das Ende ihrer Verbindung sollte dieser Mann für Nora ein Rätsel bleiben. Nie durchschaute sie ihn ganz. »Natürlich bist du keine Doppelagentin. Du arbeitest nur für mich, nur für Deutschland. Und du weißt so gut wie ich, daß Deutschland diesen Krieg jetzt schon verloren hat – wenn er, sinnlos und mörderisch, alles zerstörend, vielleicht auch noch ein oder zwei Jahre weitergehen wird, bis wir beim Ende mit Schrecken angekommen sind. Ich sitze ja an der Quelle. Ich mache mir nichts vor. Die Zeit nach dem Kriegsende wird für mich nicht angenehm werden – wenn ich sie erlebe.«

»Für mich auch nicht«, sagte sie, schnell und hilflos.

»Ach, für dich …« Er lachte kurz. »Du bist eine Frau. Bei Frauen ist das anders. Die Sieger lieben die Frauen. Und die Frauen lieben die Sieger. Außerdem ist deine Position mit meiner nicht zu vergleichen. Ich habe mich viel mehr exponiert – leider. Nichts zu machen. Der Ehrgeiz, Liebling, der Ehrgeiz! Jetzt bin ich sein Opfer. Es ist nötig, an die Zukunft zu denken, gute Taten zu tun – wie du zum Beispiel.«

»Ich?«

»Nun, in dieser Steinfeld-Geschichte.« Er nahm auch eine Zigarette. »Da tust du doch tapfer viel Gutes. Das wird man dir später hoch anrechnen. Deshalb möchte ich es dir gleichtun.«

»Das heißt …«

»Daß du auf meine Verschwiegenheit, meine Sympathie und meine Mitarbeit rechnen kannst.« Er verzog den Mund. »Keine Gefühlsausbrüche, bitte. Du verstehst jetzt, warum ich so großmütig bin. Ich muß versuchen, es auch noch in anderen Fällen zu sein. Damit ich Freunde habe, wenn man mich anklagt, wenn ich vor einem alliierten Gericht stehe. Das wäre natürlich die Voraussetzung: daß Frau Steinfeld dann ausführlich und dankbar erklärt, wie wunderbar ich mich in ihrem Fall benommen habe. Ich stelle mir vor, sie wird das tun, wie?«

»Natürlich, Carl, natürlich …«

Nora nickte.

Schon ein Kerl, dieser Carl Flemming, schon ein Kerl, dachte sie.

»Nun zum größeren Problem, mein Liebling: Carlson, das verfluchte Schwein.«

»Er ist nicht normal, Carl! Er muß geisteskrank sein …«

»Nicht eben beruhigend, wenn du recht hast. Und ich fürchte, du hast recht«, sagte Flemming. »Was soll mit ihm geschehen? Ich kann ihn zur Rede stellen. Anzeigen. Verhaften lassen. An die Front, in eine Strafkompanie bringen lassen kann ich ihn auch noch. Die Beziehungen habe ich. Sogar KZ könnte ich ihm besorgen – Kaltenbrunner wäre mir sicher gern behilflich. Aber«, sagte Flemming, »das alles ist zu gefährlich. Viel zu gefährlich. Denn dieser Hundsfott würde überall erzählen, daß du in der Steinfeld-Geschichte steckst und daß ich dich decke.« Flemming begann wieder zu pfeifen und umherzuwandern, kam dann plötzlich zu Nora und küßte sie auf die Stirn. »Geh schlafen, Liebling. Ich muß über diese Sache nachdenken …« Er küßte sie noch einmal. Danach verließ er das Zimmer.

32

»Carl Flemming hatte sein Appartement auf der anderen Seite des Hauses«, sagte Nora Hill. »Nach dem Kriege wurde hier alles umgebaut.«

Die Frau in dem leuchtend bunten Hosenanzug erhob sich geschmeidig und schwang auf ihren Krücken behende zu dem Fernsehapparat. Sie drückte zwei Knöpfe.

»Ich zeige Ihnen einmal, wie sein früheres Arbeitszimmer heute aussieht. Muß ohnedies einmal nachschauen, was die Trauergemeinde macht.« Harmoniumspiel ertönte, während die Mattscheibe sich langsam erhellte. »Na, Gott sei Dank, alles in Ordnung, keine Nervenzusammenbrüche, keine hysterischen Anfälle.«

Manuel erblickte den großen, völlig in Schwarz gehaltenen Raum, den Nora ihm bei dem Rundgang anläßlich seines ersten Besuches kurz präsentiert hatte. Silberne Kandelaber mit hohen, brennenden Kerzen standen in diesem Zimmer, große Vasen mit weißen Lilien. An einer Seitenwand erblickte Manuel ein liebevoll aufgebautes kaltes Buffet.

Ungefähr ein Dutzend Frauen saßen auf schwarzen Stühlen. Sie trugen alle Trauer – schwarze Kleider, Schuhe, Strümpfe, lange Handschuhe, kleine Hütchen, manche mit kurzen Schleiern. Einige hatten dunkle Sonnenbrillen aufgesetzt. Schmerzerfüllt waren die Gesichter der eleganten Versammlung. Eine sehr dicke Dame saß vor einem kleinen Harmonium und ließ die erstaunlich schlanken Finger über die Tasten gleiten.

»Merci, chérie, für die Stunden, chérie«, sagte Nora Hill ernst.

»Bitte?«

»Das war sein Lieblingslied«, erklärte Nora überschattet, während die dicke Dame am Harmonium weiterspielte und eine andere Dame laut zu schluchzen begann.

»Lieblingslied von wem?« fragte Manuel.

»Von Zigaretten-Wolfi.«

»Zigaretten-Wolfi?«

»Er war bei mir angestellt. Nicht nur als Zigarettenboy. Er half den Mixern, er half in der Küche, er war unerhört fleißig. Sie haben ihn nicht mehr gesehen. Er lag schon seit ein paar Wochen in der Klinik, als Sie zum erstenmal kamen. Gestorben, der arme Kerl. Heute war das Begräbnis auf dem Hietzinger Friedhof. Georg ging hin – für mich. In diesem Schnee kann ich mich nur schwer bewegen. Georg sagt, es war unerhört feierlich. Blumen und Kränze zu Bergen. Auch einen Knabenchor gab es. Der sang: ›So nimm denn meine Hände‹ …« Nora wies auf die Mattscheibe. »Das da sind die erschütterten Hinterbliebenen. Waren alle beim Begräbnis. Jetzt gedenken sie hier noch einmal des Verblichenen.«

»Das sind nur Frauen«, sagte Manuel erstaunt.

»Das sind nur Männer«, sagte Nora.

»Wie?«

»Nur Männer. Alles anständige Transvestiten. Zigaretten-Wolfis intimste Freunde. Ich sage doch, er war unendlich fleißig. Mit einundzwanzig mußte er sterben. Schrecklich. Schweres Unterleibsleiden …«

»Das sind Männer?«

»Aber gewiß. Der am Harmonium, der Dicke, ist ›Fette Ente‹. So wird er genannt.«

»Warum?«

»Er läuft sonst immer mit grünen Filzhüten herum. Und Enteriche haben doch grüne Köpfe. Ein ausgezeichneter Gynäkologe …«

Fette Ente begann ein neues Musikstück – ›Ave Maria‹.

Das Schluchzen wurde lauter. Ein als Frau verkleideter Mann gebärdete sich wie von Sinnen. Er weinte so laut, daß er manchmal das Spiel der Fetten Ente übertönte, wand sich wie in Krämpfen und drohte zusammenzusinken. Andere Trauergäste bemühten sich zärtlich um ihn, stützten seine Schultern, streichelten sein tränenverheertes Gesicht.

»Chinchilla«, sagte Nora. »Hat Zigaretten-Wolfi am meisten geliebt. Leidet entsetzlich unter dem Verlust.«

»Chinchilla?«

»Ein sehr bekannter Pelzhändler.«

Chinchilla war nicht zu beruhigen.

»Der arme Kerl«, sagte Nora. Chinchillas Gesicht war verwüstet, Maskara und Schminke vermischten sich mit Puder.

»Oh!« rief Chinchilla, »oh, Wolfi, Wolfi, mein Wolfi …«

Die Damen, die alle Herren waren, zeigten Erschütterung.

Mit tiefer Inbrunst spielte Fette Ente weiter ›Ave Maria‹ …

»Das also war damals Carl Flemmings Arbeitszimmer in seinem Appartement«, sagte Nora, den Apparat abschaltend.

33

In Carl Flemmings Appartement gab es viele Kostbarkeiten – antike Möbel, Gobelins, Ikonen, alte Teppiche und eine große Vitrine mit einer Sammlung von chinesischem Porzellan aus der Ming-Epoche.

Der Schreibtisch besaß einen Flügel, dessen Tür durch ein Spezialschloß gesichert war. Flemming öffnete es mit einem Yale-Schlüssel und entnahm ihm eine Reihe von Dokumenten. Er schaltete die starke Lampe auf dem Schreibtisch ein und holte aus der Jackentasche eine Kleinstkamera. Neun Dokumente schob Flemming unter den hellen Lichtkegel und fotografierte sie. Er tat alles mit größter Ruhe und Gelassenheit.

Nachdem er die Dokumente fotografiert hatte, legte er sie wieder in ihre Fächer und bückte sich. Ganz unten in dem Seitenflügel lag eine kleine Schachtel. Flemming öffnete sie. Auf Watte gebettet ruhten in der Schachtel viele Glaskapseln. Flemming gab einzelne oft seinen Auslandsagenten mit. Nun wählte er eine, schloß die Schachtel und versperrte das Yale-Schloß. Die Kapsel und die Kamera steckte er ein, dann griff er zum Telefonhörer des Hausapparates und wählte eine zweistellige Nummer. Nach einer Weile meldete sich die verschlafene Stimme Carlsons.

»Tut mir leid, mein Lieber, daß ich Sie so spät noch stören muß.« Flemming sprach freundlich. »Aber es geht nicht anders. Ziehen Sie sich an. Dringender Anruf. Einer unserer Leute fliegt nach Athen. Ich muß ihm noch Akten bringen.«

»In Ordnung, Chef.« Carlsons Stimme klang unruhig.

Flemmings Gesicht war ausdruckslos, als er sagte: »Kommen sie zu mir rauf. Eine ganze Menge Akten. Auch ein paar Ordner. Sie müssen mir tragen helfen.«

»Jawohl, Chef. Ich komme, so schnell ich kann.«

»Gut«, sagte Flemming. Er legte auf, ging zu einer großen Wandbar und entnahm ihr zwei Gläser und eine Flasche Cognac. Er holte die Kapsel hervor, zerbrach sie sehr vorsichtig und ließ ihren Inhalt – feinkörniges Pulver – in ein Schwenkglas rieseln. Mit einer Schere zerkleinerte er dann ebenso vorsichtig die beiden Kapselteile weiter, bis es nur noch feine Splitter waren. Auch diese ließ er in das Glas fallen.

Er ging in sein Badezimmer, wo er sich gründlich die Hände wusch und danach auch noch die Schere, die er, in das Arbeitszimmer zurückgekehrt, wieder auf den Schreibtisch legte. Aus einem Regal nahm er einige Leitz-Ordner und stapelte sie auf einen Stuhl. Er war noch damit beschäftigt, als es klopfte.

»Herein!« rief Flemming.

Carlson, in Chauffeur-Livree, trat zögernd ein. Seine stechenden Augen verrieten große, mühsam unterdrückte Angst.

»Kommen Sie schon rein!« rief Flemming, scheinbar mit den Ordnern auf dem Stuhl beschäftigt.

Wie ein Tier, das jederzeit zur Flucht bereit ist, so trat der Chauffeur näher. Er dachte an das, was sich vor wenigen Stunden ereignet hatte. War Flemming inzwischen mit dieser Hure zusammengewesen? Hatte sie ihm trotz aller Drohungen etwas erzählt? Viel erzählt? Wenn ja, was hatte Flemming dann jetzt vor? Heiß schoß Furcht in Carlson hoch. Er beleckte die trockenen Lippen.

Flemming drehte sich um und sah ihn lächelnd an.

»So, da wäre das ganze Zeug.« Er musterte Carlson. »Was ist los mit Ihnen?«

»Nichts, Chef, nichts … Ich … Mir ist nicht ganz gut …« Carlson war sich immer noch nicht sicher.

»Nicht gut? Dann trinken wir aber einen vor der Fahrt!« Flemming ging zur Bar und goß Cognac in die beiden Gläser, welche er etwas abseits gestellt hatte. Die pulverförmige Substanz in dem einen Glas löste sich auf, Splitter der Kapsel waren nicht zu sehen.

»Sehr liebenswürdig, Chef …« Also sie hat nichts erzählt, die süße Hure, dachte Carlson. Natürlich nicht. Ist ja nicht wahnsinnig. Setzt doch nicht ihr Leben aufs Spiel. Schon alles in Ordnung. Der Alte weiß nichts. »Aber wenn ich fahren muß …«

»Was denn!« Flemming hielt Carlson ein Glas hin. »Von dem Schluck werden Sie ja nicht gleich besoffen sein! Prost!«

»Ihr Wohl, Chef«, sagte Chauffeur Albert Carlson.

Es waren die letzten Worte, die er in seinem Leben sprach. Nachdem er den Inhalt des Glases in einem mächtigen Schluck hinuntergekippt hatte (sehr gut, dachte Flemming, so hat er nun auch die Splitter im Mund), ging alles sehr schnell. Carlsons Gesicht wurde grünlich-weiß, seine Lippen verfärbten sich bläulich, er ächzte, griff sich an den Hals und begann zu taumeln. Das Glas fiel aus seiner Hand. Er stürzte auf den Teppich. Hier begann ein kurzer, schrecklicher Todeskampf. Carlsons Körper verdrehte und verrenkte sich völlig, Schaum quoll aus seinem Mund, die Augen traten aus den Höhlen, er röchelte.

Flemming stand an den Schreibtisch gelehnt. Ruhig zündete er eine Zigarette an, griff wieder nach seinem Glas und trank zufrieden. Er sah dem Mann zu, der vor ihm unter gräßlichen Schmerzen starb. Ihre Augen begegneten sich. Flemming lächelte. Im Augenblick seines Todes erkannte Chauffeur Carlson die Wahrheit. Er streckte eine Hand aus und richtete sich etwas auf. Die Anstrengung war zu groß. Im nächsten Moment brach er zusammen und lag still. Er war tot. Ein Geruch nach bitteren Mandeln begann sich im Raum zu verbreiten.

Pfeifend trat Flemming neben den Mann, den er soeben ermordet hatte, und nahm das Glas, das nicht zerbrochen war, weil Carlson es auf den weichen Teppich hatte fallen lassen. Flemming untersuchte das Glas genau. Einzelne Splitter der Kapsel klebten an seiner Innenseite. Noch einmal ging Flemming ins Badezimmer, fischte die Splitter Stück um Stück heraus und spülte sie fort. Dann wusch er sich neuerlich die Hände, kehrte in das Arbeitszimmer zurück und legte das Glas dort nieder, wo es hingefallen war. Er holte die Kamera hervor, wischte sie sorgfältig mit einem Taschentuch ab und preßte einige Finger des Toten auf das Metall des Fotoapparats. Danach förderte er aus der Brusttasche seiner Jacke ein Duplikat des Yale-Schlüssels für seinen Schreibtisch zutage und drückte Carlsons Finger auch gegen ihn. Er berührte die beiden Gegenstände nicht mehr mit bloßen Händen, sondern hielt sie in das Taschentuch geschlagen. Schnell verließ er das Arbeitszimmer und eilte durch das runde Stiegenhaus der stillen Villa nach unten.

Im Souterrain lag Carlsons Zimmer. Flemming drückte die Türklinke mit dem Ellbogen. In einer Hand hielt er die in das Taschentuch eingeschlagene Kamera und den Schlüssel. Mit einem zweiten Tuch drehte er den Lichtschalter an, sah sich kurz suchend um und stieg dann auf Carlsons Bett, dessen Kopfende beim vergitterten Fenster stand. Die Vorhänge waren zugezogen. Sie hingen an Laufschienen, die durch eine mit Stoff überzogene Schabracke verborgen waren. Zwischen Decke und Schabracke gab es einen kleinen Spalt. In ihn schob Flemming vorsichtig, immer ein Taschentuch benützend, die Kamera und den Duplikat-Schlüssel. Er sprang vom Bett, löschte das Licht und schloß die Tür von außen mit dem Ellbogen. Die Taschentücher steckte er ein, während er zu seinem Arbeitszimmer im ersten Stock zurückeilte. Über den Toten hinweg trat er an den Schreibtisch, trank einen Schluck aus seinem Glas und wählte dann auf dem normalen Telefon eine Stadtnummer.

Es meldete sich die Vermittlung der Gestapo-Zentrale im Hotel ›Metropol‹ am Morzinplatz.

»Flemming.« Der große, breitschultrige Mann sprach nun schroff. »Wer ist ranghöchster Diensthabender?«

»Standartenführer Englert.«

»Verbinden Sie mich. Es ist dringend.«

»Jawohl!«

Gleich darauf meldete sich der Standartenführer.

»Horst? Gut, daß du Dienst hast.«

»Was ist los?«

»Mein Chauffeur Carlson.«

»Ich verstehe nicht …«

»Hatte den Kerl schon lange in Verdacht. Konnte aber nie etwas Konkretes angeben. Heute fand ich wieder geheime Papiere anders in meinem Schreibtisch, als ich sie hineingelegt hatte. Kam erst spät heim. Rief den Hund zu mir rauf. Sagte, wir müßten noch mal wegfahren. Bluff. Nicht beunruhigen, du verstehst …«

»Ja. Und?«

»Gab ihm was zu trinken. Dann sagte ich es ihm auf den Kopf zu. Er leugnete. Ich sagte, ich wollte sein Zimmer durchsuchen. Mit Leuten von euch. Da tat er es dann.«

»Was?«

»Steckte blitzschnell etwas in den Mund und zerbiß es. Eine halbe Minute später war er tot. Zyankali. Stinkt hier nur so nach Blausäure. Kommt sofort heraus. Ich erwarte euch …«

34

»Und das hat Flemming Ihnen erzählt?« Manuel Aranda sah Nora Hill erstaunt an.

»Ja.« Die Frau in dem dekolletierten Hosenanzug nickte. Das Kaminfeuer ließ die großen Smaragde in ihren Ohren aufglühen. »Natürlich nicht sofort. Ich wurde wach – ich war tatsächlich eingeschlafen nach all den Aufregungen –, als die Gestapoleute kamen. Sie brachten auch die Mordkommission der Kriminalpolizei. Das war gegen Mitternacht. Angestellte und Hausgäste kehrten gerade heim, einer nach dem andern. Großes Durcheinander! Untersuchungen! In Carlsons Zimmer wurden der Yale-Schlüssel und die Kamera entdeckt.«

»Fand niemand, daß das ein ziemlich primitives Versteck war?« Nora schüttelte den Kopf.

»Alle waren der Ansicht, daß Carlson die beiden Gegenstände nur provisorisch verborgen hatte, in Eile, als Flemming ihn zu sich rief; daß er gewiß ein viel besseres Versteck besessen hatte, aber an dieses in der kurzen Zeit nicht mehr herangekommen war. Die Kamera und den zweiten Schlüssel zum Schreibtisch trug er eben bei sich, weil er an diesem Abend, an dem das Haus fast leer war, wieder fotografiert hatte. Ganz logisch, nicht wahr? Flemming suggerierte diese Version behutsam seinem Freund Englert von der Gestapo – und vor der Gestapo wieder hatte die Kriminalpolizei Respekt. Der Amtsarzt stellte Tod durch Zyankali fest. Spione führten bei ihren Aufträgen oft Giftkapseln mit sich. Das war durchaus üblich. Splitter fanden sich im Mund Carlsons. Nachts noch wurde der Film der Kamera entwickelt und zeigte die Dokumente, die Flemming fotografiert hatte. Dazu Carlsons Fingerabdrücke auf der Kamera, Flemmings Behauptung, er habe den Chauffeur schon lange verdächtigt … Es stimmte alles zusammen …«

In dem Kleinmädchenzimmer saßen in dieser Nacht Santarin, Grant und Mercier. Sie hörten das Gespräch in Noras Wohnzimmer. Die Lautsprecherübertragung bestand noch immer, das Kleinmädchenzimmer war bis auf weiteres nicht zu mieten.

Santarin, er trug einen silbern glänzenden grauen Anzug, sagte: »Ein, höchstens zwei Besuche noch, und Nora kann zur Sache kommen.«

»Ja.« Grant, die Hüftflasche in der Hand, angetrunken wie stets, nickte. »Dann wären wir soweit.«

Aus dem Lautsprecher über dem buntbemalten Bett, auf dem Santarin sich ausgestreckt hatte und Konfekt aß, ertönte die Stimme Noras: »Wir wurden alle verhört – natürlich hatten wir nichts zu sagen. Mich fragte man besonders lange. Ich war doch am Nachmittag mit Carlson allein im Haus gewesen.«

Manuels Stimme: »Und?«

»Und nichts. Ich hatte mich zu Bett gelegt, weil ich mich nicht wohl fühlte, erklärte ich. Flemming sei kurz zu mir gekommen und dann in sein Appartement hinübergegangen. Ich sage Ihnen, alles stimmte. Englert und Flemming duzten sich. Sie waren Freunde. Es kam nie der Schatten eines Verdachts auf. In den nächsten Tagen versuchte man festzustellen, was Carlson alles verraten hatte, an wen, wie lange er schon spionierte, wo er überall fotografiert hatte – er konnte sich ja auch in der Stadt, im ›Arbeitsstab‹, frei bewegen … Alle diese Untersuchungen verliefen im Sand, man fand nichts. Aber man blieb überzeugt, daß Carlson wirklich ein Agent gewesen war – Beweis: sein Selbstmord!«

Santarin sagte, die Konfekttüte aus Goldkarton hin und her drehend: »Was er weder von Nora noch sonst jemandem hier erfahren kann, dürfte Aranda von Daniel Steinfeld hören. Der kommt am Montag, das haben wir eruiert.« Santarin sah zu Mercier. »Einer unserer Freunde sitzt in dem Postamt, von dem aus Irene Waldegg ein Telegramm aus Warschau zugestellt wurde.«

»Gratuliere«, sagte Mercier. Er dachte: Am Montagmittag kommt auch Herr Anton Sirus aus Bremen, du Scheißkerl, der du so verliebt bist in die eigene Schlauheit. Am Dienstagfrüh fliegt er mit der ersten Maschine zurück. Wenn er den Tresor wirklich öffnen kann – und er wird es können, er hat es De Brakeleer gesagt, nachdem dieser ihm heute alle Unterlagen brachte, der Holländer hat mich angerufen –, dann habe ich Montagnacht das, was ich aus diesem Tresor haben will. Was werdet ihr dann tun, du, russischer Schönling, und du, versoffenes amerikanisches Schwein? Herrgott, diese Bürokratie! Schwerer, als Anton Sirus zu heuern, war es, das französische Kultusministerium so weit zu kriegen, daß das Musée de l’Impressionisme Monets ›Mohnblumen‹ zum Verkauf freigab – Sirus’ Bedingung. Wir sind eben eine uralte Kulturnation. Die aber auch die beste B-Waffe der Welt haben will …

In ihrem Wohnzimmer sagte Nora Hill: »Zur ersten Frage: Flemming gestand mir alles, als sich die Aufregung etwas gelegt hatte. Da waren wir abends wieder einmal allein. Ich fragte ihn nur ganz kurz, denn ich war meiner Sache völlig sicher. Er gab sofort alles zu.«

»Er muß großes Vertrauen gehabt haben«, sagte Manuel.

»Vertrauen!« Nora lachte. »Die Hosen hatte er schon voll, ich erzählte es Ihnen doch. Und er haßte Carlson über dessen Tod hinaus für das, was der mit mir getan hatte, denn er liebte mich doch so sehr!« Wieder lachte Nora, diesmal klang es traurig und zugleich böse. »Die Liebe«, sagte sie. »Eine Himmelsmacht eben. Ich habe übrigens niemandem bis zum heutigen Tag diese Geschichte erzählt – auch Cardiff nie.«

»Und Frau Steinfeld?«

»Frau Steinfeld? Ach so, Sie meinen, weil Flemming ja doch erklärt hatte, schweigen und ihr helfen zu wollen, wenn sie nach dem Krieg tüchtig zu seinen Gunsten aussagte?«

»Ja.«

»Nun, Frau Steinfeld teilte ich genau das mit. Und daß Flemmings Chauffeur sich vergiftet hätte. Mit einer Zyankalikapsel.«

»Warum taten Sie das? Ich nehme doch an, die Sache wurde geheimgehalten.«

»Natürlich wurde sie das. Derartige Dinge schwieg man tot. Ich sagte es Frau Steinfeld, weil sie immer noch solche Angst hatte, daß ich beobachtet würde – von dem Mann im blauen Mantel mit dem Homburg. Da meinte Flemming, es sei das beste, ihr zu erzählen, daß Carlson dieser Mann gewesen war. Und daß sie nun keine Angst mehr zu haben brauchte. Das beruhigte sie dann auch. Und sie vertraute von da an ganz mir und dem, was Flemming sagte.«

»Was sagte er denn?«

»Zunächst gab er nur Ratschläge – ich berichtete ihm dauernd alles, was sich zutrug. Aber wirklich aktiv wurde er erst, nachdem Frau Steinfeld mir berichtet hatte, die Blutgruppenuntersuchung sei negativ ausgegangen, Martin Landau könne nicht der Vater sein. Das erzählte ich Flemming sofort, hier, in diesem Raum. Ein schöner Sommerabend war das, es blieb lange hell …«

35

… und der Himmel wurde langsam, ganz langsam, blaßblau, rosa, dunkelrot im Westen. Schwarz, als Silhouetten, standen die Wipfel der hohen, alten Bäume vor den Fenstern von Noras Wohnzimmer. Die Flügel waren weit geöffnet. Nach der Hitze des Tages kam kühle Luft herein. Im Park sang eine Nachtigall.

Schweigend hatte Flemming Noras Worten über die unglückliche Wendung des Prozesses gelauscht. Er rauchte Pfeife. Lange saß er nachdenklich da, dann trat er an ein Fenster und blickte in die Dämmerung hinaus. Nora wartete geduldig.

Schließlich drehte der große Mann sich um.

»Ich sehe nur einen Weg«, sagte er, »der vielleicht – vielleicht – Erfolg haben könnte.«

»Ja?« Solange Nora Flemming kannte, empfand sie Haß und Bewunderung zugleich für diesen Mann.

»Kein leichter Weg. Auch kein sicherer. Man braucht gute Nerven, um ihn zu gehen. Die Nerven von Frau Steinfeld sind schon reichlich strapaziert, wie?«

»Reichlich. Aber um den Jungen zu retten, hält sie jede Belastung aus! Sie will nur eines: den Jungen durchbringen. Nun sag mir, was du dir überlegt hast. Woran denkst du?«

»An einen Toten«, antwortete Flemming.

»Woran?«

»Der Vater muß tot sein.«

»Ich verstehe nicht …«

»Der angebliche Vater dieses Jungen«, sagte er leise und geduldig. Süß sang eine Nachtigall im Park. »Frau Steinfeld wird hoffentlich einen Mann gekannt haben – gut gekannt, etwa wie Landau –, der schon gestorben ist. Einen Arier. Es sterben viele Leute jetzt, nicht wahr? An der Front zum Beispiel. Obwohl es andererseits vielleicht besser wäre, wenn dieser Mann schon länger nicht mehr lebte. Aber die Zeugen müßten ihn noch alle gekannt haben – oder andere Zeugen jedenfalls … ich meine: Leute, die bereit sind, vor Gericht so auszusagen wie die ersten Zeugen … Dieselben Zeugen wären die besten, versteht sich …« Er sah den Rauchwolken nach. Agenten brachten ihm aus dem neutralen Ausland englischen Pfeifentabak.

»Ein toter Vater«, sagte Nora atemlos. »Du bist großartig. Das ist die Lösung! Einen toten Mann kann man nicht mehr anthropologisch untersuchen! Von einem toten Mann kann man keine Blutgruppenuntersuchung mehr machen!«

»Ich weiß nicht, ob das Gericht ebenso begeistert sein wird wie du.«

»Ich will Frau Steinfeld sofort anrufen! Morgen gehe ich zu ihr in die Buchhandlung!«

»Ich weiß nicht einmal, ob Frau Steinfeld so begeistert sein wird, Liebling«, sagte Flemming. »Sie und ihre Freunde und Bekannten. Ob die mitmachen. Ob es überhaupt jemanden gibt, der in Frage kommt, einen passenden Toten. Und was Herr Landau sagt …«

»Den wird sie herumkriegen!« Nora suchte schon in einem Telefonbuch Valeries Anschlußnummer in der Gentzgasse. »Diese Frau kriegt alle noch einmal herum! Da ist es! B 32 4 56.« Sie begann zu wählen …

36

»Diesen Vorschlag hat dir Nora Hill gemacht?« fragte Ottilie Landau. Sie sah blaß und erschöpft aus, die etwas zu spitze Nase trat noch auffälliger hervor, die Wangen waren eingefallen, die schmalen Lippen blutleer. Ottilie Landau konnte Hitze nur schlecht ertragen, und es war unmenschlich heiß gewesen an diesem 23. Juni 1943. Selbst der Abend brachte keine Abkühlung – schon gar nicht in der Innenstadt. Die Hitze war bereits in das Teekammerl der geschlossenen Buchhandlung gedrungen und hatte sich hier festgesetzt, unbarmherzig, nicht mehr zu vertreiben, nun, da sich einmal die meterdicken Mauern erwärmt hatten. Es sind auch zu viele Menschen hier, dachte Tilly, ihr Gesicht mit einem leicht verblichenen Spitzentaschentuch abtupfend. Valerie, Martin, Agnes, ich. Wir haben kaum Platz …

»Ja. Nora Hill kam her und meinte, das sei das beste.« Valerie hatte dunkle Ringe unter den Augen, das Haar hing ihr in ein paar Strähnen herab. Nur dem alten Freund Martin hatte sie verraten, daß die Idee von Flemming stammte, daß dieser nun auf ihrer Seite stand – aus Gründen seiner Rückversicherung. »Ich finde den Vorschlag ausgezeichnet – unter den Umständen, meine ich.«

»Unter den Umständen!« Martin Landau, der in dem defekten Schaukelstuhl saß, produzierte ein jämmerliches Lachen. Er hielt seit ein paar Tagen wieder den Kopf schief und die Schulter hochgezogen, auch im Sitzen. »Unter den Umständen halte ich jeden Vorschlag für ausgezeichnet, der verhindert, daß ich wegen Meineids angeklagt werde!«

An diesem Abend fand Valerie bei Tilly Unterstützung.

»Na, darauf läuft es doch hinaus!« rief diese.

»Worauf?«

»Wenn wir dem Gericht einen neuen Vater präsentieren, bist du entlastet!«

Martin Landau hatte eine Nacht zuvor, von schrecklichen Träumen gequält, laut im Schlaf geschrien, die Wahrheit über das negative Ergebnis der Blutgruppenuntersuchung herausgestammelt. Tilly, erschrocken herbeigeeilt, hatte alles vernommen und den Bruder geweckt. Er war zusammengebrochen. Weinend gab er der Schwester zu, was dieser nie zweifelhaft erschienen war – nämlich, daß ihn keinesfalls intime Beziehungen mit Valerie verbunden hatten. Seine Worte waren von einer schweigsamen Tilly gehört worden. Nun wußte also auch sie Bescheid …

»Wieso bin ich dann entlastet?« fragte Martin Landau jetzt.

»Herrgott! Schließlich kann Valerie ihren Mann ja mit noch einem Mann betrogen haben, nicht nur mit dir!« Tilly benahm sich, als sei ihr die neue Entwicklung hochwillkommen. Dabei war sie voll Zorn zu der Buchhandlung gefahren, wohin Valerie alle gebeten hatte. Erleichtert dachte sie jetzt: Ich habe geglaubt, Valerie will uns noch tiefer hineinreißen in diesen Irrsinn, jetzt, wo es schiefgegangen ist – besonders Martin. Aber nein, sie hat ja einen Vorschlag, der die Sache von uns wegzieht!

»Natürlich kann die gnä’ Frau auch mit mehr Männern …« Die kleine Agnes Peintinger, die auf dem alten Sofa saß, brach erschrocken ab. »Bitte um Entschuldigung, gnä’ Frau! Wir wissen alle, daß es nicht so war. Aber sie muß doch weitergehen, die Geschichte, wenn wir dem Heinzi helfen wollen. Und es ist doch ein Riesenglück, daß wir so einen Toten haben, nicht?« Die Agnes sah sich strahlend um. Als sie die verschlossenen Gesichter der anderen bemerkte, wurde auch sie ernst. »Ich meine … Wir denken doch alle an denselben Herrn, nicht? Der war doch auch so oft draußen bei uns in Dornbach … sogar ein Freund vom Herrn Landau! Also, ich tät auf der Stelle schwören, daß er sich sehr gut verstanden hat mit der gnä’ Frau und daß er sie oft besucht hat, wenn der gnä’ Herr verreist war!«

»Ich würde das auch beschwören – um Martin zu helfen. Und dir, Valerie«, sagte Tilly.

»Und Frau Lippowski?« fragte Martin Landau, mit schiefem Kopf. »Immerhin. Ob die noch einmal …?«

»Ich fahre morgen zu ihr. Ich bin sicher. Jetzt, nachdem sie ihren Mann umgebracht haben – und nach dem, wie sie sich das letzte Mal benahm!« Valerie sprach schnell.

»Dann wären wir ja alle wieder zusammen«, sagte Tilly. »Was meint der Doktor Forster dazu?«

»Der hat sich das angehört, ohne eine Miene zu verziehen. Er muß doch so tun, als ob er mir alles glaubt. Aber er ist einverstanden, das hat er mir zu verstehen gegeben, indirekt. Und dann ist ja auch noch das anthropologische Gutachten gekommen.«

»Was?« rief Landau. »Wann ist es eingetroffen?«

Alle sahen Valerie an.

»Heute. Bei ihm.«

»Und? Und?« rief die Agnes.

»Vier Seiten, aus denen selbst Forster nicht schlau wird«, sagte Valerie.

»Aber dann, bei der Zusammenfassung, da steht es schwarz auf weiß!« Sie holte einen Zettel hervor. »Ich habe es wörtlich abgeschrieben.« Sie las: »›Das rassische Erscheinungsbild des Klägers‹ – also das ist der Heinz – ›läßt keinerlei Merkmale erkennen, aus denen auf eine jüdische Abstammung geschlossen werden könnte, obwohl‹ – obwohl, hört euch das an! – ›obwohl der gesetzliche Vater des Klägers auf den vorgelegten Fotografien jüdische Züge in besonders reichem Maße zeigt!‹«

Ein Schweigen folgte.

Dann sagte Landau: »Himmelarschundzwirn.«

»Martin!« rief Tilly entsetzt.

»Es ist zum Verrücktwerden! Ein erstklassiges Gutachten! Sieht aus wie ein reiner Arier, der Heinz! Wir wären durch, wir hätten den Prozeß gewonnen, wenn nur nicht diese gottverfluchte Blutgruppenbestimmung gewesen wäre.«

»Gegen die können wir nichts tun«, sagte Valerie. »Aber das Gericht muß anerkennen, was das anthropologische Gutachten sagt. Waren schließlich SS-Ärzte, die es gemacht haben! Das erleichtert alles ungemein, wenn ich nun sage, ich habe mich eben geirrt, und nicht Martin ist der Vater, sondern Ludwig Orwin.« Valerie sprach etwas langsamer, sie formulierte schon: »Ludwig Orwin, der bekannte Bildhauer, auch ein Jugendfreund von mir … Seine Werke stehen in vielen deutschen Museen, in Parks, vor öffentlichen Gebäuden … bekannter Künstler … ging bei uns ein und aus … Martin und er waren befreundet …«

»Und haben beide mit dir geschlafen«, sagte Landau trübe.

Seine Schwester sah ihn nur ironisch an, aber sie schwieg.

»Ja«, sagte Valerie, »ich habe mit euch beiden geschlafen. Ihr habt es nicht gewußt voneinander. Ich wollte eure Freundschaft nicht zerstören.«

»Ausgerechnet Ludwig Orwin. Immerhin war der wirklich mein Freund«, murmelte Martin Landau.

»Nimm dich zusammen!« Tilly fauchte ihn richtig an. »Wir haben keinen anderen!«

Die Agnes sagte bange: »Schrecklich wird das sein für die gnä’ Frau, wenn sie das dem Gericht erzählen muß.«

»Mir macht es nichts«, sagte Valerie, ohne jemanden anzusehen. »Die halten mich sowieso für den letzten Dreck.« Sie warf den Kopf zurück. »Der arme Ludwig kam schon 1934 bei dem Eisenbahnunglück vor Hamburg ums Leben! Also, das ist eine ganz unheimlich gescheite Frau, diese Nora Hill!« (Ihren Freund Carl Flemming meine ich in Wahrheit, dachte Valerie.)

»Wenn das Gericht – immerhin – diese zweite Version aber ablehnt?« fragte Landau.

»Es wird sie nicht ablehnen! Es darf sie nicht ablehnen!«

»Wunschdenken! Darf nicht! Dieser elende Nazirichter! Der darf nicht? Das möchte ich einmal sehen! Eine besondere Freude wird es für ihn sein, zu sagen, jetzt ist Schluß, weiter anlügen lasse ich mich nicht!«

»Wir haben den Doktor Forster!« sagte Valerie. »Wir haben diesen Kurator, der das erste Mal schon halb auf unserer Seite war!«

»Jetzt wird er es kaum mehr sein«, stöhnte Landau.

»Inzwischen kriegen wir mehr und mehr Prügel – an allen Fronten. Und ob er auf unserer Seite sein wird, der Feigling!« rief Valerie und überlegte: Wunschdenken, Martin hat recht, das alles wünsche ich mir nur. »Was ist los mit dir? Bisher warst du so mutig. Und nun, auf einmal …«

»Ich war nie mutig«, sagte der zierliche Mann leise. »Ich habe mich nur wahnsinnig zusammengerissen. Jetzt … jetzt komme ich mir vor wie ein Luftballon, dem die Luft ausgeht.«

»Du wirst dir noch ganz anders vorkommen, wenn du jetzt nicht mitspielst und die Partei dir auf den Hals rückt mit deinem Meineid«, sagte Tilly scharf.

Er zuckte zusammen.

»Ja«, stotterte er, »ja, das ist wahr … Ich … habe ja überhaupt keine Wahl … Ich muß weiter mitmachen …«

»Und mit Überzeugung und mit Gefühl«, sagte Tilly drohend.

Aus Angst um ihren Bruder ist sie meine Verbündete geworden, dachte Valerie.

»Also auf mich kannst du rechnen«, sagte Tilly. »Und auf den Martin auch. Den bearbeite ich schon noch, verlaß dich drauf. Wir müssen vor der nächsten Verhandlung natürlich noch alles genau besprechen.«

37

»… du kannst dir sicherlich vorstellen, wie schwer es mir fällt, das alles zu erzählen, mein Junge«, sagte Valerie, mühsam nach Worten suchend. »Aber nun hat die Untersuchung ergeben, daß Onkel Landau nicht dein Vater sein kann – also muß es Ludwig Orwin sein. Du erinnerst dich doch noch an den Onkel Ludwig? Er hat dir immer Spielzeug mitgebracht, und Märchen vorgelesen hat er dir auch, als du noch ganz klein warst …«

Heinz Steinfeld antwortete nicht. Er saß, in einem Pyjama, auf dem Rand seines Bettes und sah die nackten Füße an. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos, fand Valerie, die neben ihm saß. Heinz ging stets bald nach seiner Heimkehr zu Bett – er mußte sehr früh aufstehen, um rechtzeitig in die Fabrik zu kommen.

»Erinnerst du dich nicht an den Onkel Ludwig?« Valeries Stimme klang drängend.

»Doch, doch, ich erinnere mich an ihn«, sagte Heinz, ohne aufzublicken.

»Du mußt gar keine Angst haben! Wir werden den Prozeß weiterführen, ich werde das, was ich dir erzählt habe …«

»Dem Gericht erzählen.« Es klang harmlos, doch sie sah ihn gespannt an. Er wich ihrem Blick hartnäckig aus.

»Dem Gericht erzählen, natürlich!« Valerie griff sich an den Hals. »Onkel Martin ist so vor den Kopf gestoßen wie du, seit ich ihm gesagt habe, daß ich auch mit … mit Onkel Ludwig … Aber du weißt nicht, wie meine Ehe war, Heinz … Niemand weiß das wirklich … eine Hölle, ja, eine Hölle!«

»Du mußt nicht so schreien, Mami«, sagte Heinz. Jetzt betrachtete er seine Fingernägel. »Und dich nicht so aufregen.«

»Natürlich muß ich das!« Valerie hatte das Gefühl, daß sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen würde. Aber ach, dachte sie, ich kann ja nicht mehr weinen. Ich wünschte, ich könnte es noch, so wie früher. Ich habe das Weinen verlernt. »Onkel Martin und Onkel Ludwig … Die besten Freunde waren sie … Und ich habe sie beide hintergangen …«

»Und deinen Mann auch.« Plötzlich war die Stimme des Jungen hart.

»Was heißt das? Freilich den auch!«

Nun sah er sie an, kühl, sachlich.

»Was hast du, Heinz? Glaubst du mir etwa nicht?«

Er fragte langsam: »Du hast ihn ganz sicher betrogen, deinen Mann, ja?«

»Ja! Ja!«

»Das kannst du beschwören – bei meinem Leben, nicht vor irgendeinem Richter? Bei meinem Leben?«

Valerie antwortete mit fester Stimme: »Bei deinem Leben, ja, Heinz.« Er sah sie immer weiter an, sie hielt seinen Blick kaum aus, aber sie zwang sich, ihn zu ertragen. Nun habe ich beim Leben meines Jungen falsch geschworen, dachte sie.

»Na ja«, sagte Heinz.

»Was heißt das nun wieder? Was hast du denn?«

»Ach weißt du, Mami, ich bin ja kein Idiot. Und wenn man kein Idiot ist, dann fragt man sich in einer solchen Situation natürlich: Lügt die Frau« (›die Frau‹ sagt er von mir, dachte Valerie entsetzt) »nicht und schwört jeden Meineid, nur weil sie ihren Sohn, der einfach ein Halbjud ist, zum Arier machen will? Das ist doch verständlich, daß man sich das fragt! Jeder Richter wird sich das fragen.«

»Aber so ist es nicht«, rief Valerie. »So ist es nicht, Heinz, ich habe es dir doch geschworen!«

»Nicht«, sagte er leise.

»Was nicht?«

»Du sollst nicht so schreien. Und dich nicht so aufregen.«

»Ich muß mich aufregen! Glaubst du etwa, für mich ist es eine Kleinigkeit, jetzt so vor dir dazustehen? Deine Mutter, die nicht einmal sagen konnte, welcher dein Vater ist! In was für eine seelische Lage bringe ich denn dich? Was mußt du denn jetzt von mir denken?«

Seine Lippen bewegten sich kaum, als er sprach, und seine Stimme klang für Valerie wie die eines fremden Menschen.

Heinz sagte: »Was ich von dir denke, darüber will ich nicht reden.«

»Heinz!«

»Nein. Ich will nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil es keine Rolle spielt«, antwortete er.

»Keine Rolle? Aber für mich spielt es eine Rolle!«

»Für mich nicht. Für mich spielt eine einzige Sache auf der Welt eine Rolle. Alles andere ist mir egal.«

»Wovon sprichst du?«

»Von dem Juden. Ich bin nicht sein Sohn. Das hast du beschworen. Der Onkel Martin ist nicht mein Vater, der Onkel Ludwig ist es also. Meinetwegen. Gut, daß ihr das so rasch herausgefunden habt. Ich hätte mich sonst noch an den Onkel Martin als Vater gewöhnt. Kleiner Irrtum. Kann vorkommen. Irren ist menschlich.« So muß ein SS-Führer sprechen, dachte Valerie entsetzt, ein Himmler, ein Kaltenbrunner! Und es ist mein Junge, der so spricht, mein Junge! Schaudernd hörte sie, was Heinz noch sagte: »Die einzige Sache auf der Welt, die für mich eine Rolle spielt, ist, daß der Jud nicht mein Vater ist, daß ich ein Arier bin!«

38

»Dies war also die Reaktion Ihres Sohnes«, sagte Nora Hill drei Tage später im Teekammerl der Buchhandlung. Es war gerade Mittagspause. Martin Landau machte seinen Spaziergang um den Block. Valerie saß am Schreibtisch. Sie hatte der jungen Frau alles erzählt, was geschehen war. Nun nickte sie.

»Ja, das ist seine Reaktion gewesen. Danach sagte er nur noch, daß er jetzt schlafen müsse, es sei schon spät …«

Nora Hill trug an diesem heißen Tag ein kornblumenblaues Kleid aus leichter Seide, weiße Handschuhe, weiße Schuhe und einen großen, breitkrempigen weißen Hut.

»Das ist alles sehr schwer für Sie, Frau Steinfeld …«

»Es geht schon.« Valerie strich über ihren Verkäuferinnenmantel. »Es muß gehen. Es wird gehen!«

Nora klopfte auf Holz.

»Nein, nein, wirklich! Das anthropologische Gutachten ist hervorragend! Alle sind bereit, noch einmal als Zeugen auszusagen, auch die Frau Lippowski. Den Doktor Forster sehe ich morgen wieder. Ich habe bei meinem allerersten Besuch in seiner Kanzlei von einem zweiten Mann geredet, sagt er, es steht im Protokoll, er hat nachgeschaut.«

»Wieso? Hatten Sie damals selber schon die Idee …?«

»Nein! Das war nur Panik, soweit ich mich erinnere. Er erschreckte mich mit der Möglichkeit, daß sich Herrn Landaus Vaterschaft als unmöglich erwies – da habe ich auf alle Fälle von einem anderen Mann geredet, wissen Sie? Instinkt muß das gewesen sein … Jetzt ist es ein Segen, sagt der Doktor, denn dieses erste Protokoll hat er seinerzeit dem Gericht zur Verfügung gestellt, darauf kann er sich nun berufen … Nein, nein, mit mir brauchen Sie kein Mitleid zu haben. Es geht mir … großartig geht es mir, denn jetzt habe ich doch neue Hoffnung!« Valerie neigte sich vor. »Ach, etwas ganz Wichtiges, Fräulein Hill! Wann fliegen Sie wieder nach Lissabon?«

»Bald schon diesmal, in zehn Tagen. Wir sehen uns natürlich noch. Herr Flemming will genau informiert sein. Vielleicht hat er auch noch einen Einfall oder kann einen Rat geben oder mit seinen Beziehungen etwas anfangen. Da muß er natürlich sehr vorsichtig sein. Und Sie dürfen ihn nie verraten!«

»Nie!« Valerie hob zwei Finger wie ein Kind. »Aber nach dem Krieg werde ich mich dankbar zeigen, darauf kann er sich verlassen.«

»Darauf verläßt er sich auch. Etwas ganz Wichtiges wollten Sie mir noch sagen, Frau Steinfeld?«

»Ja. Eigentlich sind es zwei Sachen. Erstens: Bitte erzählen Sie Ihrem Freund, hier in Wien geht alles sehr langsam, aber ausgezeichnet. Die Blutgruppenbestimmung hat eine Vaterschaft von Herrn Landau möglich gemacht! Wie zu erwarten gewesen ist. Bitte, Fräulein Hill – Sie werden lügen, ja?« Plötzlich fühlte Nora ihre Hände von den eiskalten Händen Valeries gepackt. »Selbst Ihr Freund darf die Wahrheit nicht kennen! Damit er sich nicht vor meinem Mann verspricht. Pauls Gesundheit! Wenn der sich aufregt … Mein Gott, krank werden würde er bestimmt! Sie sagen Ihrem Freund, es dauert alles lange, aber es geht uns allen gut … das tun Sie doch, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Nora Hill, erfüllt von Mitleid, »das werde ich tun, Frau Steinfeld. Und was war die zweite Sache?«

»Die zweite Sache …«, Valerie holte Atem. »Herrn Flemmings Chauffeur hat sich doch mit Zyankali vergiftet …«

»Und?«

»Und Sie haben mir gesagt, daß Agenten und … und solche Leute alle diese Kapseln haben, daß das gar nicht ungewöhnlich ist.«

»Ja, sicherlich.«

»Dann hat Herr Flemming doch bestimmt auch Gift! Streiten Sie es nicht ab! Ganz gewiß hat er auch etwas!«

»Ich streite es ja gar nicht ab. Seien Sie nicht so laut!«

Valerie flüsterte: »Ich möchte ihn bitten, herzlichst bitten, daß er mir durch Sie zwei von seinen Kapseln schickt …«

»Sie wollen doch nicht – um Gottes willen, Frau Steinfeld!«

»Nein, nein, wo denken sie hin! Nur für den Notfall … für den äußersten Notfall …« Valeries flüsternde Stimme hetzte. »Es weiß doch niemand, was noch alles kommt! Und dann sind Sie oder Herr Flemming vielleicht nicht da, um zu helfen … und sie holen uns … den Heinz und mich … ich weiß nicht, wohin … ich meine, ich weiß es genau! Und Sie wissen es auch! Ich … ich will dann nicht noch gequält werden … und ich will nicht, daß sie den Heinz quälen … Er ist doch noch ein Kind …« Valerie griff wieder nach Noras Händen. »Ich verspreche Ihnen, ich werde die Kapseln nur benützen, wenn es absolut notwendig ist! Wird er mir zwei geben, der Herr Flemming? Glauben Sie das?«

»Ich glaube schon«, sagte Nora Hill erschüttert.

»Das ist ein guter Mensch«, murmelte Valerie. »Wahrhaftig, ein guter Mensch …«

39

Drei rostrote Eichkätzchen mit dunklen Schwänzen. Zwei graubraune. Und zwei schwarze. Sie saßen auf einem freigeschaufelten Weg des Türkenschanzparks, am Rande eines der kleinen, zugefrorenen Seen, und sie knabberten Haselnüsse, die sie zwischen ihren winzigen Pfoten hielten. Aufrecht saßen sie da, die dichtbehaarten Schwänze elegant aufgestellt, ganz zahm, ganz nahe vor Irene und Manuel, die sie fütterten. Sie hatten die Nüsse in kleinen Säckchen aus einem der Automaten im Park gezogen. Es war Samstag, der 25. Januar, gegen halb drei Uhr nachmittag.

Manuel hatte den Vormittag bei dem Hofrat Groll verbracht und ihm von seinem Gespräch mit Nora Hill in der Nacht zuvor erzählt. Sie war nicht in der Lage gewesen zu sagen, wie der Prozeß mit dem vorgeblichen zweiten, verstorbenen Kindsvater weitergegangen war, und hatte ihre Erzählungen deshalb hier wieder einmal unterbrechen müssen …

»Aber der Anwalt weiß sicher Bescheid, lieber Freund.«

»Ich bin mit ihm verabredet, morgen nachmittag.«

»Sehen Sie. Und wenn Sie Bescheid wissen, kommen Sie wieder zu mir …« So war das Gespräch mit Nora beendet worden.

»Eines noch«, hatte Manuel dann später zu Groll gesagt.

»Ja?«

»Die Giftkapseln … Frau Hill hat es mir erzählt: Flemming gab sie ihr, als sie ihn darum bat, und sie gab sie Frau Steinfeld. Die bewahrte sie auf. Sechsundzwanzig Jahre lang bewahrte sie die Zyankalikapseln auf! Bis in dieses Jahr, in diesen Monat, bis zum neunten Januar … Ja, Herr Hofrat, das Gift, mit dem Frau Steinfeld meinen Vater und sich selber tötete, stammte von Flemming.«

»Also wäre auch das endlich geklärt«, meinte der Hofrat, am Samstagvormittag, in seinem Büro. Mit einem Finger umfuhr der schwere Mann das silbrig-grüne Ginkgo-Blatt, das unter Glas auf seinem Schreibtisch lag. Die Fingerkuppe glitt vom Stiel aufwärts den ganzen Blattumriß entlang und wieder zum Stiel zurück.

»Aber warum hat sich Frau Steinfeld all die Jahre hindurch geweigert, das Gift wegzuwerfen? Warum hob sie es auf? Für meinen Vater? Herr Hofrat!«

»Das wissen wir nicht«, sagte Groll.

»Das wissen wir noch nicht! Ich finde es heraus! Ich finde alles heraus, wie Sie sehen, Herr Hofrat! Auch das Letzte …«

»Sicherlich«, hatte Groll, das Blatt umfahrend, geantwortet.

Die Möven-Apotheke schloß am frühen Samstagnachmittag. Manuel hatte Irene zu einem Mittagessen im ›Ritz‹ abgeholt – schon um zwölf Uhr –, danach waren sie hier heraus, zu dem großen Park gefahren und hatten den Wagen in der Gregor-Mendel-Straße stehen lassen.

Sie machten einen weiten Spaziergang. Es war sehr kalt an diesem Tag, windstill, und es schneite nicht. Irene trug ihren Seehundmantel und die Seehundstiefel, Manuel seinen Kamelhaarmantel und die Pelzmütze. Er hatte auch Irene alles erzählt, beim Essen, während der Fahrten. Im Park gingen sie schweigend nebeneinander. Und weit hinter ihnen schritten zwei Männer, die Hände in den Taschen, und blieben stehen, wenn die beiden stehenblieben, und gingen weiter, wenn die beiden weitergingen. Heute bewachten Franzosen Manuel Aranda …

Bei dem kleinen See hatte Irene dann die Eichkätzchen erblickt. Zuerst waren zwei der possierlichen Tierchen über die weiten Schneeflächen der Wiesen gehüpft gekommen, dann drei, nun waren es sieben. Sie knabberten um die Wette.

Manuel sah Irene an, während er eine neue Handvoll Haselnüsse auf den Weg warf.

»Woran denken Sie?«

»An den Jungen«, sagte sie.

An ihren Bruder, überlegte er. An ihren Bruder, von dem sie, wenn ich es verhindern kann, niemals wissen wird, daß es ihr Bruder war. Wie seltsam, daß sie nach allem, was ich erzählt habe, nun über ihn nachsinnt. Seltsam?

»Und was meinen Sie?« fragte er.

»Daß er ein schreckliches Schicksal hatte«, sagte Irene.

»Schreckliches Schicksal?« wiederholte er überrascht. »Wenn hier jemand zu bemitleiden ist, dann, finde ich, die Mutter! Sie hat am meisten gelitten! Bedenken Sie, wie weh ihr das Verhalten des Jungen getan haben muß, als er so mit ihr redete. Man könnte direkt fragen: War ein solcher Mensch das alles wert – das Leid, die Lügen, die Aufregungen, die ganze Mühe?«

»Nein, so kann man nicht fragen!« sagte Irene heftig.

»Und sein Verhalten gegen Bianca? Und was er damals mit diesem geflohenen Russen tun wollte, bloß weil er sich schon so sehr als ›deutscher Mensch‹ fühlte?«

»Das eben nenne ich ein schreckliches Schicksal.« Irene warf Nüsse vor die Eichhörnchen, die es nicht im mindesten störte, daß die beiden Menschen sich unterhielten.

»Schrecklich – wieso?«

»Die Seele, der Charakter dieses Jungen wurden doch verbogen, alle seine Gefühle waren wirr und pervertiert zuletzt … Er wollte unbedingt so sein wie die anderen, wie die ›guten‹ Deutschen, ja, die ›anständigen‹ Deutschen, wie die …«

»Unbedingt dabeisein wollte er bei dem Establishment, das genauso unsinnig war wie alle anderen auch«, sagte er zornig, während er sofort dachte: Ach, Irene ist seine Schwester! Die Schwester verteidigt den Bruder. Ohne eine Ahnung zu haben. Automatisch nimmt sie seine Partei … »Ja, bei dem Establishment der Arier dabeisein!« sagte Irene. »Was, glauben Sie, haben die Nazis mit dem Idealismus, dem Glauben, dem Mut, der Ehrlichkeit dieser Halbwüchsigen angefangen? Wer die Jugend hat, hat die Zukunft. Das war ihre Parole. Das ist die Parole aller Diktaturen! So sein dürfen wie das Ideal, das man ihnen vorzeichnete – das wollten die jungen Leute damals. Was verlangen Sie von einem Siebzehnjährigen, den man ausgestoßen, verfemt, geächtet hat? Kritische Vernunft? Überlegenheit? Widerstand gegen das Regime und Liebe zum Vater, der ihm in seinen Augen alles Unglück beschert hat, das er zu erleiden hatte?«

»Aber …«, begann Manuel, doch sie unterbrach ihn: »Warten Sie! Ich sage, daß ich Heinz verstehe! Er handelte so, wie er unter den Umständen handeln mußte! Wissen Sie, daß es unzählige Fälle gab, in denen Kinder ihre Eltern angezeigt haben, wenn sie zum Beispiel London hörten oder über Hitler schimpften – nur weil der verehrte Lehrer, die verehrte Lehrerin ihnen gesagt hatten, sie müßten wachsam sein und jeden anzeigen, der gegen den Staat ist? Wissen Sie, was der Faschismus in den Seelen der besten und wertvollsten jungen Menschen angerichtet hat? Was sie dann taten – aus Hingabe an eine geliebte, grauenvoll böse Sache?«

Ihr Bruder, dachte Manuel. Sie verteidigt ihren Bruder, indem sie von einer ganzen Jugend spricht.

»Sie waren nicht hier! Sie haben so etwas nie erlebt! Sie können es sich nicht vorstellen!« rief Irene.

»Das hat man mir schon ein paarmal gesagt. Darf ich nun auch etwas sagen?«

»Sie haben keine Ahnung, wie … Was wollen Sie sagen?«

Er legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie dicht an sich.

»Ich liebe dich«, sagte Manuel Aranda so leise, als dürften es nicht einmal die Eichhörnchen hören.

Sie antwortete nicht, aber als er seine Lippen auf die ihren legte, öffneten sie sich, und ihr Mund wurde weich und wunderbar. Plötzlich umarmte auch sie ihn. Der Kuß dauerte.

Sieben Eichhörnchen saßen vor dem reglosen Menschenpaar und sahen es erstaunt an. Die kleinen Tiere hatten blanke Augen.

40

Der Anwalt Dr. Otto Forster erschien Manuel in geradezu beängstigender Weise verändert. Sein entstelltes Gesicht war rosig und stark durchblutet, er bewegte sich voller Elan, er sprach schnell und lebhaft, seine Augen strahlten. Die Jause hatte Haushälterin Anna diesmal auf einem Tisch in dem mit Schiffsmodellen und Werkzeugen vollgeräumten Arbeitsraum serviert, wo es nach Leim und Farben roch. Auf einem anderen Tisch lag ein großer Stapel Akten.

»Jetzt habe ich … nehmen Sie noch ein Stück Streuselkuchen, Herr Aranda, er ist großartig … jetzt habe ich endlich den größten Teil der Unterlagen beisammen, und da sagen Sie mir, daß Sie mittlerweile schon so viel von Frau Hill und Herrn Landau erfahren haben. Die sind schneller gewesen als ich!«

»Vieles weiß ich aber immer noch nicht.«

»Dann war unsere Mühe nicht ganz umsonst.« Forster lachte. »Glauben Sie nicht, daß es mir nicht auffällt, wie Sie mich anstarren, Herr Aranda! Ich bin so aufgeregt … so durcheinander … Ich habe bestimmt einen Blutdruck von zweihundert!«

»Aber was ist denn geschehen?«

»Was ist geschehen!« Forster rieb sich die Hände, er strahlte. »Mrs. Demant ist gestorben! Auf den Bahamas. Die Witwe des Warenhauskönigs Demant! Diamant hat er eigentlich geheißen, ein Wiener, ich half ihm 1938 noch raus. Und auch sein Vermögen brachte ich in Sicherheit. Die Demants besaßen keine Verwandten mehr. Nun hat mich die Frau im Testament als Universalerben eingesetzt. Verrückt, wie? Kann man das glauben? Man muß es glauben, es ist so!«

»Dann sind Sie jetzt ja ein reicher Mann!«

»Bin ich, ja. Ein sehr reicher Mann. Natürlich kann ich mich um die Geschäfte nicht kümmern. Das konnte auch Mrs. Demant nicht. Sie hatte ihre Bevollmächtigten. Werde auch ich haben.«

»Sie wollen auf die Bahamas?« Manuel hatte erst jetzt begriffen.

»Freilich!« Forster strahlte. »Das ist doch das Wunderbare! Das Märchenhafte! Ich kann fort, fort aus Wien! Mein Traum … jetzt geht er doch noch in Erfüllung!« Er lehnte sich über den Tisch und sah Manuel von unten an. »Auf einmal glaube ich wieder an den lieben Gott! Ich weiß natürlich nicht, ob ich in dem Riesenbesitz der Demants wohnen werde. Vielleicht ist er zu groß für mich. Wahrscheinlich. Dann verkaufe ich ihn eben und nehme mir ein kleines Haus. Auf den Bahamas, Herr Aranda, auf den Bahamas!«

»Und Ihre Familie … Ich meine, was sagt die dazu?«

»Die freut sich mit mir! Nicht nur über das viele Geld. Auch darüber, daß ich nun doch noch fort kann, fort aus dieser Stadt! Natürlich reise ich mit dem Schiff …« Forster blinzelte.

»Und Sie werden kein Heimweh haben?«

»Heimweh? Nach Wien?«

»Ich freue mich mit Ihnen«, sagte Manuel.

Wenige Minuten später saßen sie an dem anderen Tisch mit den vielen Akten. Forster blätterte in ihnen …

»Jetzt haben wir das alles gefunden, sehen Sie … den Bescheid über die Blutgruppenbestimmung … das anthropologische Gutachten …« Er schob Manuel gelb gewordene Papiere hin. Der las flüchtig einzelne Sätze. »Ein erstklassiges Gutachten! Der Junge wurde geradezu als nordischer Paradegoj eingestuft! Starke Ähnlichkeiten zur Kindsmutter und dem angeblichen Kindsvater, Herrn Landau, erkannten die Herren Ärzte – diese Idioten!« sagte Forster. »Und keinerlei Ähnlichkeiten zu den stark jüdischen Rassenmerkmalen im Gesicht des gesetzlichen Vaters, von dem sie nur Fotos hatten …« Der Anwalt seufzte. »Ein Traumgutachten! Um so vernichtender die Blutgruppenuntersuchung.«

»Frau Steinfeld erzählte Ihnen, sie habe auch noch mit einem zweiten Mann geschlechtliche Beziehungen gehabt …«

»Ja, das tat sie.«

»Sie hatten erwartet, daß Frau Steinfeld etwas Derartiges erzählen würde, wenn die Blutgruppen nicht stimmten?«

»Freilich. Sehen Sie, ich mußte damals an zweierlei denken: Erstens, der Junge sollte gut durch den Krieg gebracht werden. Also bestand meine Aufgabe zunächst einmal darin, diesen Prozeß unter allen Umständen weiterzuschleppen. So lange wie möglich hatte ich eine definitive Entscheidung zu verhindern. Das war Punkt eins. Punkt zwei: Ich mußte sehen, daß die Zeugen, allen voran Herr Landau, nun nicht zu Schaden kamen. Die waren in gar keiner schönen Situation damals. Zum Glück hatten sie diesen Bluthund Gloggnigg nach Berlin versetzt, ich erzählte es Ihnen. Der neue Richter hieß Arnold …« Forster kramte in den vielen Papieren, die vor ihm lagen. Manuel hielt eine Hand an den Mund. So roch er noch immer den Duft eines Parfums, schwach, aber süß. Er hatte plötzlich irrsinniges Verlangen nach Irene, er sah und hörte und fühlte in Sekunden alles noch einmal – den einsamen Park, den zugefrorenen See, die Eichhörnchen, das Gespräch über Heinz, die Umarmung, den Kuß …

»… war dieser Arnold, ein ganz Ergebener, Übereifriger, stets voll Angst, er könnte etwas falsch machen«, erreichte Forsters Stimme wieder Manuels Bewußtsein. »Und ebenfalls zum Glück war damals, im Juli 1943, wieder einmal mein Freund Peter Klever aus Berlin zu Besuch hier. Natürlich trafen wir uns. Natürlich machte er mir wieder Vorwürfe für mein Verhalten, das die Wiener Anwaltskammer mehr und mehr in Zorn versetzte, und natürlich half er mir dann zuletzt doch wieder, der gute Peter …«

41

»Es ist mir eine besondere Freude, Ihnen mitteilen zu können, wie zufrieden man mit Ihrer Arbeit in Berlin ist, Herr Landgerichtsdirektor. Sie ersetzen Ihren Vorgänger, den Kollegen Gloggnigg, vollkommen, tatsächlich vollkommen!« Ministerialrat Dr. Peter Klever verzog sein breites Gesicht zu einem Lächeln, die buschigen Augenbrauen tanzten. Der schwere, große Mann, der in Uniform und Schaftstiefeln, die Tellermütze auf den Knien, vor dem rundlichen, rosigen und kleinen Landgerichtsdirektor Dr. Engelbert Arnold in dessen Arbeitszimmer im Justizpalast saß, besuchte anläßlich seiner Wiener Aufenthalte routinemäßig alle neuen, ihm noch unbekannten Richter. Das gehörte zu seinem Auftrag. Dieses Gespräch gehörte nicht zu seinem Auftrag. Was er sagte, stimmte auch nicht. In Berlin war die Tätigkeit des Landgerichtsdirektors Arnold noch keinem Menschen angenehm oder unangenehm aufgefallen. Klever belog den an einen menschlichen Pudding erinnernden Arnold auf Bitten seines Freundes Forster. Wohl war ihm nicht dabei. Aber natürlich werde ich Otto immer helfen, immer wieder, ich Rindvieh, dachte der Mann, der etwas mehr als ein Jahr später, nach dem mißglückten Attentat auf Hitler, in bestialischer Weise gehenkt werden sollte.

Der Menschen-Pudding strahlte entzückt.

»Man tut, was man kann, Herr Ministerialrat! Ich gebe mir alle Mühe, meinen großartigen Vorgänger zu ersetzen – leicht ist das nicht. Darum freut mich eine solche Mitteilung besonders!«

»Was man an Ihnen am meisten schätzt, das ist Ihre absolute Integrität«, erklärte Klever. »In einem Rechtsstaat wie dem unseren muß jede Seite eines Falles beleuchtet und überprüft werden. Genauestens! Wir dürfen uns nicht nachsagen lassen, die deutsche Justiz handle leichtfertig oder liebedienerisch der Partei gegenüber. Das auf keinen Fall, Herr Arnold!«

»Auf keinen Fall, gewiß. Meine Devise. Ich bin in der Partei, selbstverständlich. Ein getreuer Gefolgsmann des Führers. Gerade deshalb achte ich peinlichst auf Anstand und Sauberkeit in meinen Fällen – und wenn sie noch so dubios erscheinen: Kein Urteil, bevor wirklich auch dem aller Wahrscheinlichkeit nach Schuldigen die letzte Chance gegeben wurde, seine Unschuld zu beweisen.«

»Bravo! Das ist der rechte Geist«, sagte Klever mit seinem starken preußischen Akzent, während er dachte: Du elendes, kleines Arschloch, du. »Wie ich höre, haben Sie auch mit Abstammungsprozessen zu tun …«

»Jawohl, Herr Ministerialrat. Mit einigen. Sie erwähnen das, weil das ein besonders heikles Gebiet ist, nicht wahr?«

Jetzt wären wir also glücklich gelandet, dachte Klever und sagte: »Besonders heikel, sehr richtig, mein Lieber. Ich komme im ganzen Reich herum …«

»Gewiß!«

»… und im ganzen Reich werden solche Prozesse geführt …«

»Gewiß!«

»… nicht in Massen, aber doch, aber doch! Sie können sich nicht vorstellen, mit welcher Leichtfertigkeit da manchmal vorgegangen wird. In bester Absicht natürlich! Die Richter vermuten, daß es sich um Schwindelprozesse handelt, in denen Mütter versuchen, ihre halbjüdischen Bälger zu Ariern zu machen. Aber das ist nicht immer der Fall! Durchaus nicht immer, wie wir feststellen konnten! Ein Freund – Reichssippenhauptmann – sagte mir, daß man hier besonders aufpassen und wirklich den letzten Zweifel beseitigen muß, ehe man ein Urteil fällt.« Ich habe keinen Freund im Reichssippenhauptamt, dachte Klever. Herrgott, Otto wird doch noch auf die Schnauze fallen mit diesen Geschichten. Zum Verzweifeln! Und er läßt nicht mit sich reden. »Denn es kann immer wirklich ein Arier sein, der da vor Ihnen steht, Parteigenosse Arnold! Es kann immer sein, daß die Mutter und die Zeugen die Wahrheit erzählen – wenn die Geschichten, die man hört, manchmal auch noch so phantastisch klingen. Und nichts wünscht das Reichssippenhauptamt weniger als eine Fehlentscheidung, als ein Urteil, das einen arischen, wertvollen Menschen hinabstößt in den Sumpf des Judentums. Gerade diese Prozesse, lieber Peegee Arnold, werden mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt!«

»Sehr freundlich von Ihnen, mir das zu sagen, Herr Ministerialrat.« Richter Arnold dienerte im Sitzen. »Wirklich sehr freundlich. Man muß doch schließlich wissen, worauf die Herren in Berlin besonderen Wert legen. Ich, hier in Wien, nur ein kleiner Landgerichtsdirektor …«

»Keine falsche Bescheidenheit! Wien ist die zweite Stadt im Reich! Und von wegen kleiner Landgerichtsdirektor – ich habe da etwas läuten gehört, daß ein Oberlandesgerichtsrat ins Haus steht!«

»Tatsächlich?« Arnolds runder, kleiner Mund öffnete sich. Ein Mund wie ein – na ja, dachte Klever, während er lächelnd sagte: »Bleibt aber unter uns …«

»Selbstverständlich, Herr Ministerialrat!«

»Weiß nicht, wann das beschlossen wird … kann noch eine Weile dauern …« Muß ich in Berlin durchsetzen, dachte Klever. Gott behüte, eine Beförderung! Das bringe ich noch fertig. »Aber wenn Sie so weitermachen, mein Guter, wenn Sie so weitermachen …«

42

»Ja, so hat mein alter Freund den neuen Richter also präpariert«, sagte Forster. »Das war vielleicht eine Flasche, dieser Arnold! Die erste Verhandlung nach Erstellung der Gutachten unter seinem Vorsitz fand erst am zehnten September 1943 statt.«

»So spät?«

»Gerichtsferien!«

Forster reichte Manuel mehrere zusammengeklammerte Papiere.

»Das Sitzungsprotokoll. Wieder ausgefertigt von dieser teiggesichtigen, gelangweilten Bohnen. Sie blieb uns erhalten, die Bohnen«, sagte Forster. »Hier, schauen Sie einmal: ›Aufruf zur Sache: 9 Uhr 35 …‹«

Manuel las: ›Wegen Richterwechsels wird die Verhandlung gemäß § 412 neu durchgeführt. Die gefaßten Beweisstücke werden wiederholt, die Ergebnisse der bisherigen Verhandlung an Hand der Akten und die Ergebnisse der angeordneten Untersuchungen an Hand der Gutachten verlesen, im Einverständnis mit den Parteien …‹

43

»Tja«, sagt Landgerichtsdirektor Engelbert Arnold, die Würstchenfinger ineinanderflechtend und Valerie fixierend, »damit dürfte der Fall wohl klar liegen, Frau Steinfeld. Herr Landau kann nicht der Vater Ihres Sohnes sein. Über gesicherte wissenschaftliche Untersuchungsergebnisse vermag sich niemand hinwegzusetzen.«

Er thront auf dem Stuhl, auf dem bei der ersten Verhandlung noch der Dr. Gloggnigg gethront hat, wir sind im gleichen Saal 29, im dritten Stock des Justizpalastes. Heute fällt das Licht einer milden Herbstsonne durch die Fenster.

Neben dem rosigen Arnold hockt – während sie schreibt, bohrt sie kurz in der Nase – die schlampige Stenographin Bohnen, stumpf und dumpf der Gesichtsausdruck, aber eine Arierin, eine Arierin, denkt Valerie, die an der Seite Dr. Forsters hinter dem Tisch rechts vom Richter sitzt. Gegenüber sitzt der Kurator Dr. Kummer.

Valerie – sie trägt ein braunes Kostüm – ist heute als einzige Beteiligte in diesem Prozeß geladen worden, denn es geht bei der Sitzung ja nur um das Ergebnis der Beweisaufnahme, und da diese vernichtend ausfiel, wird man den Fall sofort mit einer Abweisung der Klage beenden können, so jedenfalls beurteilt Richter Arnold die Sache.

Kurator Kummer hat draußen auf dem Gang einen schlanken, schwächlichen Mann gesehen. Saß vor der Tür zu Saal 29, der Mann. Als erwarte er, irgendwann aufgerufen zu werden. Der Anblick dieses Menschen, der ihn an irgend jemanden erinnerte, machte Kummer vorsichtig. Langsam, langsam, man kann nie wissen, nie …

»Frau Steinfeld!« sagt Arnold, da er von der starr dasitzenden Valerie keine Antwort erhalten hat.

»Ich …«, beginnt sie nun, als sich neben ihr Forster zu seiner ganzen Größe erhebt. Er spricht betont gleichmütig: »Ich setze das Gericht davon in Kenntnis, daß meine Mandantin mich nach Erhalt der Blutgruppenbescheide aufsuchte und mir die Mitteilung machte, sie hätte in der fraglichen Zeit vor der Geburt ihres Sohnes auch noch Beziehungen zu einem andern Mann unterhalten.«

Der Landgerichtsdirektor Arnold denkt: Natürlich eine Lüge. Aber etwas Neues. Das hatte ich noch nicht. Vorsicht, Vorsicht. Nicht hinreißen lassen. Korrekt und sachlich bleiben. Was hat der Klever, dieser Piefke, gesagt? Im Reichssippenhauptamt legen sie auf solche Prozesse den größten Wert.

Der Kurator Kummer denkt: Ich habe ja gewußt, dieser Forster führt noch etwas im Schilde. Trick natürlich. Aber ein gerissener Kerl. Was mir das persönlich scheißegal ist, ob der Bub ein Arier ist oder nicht, oder ob er durch einen Trick einer wird oder auf ehrliche Weise! Es sieht scheußlich aus an den Fronten. Das geht schief, es muß schiefgehen. Und wenn ich jetzt noch sehr das Maul aufreiße – was wird nachher aus mir? Immer mit der Ruhe. Wegen einem kleinen Halbjuden werde ich mir nicht die Zukunft vermasseln.

Der rosige Vorsitzende erkundigt sich höflich: »Um welchen zweiten Mann handelt es sich, Herr Rechtsanwalt?«

»Um Herrn Ludwig Orwin, Herr Vorsitzender.«

»Orwin? Orwin? Da war doch ein Bildhauer, der hieß …«

»Das ist der Mann, Herr Vorsitzender.«

»Aber der ist lange tot!«

Forster sieht Arnold unbewegt an.

»Er kam 1934 bei einem Eisenbahnunglück vor Hamburg ums Leben, am vierundzwanzigsten August.«

Püh! denkt der Vorsitzende. Wenn das nicht die Wahrheit ist, dann ist es eine prima Erfindung.

Donnerwetter, denkt der Kurator, ein Einfall, muß man zugeben.

»Herr Orwin wurde am fünften Januar 1894 geboren«, sagt Forster, ein Blatt konsultierend. »Er lernte meine Mandantin später als Herr Landau kennen – nur einige Monate später –, ebenfalls, als sie ein Museum besuchte, und auch er wurde anschließend ein sehr guter Freund von ihr, der häufig bei dem Ehepaar Steinfeld eingeladen war.«

»Frau Steinfeld, wollen Sie einmal vortreten, bitte?« (Immer an den Ministerialrat Klever, diesen Piefke, denken. Sie loben mich und meine Verhandlungsführung über den grünen Klee in Berlin. Also Ruhe und Höflichkeit. Ein Oberlandesgerichtsrat steht ins Haus, Herrschaften!)

Valerie ist vor den Richtertisch getreten. Diesmal hat sie nicht so viele Beruhigungsmittel genommen. Sie sieht blaß aus. Tiefe Schatten liegen unter den Augen, die so glanzlos sind wie die hellen Haare. Hielt man Valerie früher stets für jünger, als sie war – nun schätzte jeder sie im Gegenteil älter ein, als sie ist. Eine verblühte, verhärmte und traurige Frau, die sich mit großer Kraftanstrengung um Haltung bemüht …

In der linken Hand hält Valerie das kleine bleierne Glücks-Reh aus dem Knallbonbon, das schon zweimal die Strecke Wien–Madrid–Lissabon–London geflogen war.

»Frau Steinfeld«, sagt der Vorsitzende, väterlich geradezu, findet er selber, »das wäre also Ihre neue Einlassung?«

»Ja, Herr Direktor.«

»Sie wissen, daß Sie uns hier die Wahrheit und nur die Wahrheit sagen müssen.«

»Ich weiß es.«

»Warum haben Sie dann bisher nichts von Ihren intimen Beziehungen zu diesem Herrn Orwin berichtet?«

»Ich war der festen Überzeugung, daß Herr Landau der Vater meines Sohnes ist!«

»Aber Sie hatten doch, nach eigener Angabe, auch mit Herrn Orwin Kontakte.«

Unheimlich, wie ruhig ich bin, denkt Valerie und sagt: »Das stimmt. Einige Monate lang, sehr intensiv, 1924 war das, im Herbst. Dann, als mein Mann – ich meine Paul Steinfeld – 1925 so lange verreist war, kam es im August 1925 noch einmal zu Intimitäten …«

»Einmal?« ruft der Kurator dazwischen. Etwas muß man schließlich tun, sonst heißt es wieder, man vernachlässigt seine Pflicht.

»Dreimal«, antwortet Valerie. »Mit Herrn Landau war der Verkehr viel häufiger. Wir waren auch nicht vorsichtig. Das war Orwin allerdings auch nicht immer. Deshalb hatte ich fest geglaubt, meinen Sohn mit Martin Landau gezeugt zu haben, und deshalb …« Sie bricht ab und starrt den Richter Arnold an, bis der tatsächlich rot wird.

Forster steht auf.

»Herr Vorsitzender, ich bitte zu bedenken, wie furchtbar beschämend das alles für meine Mandantin ist!«

»Das sehe ich vollkommen ein, Herr Rechtsanwalt.« Arnolds Stimme wird samtweich. »Aber schließlich hat sie diesen Prozeß angestrengt. Wir müssen die Wahrheit finden, nicht wahr? Darum geht es doch vor allem Ihnen, Frau Steinfeld, wie?«

»Ja«, sagt Valerie. »Selbstverständlich. Ich sehe auch ein, daß ich das alles gleich hätte angeben müssen. Ich habe es aus Scham unterlassen. Aber nun bleibt mir kein anderer Weg mehr. Ich bitte das Gericht um Verzeihung dafür, daß ich unvollständige Angaben gemacht habe. Unvollständige – nicht unwahre.«

»Sie werden mir recht geben, Frau Steinfeld, wenn ich sage, daß uns das vor eine völlig neue Situation stellt!« ruft der Kurator.

Valerie nickt.

Der rosige Arnold sieht den Kurator an und bemerkt: »Da wir nun aber einmal Kenntnis davon haben, müssen wir uns mit dieser neuen Situation auseinandersetzen, Herr Doktor, gelt?«

»Natürlich, Herr Vorsitzender, natürlich. Ich meinte nur … praktisch muß jetzt alles von vorn anfangen.«

»Dann muß es eben von vorn anfangen. Die Frau Steinfeld gibt neue Tatsachen bekannt, und ich bin der Ansicht, daß wir die – insbesondere nach dem so positiven anthropologischen Gutachten – zu würdigen und zu prüfen haben.« Er wendet sich an Valerie und spricht wieder mit seiner Gütiger-Vater-Stimme: »Nun machen Sie nicht ein so furchtbar unglückliches Gesicht. Bei diesen Prozessen sind wir noch ganz andere Sachen gewöhnt. Das alles ist menschlich … menschlich, hrm, hrm … Sie erklären also, daß Sie im … wann war das? … ah, ich sehe schon, im August 1925 sowohl mit Herrn Landau wie auch mit Herrn Orwin verkehrt haben – mit dem einen häufig, mit dem anderen nur dreimal. Ist das so richtig?«

»Ja, Herr Direktor.«

»Weiß Herr Landau etwas davon?«

Wieder steht Forster auf.

»Ich habe mir erlaubt, Herrn Landau herzubitten, damit er gleich befragt werden kann. Er wartet draußen.«

Also dieser Landau ist das, der da draußen sitzt! denkt der Kurator. Jetzt erinnere ich mich wieder. Wie gut, daß ich das Maul gehalten habe, wahrhaftig. Besonders bei diesem neuen Vorsitzenden. Das scheint ja eine ganz weiche Zwetschke zu sein.

»Sehr aufmerksam von Ihnen, Herr Verteidiger«, sagt die weiche Zwetschke. »Wenn auch nicht einwandfrei … vom rechtlichen Standpunkt … Aber weil er schon einmal da ist … Nein, nein, warten Sie, Frau Steinfeld. So schnell geht das nun auch wieder nicht! Ich vereidige Sie jetzt zum zweitenmal. Sie heben die rechte Hand und sprechen mir nur die letzten Worte nach …«

Alle stehen auf.

Valerie hebt die rechte Hand.

Ganz heiß geworden ist das winzige Reh in ihrer Linken.

44

Valerie hat die Augen kurz geschlossen, als ich an ihr vorbeigegangen bin, denkt Martin Landau, vor dem Richter stehend. Das heißt, daß soweit alles gut läuft. Es muß weiter gut laufen jetzt! Natürlich Valeries und Heinz’ wegen. Aber auch meinetwegen, verflucht! Ich muß an mich denken! Wenn die den Orwin nicht schlucken und der Prozeß nicht weitergeht und dieser Dreckskerl von einem Kurator, ich kann seine Visage gar nicht anschauen, jetzt mit Meineid und einem Verfahren gegen mich anfängt – Himmel, was wird dann? Was macht die Partei mit so einem wie mir? Von Gefängnis hat die Tilly damals, bevor alles begann, gesprochen, von Zuchthaus, KZ, vom … ja … ja, vom Galgen! O Gott, o Gott …

»Herr Landau!«

Der schmale Mann zuckt zusammen. Heute hat er nicht den Schneid und die Angriffslust der ersten Verhandlung. Heute ist er abwesend, verschreckt. Valerie sieht es mit Gram.

»Verzeihung, Herr Direktor!«

»Ich habe gefragt: Es war Ihnen also bekannt, daß Frau Steinfeld nicht nur zu Ihnen, sondern auch zu Herrn Orwin in intimen Beziehungen stand?«

Ach, Valerie, was hast du angerichtet!

»Das war mir bekannt, ja, Herr Direktor.« Wie schrecklich. »Ich habe allerdings erst nach der Geburt des Jungen davon erfahren. In einem vertraulichen Gespräch zwischen Ludwig und mir.«

»Ludwig, das war Herr Orwin?«

»Ja. Er und ich, wir hatten uns richtig angefreundet, Herr Direktor. Und als nun Heinz geboren wurde, da war ich sehr glücklich und stolz … Ich wollte doch, daß Frau Steinfeld sich scheiden läßt und mich heiratet und ich den Jungen als mein Kind anerkenne … Na, und einmal, da war ich in Ludwigs Atelier, und wir tranken eine ganze Menge … Ich vertrage kaum etwas … Und da habe ich ihm dann die Wahrheit gesagt über mich und Valerie … Frau Steinfeld.«

»Und?«

»Und da hat der Ludwig – der Herr Orwin sich furchtbar aufgeregt und mir gesagt, daß auch er ein Verhältnis mit Frau Steinfeld hat.«

»Hat oder hatte?« fragt Arnold schnell.

»Nein, nein, hatte! Ein intensives Verhältnis jedenfalls. Sie waren immer noch eng befreundet, aber Orwin hatte Ende 1925 eine junge Frau kennengelernt und sich sehr in sie verliebt … Diese Beziehung dauerte nicht lange, doch die intimen Beziehungen zu Frau Steinfeld waren abgebrochen – nach dieser Aussprache mit mir zog sich Orwin zurück. Es war auch das Ende unserer Freundschaft, Herr Direktor.« (Galgen, hat die Tilly gesagt, Galgen!)

»Haben Sie beide Frau Steinfeld nun zur Rede gestellt?«

»Ja, Herr Direktor.«

»Und?«

»Sie weinte sehr und … und … und gab zu, daß sie mit uns beiden verkehrt hatte.«

»Sie zogen sich aber nicht von ihr zurück.«

»Nein!« Landau wird lebhaft. »Ich litt freilich lange Zeit sehr, aber ich hatte Frau Steinfeld zu gern … Ich war viel einsamer als Orwin … Ich fand so schwer Kontakt zu Menschen … Orwin war da ganz anders … Und dann gab es das kleine Kind … Ich redete mir immer weiter ein, es sei von mir … Bis jetzt der Bescheid gekommen ist, habe ich es mir eingeredet! Nun muß ich mich damit abfinden: Heinz ist nicht mein Sohn, er ist der Sohn von Ludwig Orwin …«

»Tja«, sagt Richter Engelbert Arnold nach einer Pause, in der er inniglich an den Piefke Klever, das Reichssippenhauptamt, seine Beförderung und den Stein gedacht hat, den er da bei den Bonzen in Berlin wegen seiner großartigen Verhandlungsart im Brett hat, »dann …« Jetzt ist es totenstill im Saal. Valeries Faust krampft sich um das Stückchen Blei. »… dann wollen wir auch Sie vereidigen, Herr Landau …«

45

»Und so ging diese Verhandlung zu Ende«, sagte Dr. Otto Forster nun, sechsundzwanzig Jahre später, im Bastelzimmer der tiefverschneiten Villa an der Sternwartestraße und reichte Manuel einige weitere Seiten. Er wies auf das letzte Blatt. »Hier, bitte.«

Manuel las:

›Beschluß:

1.) Zu einer neuen Verhandlung, die für den 10. November 1943, 9 Uhr 30, in Saal 29 des Justizpalastes anberaumt wird, sind als Zeugen zu laden: Hermine Lippowski, Agnes Peintinger und Ottilie Landau;

2.) Der klagenden Partei wird aufgetragen, Lichtbilder von und alle Dokumente zur Erstellung eines großen Ariernachweises für Ludwig Orwin dem Gericht ehebaldigst, jedoch nicht später als bis zum 30. Oktober 1943, zur Verfügung zu stellen;

3.) Die Lichtbilder werden dem Anthropologischen Institut übermittelt, und SS-Sturmbannführer Privatdoz. Dr. Kratochwil wird mit einer neuerlichen Untersuchung beauftragt; diese soll ein Gutachten darüber erbringen, inwieweit es wahrscheinlich ist, daß der verstorbene Ludwig Orwin als Erzeuger des Klägers Heinz Steinfeld in Frage kommt …‹ Manuel reichte Forster die Papiere zurück.

»Frau Steinfeld hatte also erreicht, daß der Prozeß weiterging«, sagte er.

»Das hatte sie erreicht.« Forster nickte. »Bei der Vernehmung der Zeugen lief alles ebenfalls glatt. Mit dem Fräulein Peintinger passierte beinahe etwas – das muß ich Ihnen noch erzählen, ich erinnere mich dunkel daran. Mein Sohn hat angerufen, er ist heute nachmittag in der Kanzlei und sucht persönlich nach den letzten Akten. Er meint, er findet sie gewiß. Wenn Sie morgen zu mir kommen wollen … Ich meine, Sie möchten doch schnell Bescheid wissen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte Manuel. »Und Sie, Sie werden schon am Montag losziehen wollen und Ihre Abreise vorbereiten, denke ich.«

Forster lächelte.

»Was ich mich freue – Sie können es sich nicht vorstellen! Also sagen wir: Morgen um halb elf?«

»Sehr gut.«

»Dann erzähle ich Ihnen das Ende der Geschichte – soweit ich es erlebt habe. Ich erlebte es nicht ganz, denn im Juli 44 wurde ich ja verhaftet, und da lief der Prozeß immer noch.«

»Immer noch?«

»Das weiß ich bestimmt! Und noch etwas weiß ich: Er lief, obwohl das zweite anthropologische Gutachten verheerend, absolut negativ ausfiel …«

46

»Herr Aranda?«

»Ja?« Manuel saß im Salon seines Appartements. Er hatte gerade mit Nora Hill telefoniert und sie gebeten, ihn noch heute abend zu empfangen. Sobald er den Hörer in die Gabel gelegt hatte, klingelte das Telefon. »Hier spricht Ottilie Landau«, sagte die Stimme verlegen – bisher hatte Manuel sie stets nur befehlend, hart und aggressiv vernommen. »Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Aranda. Für mein Benehmen gestern nachmittag auf dem Cobenzl. Für mein Benehmen überhaupt …« Er antwortete nicht. Was soll das? dachte er.

»… müssen doch verstehen, Herr Aranda! Ich habe Angst, große Angst. Das ist eine so unheimliche Geschichte! Aber nun habe ich lange mit Martin geredet und eingesehen, daß man Ihnen helfen muß, die Wahrheit herauszufinden. Sie sind doch unschuldig an dem allen. Sie können doch nichts dafür! Und da habe ich mich entschlossen, Ihnen zu erzählen, was noch geschah.«

»Sie?«

»Ja. Ich bin nicht so, wie die Leute sagen. Alle halten mich für eiskalt und herzlos. Das stimmt nicht, Herr Aranda! Ich muß nur auf meinen Bruder achtgeben. Er ist so hilflos, er wäre verloren ohne mich. Ich komme zu Ihnen und erzähle, was ich weiß.«

Manuel dachte: Alles dreht sich, dreht sich immer wieder in dieser Affäre. »Nein«, sagte er, »wir sollen uns lieber nicht hier im Hotel unterhalten. Ich bin auch heute abend verabredet.«

»Was ist dann mit morgen?«

»Das wollte ich vorschlagen. Morgen nachmittag – geht das? Sagen wir um vier Uhr? Wieder am Cobenzl, in der Espresso-Bar?«

»Ausgezeichnet«, sagte Ottilie Landau. »Ich werde da sein.«

Zwei Stunden später saß Manuel dann im Wohnzimmer von Nora Hills Appartement. Es schneite wieder heftig, Sturm war aufgekommen, und Noras Haus füllten an diesem Samstagabend laute, lärmende Gäste. Auf dem Parkplatz standen viele Wagen. Gelächter, Stimmen und Musik drangen bis in das Wohnzimmer. Nora saß in ihrem Sessel neben dem Kamin, Manuel saß ihr gegenüber, er sah sie halb durch die Flammen des knisternden Feuers, und sie tranken beide Whisky. Manuel dachte, daß er mit Nora Hill, seit er sie kannte, so gesprochen hatte, immer am gleichen Ort, immer vor dem Kamin, immer mit der kleinen Bar in der Nähe. Und immer hatten Noras Krücken an dem Kaminrand gelehnt …

»Ich weiß«, sagte die so erstaunlich jung gebliebene alternde Frau, »Flemmings Idee funktionierte. Der Prozeß wurde noch einmal begonnen. Das hat Frau Steinfeld mir erzählt, als ich wieder aus Lissabon nach Wien zurückkam.«

»Sie haben Ihrem Freund wirklich nicht die Wahrheit gesagt?«

»Niemals. Denn er hätte sich vielleicht vor Paul Steinfeld versprechen können, nicht wahr? Nein, nein, ich verhielt mich so, wie ich es mit Frau Steinfeld verabredet hatte. Jack glaubte mir, und Paul Steinfeld glaubte ihm auch.« Nora trug an diesem Abend ein bodenlanges Abendkleid aus schwarzer Seide, tief ausgeschnitten, und ihren Brillantschmuck. Während der ganzen Unterhaltung klangen von draußen Musik und Stimmen herein. »1944 gab es dann ja die Katastrophe mit dem vernichtenden anthropologischen Gutachten.«

»Davon habe ich gehört. Aber der Prozeß ging trotzdem weiter!«

»Trotzdem, ja.« Nora nickte. »Der Fall war praktisch bereits abgewiesen, da fand Forster einen neuen Dreh.«

»Was für einen Dreh?«

»Das habe ich nicht mehr in Erinnerung. Kann er es Ihnen nicht erzählen?«

»Ich bin morgen wieder bei ihm.«

»Gut. Der Prozeß lief noch, als die Invasion begann, immer weiter, immer weiter. Im August 1944 flog ich das letzte Mal nach Lissabon. Flemming – damals schon längst nicht mehr der tolle Kerl von einst –, Flemming sagte mir, er würde dafür sorgen, daß ich diesmal lange in Lissabon zu tun hätte.«

»Wie lange?«

»Bis der Krieg verloren war. Ich sollte nicht mehr zurückkommen. Er mußte ja in seinem ›Arbeitsstab‹ bleiben! Aber mich wollte er schützen. Seine Idee war: Ich sollte in Lissabon warten. Er hatte noch einer Menge Leute ähnlich geholfen wie Frau Steinfeld, er rechnete sich aus, daß alle für ihn sprechen würden, falls er nicht flüchten konnte und es zu einem Prozeß kam. Wenn er in Sicherheit war, wollte er endlich heiraten. Er liebte mich bis zuletzt wie ein Verrückter. Vielleicht war er ein Verrückter …«

»Was ist aus ihm geworden?« fragte Manuel.

»Die Russen nahmen ihn sofort hoch, 1945, im April. Er wurde aus Wien weggebracht – weit weg, in die Sowjetunion. Ich habe mich später bei meinen … meinen russischen Kunden hier erkundigt. Sie sagten, Flemming habe noch zwei Jahre in einem Lager gelebt, dann sei er erschossen worden. Er hatte also umsonst manch Gutes getan – Frau Steinfeld und alle die anderen kamen nie dazu, für ihn auszusagen.« Nora zuckte die Schultern. »Pech!« Von draußen klang lautes Gelächter in den stillen Raum. »Ein Italiener«, sagte Nora.

»Wie bitte?«

»Da ist ein Italiener unten, der hat ein neues Spiel mitgebracht. Jeder Gast schildert den komischsten Coitus seines Lebens. Ich habe ein Weilchen zugehört, bevor Sie kamen. Um weiterzuerzählen: In Lissabon hatte keiner von der deutschen Botschaft Lust, noch heimzukehren. Die ließen mich völlig in Ruhe. Auch dort ging schon alles drunter und drüber. Ich hatte eine herrliche Zeit mit Jack … monatelang … Zweimal mußte er dazwischen nach London. Er konnte Steinfeld beruhigen. Der Prozeß lief und lief, es war kein Ende abzusehen. Bald mußte der Krieg vorüber sein, und dann wollte ich zu Jack nach England ziehen. Darüber sprachen wir auch in jener Nacht … der zwölfte Februar 1945 war das … und warm, ganz warm war es am Strand von Estoril …«

47

Sterne funkelten, Vollmond leuchtete, die Schaumkronen der trägen Wellen schimmerten wie die Lichter in den Luxusvillen oberhalb des Strandes und die Kandelaber des Spielcasinos.

Sehr hell war der feine Sand des Ufers, schwarz glänzte der lange Steg, der, auf schweren Bohlen ruhend, weit in das Wasser hinausführte. Jack Cardiff und Nora Hill waren, wie so oft, wieder einmal nach Estoril gefahren. Sie hatten gegessen, ein wenig Roulett gespielt und waren dann zum Strand hinuntergegangen, wo sie sich umzogen und in dem bewegten Wasser schwammen.

Nun saßen sie am Ufer, Jack Cardiffs Lederköfferchen zwischen sich. Aus ihm hatten sie Gläser geholt, Eiswürfel aus einem Thermos, hatten Whisky bereitet, und Nora sprach leise und sehnsüchtig von dem gemeinsamen Leben, das vor ihnen lag.

»Weißt du, daß ich von dem alten Gasthof schon träume? Wirklich, Jack! Immer wieder! Er schaut gewiß ganz anders aus, aber ich sehe das Haus, die Bäume ringsherum, die großen Pappeln …«

»Ja, Darling«, sagte der braungebrannte, helläugige Jack Cardiff. Er blickte, von einer seltsamen Unruhe erfaßt, in die Runde, betrachtete die maurischen Villen in ihren Gärten, das Fischerdorf Cascais, alte Palmen, riesige Pinienwälder. Er machte zwei neue Drinks. Dann zündete er zwei Zigaretten an und reichte eine Nora. Sie nahm sie und lächelte ihn an.

»Wir werden es so einrichten, wie es uns gefällt, ja?«

»Ja, Darling.«

»Bei den Bauern in der Umgebung finden wir bestimmt wundervolle alte Möbel … Einen erstklassigen Koch brauchen wir natürlich! Wenn es sich erst einmal herumgesprochen hat, wie gut man bei uns essen kann, wie abgelegen der Gasthof liegt …«

»Mud in your eye, Darling«, sagte Jack Cardiff.

Sie tranken beide.

»Wann, glaubst du, wird der Krieg zu Ende sein?«

»In zwei, drei Monaten – höchstens.«

»Dann sind wir im Mai schon dort! Schon im Mai! Ach, Jack! Und wir haben genügend Geld! Du heiratest eine reiche Frau! Mein ganzer Schmuck, meine Goldstücke, die Pelzmäntel, die Steine – ich habe all das hierhergeschafft! Um Geld brauchen wir uns keine Gedanken zu machen! Und wenn es zwei Jahre dauert, bis unser Gasthof etwas abwirft, und wenn es drei Jahre dauert …«

»Nora …« Es entging ihr, daß seine Stimme heiser war.

»Ja?«

»Ich muß dir etwas sagen.«

»Na, dann sag es doch!«

»Ich hätte es dir längst sagen müssen … sofort … Ich … ich bin ein Schwein, Nora.«

»Ist das ein Witz?«

»Leider nein.«

»Aber dann …«

»Ich habe dir nicht die Wahrheit gesagt.« Cardiff sprach mühsam. »Ich habe dich belogen – von Anfang an.«

»Belogen – aber wie?« Sie stellte ihr Glas in den Sand.

»Ich kann nicht mit dir nach England gehen und dich heiraten.«

»Du … aber warum nicht? Bitte, rede nicht so! Du machst doch deine Witze!«

»Nora, ich … bin verheiratet, seit neun Jahren, und ich habe zwei Kinder«, sagte Cardiff. Danach trank er sein Glas aus und füllte es wieder. Nora sah ihm dabei zu. Das war jetzt purer Whisky.

»Mir auch«, sagte sie. »Auch pur.«

»Es ist unverzeihlich, was ich getan habe … Aber als ich dich sah, da war ich völlig verrückt nach dir … Ich wollte es dir immer sagen, wirklich, Nora … Immer wieder wollte ich es dir sagen … und immer wieder hatte ich nicht den Mut … Es war eine so schöne Zeit …«

»Ja, nicht wahr«, sagte Nora. »Eine wunderschöne Zeit. Mud in your eye, Darling.«

»Sprich nicht so, bitte! Und trink nicht so schnell!«

»Ich bin aber durstig. Los, gib mir noch etwas! Mehr! Viel mehr! Mach das Glas voll! Geizig warst du doch wenigstens nie!«

»Nora, bitte!«

»Kein Geizhals. Nur ein Lügner. Ein Lügner aus Liebe. Das muß man anerkennen.« Nora trank kleine Schlucke des reinen Whiskys, während sie sprach. »Das muß man dir hoch anrechnen. Und auch, daß du mir jetzt doch noch die Wahrheit sagst. Es muß ja wohl sein, aber du hättest dich auch einfach aus dem Staub machen können … Nein, nein, du benimmst dich wie ein Gentleman.«

»Nora, wirklich, du trinkst zuviel …«

»Ich werde noch viel mehr trinken. Auf eine so frohe Botschaft hin! Das will doch begossen werden. Deine Frau, die weiß nichts von mir, was?«

»Nein. Schau mal, Nora, ich …«

»Ist sie hübsch?«

»Ich … bitte …«

»Also ja.«

»Sie sieht ganz anders aus als du!« rief er.

»Natürlich sieht sie anders aus. Das war ja gerade das Reizvolle. Eine Blondine, wie? Deine Augen! Ich habe es erraten! Wie aufregend. Eine Blonde in London, eine Schwarze in Lissabon.«

»Nora, laß das endlich! Glaub mir doch, ich habe den Kopf verloren. Ich schwöre dir, daß ich dich aufrichtig …«

»Wenn du das sagst, dann zerschlage ich das Glas auf deinem Kopf, Jack. Und es ist ein schweres Glas. Das wir noch einmal füllen wollen …«

»Nein!«

»Aber ja!«

Sie kämpften kurz um die Flasche, dann hatte Nora wieder ein volles Glas Whisky.

»Süße Kinder, sicherlich«, sagte sie. »Ich trinke auf die süßen Kinder … und auf die süße blonde Frau … und auf eure süße, glückliche Zukunft!«

Cardiff sah sie hilflos an. »Mach nicht solche Kuhaugen, Jack. Ich veranstalte keine Szene. Es ist schon alles wieder okay. Kleiner Schreck in der Abendstunde. Mit einer beschissenen Deutschen kann man so was doch jederzeit machen. Schließlich führt ihr Krieg gegen uns! C’est la guerre, voilà!«

»Nora, bitte, bitte! Wir können doch Freunde bleiben …«

»Aber ja, süße Freunde …«

»… und ich bin immer da … Wenn ich etwas für dich tun kann …«

»Das kannst du.«

»Was kann ich?«

»Etwas für mich tun!«

»Was?«

»Jetzt mit mir noch einmal schwimmen gehen«, rief sie, aufspringend. »Nein! Laß das! Du hast zuviel getrunken!«

»Ich will schwimmen! Und du, du tust alles für mich, also schwimmst du auch mit mir!«

Er versuchte, sie an einem Bein festzuhalten, aber sie entkam ihm und lief schon auf den Bohlensteg zu und diesen entlang.

»Nora!« schrie er, ihr nachrennend.

Sie hatte das Ende des langen Stegs erreicht. Kopfüber sprang sie in das dort schon tiefe Wasser. Sekunden später sprang Cardiff ihr nach. Er versuchte, sie zu erreichen.

»Komm zurück!« schrie er. »Komm aus dem Wasser! Nora, sei vernünftig, verflucht!«

Ihr Lachen schallte zu ihm. Sie kraulte jetzt, so schnell sie konnte, wobei sie sich dauernd nach Cardiff umsah und weiterlachte. Sie schwamm in einem großen Kreis. Er war knapp hinter ihr. Sie hatte tatsächlich zu schnell und zuviel getrunken, jetzt fühlte sie es plötzlich heftig. Sie verlor die Orientierung, ihr Atem wurde kurz, Wasser und Himmel drehten sich vor ihren Augen. Aber sie kraulte wild weiter, direkt auf den Steg zu. »Nora!« brüllte Cardiff. »Paß auf!«

Sie blickte geradeaus und sah die schwarzen, massigen Pfosten und die Bretter des Stegs unmittelbar vor sich. Indem sie die Hände hochriß, erreichte sie die Bohlenenden. Mit der Kraft ihrer Trunkenheit zog sie sich empor, erhob sich und begann, schwankend, über die glatten Hölzer davonzulaufen.

»Nora! Nora, bleib stehen!«

Cardiff hatte gleichfalls den Steg erklommen. Sie hörte, wie er ihr nachrannte. Sie drehte sich um. Dabei verlor sie das Gleichgewicht und stürzte. Mit voller Wucht schlug ihr Rücken auf den Steg. Nora fühlte einen wütenden Schmerz in der Wirbelsäule, dann verlor sie das Bewußtsein.

Die Sterne und der Mond waren das erste, was sie sah, als sie wieder zu sich kam. Dann sah sie, neben sich, Jack Cardiff und merkte, daß sie auf dem Bohlensteg lag.

»Hallo«, sagte Nora schwach.

»Ist etwas? Hast du dich verletzt?«

Sie drehte sich jäh zur Seite um und spie eine Menge Wasser aus, das nach Whisky schmeckte. Dann bewegte sie ihre Glieder und tastete den Körper ab.

»Nichts«, sagte sie. »Alles in Ordnung.« Sie berührte den Rücken und schrie leise. »Jesus, da tut es weh!« Cardiff neigte sich über sie. »Eine Wunde?«

»Ich sehe nichts …«

»Na also«, sagte Nora. »Glück gehabt. Wieder Glück. Donnerwetter, ist das ein Abend. Ich habe Glück, Glück, Glück …«

48

Am nächsten Morgen wurde Nora Hill mit dem Frühstück ein Brief auf ihr Zimmer im Hotel ›Aviz‹ gebracht. Der Brief stammte von Jack Cardiff. Er schrieb, wenn Nora diese Zeilen läse, sei er schon in einem Flugzeug auf dem Weg nach London, er müsse dringendst heim zu seiner Dienststelle und darum die erste Frühmaschine nehmen. Er glaube nicht, schrieb Jack Cardiff, daß er noch einmal nach Lissabon zurückkehren könne. Er bat Nora herzlich, ihm zu verzeihen. Nie werde er sie vergessen können. Nora las den Brief zweimal, dann zerriß sie ihn in kleine Stücke. Ihr Rücken schmerzte kaum noch. Sie dachte, daß sie sich umbringen wollte, aber sie hatte sehr großen Hunger, und so frühstückte sie zuerst. Nach dem Frühstück wollte sie sich nicht mehr umbringen. Es erschien ihr plötzlich sinnlos, so etwas zu tun. Alles erschien Nora Hill von diesem Tage an sinnlos.

In den wenigen Monaten, die noch bis zum Kriegsende verstrichen, wurde Nora Hill eine stadtbekannte Erscheinung. Sie hatte zahlreiche, hemmungslose, hektische Affären, die ebenso abrupt begannen wie endeten. Sie war auf jeder Party zu sehen. Sie tanzte und trank bis in den Morgen. Wenn ein Mann ihr gefiel, ging sie mit ihm. Es geschah, daß sie, neben einem solchen Mann in einem fremden Bett aufwachend, den Namen ihres neuesten Geliebten nicht kannte. Sinnlos, sinnlos war alles geworden. Sinnlos erschien Nora auch die hohe britische Auszeichnung, die der Botschafter Seiner Majestät ihr für Verdienste um die Vereinigten Königreiche dann Ende Mai überreichte. Sinnlos erschien es Nora, länger in Lissabon zu bleiben. Der britische Botschafter, ein älterer Herr, der sie verehrte, brachte es umgehend fertig, daß man ihr einen Platz in einem Kurierflugzeug der ›Royal Air Force‹ reservierte, das nach Wien flog, denn Nora wollte nach Wien. Offiziere, die von dort kamen, berichteten ihr, daß die Sowjets Carl Flemming verhaftet und in die Sowjetunion gebracht hätten. Nach menschlichem Ermessen kehrte er nie mehr zurück. Um so besser! Nora wollte allein sein, allein in einer Stadt, in der sie nichts an Jack Cardiff erinnerte.

Ihre Maschine startete gegen Mittag des 6. Juni 1945.

Als Nora Hill sich am Morgen dieses Tages aus ihrem Bett erheben und ins Badezimmer gehen wollte, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, daß die Beine vor Schwäche einknickten. Sie konnte sie kaum bewegen. Drei Tage später war Noras Körper gelähmt – von den Hüften bis zu den Zehen.

49

Zwischen 1945 und 1947 nahmen die besten Spezialisten in Lissabon, Rom und Paris an Nora Hill insgesamt elf schwere Operationen vor. Ein ganzes Jahr verbrachte sie in der Pariser Privatklinik des französischen Neurologen Professor Fleury, denn es stand von Anfang an fest, daß man die Lähmung auf Verletzungen zurückführen mußte, die sie sich zugezogen hatte, als sie am Strand von Estoril auf die Holzbohlen des Landestegs geschlagen war.

Die elf Operationen blieben ohne jeden Erfolg. Nora Hill konnte nicht stehen, sie konnte ihre Beine nicht um einen einzigen Zentimeter von der Stelle bewegen. Damit sie nicht die ganze Zeit über liegen mußte, erhielt sie einen besonders konstruierten Rollstuhl. In ihm vermochte sie zu sitzen. Die Schwester, die sie in jenen zwei Jahren betreute – eine junge Französin –, schob das Wägelchen auf den Balkon von Noras Krankenzimmer, wenn das Wetter schön war. In späteren Monaten wurde Nora von der jungen Schwester durch den Park der Klinik gefahren. Sie war eine unglaublich geduldige und fügsame Patientin.

Nach der elften Operation sagte Professor Fleury, ein Mann mit weißem Haar und weißem Stutzbart, zu ihr: »Es hat keinen Sinn, Mademoiselle. Sie müssen die Wahrheit hören, ich weiß, Sie werden sie ertragen können. Wir haben alles Menschenmögliche versucht. Die Wahrheit ist …«

»Daß ich nie mehr werde gehen können«, sagte Nora Hill ruhig, ihn unterbrechend.

Professor Fleury nickte.

50

Nora Hill nahm den endgültigen Bescheid in Gelassenheit hin. Mit einer für jedermann erstaunlichen Verbissenheit begann sie im Sommer 1947, nach vorhergegangenen Massagen jeder Art, sich auf ein Leben mit Krücken vorzubereiten. Sie übte täglich viele Stunden, bis zur Erschöpfung. Nur Krücken kamen für sie in Frage – jede andere Stützung der Beine schied infolge der weitreichenden Nervenlähmungen aus.

Zum Jahresende 1947 war Nora Hill so weit, daß sie sich bereits ohne Hilfe auf ihren Krücken fortbewegen konnte. Noch immer besaß sie große Vermögenswerte an Schmuck, noch immer war sie eine reiche Frau. In Paris ließ sie sich eine neue, nun notwendige Garderobe, bestehend aus eigens für sie entworfenen Hosenanzügen jeder Art, anfertigen. Die britische Botschaft hier kümmerte sich in der gleichen intensiven Art um sie wie jene in Lissabon. Sie war doch eine Frau, die im Krieg ihr Leben für Großbritannien eingesetzt hatte! Am 3. Januar 1948 flog sie mit einer englischen Militärmaschine nach Wien.

Die Villa nahe dem Lainzer Tiergarten hatten britische Offiziere requiriert. Sie fiel unter den Sammelbegriff ›Deutsches Eigentum‹ und gehörte damit dem österreichischen Staat. Alle Offiziere waren auf Nora Hills Ankunft vorbereitet worden. Die Heimkehrende fand ihr Appartement im ersten Stock so vor, wie sie es zweieinhalb Jahre zuvor verlassen hatte. Die Engländer stellten ihr einen Jeep und einen Sergeanten als Fahrer zur Verfügung. Nora Hill erhielt, nach Verhandlungen britischer Militärs mit den österreichischen Behörden, die Erlaubnis, das seltsam rund gebaute Haus als Eigentum zu erwerben.

Nun gehörte die Villa ihr!

Die englischen Offiziere blieben noch bis 1950 Noras Gäste, mit denen sie Feste feierte und viele interessante Gespräche führte. Sie wurde Schwarzmarktkönigin Wiens. Sie handelte mit deutschem Armeegut, Schrott, Marvel-Zigaretten, auch mit Menschen. Aus jener Zeit stammten ihre ersten Verbindungen zu verschiedenen Geheimdiensten. 1950 bereits hatte Nora Hill ihr großes Vermögen vervielfacht. Und sie besaß feste Vorstellungen von der Zukunft …

Bald nachdem sie die Villa erworben hatte, entsann Nora sich Valerie Steinfelds, und am 17. März 1948 ließ sie sich in die verelendete, schmutzige und triste Stadt, durch eine zum Teil ausgebombte Kärntnerstraße, die, einmal Luxusboulevard von Wien, nun der Hauptstraße eines polnischen Dorfes glich, zur Seilergasse und der Buchhandlung Landau fahren. Sie bat den Sergeanten am Steuer, zu warten, dann schwang sie, in einem kanadischen Nerz, schmuckbehangen, in langen Seidenhosen, auf Leichtmetallkrücken, dem alten Laden mit seinem verwitterten Blechschild über dem Eingang entgegen. Silberhell erklang die Melodie des Glockenspiels über der Tür.

›Freut euch des Lebens …‹

51

Da stand der Bär mit dem Bücherkorb in den Vorderpfoten. Der Korb war leer. Nora blickte sich um, auf den Krücken balancierend. Licht brannte wie einst in den von der hohen Decke herabhängenden Milchglaskugeln. Die Hälfte der Regale war leer. Nora erblickte nur wenige neue Bücher, die meisten waren antiquarisch. Aus dem seitlichen Eingang zu den hinteren Lagerräumen, an den Nora sich genau erinnerte, trat, schäbig gekleidet, abgemagert und noch schwächlicher geworden, den Kopf schief gelegt, die linke Schulter hochgezogen, Martin Landau. Er sprach so leise, und er war wieder so schreckhaft, wie Nora Hill ihn von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte.

»Guten Tag, gnädige Frau …«

»Guten Tag, Herr Landau. Erkennen Sie mich nicht?«

»Fräulein Hill!« Landau griff sich an das Herz. »Mein Gott, wie freue ich mich! Wir haben schon geglaubt, es ist Ihnen etwas passiert …«

»Ein wenig ist mir passiert.«

»Ja, das sehe ich. Furchtbar. Wie …« Er brach ab.

»Ein Unfall«, sagte Nora schnell. »Sonst geht es mir ausgezeichnet.« Sie hielt ihm die Hand hin, die er schüttelte. Seine Hand war eiskalt. »Und wie geht es Ihnen?«

»Oh, danke. Wir haben überlebt, nicht wahr? Immerhin … die Hauptsache. Wir dürfen nicht klagen. Wenn es erst wieder genug Bücher gibt …«

»Wo ist Frau Steinfeld?«

Martin Landau sah zur Seite.

»Im Teekammerl. Schreibt einen Brief, ich habe gerade diktiert. Ich werde sie sofort holen …«

»Nein, ich möchte zu ihr gehen«, sagte Nora. »Ich darf doch?«

»Aber natürlich … Ich dachte nur … immerhin …« Sein Blick glitt wieder zu den Krücken.

»Schauen Sie, das funktioniert schon ausgezeichnet mit ihnen!« Nora Hill schwang schnell über die verzogenen Bohlen des Bodens. Er sah ihr nach, bleich, verhungert und ängstlich.

»Mein Gott«, murmelte er, »mein Gott …«

Nora Hill passierte den schmalen Gang, in dem während des Krieges antiquarische Kriminalromane gestanden hatten. Jetzt waren die Regale leer, voll Staub und Spinnweben. Aus dem Teekammerl drang der Schein der grünbeschirmten Lampe.

»Frau Steinfeld!« rief Nora.

»Ja«, sagte eine klanglose, müde Stimme.

Im nächsten Moment erreichte Nora das Teekammerl und sah Valerie, die vor dem Schreibtisch saß und sich umgedreht hatte. Sie trug einen Verkäuferinnenmantel – wie damals, dachte Nora, wie damals –, und auch sie war blaß gleich Landau und machte einen sehr gealterten Eindruck. Das blonde Haar hatte sie hochgekämmt. Es leuchtete nicht mehr. Die einst so strahlenden blauen Augen waren glanzlos geworden.

»Ich bin Nora Hill, Frau Steinfeld!«

»Natürlich, Fräulein Hill. Ich habe Sie gleich erkannt. Wie schön, daß Sie uns einmal besuchen. Bitte, nehmen Sie Platz.« Valerie hatte sich erhoben. Auch ihre Hand war eiskalt, bemerkte Nora. Vorsichtig, aber schnell ließ sie sich in den defekten Schaukelstuhl gleiten. Erst als sie saß, nahm auch Valerie wieder Platz. Ihr Blick war nicht allein stumpf, er war seltsam starr und beständig leicht über die rechte Schulter Noras gerichtet. Die mageren Hände verschränkte Valerie im Schoß. Sie lächelte. Wie eine Blinde wirkt sie, dachte Nora plötzlich, ja, wie eine Blinde.

Valerie fragte ernst: »Ist das bei einem Luftangriff passiert?«

»Nein, bei einer anderen Gelegenheit.«

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