Manuel hob die Schultern und ließ sie wieder fallen.

»Danke«, sagte Groll. »Nachdem Lavoisier und der Page weg waren, sah ich mich in Ihrem Appartement um. Später rief ich noch drei meiner Männer her. Sie parkten vor dem ›Ritz‹. Ich wollte, daß alle, die das Haus bewachen, sie auch sahen. Ich wollte, daß nicht noch mehr passierte, bevor Sie zurückkamen. Die Männer sind im Hotel. Wir haben die ganze Tat rekonstruiert. Der Page – Karl Weigl heißt er übrigens, ein Wiener – und Lavoisier sagen kein Wort, wie ich erwartet habe. Weigl heult aber bereits. Der wird heute noch speiben.«

»Was wird er?« fragte Manuel.

Groll grinste. »Auspacken. Spucken. Sagen, was er weiß. Bei uns heißt das Speiben. Verzeihen Sie den Fachausdruck. Leider wird er nicht sehr viel zu speiben haben. Vielleicht nennt er uns seinen Verbindungsmann zur französischen Zentrale.« Groll seufzte. »Den kennen wir schon seit Jahren.«

Sie waren nun allein in dem schönen Büro, das blauer Zigarrendunst erfüllte. Graf Romath hatte sich hustend entschuldigt. Groll stand vor dem antiken Schreibtisch und starrte auf das schmale, hohe Kupferkännchen mit den Blumen, die an Orchideen erinnerten. Weiß, bräunlich und mit goldgelben Flecken bedeckt waren ihre Blüten.

»Was ist jetzt los?« fragte Manuel, irritierter noch als zuvor. »Bitte, Herr Groll! Woran denken Sie?«

»An diese Inka-Lilie hier.«

»Was?«

»Das ist eine Inka-Lilie«, erklärte der Hofrat, in die Betrachtung der Blüten versunken. Er neigte sich vor. »Eine Alstroemeria aurantiaca. Wohl die Varietät ›aurea‹. Die soll dieses Goldgelb haben.«

»Herr Hofrat!«

»Ich bin ein Idiot«, sagte Groll. »Dieses helle Gold. Und nun sehe ich es vor mir …«

»Wovon sprechen Sie?«

»Ich habe so meine Ticks, wissen Sie. Farben, da bin ich ganz verrückt! Ich überlegte die ganze Zeit, wo er ihn versteckt hat. Fragen konnte ich ja nicht gut, wie? Also habe ich den Grafen mit dem Rauch meiner Virginier vergrault. Es war gedankenlos von ihm, gerade diese Inka-Lilien hier hinzustellen, sonst nichts. Aber ich, mit meinem Farbenfimmel … Jetzt wollen wir einmal sehen …« Groll ging zu der Kopie des ›Maskensoupers‹, die an der Wand hing und deren beherrschende Farbe ein geisterhaftes Gold, eine unwirkliche, leuchtende Helle war. Manuel sah ihm verständnislos zu. Groll klopfte, das Ohr an das Holz legend, mit einem Knöchel seiner Hand den Rahmen ab.

»Hm«, machte er. »Hm …« Er klopfte weiter. »Na also«, sagte er plötzlich. Mit beiden Händen begann er die Unterleiste des Rahmens abzutasten. Bald hatte er gefunden, was er suchte. Er drückte auf die verborgene Feder so lange, bis sich das genau eingepaßte Stück Rahmen senkte und dahinter, in einer kleinen Höhle, das Metallpäckchen sichtbar wurde, welches dort lag. Groll nahm es heraus und nickte zufrieden.

»Was ist das?«

»Ein Sender, Herr Aranda. Es mußte einfach einer hier sein.«

»Wieso?«

»Irgendwie mußte der Graf doch bekanntgeben, daß Sie um vierzehn Uhr das Haus verlassen würden. Telefon ist da ausgeschlossen. Viel zu riskant. Telefone werden abgehört.« Groll seufzte. »Hat keinen Sinn, daß ich das Ding in Betrieb nehme. Ich kenne die Rufzeichen nicht. Es wird sich niemand melden.«

»Sie meinen … Das bedeutet, daß auch der Graf …«

»Natürlich. Er wußte von Lavoisier. Er wußte von allem. Das erklärt seinen Streß.«

»Seinen was?«

»Nichts. Über ihn also wurde mein Bekannter verständigt, und der verständigte mich.«

»Wer ist dieser Bekannte?« fragte Manuel. Der Hofrat hatte vor Romath mit keinem Wort erwähnt, daß sein Informant eine Frau war.

»Jemand, der ein … riskantes Geschäft betreibt. Sehr einträglich. Zu einträglich. Unter anderen Umständen säße er längst im Gefängnis. Aber wir sind in Wien. Wir haben uns arrangiert. Er gibt mir Informationen, und ich lasse ihn in Ruhe.«

»Dann arbeitet der Graf auch für die Amerikaner?«

»Für die Amerikaner und für die Russen. Interessant, nicht? Sie waren doch gewiß der Meinung, daß amerikanische und russische Geheimdienste nur gegeneinander arbeiten.«

»Ja …«

»Ein großer Irrtum. Aber das weiß man wahrscheinlich auch nur aus langjähriger Praxis in Wien. Herr Aranda«, sagte der Hofrat, das Metallpäckchen wieder zurücklegend und das Versteck schließend, »wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, bleiben Sie im ›Ritz‹, und erfüllen Sie den Wunsch des Grafen nach Diskretion. Hier sind Sie immer noch am sichersten aufgehoben. Hier haben Sie Amerikaner und Russen auf Ihrer Seite – wenn wir es geschickt anfangen.«

»Was heißt: geschickt anfangen?«

»Das erkläre ich Ihnen doch lieber woanders«, sagte Groll. »Ich weiß nicht, ob es hier Mikrophone gibt. Und so sehr sind Amerikaner und Russen auch nicht auf Ihrer Seite.« Er nahm das schwarze Köfferchen. »Kommen Sie mit.«

23

Der kleine schwarze Diplomatenkoffer stand auf der grünen Decke eines großen Billardtisches in einem der Spielzimmer des Cafés neben dem ›Ritz‹. Es gab im ganzen vier Tische. Von nebenan drang gedämpft Stimmengewirr. Groll war mit Manuel hierher gegangen, nachdem er den übernervösen Grafen Romath gebeten hatte, dafür zu sorgen, daß sie in dem Billardzimmer nicht gestört wurden …

»Herr Aranda bleibt in Ihrem Haus, Graf, und er wird kein Wort über das verlieren, was sich ereignet hat.«

»Oh, ist das auch wirklich wahr?«

»Ja.«

»Ich danke Ihnen … Ich danke Ihnen tausendmal … Sie können sich nicht vorstellen, was es für das Hotel bedeutet hätte …«

»Schon gut. Wenn Sie dem Geschäftsführer im Café Bescheid sagen wollten, Graf. Wir werden das Zimmer nicht lang in Anspruch nehmen.«

»Aber ich bitte Sie!«

»Und verzeihen Sie, daß ich bei Ihnen geraucht habe. Mit Ihrem Katarrh! Sie werden ein wenig lüften müssen …«

Groll reichte Manuel nun den lederüberzogenen Bund. »Bitte!«

Mit dem kleinsten Schlüssel öffnete Manuel das Köfferchen. Darin lagen, durch eine große Klammer zusammengehalten, zahlreiche Papierseiten. Groll hob sie hoch, betrachtete sie kurz und legte sie dann auf das grüne Tuch des Tisches, über dem altmodisch beschirmte, starke Lampen brannten.

Manuel starrte das oberste Blatt des Manuskripts an. Es war eng und gleichmäßig mit Buchstabengruppen in breiter Füllfederschrift bedeckt. Manuels Blick glitt über die ersten Gruppen. Er las:

EIQXS RFSTR LUCTX MNCRY EYBSX NLGZQ VTRKD RWRFT WHVEM GAJGX …

Groll las, über Manuels Schulter gebeugt, mit.

»Ein Code«, sagte Manuel.

»Ja, und ein verflucht unangenehmer, fürchte ich«, sagte der Hofrat und ließ eine weiße Kugel über den Tisch rollen. Sie stieß an eine gegenüberliegende Bande und kehrte zurück.

»Was meinen Sie?«

»Ich war während des Krieges Entzifferer – zwei Jahre lang. Natürlich kann ich mich irren, aber dies scheint mir ein sehr langer ›Cäsar‹ zu sein. Das ist ein Fachausdruck.«

»Ich weiß. Chiffrieren war eine Leidenschaft meines Vaters.«

»Ach, du lieber Gott.« Groll ließ die rote Kugel losschießen, die über zwei Ecken zu ihm zurückkam. »Das ist ja fein. Er kannte sich also aus, wie?«

»Ja. Es machte ihm Spaß, mit einem Freund so zu verkehren. Sie schlossen Wetten ab, denn mein Vater verwendete mit Vorliebe Zitatencodes, also Codes …«

»… deren Schlüsselsatz ein Zitat ist, ich weiß. Das halten Sie für seine Schrift?«

»Unbedingt. Ich kenne diese verkehrt geschriebenen N’s, die Balken-H’s und die verkehrt geschriebenen M’s.«

»Wenn es sich auch noch um einen Zitatencode handelt, dann ist er unlösbar, fast mit Gewißheit unlösbar, solange man das Zitat nicht kennt.« Der Hofrat ließ eine weiße Kugel losrollen, diese traf die zweite weiße und kam auf die rote zurück.

Manuel blätterte unterdessen das Manuskript durch.

»Sechsunddreißig Seiten«, sagte er beklommen. »Eng beschrieben. Eine Riesenbotschaft. Er chiffrierte sehr schnell, mein Vater. Aber was sollen diese sechsunddreißig Seiten, diese Monsterarbeit?«

»Das, lieber Freund«, sagte der Hofrat, »ist das Geheimnis.«

»Was für ein Geheimnis?«

Groll räusperte sich, strich durch das silberne Haar und senkte die Stimme. »Ihr Vater«, sagte er, »war ein sehr vorsichtiger Mensch. Sie wissen jetzt schon so viel über Franzosen, Amerikaner und Russen – es war nicht zu vermeiden –, daß ich Sie weiter einweihen muß. Meine Freunde von der Staatspolizei werden das verstehen. Oder sie sollen mich gern haben. Hier geht es jetzt um Ihr Leben, um Ihre Sicherheit, Herr Aranda! Nach allem, was wir wissen – und wir wissen natürlich längst nicht alles –, hat Ihr Vater sich in Wien mit Franzosen, Russen und Amerikanern eingelassen, ohne Zweifel, um ihnen etwas zu verkaufen.«

»Was?«

Der Hofrat tippte auf das Manuskript.

»Das da?«

»Ja.«

»Aber weshalb liegt es dann noch hier – verschlüsselt?«

Groll hob eine Hand. »So, wie wir die Sache sehen, ist Ihr Vater mit den Amerikanern und den Russen handelseinig geworden. Die haben vermutlich bereits die Klarschrift dieses Manuskripts. Nur mit den Franzosen war es noch nicht soweit. Ihr Vater wollte sich absichern – hier die verschlüsselte Ware, hier Geld, hier der Dechiffrierschlüssel. So etwa.«

»Mein Vater war dann also sehr vorsichtig. Trotz allem nicht vorsichtig genug. Der Code hat ihn nicht davor beschützt, ermordet zu werden.«

»Nein.« Groll ließ andauernd Kugeln über den Tisch rollen. »Aber der Mord hat offensichtlich auch das Geschäft verhindert.«

»Das heißt, Sie glauben, daß der Mord von Amerikanern und Russen organisiert worden ist?«

»Ich glaube gar nichts. Ich denke jetzt nur an Sie, Herr Aranda. Nun haben Sie das Manuskript. Ich möchte nicht, daß auch Sie noch ermordet werden – von wem immer.«

»Aber Sie sagten doch, ich hätte jetzt Amerikaner und Russen auf meiner Seite – die stärkere Partei. Und deshalb sollte ich auch im ›Ritz‹ bleiben.«

»Ich habe gesagt, Sie hätten Amerikaner und Russen auf Ihrer Seite, wenn wir es geschickt anfangen«, erinnerte ihn Groll. »Das heißt nicht, daß diese Herren Ihre Freunde sind. Sie sind ebenso Ihre Todfeinde wie die Franzosen, davon bin ich überzeugt. Es wäre ihnen am liebsten, wenn Sie und dieses Manuskript verschwänden. Sie wollen, daß nichts an die Öffentlichkeit dringt. Es handelt sich – glauben Sie mir, Herr Aranda, wir haben auch unsere Leute, die ein wenig achtgeben auf das, was im Land passiert – um eine sehr wichtige, sehr böse und sehr gefährliche Sache.« Er setzte sich auf den Tischrand. »Und Sie sind nun das Rotkehlchen, das in ein fremdes Revier eingedrungen ist.«

»Was bin ich?«

Der Hofrat zuckte die Achseln.

»Konrad Lorenz, der große Naturwissenschaftler und Verhaltensforscher, er ist übrigens Wiener, hat einmal eine Geschichte erzählt – ich war dabei. Passen Sie auf. Lorenz sagte: Es gibt bestimmte auslösende Mechanismen. Das hat ein Engländer – warten Sie mal, ja, Lack hieß der – sehr hübsch demonstriert. Wenn in das Revier eines Rotkehlchens, eines Männchens, ein anderes Rotkehlchenmännchen eindringt, dann attackiert der revierbeherrschende Vogel den neuen.«

»Und?«

»Augenblick! Der Forscher nahm zuerst ein ausgestopftes Rotkehlchen und setzte es hin. Es wurde angegriffen! Dann wurde dem ausgestopften Vogel der Kopf abgedreht. Angegriffen! Dann schnitt Lack ihm die Beine weg. Angegriffen! Er zupfte den Schwanz aus. Angegriffen! Endlich war nur noch die rote Brust da. Angegriffen! Zum Schluß nahm Lack eine ziegelrote Pappscheibe von der Größe einer Rotkehlchenbrust. Und auch die wurde noch angegriffen! Sie allein genügte schon zum Signal ›Feind! Angriff!‹« Groll glitt wieder vom Tisch, zog die Heftklammer aus dem Manuskript und begann die ersten zehn Blätter nebeneinander auf das hell beleuchtete grüne Tuch zu legen. »Sie«, sagte er dazu, »sind, ohne es zu wollen, als Rechtsnachfolger Ihres Vaters, gleich in drei fremde Reviere eingedrungen. Sie sind es – Sie können nichts dagegen tun. Aus diesem Grunde wird man – wir verhalten uns genauso, ach, ganz genauso wie die Rotkehlchen – mit allen Mitteln versuchen, Sie zu vertreiben, auszuschalten, gleich, wie Sie sich benehmen, gleich, welche Konzessionen Sie machen. Sie haben jetzt den roten Fleck auf der Brust. Und Ihre Feinde werden nicht ruhen, bevor sie diesen roten Fleck – und wenn wir ihnen einen Ersatzfleck dafür bieten – beseitigt haben.« Während er sprach, hatte Groll eine kleine Minox-Kamera aus der Tasche gezogen und Seite um Seite fotografiert. Nach den ersten zehn Blättern nahm er die zweiten zehn. Er fotografierte sie alle. »Das muß zu unseren Spezialisten. Und zur Staatspolizei. Ich glaube nicht, daß wir den Code entziffern können. Aber ich habe eine Idee. Ich möchte wirklich nicht, daß Ihnen etwas zustößt. Es … es täte mir sehr leid.«

Sie sahen sich an. Der Blick hielt.

»Danke«, sagte Manuel zuletzt, während Groll dachte: Wenn ich einen Jungen hätte, könnte er so alt sein wie dieser da …

Als der Hofrat alle Blätter fotografiert hatte, ging er zu der großen Schiebetür des Billardzimnmers, öffnete sie und sah in das Café hinaus. Er nickte kurz. Gleich darauf kam ein trauriger junger Mann mit dunklem Anzug und Hornbrille in den Raum. Groll schloß die Tür hinter ihm und stellte vor. Der junge traurige Mann hieß Schäfer.

»Passen Sie einmal auf, Schäfer«, sagte der Hofrat.

24

Kurze Zeit später, um 19 Uhr 43, verließen der Hofrat Wolfgang Groll und Manuel Aranda das ›Ritz‹ durch den Vordereingang. Der Hofrat trug den schwarzen Diplomatenkoffer. Rechts und links von ihm und Manuel gingen zwei große, kräftige Männer, die Hände in den Taschen, dauernd nach allen Seiten Ausschau haltend. Die vier marschierten durch das dichte Schneetreiben und den fauchenden Ostwind, der ihnen Schneekristalle ins Gesicht peitschte, zu dem großen Wagen, der vor dem Portal parkte. Sie stiegen ein. Ein Mann setzte sich hinter das Steuer, startete, umkreiste das Hotel, kam auf den Ring zurück und lenkte den Wagen in Richtung Parlament. Die Fahrbahnen waren teilweise schon sehr verweht, Schneepflüge rollten durch die Straßen, Autos rutschten auf Eis und Neuschnee. Der Verkehr war noch stark, die Wagen schlichen vorsichtig dahin. Ein Beamter saß neben dem Fahrer, Manuel neben dem Hofrat im Fond. Groll hielt den kleinen Koffer nun auf den Knien. Gesprochen wurde lange Zeit kein Wort. Wie große Perlenschnüre glitten die Kugellampen vorüber, die zu beiden Seiten des Rings, unter tiefverschneiten Bäumen, brannten. Das Naturhistorische Museum, das große Denkmal der Kaiserin Maria Theresia, in Schnee versunken. Das Kunsthistorische Museum. Das Heldentor, der Eingang zur Hofburg …

»Sieht schön aus, nicht wahr?« sagte Groll.

Manuel nickte.

»Die eine Seite dieser Stadt. Die andere …« Groll brach ab. Er fragte den Fahrer: »Folgen sie uns?«

»Ja«, sagte der Mann. »Ein Chevrolet und ein Buick.«

»Gut«, sagte Groll. »Geben Sie acht, daß Sie die beiden nicht aus Versehen abhängen.«

»Ich passe schon auf.« Der Mann am Steuer bremste, denn die Lichtampel bei der Bellaria-Kreuzung sprang eben auf Gelb. Er wäre noch durchgekommen, aber die beiden Wagen, die ihn verfolgten, hätten halten müssen. Der Mann am Steuer sagte: »Sie haben stundenlang neben dem Hotel gewartet. Die Franzosen sitzen in dem Buick, ich habe einen von ihnen erkannt.«

»Dann fahren die anderen in dem Chevrolet«, sagte der Hofrat.

»Große, qualmende Scheiße«, sagte zur gleichen Zeit der Mann neben dem Fahrer des Buick in ein Handmikrophon. »Entschuldigen Sie, Chef. Aber es ist zum Kotzen. Wir sind jetzt bei der Bellaria. Wenn nicht noch ein Wunder geschieht, fahren sie mit dem Objekt ins Sicherheitsbüro.« Von krachenden Störungen unterbrochen kam Jean Merciers Stimme aus dem Lautsprecher des Buicks: »Verlieren Sie um Himmels willen den Wagen nicht, Nummer Fünf. Ich muß genau wissen, wo das Objekt landet …« Er sprach abgehackt, atemlos. Und während er sprach, drehte er mit einer langsamen, brutalen Bewegung dem scharlachroten Spielzeugfuchs, der für ein kleines Mädchen namens Janine in Casablanca bestimmt gewesen war, den Kopf ab. Mercier stand jetzt der Schweiß auf der Stirn. Die drei anderen Männer im Hinterzimmer des längst geschlossenen französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ sahen tief besorgt aus. Nun fuhren sie zusammen. Mercier hatte die Schnur abgerissen, die an dem kleinen Fuchs hing. Silberhell und lieblich war die Musikuhr in Gang geraten: ›Fuchs, du hast die Gans gestohlen …‹

Das Licht der Ampel an der Bellaria wechselte auf Grün. Die Wagen fuhren weiter den Ring hinab, vorbei an dem tiefverschneiten Parlament. Die gelb leuchtenden Kandelaber vor dem festlich angestrahlten Burgtheater trugen hohe Schneehauben. Hinter dem Park gegenüber erhob sich, mächtig und breit, die ebenfalls angestrahlte Fassade des Rathauses. Dicht fielen jetzt die Flocken. Menschen bewegten sich so vorsichtig wie Autos und Straßenbahnen. Der Schnee dämpfte die Geräusche, es war unwirklich still inmitten all des Verkehrs. Der Wagen, in dem Manuel und Groll saßen, und die beiden Autos, die sie verfolgten, passierten die dunkle Universität und die Schottenringkreuzung und bogen alle drei nach links in die Währingerstraße ein.

Ein junger Mann in dem Chevrolet sprach russisch in ein Handmikrophon: »Ich rufe Lesskow … ich rufe Lesskow … Hier ist Gorki …«

Eine russische Stimme erklang aus dem Lautsprecher im Wagen: »Ich höre Sie, Gorki. Sprechen Sie!«

»Wir fahren jetzt die Währingerstraße hinauf, vermutlich zum Sicherheitsbüro. Der Koffer ist im Wagen.«

»Sehr gut«, sagte Fedor Santarin, Präsident der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹. Er saß, elegant gekleidet wie immer, neben Grant in einem nur mit besonderen Schlüsseln zu öffnenden Zimmer eines alten Barockpalais in der Wollzeile. Indirektes Licht schien warm und mild auf erlesene antike Möbel, edle Stiche an den Wänden mit den Seidentapeten, einen großen Teppich, der den ganzen Boden bedeckte, und einen modernen Kurzwellensender, der in eine der meterdicken Mauern eingebaut war.

Zwei dezent gekleidete Männer saßen an dem Metallkasten, einer vor dem Mikrophon.

»Bleiben Sie auf Empfang, Lesskow, bleiben Sie auf Empfang …« erklang die Lautsprecherstimme.

»Verstanden, Gorki«, sagte der Mann am Mikrophon.

»Nun«, sagte Santarin in englischer Sprache, »das funktioniert doch alles wundervoll, Gilbert, finden Sie nicht? Egal, wohin sie das Köfferchen bringen – die Franzosen bekommen es auf keinen Fall mehr. Und alles kann so weiterlaufen, wie wir es mit Nora Hill besprochen haben.«

»Unberufen!« Grant, der Ersatzteilhändler für amerikanische Autos, führte eine Hüftflasche zum Mund.

»Es ist natürlich ein großes Glück, daß Romath so ergeben für uns arbeitet«, fuhr Santarin fort, sorgsam ein Hosenbein hochziehend, um die Bügelfalte zu schonen. »Wir haben eigentlich, Heilige Mutter von Nowgorod, ich will mich nicht versündigen, nur tadellose Leute hier in Wien. Was für ein Segen, daß der Graf Romath kleine Jungen in den Hintern stößt. Zu kleine Jungen.«

»Und ihr habt etwas gegen Aristokraten!«

»Wieso? Tolstoi war auch ein Aristokrat. Und ein frommer Mann, wie ich!«

»Hallo, Lesskow, hallo, Lesskow, bitte kommen, hier ist Gorki.«

»Verstanden, Gorki. Was gibt’s?«

»Wir haben uns geirrt«, klang eine russische Männerstimme aus dem Lautsprecher des Senders. »Aranda und der Hofrat fahren nicht zum Sicherheitsbüro. Sie sind bei der Nußdorfer Straße rechts eingebogen und fahren jetzt hinauf in Richtung Döbling, Sievering und die westlichen Vororte!«

25

Zu dieser Zeit verließ ein ernster Mann von etwa dreißig Jahren das Kaffeehaus des Hotels ›Ritz‹ und ging, den Hut in die Stirn gedrückt, den Mantelkragen hochgeschlagen, den Ring bis zur Oper hinauf, wo er in die Kärntnerstraße einbog. Durch das dichte Schneetreiben sah er eine Flut bunter Lichtreklamen funkeln. Der stets so traurige, hochbegabte und bei allen Kollegen im Sicherheitsbüro wohlgelittene Inspektor Ulrich Schäfer hatte eine junge Frau, die von Multipler Sklerose, einer unheilbaren Krankheit, befallen war und dem Tod entgegensiechte. Darum war Schäfer stets traurig.

Hinter ihm gingen in Abständen vier Männer auf beiden Seiten der Straße. Sie gehörten zu Schäfers Gruppe und ließen ihn nicht eine Sekunde aus den Augen.

Der Mann mit der todkranken Frau erreichte den Stock im Eisen am Stephansplatz und bog nach links in den Graben ein. Durch das diffuse Licht der vielen Lampen und des fallenden Schnees sah er die hohe Silhouette der Pestsäule vor sich. Menschen hasteten an ihm vorbei. Seine Bewacher folgten eilig.

Schäfer ging an der grell erleuchteten Auslage des Juweliers Heldwein vorüber, in der Brillanten funkelten und Gold und Edelsteine strahlten. Carlas Vater war auch Juwelier, dachte Schäfer traurig. Nach dem Tod seiner Frau verkaufte er das Geschäft und starb als wohlhabender Mann. Sein Vermögen wurde nun von Carlas Krankheit verschlungen. Das Sanatorium in Baden bei Wien, wo Carla lag, kostete Unsummen. Noch war Geld vorhanden, aber es würde nicht ewig reichen, nicht einmal mehr sehr lange.

Die Multiple Sklerose ist eine furchtbare Krankheit. Es kann Jahre dauern, bis ihr Opfer tot ist. Sie bringt ihre Opfer fast immer um, aber sie läßt sich entsetzlich Zeit damit. Was, wenn Carla länger lebt, als das Geld reicht? dachte der Inspektor Schäfer unglücklich.

Er bog in den Kohlmarkt ein und ging ihn bis zur halben Höhe empor. Auf der anderen Seite sah er die bereits geschlossene berühmte Konditorei Demel, in der Fedor Santarin Stammkunde war. Schäfers Bewacher blieben zurück. Er erreichte ein altes Haus, von der Zeit geschwärzt, mit einem großen grünen Tor, in das eine kleinere, offene Tür eingelassen war. Rechts vom Eingang befand sich ein Antiquitätenladen, links ein Wäschegeschäft. Über dem Portal las Schäfer etwas von einem ›Kaiserlich-Königlichen Hemdenmacher‹. Er trat in die breite Einfahrt des uralten Hauses, in der es kalt war und nach Rauch roch. Schnell ging er über Katzenkopfpflaster zum hinteren Ende der Einfahrt, wo ein ebensolches Tor den Weg in einen Innenhof versperrte. Rechts und links begannen hier Aufgänge, schmale, ausgetretene Stein-Wendeltreppen. An den Wänden waren Tafeln mit Namen von Firmen, Ärzten und Anwälten befestigt. Schäfer benutzte den linken Aufgang und stieg bis zum zweiten Stock empor, wobei er, wie in vielen Wiener Häusern, an Treppenabsätzen mit den Aufschriften HOCHPARTERRE und MEZZANIN, Zwischenstockwerken also, vorüberkam.

Endlich stand er an einer Tür, die außer dem normalen noch ein Yale-Schloß und eine Messingtafel besaß. Diese besagte, daß sich hier die Kanzlei von Dr. Rudolf Stein und Dr. Heinrich Weber, Rechtsanwälten, befand.

Schäfer klingelte dreimal kurz, zweimal lang, dann noch einmal kurz. Sogleich kamen von der anderen Seite der Tür Schritte näher. Eine Männerstimme fragte: »Wer ist da?«

»Inspektor Schäfer.«

»Werfen Sie Ihren Dienstausweis in den Briefkasten.«

Schäfer tat es.

Einige Sekunden verstrichen, dann erschien im ›Spion‹ der Tür ein menschliches Auge, das den Inspektor lange musterte. Ich kann diese Vorsicht verstehen, dachte Schäfer. Die Tür wurde umständlich aufgesperrt und geöffnet. In ihrem Rahmen stand ein großer, breitschultriger Mann mit grauem Haar, der eine wohlriechende Zigarre rauchte.

»Wo haben Sie es?« fragte er.

»Unter dem Hemd«, sagte Schäfer.

26

»Es wird ein Wein sein, und wir wer’n nimmer sein. ’s wird schöne Madeln geb’n, und wir wer’n nimmer leb’n …«

Der Weinhauer Ernst Seelenmacher sang die Worte des alten Liedes mit gedämpfter Stimme. Er saß an einem kleinen Tischchen, auf dem eine Zither lag, und zupfte sanft die Saiten des Instruments. Seelenmacher trug einen grau-grünen Lodenanzug und ein weißes, am Hals offenes Hemd. Sein Gesicht war von Wind, Regen und Sonnenschein gegerbt, sein Haar kurz, dicht und grau. Ein großer, kräftiger Mann war Ernst Seelenmacher, sechzigjährig, kerngesund und rüstig. Mit Frau und zwei Töchtern führte er den kleinen ›Heurigen‹, das Ausschanklokal von neuem Wein, das in einem verborgenen Gäßchen Grinzings lag, abseits der großen und mondänen Heurigen.

Das Lokal bestand aus vier Räumen, alle weiß getüncht und durch bogenförmige Durchlässe miteinander verbunden. Seelenmachers Gäste saßen an alten Tischen, auf langen Bänken. Im Sommer saßen sie draußen im Garten, unter mächtigen Kastanienbäumen.

Der Wein wurde in ›Hebern‹ serviert. Das sind Glaskugeln, die an Eisenständern hängen und in langen Röhren enden. Drückt man mit dem Trinkglasboden gegen einen Verschluß am Ende einer solchen dünnen Röhre, dann fließt Wein aus der Kugel.

Ernst Seelenmacher und Wolfgang Groll kannten einander seit vielen Jahren. Sie waren eng befreundet. Stundenlang unterhielten sie sich über die Erziehung und Veredelung von Weinsorten, über die vielen seltsamen Tiere in einem Weinberg. Seelenmacher sammelte mancherlei, das er in der fruchtbaren Erde des hügeligen Gutes fand – Versteinerungen, römische Münzen, Reste von Schwertern, Scherben römischer Vasen und von Gefäßen mit eingekratzten Zeichen und Zeichnungen. Die Abdrücke und Fossilien schenkte der Weinhauer seinem Freund, alles andere behielt er selber. Seine Leidenschaft war das Studium der alten Römer, ihrer Geschichte, Kultur, Religion und Literatur, ihres Rechts. Er sprach und las fließend lateinisch, und lateinisch unterhielten sich die Freunde oft miteinander. Seelenmacher war in einem Priesterseminar erzogen worden, denn als junger Mensch hatte er unbedingt Pfarrer werden wollen. Seine Eltern waren gestorben, er hatte den Besitz übernehmen müssen. Darin glichen die Freunde einander: Ihre Jugendträume waren nicht in Erfüllung gegangen, und doch hatten sie beide niemals aufgehört, zu träumen. Seelenmacher sang nur, wenn Gäste darum baten, meistens junge Verliebte. An diesem Abend, da Grinzing unter neuem Schnee versank, hatten ihn zwei alte Leute darum gebeten, ein Ehepaar. Die beiden saßen eng nebeneinander auf einer Bank, tranken, lauschten, hielten sich an den Händen und sahen den Weinhauer an.

Über dem Platz, an dem Seelenmacher spielte, befand sich oben in der Wand ein großes, halbkreisförmiges Fenster. Es reichte bis zum Boden eines mit antiken Bauernmöbeln eingerichteten Raums im ersten Stock, der dem Weinhauer als Büro diente. Auf einem breiten, mit Leitzordnern und Rechnungen bedeckten Eichenholztisch lag neben dem Telefon eine vergilbte lateinische Ausgabe von Senecas Tragödie ›Medea‹. Das Buch war aufgeschlagen …

»Sie haben alles verstanden, was ich Ihnen sagte?« fragte Hofrat Groll. Er stand bei einem offenen Fenster, das zum Garten hinausging.

Vor dem Heurigen parkte der Wagen, mit welchem er und Manuel hierhergekommen waren. Zwei Kriminalbeamte saßen darin und starrten, wie ihr Chef, in das Schneetreiben dieser Nacht. Ein Stück das Gäßchen hinunter hielten ein Buick und ein Chevrolet.

Manuel saß hinter dem schweren Tisch.

»Ja«, sagte er. »Ich habe alles begriffen.«

Er blickte durch das halbrunde Fenster hinab auf Seelenmacher an der Zither und das alte Ehepaar, das sich an der Hand hielt. Leise drangen Gesang und Musik zu ihm.

Groll hatte, nachdem sie eingetroffen waren, Manuel und Seelenmacher miteinander bekanntgemacht. Seelenmacher hatte Manuel zu einem Glas Wein eingeladen, während der Hofrat im Büro telefonierte. Danach war Manuel in den ersten Stock hinaufgestiegen.

Groll hatte gesagt: »Ich habe mit meinem Kollegen von der Staatspolizei gesprochen. Er billigt, was wir getan haben. Wie ich ist er der Meinung, daß unsere erste und wichtigste Aufgabe jetzt lautet: Alles tun, um Ihr Leben zu schützen. Mein Kollege hat eingesehen, daß es dazu notwendig ist, Ihnen noch mehr Informationen zu geben als bisher. Sie werden – nach allem, was ich Ihnen über die prekäre Situation unseres Landes auf diesem Sektor berichtet habe – sicherlich verstehen, daß man mir selbst jetzt noch verboten hat, Ihnen alles zu erzählen, was man weiß oder vermutet.«

»Ja, das verstehe ich.«

»Die Staatspolizei wird Ihnen auch weiterhin nicht helfen. Ich darf es nicht, denn für uns ist der Mord an Ihrem Vater nach dem Gesetz abgeschlossen.« Manuel nickte. »Dennoch unterstütze und informiere ich Sie, soweit ich das überhaupt kann. Aber natürlich bleibt da immer ein Rest. Ich werde Ihnen jetzt Namen nennen und Ratschläge geben. Die Ratschläge werden Sie erstaunen und verwirren. Glauben Sie mir, sie sind aufrichtig gemeint. Glauben Sie mir, sie haben ihre Bedeutung in dieser tragischen Angelegenheit, die sich um Ihren Vater dreht.« Manuel senkte den Kopf. Ja, so sieht das aus, dachte Groll. Ich fürchte, du wirst noch mehr tun als nur den Kopf senken, mein Junge, du wirst noch viele, viele Male verzweifelter sein über deinen Vater, je tiefer du – das läßt sich nun nicht mehr vermeiden – in diese Geschichte eindringst. »Was ich Ihnen sage«, erklärte Groll, »sind natürlich vertrauliche Mitteilungen …« Er bemerkte, daß Manuel ihn unterbrechen wollte, und fuhr lächelnd fort: »… wobei Ihr Ehrenwort, alles für sich zu behalten, so aufgefaßt werden darf, daß Sie auch Fräulein Waldegg einweihen.«

»Woher wissen Sie, daß ich das …«

»Sagen wollte?« Groll zuckte die Schultern. »Ich wollte es selber schon sagen, als Sie mir erzählten, Sie hätten Fräulein Waldegg getroffen. Ach nein, ich wollte es Ihnen bereits sagen, als wir uns das erste Mal trafen! Es war mir klar, daß Sie einander begegnen würden.« Er blickte auf seine linke Hand, danach auf die rechte und murmelte: »Ein Mann … und eine Frau …« Laut sagte er: »Ich nenne Ihnen jetzt die Namen und gebe Ihnen die Beschreibungen des Russen, des Amerikaners und des Franzosen, mit denen Sie zu rechnen haben.« Er tat es. Danach fuhr er fort: »Diese Männer sind Ihre direkten Gegner. Die Leiter der Wiener Residenzen, wie man das im Jargon dieser Herren nennt. Natürlich noch nicht die Gottsöbersten! Das ist eine komplizierte Stufenleiter. Jene Leute, so gefährlich sie sind, erhalten alle Weisungen von Vorgesetzten. Die sind wieder anderen Vorgesetzten verantwortlich. So geht das zu. Unsere Freunde befinden sich durchaus auf höherer Ebene. Stolz sind sie und eifersüchtig auf ihre Positionen. Die Minox mit den Aufnahmen vom Manuskript Ihres Vaters hat einer meiner Leute schon zur Staatspolizei gebracht. Ich fürchte allerdings, auch die Spezialisten dort werden den Code nicht brechen können. Was Sie betrifft, so habe ich da einen Vorschlag …«

Groll hatte ihn unterbreitet. Manuel war einverstanden gewesen.

»Also gut«, sagte der Hofrat, nun vom Fenster zu dem Arbeitstisch kommend, »dann wollen wir beginnen.« Er zog das Telefon heran, wählte die Nummer des Sicherheitsbüros und bat die Telefonistin, die sich meldete, eine Konferenzschaltung herzustellen. Er nannte die Nummern des französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹, der Ersatzteilfirma AMERICAR und der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹.

»Sagen Sie, Herr Manuel Aranda will Monsieur Mercier, Mister Grant und den Genossen Santarin sprechen.«

Er wartete.

Die Telefonistin meldete sich: »Mister Grant ist nicht anwesend, heißt es, Herr Hofrat.«

»Dann verbinden Sie nur mit den beiden anderen Nummern«, sagte Groll in den Hörer. Und zu Manuel: »Grant hat angeblich sein Hauptquartier verlassen. Fragen Sie Santarin, ob er bei ihm ist.«

Manuel nickte und nahm den Hörer.

Nach kurzer Zeit meldete sich eine ruhige, samtige Stimme: »Hier Santarin …«

Fast gleichzeitig erklang eine andere, unruhige Stimme: »Ich bin Jean Mercier. Was soll das heißen? Ich kenne Sie nicht, Herr …«

»Ja, ja, schon gut«, sagte Manuel Aranda. Seine Stimme war nun hart.

»Herr Santarin, ist Herr Grant bei Ihnen?«

»Gewiß ist er das, lieber Herr Aranda.«

»Haben Sie einen zweiten Hörer? Kann er mich verstehen?«

»Ja, lieber Herr Aranda.«

»Wollen Sie mir vielleicht sagen, was das Ganze bedeuten soll?« erklang Merciers Stimme.

»Natürlich. Deshalb rufe ich ja an. Meine Herren, Sie werden sich gewundert haben, warum ich so weit aus Wien heraus nach Grinzing gefahren bin. Ihre Leute, die mir gefolgt sind, werden sich auch gewundert haben. Nun, ich habe es getan, um Zeit zu gewinnen.«

»Ich verstehe kein Wort«, rief der Franzose.

»Ach, seien Sie endlich ruhig, Mercier«, sagte Santarin. »Zeit wofür, lieber Herr Aranda?«

»Sie wissen alle, was sich heute nachmittag im ›Ritz‹ ereignet hat. Sie wissen, daß der Koffer mit dem Manuskript meines Vaters in meinem Besitz ist.« Manuel sah zu Groll auf. Der nickte, als wollte er sagen: Gut so, weiter! Manuel fuhr fort: »Sie wissen – oder wissen nicht –, daß der Text des Manuskripts chiffriert ist. Herr Mercier weiß es bestimmt.«

»Keine Ahnung habe ich! Ich begreife nicht, warum ich mir das alles überhaupt anhöre!«

»Tja, warum, Herr Mercier? Nun, der Text ist zwar chiffriert, aber in dem Köfferchen habe ich auch den Code gefunden, den mein Vater benützt hat«, log Manuel, wie mit Groll besprochen. »Ich habe einen kleinen Teil des Textes entziffert. Ich weiß, worum es sich handelt – genausogut wie Sie.« Er sagte, was Groll ihm zu sagen empfohlen hatte: »Und ich weiß, daß es einen Weltskandal geben wird, wenn dieses Manuskript und Ihre Tätigkeit, meine Herren, bekannt werden.«

Danach schwieg Manuel.

Einer der Männer, die ihm zuhörten, atmete plötzlich schwer. Ich wette, das ist Mercier, dachte Manuel. Alles, was er nun sagte, hatte Groll ihm zu sagen geraten. Er weiß sicher viel mehr, als er mir verraten hat, dachte Manuel. Aber er muß schweigen, ich sehe es ein. Er meint es gut, er hat mich gern. Was immer mein Vater mit diesen Männern gemein hatte – ich werde es herausbekommen, ich! Manuel sagte: »Sie und die Regierungen, für die Sie arbeiten, wären vor der ganzen Welt in beispielloser Weise kompromittiert, wenn auch nur ein winziger Bruchteil der Transaktion, die Sie mit meinem Vater vorgenommen haben oder vornehmen wollten, bekannt würde.«

Es ist zum Verstandverlieren, dachte Manuel. Was für eine Transaktion kann das gewesen sein? Mein Vater hat in seinem Leben nichts Unehrenhaftes getan. Und doch muß hier in Wien etwas geschehen sein, das gemein ist, verbrecherisch, und von dem ich nichts ahne. Der Hofrat sagte es mir nicht. Er ahnt es zumindest, falls er es noch nicht weiß. Denn was er mir zu sagen empfohlen hat, das wirkt. Vater, dachte Manuel, Vater, den ich liebe, was hast du für Taten begangen?

Er zerbricht sich den Kopf über das wahre Gesicht seines Vaters, dachte Groll. So Gott will, wird er es nie kennenlernen …

»Es war töricht von Ihnen, den Hofrat und mich hierheraus verfolgen zu lassen«, fuhr Manuel fort.

»Wer hat Sie verfolgt? Wovon reden Sie eigentlich?«

»Zum Teufel, Mercier, halten Sie endlich den Mund!« sagte Santarin laut.

»Willst du dein Herz mir schenken, so fang es heimlich an …«, sang Seelenmacher in der Tiefe. Die beiden alten Leute saßen feierlich da, hielten sich an der Hand und hoben nun die Gläser, um einander zuzutrinken.

»Sie sind der festen Überzeugung«, sagte Manuel, »daß österreichische Behörden es aus politischen Gründen nicht riskieren dürfen, den Inhalt des Manuskripts und die Begleitumstände des Todes meines Vaters publik zu machen. Nun, österreichische Behörden dürfen das tatsächlich nicht riskieren. Ich aber, ich darf es! Ich bin Argentinier, Privatmann, ich brauche keine diplomatischen Rücksichten zu nehmen. Und ich werde keine Rücksichten nehmen! Deshalb habe ich das Manuskript, zusammen mit einem Bericht über alles, was geschehen ist, zu einem Anwalt schaffen lassen. Der Überbringer ist Ihren Leuten entgangen. Sie haben nicht eben die Umsichtigsten, meine Herren – Gott sei Dank! Bei diesem Anwalt liegt das Manuskript nun. In einem Tresor mit einer siebenstelligen Ziffernkombination …«

Groll, der neben ihm stand, nickte wieder.

»Mit diesem Anwalt telefoniere ich täglich. Melde ich mich einmal länger als vierundzwanzig Stunden nicht, dann hat er den Auftrag, das gesamte Material der Schweizer Botschaft zu übermitteln, die es dann auf einer internationalen Pressekonferenz bekanntgeben wird. Danach dürften die Länder, die Sie vertreten, in der gesamten Weltöffentlichkeit verdammt werden – von Ihnen selber ganz zu schweigen.«

Das war ebenfalls ein wörtlicher Satz von Groll.

Manuel hatte protestiert, als er ihn zum erstenmal vernahm.

»Aber das bedeutet doch, daß mein Vater in eine schmutzige Sache verwickelt gewesen ist, in eine Ungeheuerlichkeit!«

»Wie die Dinge liegen, kann man das nicht ausschließen!«

»Ich glaube das nicht! Ich werde das nie glauben!«

»Vielleicht wurde Ihr Vater erpreßt, unter schwersten Druck gesetzt, wer weiß das?« hatte Groll geantwortet.

Nun dachte Manuel: Die Männer, mit denen ich telefoniere, schweigen. Also muß ich ins Schwarze getroffen haben mit Grolls Worten. Aber was hat mein Vater wirklich getan? Was? Was? Er sagte, mit Mühe kalt und hart: »Ich nehme an, es ist Ihnen allen klar, daß es nichts Schlimmeres für Sie geben könnte, als wenn mir jetzt etwas zustößt.«

»Wirklich, Herr … wie war der Name? … Ich weiß nicht, warum ich mir das noch immer anhöre«, erklang Merciers Stimme.

»Weshalb tun Sie es dann?« fragte Manuel eisig. »Hängen Sie doch auf. Na los, hängen Sie auf!«

Die Verbindung blieb bestehen.

»Vielleicht könnte man zur Klärung dieses Mißverständnisses kommen, wenn man sich einmal zusammensetzte«, sagte Mercier.

»Keine Lust«, antwortete Manuel. »Sie sind jetzt gewarnt, alle. Sie wissen, was geschieht, wenn ich auch nur einen einzigen Tag meinen Anwalt nicht anrufe.« Damit legte er den Hörer nieder.

»Ausgezeichnet«, sagte Groll.

Im Sendezimmer des französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ stand der bleiche, große Jean Mercier mit den umschatteten Augen und den langen Wimpern. Sein Gesicht wirkte grünlich. Drei Männer im Raum sahen ihn schweigend an.

»Der Kurier«, flüsterte Mercier, der um Jahre gealtert schien. »Holt den Kurier aus der Bar nebenan. Er muß sofort zum Chef, Bericht erstatten. Der muß uns jetzt sagen, was wir tun sollen – und das schnell!« Einer der Männer eilte aus dem Raum.

In dem schönen, mit Barockmöbeln eingerichteten Privatzimmer seines Palais an der Wollzeile sagte Fedor Santarin zu Gilbert Grant: »Groll ist schlau. Und der Kleine ist auch nicht auf den Kopf gefallen.«

»Wenn Clairon ihn nur umgelegt hätte heute nachmittag!« knurrte der rotgesichtige Amerikaner verärgert. »Wenn sie uns nur hätten machen lassen, die Bonzen! Dann wäre das gottverdammte Manuskript jetzt tatsächlich bei der österreichischen Polizei, und wir müßten keine Sorgen mehr wegen einer Veröffentlichung oder so etwas haben. Verflucht noch einmal!« Er schlug auf den Tisch vor sich.

»Es wird auch so gehen. Genau wie wir es mit Nora Hill besprochen haben.«

»Aber wie lange kann das dauern?«

Santarin zuckte die Schultern.

»Und wenn Aranda wirklich etwas zustößt vorher? Dann lassen wir uns begraben!«

»Es darf ihm nichts zustoßen«, sagte der Russe langsam. »Wir müssen verhindern, daß Aranda nun auch nur ein Haar gekrümmt wird …«

In Grinzing draußen klopfte es an der Tür von Seelenmachers Büro. »Herein!« rief Groll.

Der traurige junge Inspektor Schäfer mit der Hornbrille kam in den Raum, durch dessen weitgeöffnetes Fenster silberne Schneekristalle sanken.

»Alles erledigt?« fragte der Hofrat.

»Ja. Doktor Stein wartet auf Ihren Anruf, Herr Aranda. Sie müssen auch noch seinen Kompagnon Doktor Weber anrufen. Zu Hause. Hier sind alle Telefonnummern.« Schäfer gab Manuel eine kleine Karte. »Stein schlägt vor, daß Sie sich täglich zwischen 15 und 18 Uhr in der Kanzlei melden und ihn oder Weber verlangen. An Wochenenden rufen Sie eine der Privatnummern an. Sie nennen täglich ein anderes Kennwort als viertes Wort im ersten Satz, den Sie sprechen. Das Kennwort für heute abend ist ›Sauwetter‹. Stein wird Ihnen antworten. Achten Sie auf das siebente Wort in seinem ersten Satz. Das siebente Wort ist immer das Kennwort für den folgenden Tag. Stein und sein Sozius haben das verabredet, damit es zu keinen Komplikationen kommt. So kann niemand Ihre Stimme nachahmen und einen der Herren täuschen. Und selbstverständlich dürfen Sie immer nur aus einer öffentlichen Telefonzelle anrufen.«

»Gut gemacht, Schäfer«, sagte Groll. Der Inspektor nickte und ging aus dem Raum, beklommen und sorgenvoll wie immer.

»Was hat er?« fragte Manuel.

»Seine Frau ist sehr krank. Armer Hund. Rufen Sie meinen Freund Stein an, er wartet.«

Manuel sah auf die kleine Karte, wählte und vernahm gleich darauf eine Männerstimme: »Stein!«

Manuel sagte langsam: »Ist das ein Sauwetter heute abend, was Doktor? Hier spricht Manuel Aranda. Wie geht es Ihnen?«

Stein antwortete: »Ich fürchte sehr, ich bekomme eine Grippe, ich fühle mich ganz zerschlagen.« Er redete ebenfalls langsam und deutlich. Also Grippe ist das Wort für morgen, dachte Manuel. Sie sprachen noch kurz über einen fiktiven Gerichtsfall, dann verabschiedeten sie sich.

»Nun den Kompagnon«, sagte Groll.

Manuel rief den Anwalt Weber an. Die Prozedur wiederholte sich. Auch Weber fürchtete, die Grippe zu bekommen, und zwar derart, daß das Wort ›Grippe‹ an siebenter Stelle in seinem ersten Satz stand.

Als dieses Gespräch beendet war, füllte der Hofrat zwei schöne alte Weingläser aus einem dunklen Steinkrug, der auf einem geschnitzten Wandbord stand. Er sagte, während aus der Tiefe das leise Zitherspiel Seelenmachers erklang: »Ich glaube, nun haben wir alles getan, um zu verhindern, daß Sie das Schicksal Ihres Vaters ereilt.«

Sie tranken beide. Seelenmachers ›Grüner Veltliner‹ schmeckte fruchtig herb und kühl.

»Herr Hofrat«, sagte Manuel, »ich bin sehr glücklich, einen Mann wie Sie getroffen zu haben.«

»Sie können immer auf mich zählen, nun, wenn Sie sich daranmachen, die Wahrheit über den Tod Ihres Vaters zu finden.«

»Danke«, sagte Manuel und fühlte, wie eine große Traurigkeit in ihm aufstieg.

»Sie müssen das aber umsichtig anfangen. Zum Beispiel dürfen Sie sich niemals Ihre Trauer derart anmerken lassen wie jetzt vor mir. Nur Zorn soll man bei Ihnen fühlen, Sucht nach Vergeltung.«

Manuel leerte das große Glas in zwei Zügen.

»Ich finde die Wahrheit«, sagte er. »Ich finde heraus, warum Frau Steinfeld meinen Vater vergiftet hat. Alles finde ich heraus – alles über den Mord, das verschlüsselte Manuskript und die Menschen, die in diese Geschichte verwickelt sind.« Er stockte. »Weshalb sehen Sie mich so an? Frau Steinfeld hat meinen Vater vergiftet, das steht fest! Glauben Sie etwa plötzlich, sie hätte keinen Grund dazu gehabt?«

»Es ist mir schrecklich, das zu sagen«, antwortete Groll langsam, »aber ich denke, sie hatte einen besonderen Grund für alles, was sie tat.«

27

Zu dieser Zeit lag Alphonse Louis Clairon in der Abteilung L 73 auf dem Wiener Zentralfriedhof schon unter einer Schneeschicht von neun Zentimeter Höhe. Die Boeing 707 der TWA, in welcher der blonde, stichelhaarige David Parker saß, der Clairons Leben jählings zu einem gewaltsamen Ende gebracht hatte, flog bereits über den Antlantik, der Neuen Welt entgegen.

Groll war in Grinzing von seiner Mordkommission angerufen worden. Man brauchte ihn dringend.

»Was ist passiert?«

»Hören Sie einmal, Herr Hofrat«, sagte ein Kriminalbeamter, der sich offenbar in einem Vernehmungszimmer befand. Aus der Membran von Grolls Telefonhörer erklang auf einmal Gebrüll, so laut und wüst, daß der Hofrat den Hörer vom Ohr nahm und auch Manuel die tobende Stimme eines anderen Beamten vernehmen konnte.

»Das Messer hat auf dem Tisch gelegen! Und da hast du es genommen und bist los auf ihn!«

Eine weibische, hohe Männerstimme jaulte: »Es war Notwehr! Er hat doch hingefaßt und mir die Hose aufknöpfen wollen, das alte Schwein!«

»Einen Dreck hat er!« schrie der Kriminalbeamte, der gewiß nicht lauter schreien konnte. »Du, du hast was von ihm gewollt! Seine Kröten! Du hast ihn absahnen wollen, du Lump! Und weil er dir nichts gegeben hat, hast du das Messer gepackt und ihn abgestochen wie eine Sau!«

»Ich komme gleich«, sagte Groll in den Hörer und legte auf. »Sie sehen«, meinte er zu Manuel, »wir haben auch nette, einfache und klare Morde in Wien …« Er nahm seinen Mantel. »Ich muß ins Geschäft. Kommen Sie mit. Mein Wagen bringt Sie zum Hotel.«

Manuel antwortete nicht.

»Was haben Sie?«

»Seien Sie nicht böse. Ich möchte noch ein wenig hier sitzenbleiben«, antwortete Manuel. »Glauben Sie, Ihr Freund erlaubt es?«

»Natürlich. Ist Ihnen nicht gut?«

»Doch. Es war nur … alles ein bißchen viel für mich. Ich möchte nachdenken … und allein sein …«

»Das verstehe ich«, sagte der Hofrat. »Wir sehen uns morgen. Bleiben Sie, solange Sie mögen. Seelenmacher wird Ihnen ein Taxi besorgen, wenn Sie heimfahren wollen.« Er schüttelte Manuel die Hand. »Kopf hoch«, sagte er.

»Jaja.«

»Das war eine dumme Bemerkung, ich weiß«, murmelte Groll. Er sah den jungen Mann hilflos an, legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und verließ den Raum. Gleich darauf hörte Manuel einen Wagen fortfahren. Aus der Tiefe erklangen noch immer das Zitherspiel und der leise Gesang des Weinhauers.

Manuel trank sein Glas leer und füllte es wieder. Er sah zu dem kleinen, offenen Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die herabsanken, bis ihm wieder schwindlig wurde. So viele Flocken, dachte er. So viele Geheimnisse. Eine Frau hat meinen Vater vergiftet. Mein Vater war in eine böse Affäre verwickelt. Damit muß ich mich abfinden. Vielleicht stellt sich heraus, daß ihn trotz allem keine Schuld traf, daß er ein Opfer war und kein Täter. Aber das verschlüsselte Manuskript. Was hat es zu bedeuten? Kann es überhaupt eine gute Bedeutung haben? Ich bin Chemiker. Ich habe eine exakte Wissenschaft studiert. Mir ist es nicht gegeben, mit Unsicherheiten, Rätseln und Zweifeln zu leben. Ich brauche Tatsachen, vernünftige Tatsachen, um all dies Dunkel aufzuhellen und zu klären. Habe ich nicht genug Tatsachen? Zwei Tote. Geheime Agenten. Eine Staatsaffäre, wenn Groll recht hat. Das Manuskript. Ja, das sind Tatsachen, die man dennoch nicht versteht! Verzweifelt dachte Manuel: Unser aller Existenz ist eine Tatsache. Aber sie wäre unbegreiflich, wenn wir nicht hier wären. Wir sind hier, und sie bleibt weiter unbegreiflich. Vater, dachte er, Vater, den ich liebe, darf ich noch glauben, daß du der wunderbare Mann warst, als der du mir immer erschienen bist?

»Sie war eine wunderbare Frau …«

Das hatte Irene Waldegg von Valerie Steinfeld gesagt, heute nachmittag, vor dem verschneiten Grab.

Eine wunderbare Frau.

Und mein Vater war ein wunderbarer Mann.

Können wir beide recht haben? Täusche ich mich? Täuscht sich Irene? Irene!

Plötzlich mußte Manuel heftig an sie denken. Irene hat Nachtdienst heute, in der Apotheke. Ich will noch zu ihr fahren. Ich muß ihr erzählen, was geschehen ist. Ich muß mit ihr sprechen. Große Sehnsucht, Irene Waldegg wiederzusehen, erfüllte ihn, aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Noch fünf Minuten, dachte er. Noch ein Glas Wein.

Als er den Krug hob, öffnete sich die Tür, und Seelenmacher kam herein.

Es war Manuel nicht aufgefallen, daß schon seit einiger Zeit kein Gesang und kein Zitherspiel mehr erklangen.

Der große Mann mit dem wettergegerbten Gesicht brachte einen Krug und Gläser mit. Er lächelte Manuel an, nickte und setzte sich zu ihm. Seelenmacher schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Mein Freund hat mich gebeten, nach Ihnen zu schauen.« Er füllte die neuen Gläser aus dem neuen Krug. »Versuchen Sie einmal den«, sagte er. »Eine andere Sorte. Ich habe nur ganz wenig davon. Frühroter Veltliner.« Seelenmacher sprach langsam und einfach. »Sie haben einen großen Kummer, sagt mir mein Freund. Und großes Unglück ist Ihnen widerfahren. Sie sind verwirrt und verstört und traurig.«

Manuel nickte. Der neue Wein wärmte ihn und machte ihn benommen. Irene, dachte er, ich will zu Irene fahren. In ein paar Minuten. Noch ein paar Minuten will ich hierbleiben, im Frieden und in der Geborgenheit dieses Zimmers …

»Wolfgang – der Hofrat Groll – hat Ihnen erzählt, daß ich ein Priesterseminar besuchte und Pfarrer werden wollte, nicht wahr?«

Manuel nickte.

»Nun«, sagte Seelenmacher, »damals, vor langer Zeit, traf ich – mit Erlaubnis – immer wieder einen Rabbiner im Zweiten Bezirk. Wir diskutierten nächtelang in seiner Synagoge. Er erzählte mir eine chassidische Legende, die ich nie vergessen habe. Ich möchte sie gern Ihnen erzählen – vielleicht tröstet Sie die Geschichte. Wollen Sie sie hören?«

Manuel nickte.

Seelenmacher sagte, seine zerfurchten, großen und von schwerer Arbeit rauhen Hände betrachtend: »Nach dieser Legende gibt es, seit unsere Welt besteht, Gerechte und Ungerechte auf ihr. Manchmal mehr Gerechte, manchmal weniger. Immer aber und zu allen Zeiten gibt es mindestens sechsunddreißig von ihnen. Die muß es geben, denn sonst könnte unsere Welt keinen Tag lang weiterexistieren, sie würde untergehen in der eigenen Schuld …« Seelenmacher trank, und auch Manuel trank wieder von dem neuen Wein und sah zu dem silbernen Rieselvorhang der Flocken vor dem Fenster. »Die Sechsunddreißig sind nicht durch Rang oder Stellung gezeichnet. Sie verraten ihr Geheimnis nie. Vielleicht kennen sie es selbst nicht. Und trotzdem sind sie es, die in jeder neuen Generation unserem Leben seine Berechtigung geben und jeden Tag von neuem die Welt retten.«

Seelenmacher schwieg wie Manuel.

Nach einer langen Pause sagte er: »Die Sechsunddreißig lassen nicht zu, daß Unrecht besteht oder ungesühnt bleibt. Die Sechsunddreißig sorgen auch dafür, daß Sie wieder Frieden finden werden in der Kenntnis der Wahrheit.«

Das Telefon läutete.

Seelenmacher hob ab und meldete sich. Dann reichte er den Hörer zu Manuel.

»Für Sie. Eine Frau.«

»Wie heißt sie?«

»Sie nannte mir nicht ihren Namen. Sie sagte nur, es sei sehr dringend.« Manuel nahm den Hörer und meldete sich: »Hier ist Aranda. Mit wem spreche ich? Was ist so dringend?«

Eine dunkle Frauenstimme ertönte: »Außerordentlich dringend ist es, Herr Aranda. Man hat mir gesagt, daß Sie in Grinzing sind.«

Die Autos, die uns folgten, dachte Manuel. Also warten sie noch immer. Er fragte: »Wer hat es Ihnen gesagt?«

»Es ist weit zu mir. Und kompliziert von Grinzing aus. Sie haben einen eigenen Wagen. Er steht vor dem Hotel, höre ich. Vom Hotel aus ist es einfacher. Ich erkläre Ihnen den Weg genau. Nehmen Sie ein Taxi zum ›Ritz‹ und dann Ihren Mercedes.«

»Wer sind Sie?«

»Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie kommen. Ich habe Ihnen das anzubieten, was Sie suchen.«

»Hören Sie nicht? Ich frage, wer Sie sind!« rief Manuel.

»Mein Name«, erwiderte die tiefe, dunkle Stimme, »ist Nora Hill. Ich bin die Frau, von der Valerie Steinfeld die Zyankali-Kapseln bekam.«

28

»Yvonne war sehr böse. Sie muß bestraft werden. Wer von Ihnen will sie auspeitschen, meine Herren?« fragte Nora Hill mit rauher, tiefer Stimme. Sie sprach nicht besonders laut, und doch schienen ihre Worte zu hallen, so groß war die Stille in der kreisrunden Halle, die schwach von blauem Licht erhellt wurde. Manuel, den ein athletisch gebauter Mann im Smoking ins Haus gelassen hatte, wartete weit hinten, fast im Dunkeln. Nora Hill stand im Lichtkreis eines Scheinwerfers. Manuel wußte, daß es Nora Hill war. Der Athlet hatte erklärt: »Madame ist im Moment beschäftigt. Aber sie hat mir Ihr Kommen avisiert. Ich werde melden, daß Sie da sind. Bitte, warten Sie hier.«

Hier – das war ein antik eingerichteter kleiner Salon gewesen, in den der Athlet Manuel geführt hatte. Von draußen waren viele Geräusche und Musik hereingeklungen. Ihnen folgte plötzliche Stille und danach die harte, befehlende Stimme einer Frau. Manuel hatte die Bitte des Athleten mißachtet, seine Neugier war zu groß gewesen. Er wollte die beschäftigte Madame sehen. Leise verließ er den Salon und gelangte durch einen menschenleeren kurzen Gang in die Halle. Da erblickte er dann die Dame des Hauses …

Neben Nora Hill stand, gleichfalls im gleißenden Lichtkegel des Scheinwerfers, ein junges Mädchen mit flammend rotem Haar. Nora Hills Abendkleid war knöchellang und aus Silberlamé. Sie hatte schwarzes Haar, schwarze, große Augen, einen großen Mund und war stark geschminkt. Eine faszinierende Frau, dachte Manuel. Wie alt? Vierzig, höchstens. An jedem Ohr trug Nora Hill einen großen tropfenförmigen Smaragd, ein Smaragdkollier mit vielen Steinen um den Hals und einen Smaragdring. Der Schmuck funkelte. Mit beiden Händen stützte Nora Hill sich auf die Griffe von zwei modernen Leichtmetallkrücken, deren gepolsterte Enden ihren Ellbogengelenken angepaßt waren.

In der rechten Hand hielt sie eine Peitsche. Die Peitsche hatte einen kurzen Stiel und zahlreiche dünne braune Riemen. Leder ist das wohl, dachte Manuel. Nun hob Nora Hill die rechte Hand samt der Krücke, stützte sich schwer auf die linke und ließ die Peitsche durch die Luft sausen. Die Riemen pfiffen.

»Also, meine Herren! Yvonne muß ihre Strafe bekommen. Auf der Stelle! Wer will, kann sie schlagen, bis sie ohnmächtig wird!«

Das Mädchen neben ihr war vollkommen nackt. Es versuchte, die Scham und die Brüste mit Armen und Händen zu verbergen.

»Hände weg!« sagte Nora Hill.

Das Mädchen zögerte.

Nora Hill schlug ihr klatschend die vielschwänzige Peitsche über den Rücken. Das Mädchen schrie auf.

»Hände weg!«

Yvonne ließ die Arme sinken. Nun stand sie völlig entblößt da. Das Dreieck ihrer Scham leuchtete rot wie das Kopfhaar.

»Sie werden sich doch nicht genieren! Vorwärts, meine Herren!« Nora Hill hob nie die Stimme. Sie lehnte den Krückstock, den sie zusammen mit der Peitsche hielt, gegen ein Fauteuil. Nun hatte sie die Rechte frei für die Peitsche. Die Linke stützte sich schwer auf die zweite Krücke.

In dem bläulich erhellten Halbdunkel der großen Halle, in die Nora Hill blickte, saßen mindestens zwanzig Männer und mindestens ein Dutzend Mädchen auf Lehnstühlen, auf Couches, an kleinen Tischen, vor Gläsern, Flaschen und Sektkübeln. Manuel sah wenig mehr als Silhouetten. Es waren junge und ältere Männer, in Abendkleidung, in Straßenanzügen. Manuel erkannte, daß die Mädchen alle jung und hübsch waren. Neben sehr hellhäutigen gab es auch dunklere Typen, ja eine Negerin. Die Mädchen saßen bei den Männern, auf ihren Knien. Wenige waren komplett angezogen. Die meisten befanden sich in verschiedenen Stadien der Entblößung, sie trugen nur Schuhe und mehr oder weniger Unterwäsche.

Nora Hill balancierte geschickt und mit langer Übung ihr Gleichgewicht auf dem einen Krückstock aus und schlug dem rothaarigen Mädchen dann die Riemen der Peitsche über den weißen Bauch. Yvonne hatte eine sehr helle Haut. Sie schrie wieder und krümmte sich. Sofort schlug Nora neuerlich zu, auf das Gesäß. Die Riemen knallten. Die Schläge klatschten. »Na, was ist denn, meine Herren? Das macht doch Spaß! Was haben Sie bloß?« Nora Hill sprach ein sehr reines Deutsch, ohne jeden österreichischen Akzent, fiel Manuel plötzlich auf. »Will denn wirklich keiner von Ihnen Yvonne auspeitschen? Keiner?«

Es blieb still in der Halle. Manuel hörte jemanden in seiner Nähe hastig atmen.

»Dann muß Gloria es tun«, entschied Nora Hill. Sie sagte heiser und nicht eine Spur lauter: »Gloria!«

»Ja, Madame.«

Aus der Dunkelheit tauchte – Manuel sah nicht, woher – ein zweites Mädchen auf. Es war gleichfalls vollkommen nackt bis auf ein Paar weicher, eng anliegender Lederstiefel, die bis über die Knie reichten. Dieses Mädchen war ein dunkler Typ mit schwarzblauem Haar.

»Du wirst Yvonne peitschen, Gloria!«

»Ja, Madame.« Gloria knickste.

Nora Hill ließ sich in das Fauteuil gleiten. Ihre Bewegungen waren sehr geschickt. Die zweite Krücke behielt sie in der Hand. »Daß du mir richtig zuschlägst! Sonst bekommst du selbst deine Tracht! Zwölf Schläge!«

»Ja, Madame.«

»Yvonne zählt mit, verstanden?«

»Ja, Madame«, flüsterte das rothaarige Mädchen. Die Warzen seiner großen Brüste hatten breite, rosige Höfe.

Nora Hill stieß mit dem Krückstock heftig gegen den Boden.

»Das Seil!«

Von oben, aus der Dunkelheit der Hallenkuppel, kam ein Seil herabgeschwebt.

»Die Hände in die Höhe!« kommandierte die Frau in dem silbernen Kleid. Gloria fesselte Yvonnes emporgestreckte Hände so, daß diese sie hoch über dem Kopf halten mußte. Das Seil wurde mit einem Ruck angezogen. Yvonne stand nun auf Zehenspitzen.

Nora Hill stampfte mit dem Krückstock auf. »Zuerst den Rücken!«

Die Peitsche sauste durch die Luft.

Das gefesselte Mädchen schrie. Sein Körper schwankte und drehte sich leicht.

Zählen!«

»Eins …«

»Lauter!« Der Stock klopfte auf den Boden.

»Eins!« rief das blonde Mädchen.

»Weiter!« sagte Nora Hill. »Jetzt den Hintern!«

Iiii! pfiffen die Peitschenschnüre.

Yvonne schrie wieder.

In der Halle wurde es unruhig.

Der Stock klopfte befehlend.

»Zählen! Noch einmal sage ich es nicht!«

»Zwei …«, schluchzte Yvonne.

»Die Backen! Dazwischen! In die Ritze!«

Die Peitschenenden klatschten. Yvonne wand sich.

»Drei …«

Der Stock klopfte.

»Die Brüste!« kommandierte Nora Hill.

Der Schlag kam.

Yvonne schrie gellend auf.

»Na?«

»Vi … vier …«

»Noch einmal die Brüste!«

»Aaahhh!« Yvonne pendelte hin und her. Sie ächzte: »Fünf …«

»Und jetzt die Fut. Aber fest!« sagte Nora Hill.

Yvonne heulte auf. Die roten Haare flogen. Der Körper zuckte. Manuel sah, daß der Athlet im Smoking zu Nora Hill getreten war und mit ihr flüsterte. Sie nickte kurz. Die Auspeitschung nahm ihren Fortgang.

»Der Bauch!«

»O Gott! Sechs …«

Manuel setzte sich. Diese Bestrafung rief in ihm ein Gemisch von Abscheu und Erregung hervor. Er ärgerte sich über die Erregung. Er starrte die offensichtlich an beiden Beinen gelähmte Nora Hill an. In was für einen Alptraum gerate ich hier? dachte er.

»Die Schenkel, vorne!«

»Ooooh!« schrie Yvonne.

Dieses Haus mußte von einem verrückten Architekten gebaut oder von einem verrückten reichen Mann in Auftrag gegeben worden sein. Es war nicht nur innen kreisrund, sondern auch außen. Zwei Stock hoch, sah es aus wie ein kunstvoller Turm. Alle Mauern waren, soweit Manuel das in dem Licht der Laternen, die in dem verschneiten Garten leuchteten, hatte erkennen können, mit gewundenen Jugendstil-Ornamenten aus Stein, aber auch mit blauen, roten und gelben Mosaikmustern verziert.

Nora Hills Haus lag im äußersten Westen der Stadt, fast unmittelbar vor der Mauer des Lainzer Tiergartens. Vom Ring immer westwärts fahrend, hatte Manuel ohne große Mühe hergefunden. Er war zahlreichen Schneepflügen begegnet, auch an der Peripherie. Selbst die einsame Straße, die zu Nora Hills Villa emporstieg, war schon einmal freigeräumt worden.

Hier gab es sehr viel freies und noch unbebautes Gelände. Prächtige Villen standen in großen Gärten. Gleich hinter ihnen begann der Wald. Nora Hills Rundbau lag in einem alten, wilden Park. Ein hoher Zaun aus spitzen Eisenstäben umgab ihn von allen Seiten. Beim Tor stand ein Gärtnerhaus. Auf Manuels Läuten hin war ein vermummter Riese aus diesem Gebäude getreten und hatte ihn nach Namen und Begehr gefragt. Danach war er in das Häuschen zurückgeschlurft.

»Muß erst telefonieren.«

Er kam gleich darauf wieder und öffnete die Flügel des großen Tores. »Immer geradeaus. Da vorne ist ein Parkplatz.«

Der Parkplatz war groß und von Schnee freigeräumt. Auf ihm standen Luxuswagen mit in- und ausländischen Nummern. Manuel zählte vierzehn Autos. Als er aus dem Mercedes stieg, warf ein fauchender Ostwind, der schmerzhaft Schneekristalle in sein Gesicht schleuderte, ihn fast um. Aus der Dunkelheit erklang das mächtige Brausen des Sturms in den Bäumen des Parks. Manuel hielt sich an seinem Wagen fest und sah die Rundmauer des phantastischen Hauses an, das von vielen alten, gelbverglasten Eisenlaternen mit hohen Schneehüten umgeben wurde. Hinter der Villa erblickte er mehrere kleine Gebäude. Wohnungen der Angestellten wahrscheinlich, dachte Manuel. Der Sturm raste, Äste ächzten und knarrten, die Luft war erfüllt von vielen Geräuschen. Schnee fiel noch immer, aber nicht mehr stark. Es war sehr kalt geworden. (Clairon, auf dem Zentralfriedhof, ruhte nun schon unter einer weißen, kalten Decke von elf Zentimeter Höhe. Man sah nichts mehr von seinem Leichnam.) Der Park muß groß sein, dachte Manuel. Die letzte Villa, an der ich vorbeigefahren bin, liegt mindestens zwei Kilometer entfernt.

»Guten Abend, Herr Aranda.«

Manuel fuhr herum.

Hinter ihm stand ein Mann im Smoking, der aussah wie ein Freistilringer. Er hielt einen geöffneten Schirm.

»Darf ich mir erlauben, Sie zum Haus zu begleiten …«

Dieses Haus …

»Und wieder auf den Hintern!«

Huiiitt! pfiff die Peitsche. Der Atem der schwarzhaarigen Gloria mit den Lederstiefeln, die schlug, ging nun keuchend, ihre Brüste hoben und senkten sich, das Gesicht war verzerrt. Yvonne, an das Seil gefesselt, schrie wieder auf. Der Körper bäumte sich vor.

»Elf …«

»Und noch einmal der Bauch!« kommandierte Nora Hill, mit der Krücke stampfend. Die Enden der Peitsche flogen durch die Luft und klatschten laut, als sie die weiße Haut trafen.

Diesmal stöhnte das Mädchen am Seil nur noch.

»Zwölf …«

Dann sackte Yvonnes Kopf nach vorn, als sei sie ohnmächtig geworden. Manuel sah, schattenhaft, Bewegung auf den Fauteuils, auf den Sofas. Ein Geruchsgemisch von Zigaretten-und Zigarrenrauch, Parfüm, Erregung, Schweiß und Frauen hing schwer in der Luft.

»Hinaus mit ihr!« sagte Nora Hill.

Das Seil, das aus der Finsternis der Decke kam, senkte sich nun. Gleichzeitig glitt die rothaarige Yvonne zur Erde, wo sie zusammengekrümmt reglos liegenblieb. Die dunkle Gloria band ihre Fessel los. Yvonnes Arme fielen auf den Boden. Sie rührte sich nicht. Zwei Kellner in schwarzen Hosen, weißen Hemden und kurzen roten Jacken sprangen ins Licht und zerrten das nackte Mädchen zwischen sich fort – ins Dunkel. Gloria reckte sich mit weit gespreizten Beinen und vorgestrecktem Unterleib noch einmal. Als ein gelbes Licht anstelle des blauen aufflammte und die Halle heller erleuchtete, war auch sie verschwunden.

Männer wurden von halbnackten Mädchen umschlungen, betastet, geküßt, gestreichelt. Manuel sah jetzt, daß nicht nur sie, sondern auch die Männer verschiedenen Rassen angehörten.

In dem Moment, in dem das hellere gelbe Licht anging, trat ein hagerer Mann mit hohen slawischen Backenknochen und sehr bleicher Haut zu Manuel. Der Mann trug einen Smoking und hatte einen kleinen Schnurrbart. Sein schwarzes Haar glänzte vor Öl.

»Herr Aranda?«

»Ja.«

»Mein Name ist Enver Zagon«, sagte der Mann mit stark östlich gefärbtem Deutsch. Er redete gehetzt. »Ich muß Sie sprechen! Es geht um den Tod Ihres Vaters …«

»Was wissen Sie davon? Wer sind Sie?«

»Ich weiß, daß …« Der Fremde brach ab. »Geben Sie mir Feuer für meine Zigarette. Schnell!«

»Aber …«

»Schnell! Geht nicht jetzt. Später.«

Manuel riß ein Streichholz an, der Mann, der sich Enver Zagon nannte, neigte sich darüber, setzte eine Zigarette mit langem, breitgedrücktem Mundstück in Brand, verbeugte sich und ging zu seinem Sessel zurück, in dem er allein und abseits von den anderen gesessen hatte.

Manuel begriff nicht, was ihn plötzlich so in Angst versetzte. Er sah sehr unruhig durch die große Halle mit ihrem kunstvollen Holzmosaikboden, sah schon halb betrunkene Männer, die Mädchen in ihren Miedern, Höschen, Seidenstrümpfen, die Kellner in ihren schwarz-rot-weißen Uniformen, die nun mit Sektkübeln, Gläsern und Flaschen hin und her eilten, dann sah er sie, Nora Hill. Der kostbare Schmuck an ihrem kranken Körper blitzte, das silberne Kleid leuchtete rot, als sie mit schnellen, routinierten Bewegungen ihrer beiden Krücken auf ihn zukam.

Diese Krücken verursachten jetzt fast kein Geräusch. Nora Hill stützte sich mit aller Kraft auf sie, er konnte es an der Anspannung ihres glatten, so jung wirkenden Gesichts erkennen. Ohne diese Krücken vermochte sie offenbar keinen Schritt zu gehen. Dennoch brachte Nora Hill es fertig, zu lächeln. Sie zeigte blendend weiße Zähne.

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Herr Aranda.« Ihre akzentfreie Stimme, rauchig und tief, klang gleichmäßig und ruhig, keineswegs außer Atem. Er verneigte sich. Sie hob die Hand mit der Krücke so weit, daß seine Lippen ihre Haut berührten. Die Haut war kühl und trocken. Was für schöne Hände sie hat, dachte er. Und was für Augen. Schöne Augen, ja. Aber wieviel Menschenverachtung, Zynismus und Kälte spiegeln sich in diesen schönen Augen!

»Eigentlich erwartete ich Sie draußen im Salon.«

»Ja, aber …«

»Aber Sie sind ein sehr neugieriger junger Mann, nun ja. So haben Sie mich also gleich in Aktion gesehen … Dieser Mann, was wollte er von Ihnen?«

»Welcher Mann?«

»Herr Aranda, bitte!« Jetzt klang die Stimme metallen.

»Oh, der! Gar nichts. Er wünschte Feuer für seine Zigarette.«

»Er würde nicht dazu kommen, sehr viele andere Wünsche zu äußern.« Abrupt senkte Nora Hill die Stimme wieder, während sie mit einem plötzlichen Ausdruck des Ekels, den Manuel noch oft auf diesem schönen Gesicht sehen sollte, ihre Klienten betrachtete. »Schauen Sie sich das an. Männer! Geil sind sie jetzt und halb verrückt nach meinen Mädchen. So einfach geht das. Und dabei Theater, alles Theater.«

»Wie?«

»Yvonne hat nichts gespürt, nicht das geringste.«

»Aber die Peitsche …«

»Die Riemen sind aus weichem Nylon. Das tut nicht weh. Nicht die Spur. Haben Sie Striemen gesehen? Blut?«

»Nein …«

Ein Engländer, sehr betrunken, ein Mädchen im Arm, schwankte an ihnen vorbei.

»Come on, baby, now I’ll fuck you!«

»Sehen Sie? Es wirkt schon.« Nora Hills breite Lippen verzogen sich. »Jeder Mensch ist ein Sadist. Jeder! Sie. Ich. Wir alle. Man spielt uns etwas vor – wir reagieren. Nein, überhaupt nichts hat Yvonne gespürt. Und Sie – und die anderen – haben nichts gemerkt, gar nichts! Nicht, daß kein Blut floß, nicht, daß es keine Striemen gab! Was glauben Sie? Daß ich es mir leisten kann, eines meiner Mädchen wirklich auspeitschen zu lassen? Yvonne ist das beste Hühnchen hier. Die wird noch gebraucht heute abend. Wenn einer tatsächlich Blut sehen will – nun ja, kann er auch haben. Menschen – ah!«

»Sie verachten die Menschen?«

»Nicht einmal das mehr. Zu anstrengend. Es gibt nur zwei Arten von ihnen, wissen Sie, junger Mann: schlechte und dumme.« Sie lächelte wieder ihr strahlendes Lächeln. »Die schlechten«, sagte Nora Hill, »sind mir lieber.«

›Strangers in the night‹, sang Frank Sinatras Stimme aus verborgenen Lautsprechern.

»Gehen wir zu mir hinauf«, sagte Nora Hill. »Es wird ein längeres Gespräch werden.«

Damit schwang sie sich zwischen ihren Krückstöcken bereits schnell einer breiten Treppe entgegen, welche an der kreisrunden Innenwand empor zu einer Balustrade im ersten Stock führte. Manuel folgte ihr und mußte sich beeilen dabei, so schnell kam Nora Hill, an beiden Beinen gelähmt, vorwärts. Er drehte sich um und sah den hageren Mann, der ihn angesprochen hatte, in seinem Sessel. Der Mann mit den hohen Backenknochen blickte ihm tiefbesorgt nach.

29

»Schweine«, sagte Nora Hill. »Schmutzige, gierige Schweine. Das sind die Menschen, so wie ich sie kennengelernt habe. Dabei schließe ich mich selbst natürlich ein. Nebst Vater und Mutter.«

»Auch Ihre Eltern …«

»Und ob! Ich bin nicht von hier, das werden Sie schon an meiner Aussprache gemerkt haben, junger Mann. Ich wurde in Essen geboren. 1915.«

»1915? Aber dann sind Sie ja …«

»Vierundfünfzig. Ich habe mich gut gehalten, ich weiß. Mein Vater war aktiver Offizier, meine Mutter Tänzerin in einem Varieté. Sie trieb es mit jedem. Bis dieser Leutnant kam. Sie liebte ihn – äh! Er schwängerte sie. Versprach, sie zu heiraten. Zu seiner grenzenlosen Erleichterung brach gleich darauf der Erste Weltkrieg aus, und er verschwand für immer. Mich brachte mein braves Mütterlein, kaum daß ich richtig auf der Welt war, zu Bauern. Ich störte sie, nun, da sie wieder weiterhuren wollte. Als ich fünf war, sagten mir die Bauersleute, daß sie gestorben war. Mit einer schlichten Lues hatte sie sich ins Krankenhaus gelegt. Eine Lungenentzündung machte sie fertig. Als meine Pflegeeltern mir erzählten, die liebe Mami sei nun im Himmel, bekam ich einen Lachkrampf. Nein«, sagte Nora Hill, »niemals traf ich bis zu dieser Stunde einen Menschen, den ich lieben könnte, verehren könnte, von dem ich mir wünschen könnte, so zu sein wie er.« Ihre Stimme wurde leise. »Mit einer einzigen Ausnahme. Jemand ist da, den ich auch in dieser Stunde noch bewundere von ganzem Herzen, den ich verehre, zu dem ich aufblicke. Jemand, so, wie ich sein möchte und niemals sein werde.«

»Und wie heißt dieser Mensch?«

»Dieser Mensch«, sagte Nora Hill, »hieß Valerie Steinfeld.«

Die schöne Villenbesitzerin saß in einem chintzüberzogenen Sessel vor dem großen offenen Kamin, der sich in der Mitte eines antik eingerichteten Wohnraums befand. Er gehörte, wie Manuel festgestellt hatte, zu einem raffiniert gebauten großen Appartement mit Schlafzimmer, Umkleidezimmer, Badezimmer und Balkon. Es gab eine kleine Bar im Wohnraum, Bücherwände mit eingebautem Plattenspieler und Fernsehapparat.

Über dem etwas erhöhten Kamin befand sich eine gewaltige Esse, die allen Rauch einfing. Dicke Holzscheite waren von dem Athleten im Smoking, den Nora Hill Georg rief und der die Funktionen eines Dieners, Vertrauten und Chefs des Etablissements in ihrer Abwesenheit einzunehmen schien, übereinandergeschichtet worden. Das Feuer prasselte. Vorhänge bedeckten die großen Fenster. Zweige naher Bäume des Parks schleiften an ihnen, klopften gegen sie. Georg hatte einen Silberthermos mit Eiswürfeln, Gläsern, Siphonflaschen und eine Flasche Whisky serviert. Die Leichtmetallkrücken lagen rechts und links neben Nora im Sessel. Sie rauchte eine Zigarette, die in einer langen Silberspitze steckte. Ganz leise nur klangen von unten Gelächter und Musik, Stimmen und Rufe herauf. Es war ein sehr solide gebautes Haus. Nora Hill hatte es, nicht ohne Stolz, Manuel beim Heraufkommen ein wenig vorgeführt …

Die Steinbalustrade im ersten Stock – auf ihr lag noch das Seil, mit dem Yvonne gefesselt worden war – verlief gleichfalls kreisrund. Das Haus hatte einen gewaltigen Durchmesser.

»Ich zeige Ihnen ein paar der Zimmer«, sagte Nora Hill, eilig, energisch, ohne ein Zeichen von Scham vor Manuel auf ihren Krücken entlangschwingend. An den Wänden, zwischen Türen, erblickte Manuel große und kostbare Reproduktionen der neunundvierzig Stellungen des Pietro Aretino, gemalt von Giulio Romano. Über den Türen waren, wie in einem Hotel, halbkugelförmige kleine Milchglaslampen angebracht. Schnell und eilig öffnete Nora Hill einen Raum nach dem anderen. Was Manuel Aranda sah, verblüffte ihn durch Schönheit, Monstrosität oder Geschmack.

»Jedes Zimmer ist anders eingerichtet. Wir haben auch einen Swimming-pool und ein Kino – unten. Die Zimmer kosteten mich ein Vermögen. Sehen Sie, hier zum Beispiel, das chinesische …«

Es gab – die Führung ging weiter – auch ein in französischem Rokoko eingerichtetes Zimmer mit galanten Kupferstichen aus der Zeit. Es gab ein indisches, ein griechisches und ein Harems-Zimmer. Ein Raum war einer Klosterzelle nachgebildet, ein anderer einer Kerkerzelle, einer völlig in Schwarz gehalten. Manuel sah eine mittelalterliche Folterkammer samt Inventar und Stichen aus den Büchern des Marquis de Sade. Ein Zimmer hatte Spiegelwände und eine spiegelnde Decke. An zwei Türen schwang sich Nora Hill eilig vorüber. Die kleinen Milchglashalbkugeln über ihnen brannten.

»Es werden bald alle Zimmer besetzt sein«, sagte die Frau mit dem schönen Gesicht voller Menschenverachtung.

»Wo kommen diese Mädchen her?«

»Zum Teil wohnen sie hier, zum Teil in der Stadt. Wenn ich mehr oder eine bestimmte brauche, telefoniere ich. Ich bin an einigen Nachtlokalen beteiligt. Georg holt, was verlangt wird, mit dem Wagen.«

»Georg?«

»Der Diener. Mein Liebhaber – Sie dachten es sich natürlich. Nicht? Seltsam. Schon seit sechs Jahren. Er ist einer von den Schlechten. Mit einem Dummen könnte ich es auf die Dauer nicht ertragen. Bedient mich ganz hervorragend, wirklich. Und ist völlig verrückt nach mir. Freilich, er hat schon alles gehabt, so wie er aussieht und gebaut ist. Eine Gelähmte mit Geld hatte er noch nicht. Welch ein Reiz …«

Sie öffnete eine weitere Tür. Das Zimmer war in schwülstigstem Stil eingerichtet, vollgeräumt mit Möbeln der Jahrhundertwende. Ein großes Ölgemälde zeigte einen jungen Mann, der vor einem etwas älteren kniete. Beide waren nackt. Der Jüngere liebte den Älteren.

»Auch dafür ist gesorgt«, sagte Nora Hill. »Ich habe selten solche Kunden, aber ich habe sie. Und auch ein paar wirklich verläßliche Knaben. Das ist wichtig. Die meisten sind doch ein erpresserisches Gesindel. Die ich habe, nicht. Verdienen sehr viel bei mir. Das ist natürlich teurer als das andere. Knaben haben mir noch nie Verdruß bereitet. Mädchen schon häufig. Ach, aber wo gibt es einen Beruf ohne Ärger?«

Sie war weitergeeilt …

»Cheerio!«, sagte Nora Hill nun und hob das Glas. Sie saß vor dem prasselnden Feuer des Kamins, Manuel gegenüber. Beide tranken. Nora Hill sagte: »Also: Ich kannte Valerie Steinfeld. Ich kannte sie gut. Ich bin in der Lage, Ihnen zu erzählen, was sie getan hat. Es ist keine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht. Es ist eine arge, lebensgefährliche Geschichte. Was haben Sie?«

»Wieso?«

»Ihr Blick. Sie dachten: Umsonst wird diese Frau mir nichts erzählen!« Manuel zögerte. »Natürlich dachten Sie das. Und es stimmt auch.«

»Ich verstehe«, sagte Manuel und stellte sein Glas hin. Ein Stück Holz im Kamin krachte laut, es klang wie ein Schuß.

»Nein, Sie verstehen nicht, junger Freund. Keine Erpressung! Kein Geld! Ich habe genug. Auch nicht Ihre Dokumente.«

»Was für Dokumente?«

»Herr Aranda!« Sie sah ihn ironisch an.

»Sie wissen …«

»Natürlich. Aber ich sage Ihnen doch, ich will das Manuskript nicht haben.«

»Was denn?«

»Ich erzähle Ihnen alles, was ich von Valerie Steinfeld weiß. Ich helfe Ihnen, das Geheimnis um den Tod Ihres Vaters zu lüften. Sie müssen sich nicht …«

30

»… auf mich verlassen, das versteht sich. Sie werden heute nacht auch nicht Valerie Steinfelds ganze Geschichte zu hören bekommen. Nicht, weil ich Sie enervieren will. Sondern damit Sie Gelegenheit haben, Stück um Stück nachzuprüfen, ob ich Ihnen die Wahrheit erzähle.«

»Großartig macht sie das«, sagte Gilbert Grant.

»Unser Goldkind«, sagte Fedor Santarin und spielte mit seinem Brillantring.

Der Amerikaner und der Russe saßen in einem Zimmer, eingerichtet wie das eines kleinen Mädchens. Teddybären und Puppen lagen herum, desgleichen Spielzeug, niedliche Kleidchen, Baby-Doll-Nachthemden, bunte Haarschleifen und Kinderschuhe. Grant hatte die Füße auf einen Tisch gelegt. Die Hüftflasche voll Bourbon hielt er in der Hand. Von Zeit zu Zeit nahm er einen großen Schluck. Sein Gesicht war rot wie immer, die Augen tränten wie immer. Santarin hatte sich abends noch einmal rasiert. Er saß auf dem niederen Bettchen. Wieder sprach er höflicherweise englisch.

Grant wischte sich den Mund ab und fragte: »Aber wird sie es auch durchhalten?«

»Sie muß, Gilbert, seien Sie beruhigt. Mord verjährt in Österreich erst nach zwanzig Jahren. Wir haben noch viele Jahre Zeit.«

Unterdessen hatte Nora Hill, die drei Zimmer entfernt von den beiden saß, weitergesprochen. Ihre Stimme kam aus einem Lautsprecher. Der hing an einem Nagel, welcher auch ein Bild von Schneewittchen und den Sieben Zwergen am Kopfende des Bettchens trug.

»… Sie sollen sich davon überzeugen, daß es die Wahrheit ist, die ich berichte.«

Manuel Arandas Stimme erklang: »Wie fange ich das an?«

»Indem Sie zu all den anderen Leuten gehen, die in diesen Fall verwickelt sind, und sie auffordern, ihre Geschichte zu erzählen.«

»Die erzählen nichts. Ich habe das schon versucht.«

»Oh«, sagte Nora Hills Stimme, »wenn Sie kommen und das wissen, was ich Ihnen heute abend berichten will, werden die Herrschaften reden, alle, verlassen Sie sich darauf.«

»Und das wird Zeit und Zeit kosten«, murrte Grant. »Falls Aranda jetzt etwas zustößt …«

»Ich habe Jean Mercier herbestellt.«

»Hierher?« Grant fuhr auf.

»Ja. Er kommt erst später. In einer Stunde etwa. Ich sagte ihm, daß wir nun zusammenhalten müssen, so grotesk das ist.«

»Erst wenn Sie die ganze Geschichte von mir erfahren und bei allen anderen Menschen nachgeprüft haben, werde ich einen Wunsch äußern«, erklärte Nora Hills dunkle Stimme. »Natürlich denken Sie an das B-Projekt, aber ich …«

»An was für ein Projekt?«

»Da!« Fedor Santarin, der mit einer Puppe spielte, richtete sich auf. »Ich verstehe nicht«, erklang Nora Hills Stimme.

»B-Projekt – was ist das?«

»Keine Ahnung.«

»Aber Sie sagten es doch eben!«

»Sie müssen sich verhört haben, junger Freund.«

»Bestimmt nicht! Und ich verstehe nicht …«

»Sie haben sich verhört. B-Projekt? Was soll das heißen?«

»Das weiß ich doch nicht!«

»Ach, nun lassen Sie das schon. Das ist ja albern!«

»Verzeihung. Was … was sagten Sie denn wirklich?«

»Keine Ahnung. Sie haben mich ganz nervös gemacht.«

»Ist sie nicht großartig!« Santarin strahlte. »Wie sie ihm das unterjubelt! Und er hat keine Ahnung! Das bedeutet, es ist so, wie ich sagte: Er hat uns belogen, er besitzt keinen Code-Schlüssel.«

»Vielleicht blufft er«, grunzte Grant.

»Nie! Das war echt! Er blufft, ja, indem er lügt. Den Mercier soll er ruhig bluffen. Der soll ruhig glauben, Aranda besitzt den Schlüssel. Ich habe es nie geglaubt. Sie zweifelten. Darum habe ich Nora gebeten, die Probe zu machen. Sind Sie jetzt überzeugt?«

»Ja«, sagte Grant.

»Was für eine Frau!« schwärmte Santarin.

»Was für ein Jammer, daß eine solche Frau ein Krüppel sein muß.« Grant seufzte sentimental.

»Jammer? Ein Glück! Es gibt nichts Klügeres als körperlich Deformierte«, sagte Santarin.

»Und was ist das für ein Wunsch?« fragte Manuels Stimme.

31

»Nicht einmal ein Wunsch, eine Bitte«, antwortete Nora Hill. »Unsere Gläser sind leer. Machen Sie zwei neue Drinks, seien Sie so nett, ja?«

Er nickte.

»Und diese Bitte«, sagte sie, während er die schweren Whiskygläser füllte, »müssen Sie nicht einmal erfüllen. Sie können sie abschlagen.« Ich hoffe, das Mikrophon da oben an der Esse funktioniert wirklich, und Santarin und Grant hören alles, dachte sie. Was ich hier tue, ist von ihren höchsten Vorgesetzten in Washington und Moskau gutgeheißen worden. Santarin hatte die Idee. Er ist der Gerissenere von diesen beiden elenden Schweinen, die mich da erpressen. Was kann ich tun? Nichts. Nur das, was sie verlangen. Mord verjährt in Österreich erst nach zwanzig Jahren. Manuel schwieg und drehte sein Glas in den Händen. Wieder hörte er aus der Tiefe Stimmen und Musik.

»Wollen Sie meine Geschichte hören? Wollen Sie meinen Vorschlag akzeptieren?« fragte Nora Hill.

»Ja«, sagte Manuel. »Ich will hören, was Sie zu erzählen haben, wenn ich mit meiner Entscheidung, ob ich Ihnen am Ende die Bitte erfülle oder nicht, wirklich frei bin.«

»Einverstanden.«

Manuel fragte hastig: »Wann hat Valerie Steinfeld die Zyankali-Kapseln von Ihnen erhalten?«

Nora Hill führte die silberne Zigarettenspitze an den Mund und blies langsam Rauchringe aus.

»Vor sechsundzwanzig Jahren«, antwortete sie danach.

32

Am Montag, dem 4. Oktober 1942, kurz nach neun Uhr vormittags, betrat Nora Hill, vom Neuen Markt und dem Opernring her kommend, das obere Ende der stillen Seilergasse. Es war ein kalter, düsterer Tag, an dem es nicht richtig hell wurde. Nora Hill, eben aus dem Süden eingetroffen, fror, obwohl sie über einem maisfarbenen Wollkleid mit schwarzem Wildledergürtel einen Baby-Leopardenmantel und einen schwarzen Turban auf dem Kopf trug. Die Füße der schönen Beine steckten in italienischen Schuhen aus schwarzem Wildleder mit Keilabsätzen, eine schwarze Krokodillederhandtasche hing am rechten Unterarm. In der Tasche lag die Pistole, die Jack Cardiff ihr gegeben hatte. Am 24. Mai war Nora Hill siebenundzwanzig Jahre alt geworden.

Ihr Gang wirkte provozierend erotisch. Durch heftiges Make-up sah sie wie eine Ausländerin aus. (›Die deutsche Frau schminkt sich nicht!‹ predigte unablässig die Propaganda der Partei.) Nora Hill hatte sehr große, dunkle Augen mit langen Wimpern, einen großen Mund, den ein Lippenstift noch größer erscheinen ließ, und schwarzes, seidiges Haar, das unter dem Turban hervorlugte. Ihre Wildlederhandschuhe hatte sie vor kurzem ausgezogen. Die langen Fingernägel waren, wie der überzeichnete Mund, grellrot angestrichen. Am rechten Handgelenk trug Nora Hill ein breites Platinarmband mit großen Brillanten im Baguettenschnitt und, am zweiten äußeren Finger, einen ungewöhnlichen Ring, lückenlos mit roten, grünen, blauen und weißen Steinen besetzt. Alle Frauen, die Nora Hill begegneten, musterten sie feindselig, alle Männer gierig, alle drehten sich nach ihr um.

Glotzt nicht so! Die Aufforderung, mich derart zu kleiden und zu schminken, geht von Deutschen aus, dachte Nora Hill. Das hatte man ihr gleich zu Beginn, noch in Berlin, befohlen. Die Überlegung dahinter schien gar nicht so idiotisch: Im Ausland fiel eine elegante, schöne und mondän gekleidete Frau nicht übermäßig auf, und das war gut, in Deutschland fiel sie um so mehr auf, und das war noch besser, denn auf diese Weise konnte man einen Menschen wie Nora Hill sehr leicht beschatten und sehr schwer aus den Augen verlieren. Deshalb auch der Schmuck. Nora Hill hatte ihn aus Deutschland geschafft und in einem Lissabonner Banksafe deponiert, wo noch sehr viel mehr Schmuck lag. Nun waren das Armband und der Ring wieder in Deutschland, weil Jack Cardiff gesagt hatte: »Wenn du zu dieser Valerie Steinfeld gehst, dann mußt du so auffallend aussehen wie möglich! Damit du auch dem dämlichsten Gestapomann, der dich etwa verfolgen sollte, klarmachen kannst, daß du nicht eine solche Kriegsbemalung gewählt hättest, falls du an einem Verbrechen gegen das Regime beteiligt wärest …«

Zur Hölle mit dieser Valerie Steinfeld, dachte Nora Hill erbittert. Ich kenne sie nicht. Ich interessiere mich nicht für sie. Sie geht mich nichts an. Ich habe genug zu tun, um selber heil davonzukommen. Und da sagt Jack: »Du mußt zu ihr gehen. Du mußt ihr helfen. Ich bitte dich darum.«

Das ist ja das Niederträchtigste, dachte Nora Hill, daß ich natürlich alles tun würde, worum Jack mich bittet. Ich liebe ihn. Man sieht, wohin die Liebe führt …

Die Menschen, die Nora begegneten, seit sie in Wien gelandet war, erschienen ihr allesamt krank, traurig und mutlos. Das war jedesmal so, wenn sie aus dem Ausland zurückkam. Nach einigen Tagen verlor der Eindruck sich zum Teil. Unmittelbar nach einer Heimkehr deprimierte er Nora Hill besonders.

Die Häuser der Seilergasse zeigten an den Mauern, in Brusthöhe mit weißer oder gelber Ölfarbe hingeschmiert, Pfeile und Aufschriften wie RICHTUNG KAI oder RICHTUNG OPER, in Kniehöhe Abkürzungen LSR und NA, was ›Luftschutzraum‹ beziehungsweise ›Notausstieg‹ bedeutete. Die Wegweiser sollten im Katastrophenfall den über Trümmer dahinirrenden Menschen ungefähre Orientierung verschaffen und Rettungsarbeiten ermöglichen. Voraussetzung für die Wirksamkeit all dieser Hinweise war natürlich, daß sie nach einem Luftangriff noch existierten. Bisher war Wien nicht bombardiert worden.

ABSTIEG ZU DEN KATAKOMBEN stand neben einem Hauseingang. Die Katakomben, ein viele Jahrhunderte altes Labyrinth von Gängen, die fast den ganzen 1. Bezirk unterhöhlen, waren an manchen Stellen als Luftschutzräume freigegeben worden. Rechts vom Eingang befand sich ein Lederwarengeschäft, in dessen Auslage wenige billige Schaustücke aus schlechtem Material standen, und neben diesem Geschäft lag jenes, das Nora suchte. Über den halbhoch mit Holz verschalten Schaufenstern war eine lange, verwitterte Metalltafel angebracht, einstmals wohl hellgrün, jetzt schmutzig und dunkel, auf der in altmodischen, schadhaften Buchstaben stand:

BUCHHANDLUNG UND ANTIQUARIAT LANDAU, GEGRÜNDET 1811

Die Klinke der Eingangstür ließ sich nur schwer bewegen, sie war verrostet. Nora Hill drehte sich schnell um und musterte aufmerksam die Menschen in der kurzen Straße. Frauen. Kinder. Soldaten, wenige Zivilisten. Ein Mann auf einem Fahrrad keuchte vorbei, es war hinten hoch mit festgebundenen Kartons beladen. Nein, entschied Nora, niemand ist mir gefolgt. Der Mann mit Homburg und blauem Mantel, welcher der jungen Frau seit ihrer Ankunft auf dem Fliegerhorst Langenlebarn bei Wien gefolgt war, fuhr eben noch rechtzeitig hinter das Hauseck am Ende der Seilergasse zurück und sah auf die große Normaluhr in der Mitte des Neuen Marktes.

9 Uhr 06. Der Mann mit dem Homburg zündete eine Zigarette an. Er hatte das Gefühl, daß es länger dauern werde, was immer Nora Hill in dieser Buchhandlung zu erledigen hatte. Er war ein Mann, den seine Gefühle fast nie trogen.

›Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht …‹ erklang silberhell die Glockenmelodie des alten Liedes, als Nora die Eingangstür öffnete und den Laden betrat. In der Buchhandlung brannte elektrisches Licht. An langen Messingstäben hingen Milchglaskugeln von der Decke herab. Soweit sie erleuchtet waren, sah man am Grund jeder Kugel Schatten – Schmutz, der sich da angesammelt hatte. Die Messingstäbe waren fleckig. Ein mächtiger Kachelofen stand im Verkaufsraum. Das Marienglas seiner Feuertür leuchtete rot.

Nora Hill schloß die in den Angeln quietschende und widerstrebende Tür – das Glockenspiel ertönte wieder –, wandte sich nach links und erblickte einen mindestens zwei Meter großen, hoch aufgerichteten schwarzen Bären, ausgestopft, mit abgeschabtem Fell. Es war ein Baribal-Bär der Art, die in Nordamerika lebt. Das prompte Rendezvous ließ Nora Hill zum erstenmal an diesem Morgen etwas besserer Stimmung werden.

33

Guter, geliebter Jack!

Einen Moment lang dachte Nora voll Rührung und Dankbarkeit an ihn. Ihre Erleichterung beim Anblick des ausgestopften Bären war außerordentlich groß. Jack Cardiff hatte ihr gesagt, daß da ein Baribal stehen würde.

»Der Bär hält einen Bücherkorb und hat einen Brummechanismus. Wenn du ein Buch aus dem Korb nimmst, wirst du ihn brummen hören«, hatte Jack Cardiff gesagt.

Wirklich, der Bär trug einen Korb zwischen den Pfoten. Wenige Bücher lagen darin. Nora nahm eines heraus. Der Bär brummte, tief und lange. Das Buch hieß ›Das wunderbare Leben des kleinen Jungen, der unser großer Führer wurde‹. Nora legte den Band zurück. Der triste Baribal mit dem schütteren Fell brummte abermals.

Noras Blick glitt durch den Verkaufsraum. Alles genauso, wie Jack es beschrieben hatte. Die Stehpulte; die Regale aus Eichenholz, an vielen Stellen leer; die hohen Leitern, samtüberzogen, an Eisenstangen befestigt, fahrbar; die Sessel; die zwei Schaukelstühle; die Registrierkasse aus Nickel; der Fußboden mit seinen dunklen, langen Bohlen, abgetreten, an manchen Stellen bucklig geworden.

Es war kein Mensch im Laden außer Nora.

»Hallo!« rief sie.

Nichts regte sich.

»Hallo!« rief sie noch einmal lauter.

Aus einem Gang in einer der Bücherwände trat ein Mann mit blassem Gelehrtengesicht, schmalen schönen Händen und sehr kleinen Füßen. Er war gut angezogen, wenn auch seltsam altmodisch. Er hatte sanfte, graue Augen und wirkte übernervös. Das ist er auch, dachte Nora, von neuem beruhigt. Jack hat mir Martin Landau beschrieben. Genau beschrieben. Alles stimmt exakt. Die linke Schulter hält dieser Landau beständig leicht hochgezogen, den Kopf leicht nach links gelegt, die blassen Lippen sind zu einem ängstlichen Dauerlächeln verzogen, und am linken Jackenrevers trägt er das Parteiabzeichen.

»Auf diesen Landau mußt du besonders achten. Er ist der schwächste Punkt in unserem Plan.«

Das hatte Jack gesagt. Wenigstens verschwiegen hatte er nichts, gelogen hatte er nicht, um sie in Sicherheit zu wiegen. Nein, Jack log nicht. Niemals. Das war einer der Gründe, warum Nora ihn liebte. Ihr Wohlgefühl beim Anblick des Baribal-Bären war verschwunden. Immer tiefer sank ihre Stimmung, als Martin Landau nun langsam und geräuschlos näher trat. Er schluckte ein paarmal und brachte kein Wort heraus.

Das fängt ja gut an, dachte Nora. Ich muß jetzt schnellstens mich sichern. Ich muß wissen, ein wie großer Feigling dieser Landau ist. Sie sagte gleichfalls kein Wort, sondern sah dem Buchhändler starr in die Augen. Sofort wich er ihrem Blick aus. Himmel, dachte Nora. Der Mann wird bald mehr standhalten müssen als dem Blick von Frauenaugen. Wenn er nicht standhält, sieht es böse aus – nicht nur für ihn.

Dieser Mann, neununddreißig ist er, Jack sagte es, hat in seinem Leben noch keine Frau umarmt, dachte Nora. Das sehe ich. Dazu brauche ich keinen Jack. Dieser Mann geht auch mit neununddreißig brav nach Hause zu seinem Schwesterchen und spielt mit sich selbst. Diesem Mann brauchen sie gar keinen Gestapokerl zu schicken.

»Der schwächste Punkt in unserem Plan …«

Herrgott, dachte Nora, was stellt Jack sich vor? Wie soll man mit einem Mann wie Landau, mit einem solchen Waschlappen von Mann, nun einen Menschen retten? Verdammt, und ich kenne diesen Menschen überhaupt nicht! Was geht er mich an? Ich glaube, ich verschwinde, so schnell ich … Nein.

Jack.

Ich habe es Jack versprochen. Ich muß es tun. Jack würde auch alles tun, worum ich ihn bitte. Ist das eine elende Situation! Nichts zu wollen. Ich muß es riskieren. Ich habe immerhin schon einiges riskiert in meinem Leben. Also los!

Laut sagte Nora: »Guten Morgen!«

Landau zuckte zusammen, als hätte er einen Tritt erhalten. Er wich zwei Schritte zurück. Sein rechter Arm fuhr hoch. Mit schiefem Kopf und schiefer Schulter erwiderte Martin Landau leise, verstört und undeutlich: »Heil Hitler!«

Na ja. Eben Herr Martin Landau. Parteigenosse Landau.

»Ich bin auf der Durchreise in Wien«, sagte Nora und sah, daß dieser elende Feigling schon wieder erschrak. Etwas Feines hatte Jack ihr da eingebrockt! »Ich suche ein bestimmtes Werk über griechische Mythologie, antiquarisch«, sagte sie.

Landaus Unterlippe begann zu beben.

Wenn das so weitergeht, dachte Nora, kippt er mir um, bevor ich die Frau überhaupt zu Gesicht bekomme. Was für ein trauriger Witz von einem Mann! Er wartet doch seit vier Jahren darauf, daß jemand kommt und ein bestimmtes Werk über griechische Mythologie verlangt. Es ist doch alles genau vereinbart worden, damals. Und ich habe erst ganz allgemein von griechischer Mythologie gesprochen. Das werden in den letzten vier Jahren vermutlich auch ein paar andere Menschen getan haben. Ist Herr Landau da jedesmal fast ohnmächtig hingeschlagen?

»Griechische Mythologie«, sagte Landau undeutlich. »Immerhin …«

»Ja«, sagte Nora und trat einen Schritt vor.

Er trat sofort wieder einen Schritt zurück, während er stotterte: »Tja, Mythologie, also da weiß ich nicht recht … Griechische Geschichte ist immerhin eine Menge da … Curtius, Meyer, Droysen … Auch griechische Kultur … Sprache, Musik …«

Nora blickte ihn fest an – er sah sofort über ihre Schulter – und sagte mit Betonung: »Ich brauche den ›Glauben der Hellenen‹.«

Daraufhin fiel er in sich zusammen und starrte auf seine Schuhe.

»Nun!« Sie redete immer lauter, sie wurde immer wütender in ihrer Hilflosigkeit und Angst vor dem, was ihr mit einem solchen Bundesgenossen möglicherweise bevorstand. »Haben Sie den ›Glauben der Hellenen?‹«

Er bewegte die Lippen, den Kopf gesenkt.

»Ich verstehe Sie nicht!«

Plötzlich riß er den Kopf empor und fauchte, als hätte er den Verstand verloren: »Ich habe gesagt, ich weiß es nicht!«

»Na, könnten Sie dann nicht einmal nachsehen?« Jetzt redete Nora sehr laut. Sie hätte Landau gern geohrfeigt. Auf der anderen Seite: So angenehm war die Situation, in der er sich befand, ja nun auch nicht. Man mußte gerecht sein.

Ein plötzlicher Schreck durchfuhr Nora. War die Frau überhaupt im Geschäft? Wenn nicht – was dann? Einen so feinen Plan hatten sie ausgeheckt, und wenn diese Frau nun nicht hier war, funktionierte er nicht. Was hieß: Nicht hier? Lebte diese Frau vielleicht überhaupt nicht mehr?

Nora überlegte blitzschnell: Im Telefonbuch habe ich nachgesehen, draußen, auf dem Flughafen. Ihren Namen fand ich da. Aber so ein Telefonbuch erscheint nur einmal im Jahr. Wenn diese Frau nun im letzten Jahr gestorben ist? Und wenn dieser Landau deshalb solche Panik zeigte? Er darf nicht wagen, das erste Wort zu sagen. Ich hätte es auch nicht gewagt. Der mutigste Mensch von der Welt hätte geschwiegen. Was soll ich anfangen, wenn diese Frau tot ist, wenn etwas geschah, wovon Jack nichts weiß?

»Selbstverständlich will ich nachsehen«, murmelte Landau unglücklich. »Darf ich bitten, mir zu folgen …« Er eilte voraus. »Hier durch den Gang … Wir räumen gerade um, wissen Sie … Ein Riesendurcheinander … In der stillen Zeit vor dem Weihnachtsgeschäft machen wir immerhin wenigstens etwas Ordnung … Ich war in den Magazinen, darum habe ich Sie nicht gleich gehört, Sie müssen verzeihen …«

Der Gang mündete in einen ersten Magazinraum. Hier brannte kein Licht. Rechts vom Durchgang befand sich der türlose Eingang zu einem kleinen, gemütlichen Stübchen, in dem, auf einem Schreibtisch, eine grünbeschirmte Lampe leuchtete. Ein überheizter Ofen bullerte. Das Licht der Stehlampe erhellte schwach die vorderste Ecke des Magazins. Auf großen Tischen, dem Fußboden, Regalen gab es hier Tausende von Büchern. Sie ruhten zum größten Teil in absoluter Dunkelheit.

STROM SPAREN! mahnte ein Plakat an der Wand.

Landau blieb stehen.

»Griechenland haben wir auch nach hinten geräumt … wird ja kaum noch verlangt … Sie müssen das Durcheinander entschuldigen … So viel Arbeit und so wenig Hilfe … Meine drei Sortimenter sind eingezogen … Ich habe nur noch einen … ist in den Magazinen …« Er rief: »Frau Steinfeld!« Und als er nicht sofort Antwort bekam, brüllte er hysterisch: »Frau Steinfeld, so machen Sie schon endlich!«

Nora lehnte sich gegen ein Bücherregal.

Valerie Steinfeld war also nicht tot.

Sie war hier.

Ich könnte diesen Kerl umbringen, dachte Nora Hill.

34

»Ich komme!« erklang eine helle, junge Stimme.

Aus dem bogenförmigen Durchgang zu einem weiteren Gewölbe, wo schwaches elektrisches Licht brannte, trat eine Frau in einem Kittel aus schwarzem Glanzstoff. Mechanisch drehte sie einen Schalter. Die trübe Beleuchtung hinter ihr erlosch. Nur der Schein der grünen Schreibtischlampe fiel auf die drei Menschen.

Schlank und mittelgroß war Valerie Steinfeld, Nora Hill hatte Fotografien von ihr gesehen. Dennoch erkannte sie die Frau nicht sofort wieder. Die Fotos waren vor Jahren gemacht worden. Auf allen Aufnahmen lachte Valerie Steinfeld, eine schöne junge Frau lachte glücklich und ausgelassen, ihr blondes Haar fiel in weichen Wellen über den Nacken und glänzte. Das tat es auch jetzt noch. Aber Valeries Gesicht hatte sich geändert.

Es sind die Augen, dachte Nora Hill, es ist der Mund. Diese blauen Augen, dieser volle Mund, sie haben seit Jahren nicht mehr gelacht, nicht mehr gelächelt. Sie sind noch immer schön, diese Augen, doch der Ausdruck, den sie zeigen, ist erschreckend. Diese Augen, dachte Nora Hill, sie können nicht mehr lachen. Sie können auch nicht mehr weinen. Valerie Steinfeld hat keine Tränen mehr.

Sehr abergläubisch, wie Nora war, wich sie, wo sie konnte, solchen Menschen aus. Sie wich den sehr Unglücklichen, den sehr Kranken und den sehr Verzweifelten aus. Sie bringen Unglück, daran glaubte Nora Hill. Sie suchte die Gesellschaft und Freundschaft der Reichen, der Glücklichen, der Mächtigen, der Sieger, nicht der Besiegten, die der Herrscher, nicht der Beherrschten.

»Bitte, Herr Landau?« Valerie Steinfeld sah den blassen Mann mit unbewegtem Gesicht an, nachdem sie mit ebenso unbewegtem Gesicht Nora kurz angesehen und den Kopf gesenkt hatte. Valerie besaß eine sehr blasse Haut.

»Diese Dame sucht …«, begann Landau mit zitternder Stimme, da ertönte draußen im Laden das Glockenspiel der Eingangstür.

Oh, die unendliche Erleichterung!

Landau dienerte, wobei das Licht der Lampe in der kleinen Kammer das Hakenkreuz auf seinem Parteiabzeichen aufblitzen ließ. »Verzeihen Sie, Fräulein. Kundschaft.« Er eilte davon. Beide Frauen lauschten kurz, wobei sie einander musterten. Valerie prüfend und ernst, Nora mit steigender Nervosität.

Achtunddreißig Jahre ist Valerie Steinfeld alt, dachte Nora Hill. Elf Jahre älter als ich. Ich halte ihren Blick schon aus, Herrgott, dieser Blick! Mit Mühe halte ich ihn aus. Jack, verzeih mir, ich bin hier im falschen Lager. Im ganz falschen. Keine Verzweifelten, keine Unglücklichen für mich. Ich muß sehen, daß ich diese Sache so schnell wie möglich hinter mich bringe. Dann verschwinde ich und sehe Valerie Steinfeld nie wieder. Es hat jeder genug mit seinem eigenen Leben zu tun. Ich interessiere mich nicht für dein Leben, dachte Nora, Valerie in die Augen starrend, ich will nicht daran teilhaben, nie, nie, nie!

»Ich suche den ›Glauben der Hellenen‹«, sagte Nora Hill.

»Aha«, sagte Valerie. Das war alles. Danach sah sie Nora weiter an, sachlich, höflich, absolut beherrscht.

Nora fühlte, wie sie wütend wurde, wütend auf sich selber, auf die Unlogik ihrer Empfindungen. Landau hatte sie für seine Feigheit verflucht. Valerie Steinfeld hätte sie dankbar sein müssen für solch beherrschte Haltung. Statt dessen fand sie diese Steinfeld unerträglich. Abgesehen von dem tiefernsten Gesicht war das leicht verstaubte Aschenputtel, das da vor ihr stand, auch noch sehr hübsch. Dies kam hinzu. Nie im Leben hatte Nora Hill eine Freundin besessen.

Bisher, dachte Nora, haben mich alle Weiber, mit denen ich zu tun hatte, entweder sofort verachtet oder sofort gefürchtet. Nun steht da eine vor mir, die tut scheinbar – scheinbar! – weder das eine noch das andere. Nun, dachte Nora, das wird sich ändern, meine Liebe, wenn ich dir alles gesagt habe, was ich zu sagen habe. Wollen sehen, ob du dich dann auch noch so beherrschen kannst.

»Verstehen Sie mich nicht?« fragte Valerie laut.

Sie hat etwas gesagt. Ich habe es nicht gehört, weil ich ihren Blick nicht mehr aushalten konnte und wegschauen mußte. Ich und vor einer anderen Frau wegschauen! Noch nie ist mir das passiert! Und ihre Stimme habe ich nicht gehört, weil ich so sehr mit meiner Aversion beschäftigt war.

»Ich sagte: Da gibt es zwei Werke. Das von Levy und das von Trockau.« Nun sahen sie einander wieder in die Augen. Der nächste Dialog klang wie ein Frage- und Antwortspiel, und er war es ja auch.

»Das von Trockau natürlich«, sagte Nora. »Das von Levy ist doch verboten.«

»Ja, eben. Trockau«, sagte Valerie. »Da existiert die einbändige Ausgabe 1929 …«

»Zweibändig.«

»Wie bitte?«

»Sie irren sich. Die erste Auflage war auch schon zweibändig. Ich brauche aber die zweite. 1931. Bearbeitet von Merian und Stähelin.«

Valerie Steinfeld trat langsam in die kleine Kammer und wandte Nora Hill den Rücken zu. Sie schien in den Regalen zu suchen. Den Eindruck mußte haben, wer hinter ihr stand. In Wirklichkeit hielt sie die Augen geschlossen. Ihre Hände umkrampften die Lehne eines alten Sessels vor einem vollgeräumten, alten Schreibtisch.

»Merian und Stähelin …«, sagte Valerie langsam. Der Rücken zuckte plötzlich. Nora bemerkte es. Ihr Selbstgefühl stieg wieder. Na also, dachte sie. Ein Übermensch bist du auch nicht. »Die wurden vor Monaten einmal bestellt«, fuhr Valerie gleichmütig fort. »Da habe ich sie nach vorn geholt und hier irgendwo bereitgelegt. Verkauft haben wir die Bücher dann doch nicht. Der Kunde kam nicht wieder. Aber wo sind die Bände nur?« Sie blickte, die Augen nun geöffnet, rundum.

Nora Hill trat hinter ihr in den kleinen Raum. Das ist also das ›Teekammerl‹, von dem Jack erzählte, dachte sie. Alles, wie er es geschildert hat. Der rostige Gasrechaud. Das angeschlagene Geschirr. Das Spülbecken. Rost und Grünspan am Wasserhahn. Das alte Ledersofa …

»Lassen Sie mich nachdenken«, sagte Valerie klanglos, die Bücherreihen entlangblickend. »Wo habe ich die Bände bloß hingestellt …«

Das Theater geht also weiter, dachte Nora. Es muß weitergehen. Theoretisch hätte auch ein Fremder nach dem ›Glauben der Hellenen‹ von Trockau, Bearbeitung von Merian und Stähelin, fragen können. Vielleicht war das sogar schon einmal passiert, und Landau zitterte deshalb so vor Angst, obwohl er wußte, daß da immer noch Sicherungen eingebaut waren.

»Hier ist es nicht … hier auch nicht …«

Valerie hatte, zum Teil über Möbel gebeugt und auf Zehenspitzen, einzelne Bücher aus den Reihen gezogen. Nun blickte sie Nora an, als wollte sie sagen: Man kann die Sache beenden, sprich!

»Vielleicht auf dieser Seite?« sagte Nora.

Valerie tat, als suche sie weiter.

Nora sah sich noch einmal in der Kammer um. Der abgetretene Teppich, von dem Jack erzählt hat, da ist er. Der schadhafte Schaukelstuhl, da steht er. In der Ecke der alte Ofen, rotglühend an einer Stelle. Wie laut er kollert! Von diesem Tischchen hier hat Jack mir nichts erzählt. Und auch nichts von dem Radioapparat darauf. Ein ›Minerva 405‹. Nora kannte die Type. Sieben Röhren, 1940 auf den Markt gekommen, das Stärkste und Beste, was es im Moment gab. Natürlich, von dem Radioapparat hat Jack nichts wissen können, dachte sie. Mit so einem Modell vermag man gewiß mitten in der Stadt und sogar am Tage London zu hören …

»Also ich weiß wirklich nicht, wo ich noch suchen soll … Die Bände müssen da sein, sie sind nie abgeholt worden«, sagte Valerie.

»Aber auch hier ist nichts.«

Nun war es Zeit.

»Doch, doch«, sagte Nora.

»Wo?« Das kam schwach. Jetzt war Valerie am Ende ihrer Kraft.

Nora blickte lächelnd umher und antwortete nicht.

»Wo?« fragte Valerie zum zweitenmal. Ihre Stimme hatte plötzlich jede Sicherheit verloren, sie vibrierte. Nora sah in Valeries Augen. Nicht länger starr und mutig waren die, ach nein, jetzt flehten diese Augen, bettelten. Bitte, bitte …

Na also, dachte Nora.

Sie sagte langsam und sehr deutlich: »Die Bände stehen vor Ihnen. Im fünften Brett von oben, links neben dem Sofa. Es ist das zwölfte und das dreizehnte Buch, von der Ecke aus gezählt.« Mit einer schnellen Bewegung trat sie vor und zog zwei schwere Bücher aus dem bezeichneten Regal. »Da, Band eins, da, Band zwei«, sagte sie und sah Valerie wieder an. Diese erwiderte den Blick unheimlich ruhig. Ihre Augen waren jetzt nicht mehr so hell und strahlend blau wie eben noch, sie waren dunkler. Nora Hill dachte an einen Aprilhimmel voller Regen. Sie muß sehr unglücklich sein, diese Frau, dachte Nora. Ich hoffe nur, daß die Begegnung mit ihr nicht auch mir Unglück bringt. Nora legte einen Band auf das große Radio und blätterte in dem anderen. »Bearbeitet von Merian und Stähelin, 1931!«

»Das freut mich für Sie«, sagte Valerie völlig gleichmütig. »Darf ich einmal nach dem Preis sehen?«

Nora erstarrte.

Moment, Moment.

Irgend etwas habe ich falsch gemacht. Sie hat alles richtig gemacht. Aber ich …

»Warten Sie!« Nora griff nach Valeries Arm. In ihrer Verwirrung und in der Wärme des Raums wurde ihr plötzlich glühend heiß.

»Bitte?« Valerie hob die Augenbrauen.

Was ist hier bloß los? dachte Nora verzweifelt. Was habe ich nur … Dann fiel es ihr ein. Und im gleichen Moment, da es ihr einfiel, empfand sie zum erstenmal Bewunderung für diese Valerie Steinfeld.

Wütend auf sich und ihre Überheblichkeit, und wütend auf die Frau, für die sie Bewunderung empfand, öffnete Nora die Handtasche und holte ein Stück gelb-blau bedrucktes Papier hervor. Es war an einer Seite in bizarrer Zickzack-Linie abgerissen. Man las: HELLERS ZIT …

Valerie Steinfeld kniete nieder, zog die unterste linke Lade des Schreibtisches hervor und kramte da, während Nora dachte: Zwei Erkennungszeichen sind vereinbart, nicht nur eines! Das zweite habe ich vergessen. Sie hat es nicht vergessen – trotz der Aufregung dieser Begegnung.

Valerie hatte gefunden, was sie suchte. Sie erhob sich. In der Hand hielt sie gleichfalls ein Stück gelb-blau bedrucktes Papier. Beide Frauen strichen ihre Stücke glatt. Nora legte die eine Hälfte auf den vollgeräumten Schreibtisch. Ganz langsam schob Valerie ihre Hälfte heran. Die schönen Hände waren schmutzig vom Staub der Magazine. Sie bewegte ihr Papier so lange, bis die Rißstellen genau in die Rißstellen der anderen Hälfte paßten. Die Teile, die so kunstvoll getrennt worden waren, bildeten nun zusammen eine Bonbontüte. Jetzt konnte man alles lesen, was auf ihr stand: HELLERS ZITRONENDROPS – EINE KÖSTLICHKEIT!

»Verzeihen Sie«, sagte Valerie ruhig.

»Was heißt verzeihen? Meine Schuld. Und meinen Glückwunsch. Sie kann man nicht überrumpeln!«

»Hoffentlich nicht«, sagte Valerie still, dann öffnete sie die Tür des kleinen Ofens mit einem Stochereisen und warf beide Papiere in die Glut. »Wie heißen Sie, Fräulein?«

»Hill, Nora Hill.«

Valerie schloß die Ofentür und setzte sich in einem plötzlichen Schwächeanfall schnell auf das alte Sofa, dessen Spiralfedern ächzten. Sie blickte zu Nora auf. Jetzt leuchteten ihre Augen wie die eines jungen Mädchens, das sich auf die Liebe freut. Ein Lächeln trat in das schöne Gesicht und erhellte es strahlend gleich einem Sonnenaufgang. Mit erstickter Stimme fragte Valerie Steinfeld: »Wie geht es ihm?«

35

»Als ich einst aus dieser Stadt auszog«, rief Adolf Hitler, »da trug ich in mir genau dasselbe gläubige Bekenntnis, das mich heute erfüllt!«

Er stand, vor einem Bündel von Mikrophonen, auf dem Balkon des alten Rathauses der Stadt Linz. Der Platz unter ihm, dicht mit Tausenden von Menschen gefüllt, war in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht. Hunderte von Fackeln brannten. Die Fenster aller Häuser waren erleuchtet. Um diese zusätzliche Illumination hatte ein Rundfunksprecher gebeten, der vor Hitlers Eintreffen die ungeheure Erregung der Massen, die überschäumende Freude der ins Reich heimgeholten Österreicher (»Ostmärker« sagte er) schilderte, atemlos und hingerissen durch den Taumel des Glücks, dessen Zeuge er war.

Dieser Bericht vom triumphalen Einzug des so groß und mächtig gewordenen Oberösterreichers wurde am Abend des 13. März 1938 über sämtliche österreichischen und deutschen Sender, auf Mittelwelle, Langwelle, Kurzwelle und mit Richtstrahlern nach Übersee verbreitet. Aus Lautsprechern, die an allen großen Kreuzungen der Städte, auf Flugplätzen, in allen Bahnhöfen, Werften, Montagehallen, Restaurants und den Marktplätzen der kleinsten Dörfer angebracht worden waren, schallte Hitlers Stimme durch das Großdeutsche Reich:

»Ermessen Sie meine innere Ergriffenheit, nach so langen Jahren dieses gläubige Bekenntnis in Erfüllung gebracht zu haben!«

Der Wiener Westbahnhof glich einem riesigen Ameisenhaufen. Gehetzte, hastende, drängende, hysterische, weinende und fluchende Menschen sah man am Abend dieses 13. März 1938 auf den Bahnhöfen Österreichs. Mit Glück konnte man noch aus dem Lande fliehen am Ende jenes wunderbaren Frühlingstages mit seiner linden Luft und seinem nun samtblauen Himmel.

Menschen! Menschen!

»… wenn die Vorsehung mich einst aus dieser Stadt heraus zur Führung des Reiches berief, dann muß sie mir damit einen Auftrag erteilt haben!« klang Hitlers Stimme, donnernd verstärkt, aus den vielen Lautsprechern des Westbahnhofs. Paul Steinfeld legte die Lippen an das Ohr seiner Frau, um sich verständlich zu machen.

»Der in Braunau geborene Führer und du«, sagte Paul Steinfeld.

»Das Beste, was Oberösterreich je hervorgebracht hat!«

Valerie, die seit Stunden gegen die Tränen kämpfte, sah ihren Mann mit flackernden Augen an. Fünfzehn Jahre waren sie verheiratet. Valerie wußte: Was ihr Mann da eben gesagt hatte, der traurig bittere Spaß eines Mannes, welcher um sein Leben fliehen mußte, war eine Liebeserklärung gewesen. Zärtlich strich sie über seine Hand. Er drückte die Lippen an ihr Ohr und küßte es. Sie standen neben einem abfahrtbereiten Zug, inmitten des Mahlstroms schiebender, drängender, schreiender Menschen.

Paul Steinfeld winkte einem Mann zu, der um seinen Würstchenstand kämpfte. Der Mann nickte und begann sich mühselig einen Weg durch die Menge auf dem Perron zu bahnen.

»… und es kann«, tobte Hitlers Stimme, »nur der Auftrag gewesen sein, meine teure Heimat dem Deutschen Reich wiederzugeben!«

»Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Ein Volk, ein Reich, ein Führer!« Minutenlang dröhnte das Gebrüll der Linzer aus den Lautsprechern. Ganz dicht trat Valerie zu ihrem Mann. Ihre Körper preßten sich gegeneinander, wie sie es vor zwei Stunden noch getan hatten – in dem breiten Bett des stillen Schlafzimmers ihrer Wohnung in der Gentzgasse …

Sie waren allein gewesen. Sie hatten sich geliebt, verzweifelt und wild, das letzte Mal für lange Zeit, sie wußten es beide, obwohl sie es nicht sagten. Sie hatten sich geliebt und nicht gesprochen dabei, und dann hatten sie nebeneinandergelegen, auf dem Rücken, stumm, bis Paul Steinfeld sagte: »Wir müssen uns anziehen, mein Herz …«

Valerie trug ein Kostüm mit blau-weißem Pepitamuster und einen kleinen blauen Kappenhut auf dem blonden Haar, das unter dem Licht der vielen starken Hallenlampen golden leuchtete. In weichen Wellen fiel es in den Nacken. Valerie sah sehr jung aus, zierlich und schlank noch wie ein Mädchen mit ihren vierunddreißig Jahren. Die Haut war rein und weiß, die blauen Augen waren gebannt, erfüllt von Liebe und Trauer, auf ihren Mann gerichtet.

Paul Steinfeld trug einen braunen Zweireiher mit feinen Nadelstreifen in gedecktem Weiß. Er war groß und schlank. Das dichte Haar hatte die Farbe der Augen: schwarz. Seine Gesichtshaut war dunkel. Weit ragte eine Hakennase aus dem Profil hervor, hoch saßen die Backenknochen, die wie Knoten wirkten. Steinfelds Stirn war breit. Starke schwarze Brauen bildeten aufwärtsgerichtete Bögen, die dem schmalen Gesicht einen beständigen Ausdruck von Skepsis gaben. Steinfelds Stimme war tief, warm und angenehm.

»Heil Hitler, der Herr wünschen?« Der Mann mit dem fahrbaren Würstchenstand war herangekommen. Man konnte bei ihm auch Bier, Limonade, Brötchen, Süßigkeiten und kleine, aus Blech gestanzte Hakenkreuze zum Anstecken erhalten. Steinfeld kaufte eine große Packung Zitronendrops.

»… ich habe an diesen Auftrag geglaubt, habe für ihn gelebt und gekämpft, und ich glaube, ich habe ihn jetzt erfüllt!«

Das Gebrüll, das diesen Worten Hitlers folgte, war ungeheuerlich. Die Membranen der Lautsprecher klirrten.

»Führer, wir danken dir! Führer, wir danken dir! Führer, wir danken dir!« Paul Steinfeld öffnete die Tüte vorsichtig und ließ den Inhalt in eine Tasche gleiten. Valerie sah ihm verständnislos zu, wie er danach das Papiersäckchen langsam in einer bizarren Zickzacklinie zu zwei Teilen riß. Er sprach wieder direkt in ihr Ohr, der Lärm war überwältigend: »Schau her. Die obere Hälfte behalte ich, die untere nimmst du. Wenn jemand kommt und sagt, er bringt Nachrichten von mir, muß er die obere Hälfte vorweisen. Und die muß genau zu deiner Hälfte passen. Heb das Papier gut auf.«

»Aber wir haben doch schon den ›Glauben der Hellenen‹ ausgemacht.«

»Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!«

»Ein Erkennungszeichen ist nicht genug. Ich habe mir das eben noch einmal überlegt. Wer weiß, in welche Lage wir beide geraten. Wenn jemand kommt, mußt du ganz sicher sein. Genauso, wie ich ganz sicher sein muß.«

»Du?« Auch sie sprach immer in sein Ohr. Um sie herum drängten, stießen und brüllten Menschen. »Wieso du?«

»Es ist doch denkbar, daß du jemanden findest, der mich erreichen kann. Dem gibst du dein Papierstück mit.«

»Aber du hast dann nur ein Erkennungszeichen.«

»Ich bin dann in England, hoffentlich! Du bleibst hier. Du bist viel gefährdeter als ich. Nicht, bitte nicht, Valerie! Bitte, mein Herz, nicht weinen …«

»Ich will ja nicht weinen«, schluchzte sie. »Es … es hat ganz von selber angefangen … Ich kann nichts dafür … Es ist so schrecklich … Ich habe solche Angst um dich …«

Er legte beide Arme um sie.

Denkst du, ich habe keine Angst um dich, dachte er. Noch nie im Leben hatte ich solche Angst um einen Menschen wie um dich, meine Liebe, die zurückbleibt, allein und hilflos, der ich nicht helfen kann, der niemand helfen kann, dieser Mann von ›Gildemeester‹ hat es mir gesagt.

Die ›Organisation Gildemeester‹ brachte mit holländischem Geld und mutigen Helfern seit Jahren an Leib und Leben bedrohte Menschen vor den Nazis ins Ausland. Die Helfer besaßen Pässe, Visa- und Prägestempel, sie lieferten falsche Papiere über Nacht, wenn es sein mußte. In Paul Steinfelds Fall hatte es über Nacht sein müssen. Er war nicht nur einer der ersten Nachrichtensprecher von Radio Wien, er war auch viele Jahre lang Erster politischer Kommentator gewesen. Er stand auf den Verhaftungslisten der Nazis, das wußte die ›Organisation Gildemeester‹. Deshalb holte sie ihn nun aus dem Land, so schnell wie möglich.

Aber eben nur ihn

»Für Ihre Frau und Ihren Sohn können wir leider nichts tun«, hatte der Mann gesagt. »Pässe sind Mangelware. So viele absolut Gefährdete müssen noch gerettet werden. Ihre Frau und Ihr Sohn sind nicht absolut gefährdet. Man wird sie ständig im Auge behalten, man wird Ihre Frau verhören, ihr den Paß abnehmen und alle Post beschlagnahmen, die aus dem Ausland kommt – aber man wird ihr zumindest vorerst nichts Schlimmes tun. Es ist bedauerlich, aber Sie können Ihre Frau nicht nachkommen lassen, auch den Jungen nicht. Die Nazis werden die beiden nie emigrieren lassen – immer in der Hoffnung, etwas zu erfahren, wenn Sie getrennt bleiben. Also seien Sie vorsichtig mit jeder Zeile, die Sie schreiben. Schreiben Sie am besten gar nicht. Schrecklich, ich weiß. Aber wir haben einfach nicht genug Pässe. Machen Sie das alles Ihrer Frau klar …«

Paul Steinfeld hatte es Valerie klargemacht.

Und nun, dachte er, sagt sie, daß sie Angst um mich hat. Um mich! Und ich darf ihr nicht zeigen, wie groß meine Angst um sie ist. Ich darf nicht zeigen, wie wenig Mut ich selbst besitze.

»Angst?« Steinfeld grinste. »Mir passiert schon nichts! Ubi bene, ibi patria. Übersetzt: Wo meine Beine sind, da ist mein Vaterland!«

Sie mußte unter Tränen lächeln.

Nun ist mir zum Heulen, dachte er, und flüsterte in ihr Ohr: »Du darfst das Lachen jetzt nicht verlernen! Ich will eine lachende Frau sehen, wenn ich wiederkomme!«

»Wenn … du … wiederkommst …«

Hitlers Stimme überschlug sich: »Mit heißem Herzen und fanatischer Entschlossenheit habe ich an meinem großen Ziel gearbeitet, die Ostmark, diesen blühenden Garten, heimzuholen in jene Gemeinschaft, in die sie seit undenklichen Zeiten gehört …«

Die Membranen der Lautsprecher klirrten wieder.

»Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!«

»Natürlich komme ich wieder«, sagte Paul Steinfeld, immer in Valeries Ohr sprechend. »Was hast du denn gedacht? Bald komme ich wieder …« Ja, bald? Werde ich jemals wiederkommen können? Es wird wieder Krieg geben, dachte er. Ich bin dreiundvierzig. Als ich 1914 freiwillig in den Weltkrieg zog, da schrien sie alle, auch auf einem solchen Bahnhof: »Zu Weihnachten sind wir wieder zu Hause!« Zu Weihnachten zu Hause. Wie lange wird dieser neue Krieg dauern? Steinfeld sagte zärtlich: »Daß du mir also unter keinen Umständen das Lachen verlernst. Sonst lasse ich mich scheiden, verstanden?«

Valerie nickte lächelnd unter Tränen. Sie preßte ihren Körper noch einmal gegen den seinen.

»Gott der Allmächtige hat meinen Traum Wirklichkeit werden lassen! Und so kann ich vor der Geschichte …«

»Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!«

Hitlers Stimme gelang es nicht mehr, den Jubel der Linzer zu übertönen. Die Lokomotive stieß einen langen, klagenden Schrei aus, einen zweiten, einen dritten – sie blieben unhörbar. Ein Schaffner riß Valerie aus den Armen ihres Mannes.

»Einsteigen! Sind Sie deppert, Herr? Wir fahren doch schon!«

Tatsächlich hatte der Zug sich bereits in Bewegung gesetzt. Der gereizte Schaffner half Steinfeld auf das Trittbrett des Waggons, der vorüberglitt, stieß ihn weiter, sprang nach und schlug die Tür zu. Im nächsten Moment hatte Steinfeld das Fenster heruntergezogen und streckte eine Hand nach Valerie aus. Sie packte sie und begann zu laufen. Nun haben wir uns nicht einmal mehr küssen können, dachte sie.

Der Bahnsteig war verstopft mit winkenden, schreienden, weinenden Menschen. Valerie prallte mit vielen zusammen, hart und schmerzhaft, sie strauchelte, sie wäre gestürzt und unter die Räder geraten, wenn Steinfelds große, starke Hand sie nicht gehalten, eisern festgehalten hätte.

»Und so kann ich vor der Geschichte melden …«

»Führer, befiehl, wir folgen dir! Führer, befiehl, wir folgen dir!«

Valerie sah, daß ihr Mann etwas schrie.

»Ich verstehe nicht!« schrie sie zurück.

Er neigte sich aus dem Fenster, jetzt brüllte er.

»Kein Wort kann ich verstehen!« rief sie verzweifelt. Der Zug rollte nun schon schneller, das Ende des Perrons kam in Sicht.

Paul Steinfeld schrie, so laut er konnte. Alles, was Valerie hörte, war: »… tun …«

»Was tun? Was«

»… vor der Geschichte melden: Meine geliebte Ostmark …«

»Heil! Heil! Heil! Heil!«

Valerie verlor einen Schuh. Steinfeld bemerkte es. Blitzschnell ließ er ihre Hand los. Knapp vor dem Ende des Bahnsteigs vermochte Valerie, zunächst wild taumelnd, das Gleichgewicht wiederzuerlangen. Als sie aufblickte, sah sie, daß ihr Mann, nun schon weit entfernt, immer noch winkte und schrie. Sie winkte zurück.

»Meine geliebte Ostmark ist heimgekehrt …«

»Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!«

Der letzte Waggon glitt vorbei. Valerie sah ihren Mann nicht mehr. Der lange Zug ging in eine weite Kurve zwischen vielen Gleisen und weißen, roten und grünen Lichtern. Seine Schlußlaternen verschwanden.

Valerie humpelte zurück zu der Stelle, wo ihr Schuh lag. Sie bückte sich, um ihn anzuziehen.

»… heimgekehrt in das Reich der Deutschen!«

Rasendes Gebrüll setzte wieder ein.

»Ein Volk, ein Reich, ein Führer! Ein Volk, ein Reich, ein Führer!«

Valerie richtete sich auf. In der geschlossenen Linken hielt sie das abgerissene Stück Papier. Es bedrückte sie sehr, daß es ihr unmöglich gewesen war, zu verstehen, was ihr Mann zuletzt immer wieder geschrien hatte. Es bedrückte sie die nächsten vier Jahre lang.

36

Der kleine Ofen im Teekammerl donnerte richtig.

»Es geht Ihrem Mann gut, Frau Steinfeld«, sagte Nora.

Valerie schloß kurz die Augen, senkte den Kopf und biß sich auf die Unterlippe. Als sie sprach, sah sie zu Boden und ihre Stimme war unsicher: »Vier Jahre … mehr als vier Jahre lang habe ich auf diese Stunde gewartet …« Sie hob den Kopf und sah ihre Besucherin mit blauen Augen an, die nun feucht und so erfüllt von Glück waren, daß Nora ganz elend wurde. »Ich danke Ihnen. Danke. Ich danke Ihnen …« Sie sagte immer wieder dasselbe. Und immer elender wurde Nora bei dem Gedanken, was sie dieser Frau noch zu berichten hatte. Ausgerechnet ich, dachte sie erbittert. Ich bin nicht geschaffen für so etwas. Zum Kotzen ist das alles. »Warum sehen Sie mich so böse an?« fragte Valerie verständnislos.

Ich lasse mich gehen, dachte Nora, zornig auf sich selber, und antwortete: »Böse? Was für ein Unsinn! Weshalb sollte ich sie böse ansehen?«

»Oder geht es Paul doch nicht gut? Ist er krank? Seine Leber! Er hat doch immer mit seiner Leber zu tun gehabt! Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit! Ich …«

»Hören Sie auf! Sie müssen mir glauben, was ich sage. Es ist die reine Wahrheit. Wenn Sie mir nicht glauben wollen …«

»Ich will, ich will!« Valerie wischte mit staubiger Hand eine Haarsträhne fort, die in die Stirn gefallen war. »Bitte, Fräulein Hill! Sie müssen das doch verstehen: Vier Jahre habe ich nichts gehört von ihm! Keine Zeile habe ich erhalten. Beschlagnahmt, sie werden alles beschlagnahmt haben, was er schrieb.«

»Sicherlich. Mußten Sie viel durchmachen?«

»Schön war es nicht. Hausdurchsuchungen. Verhör im Hotel ›Metropol‹, bei der Gestapo. Den Paß haben sie mir weggenommen, wie der Mann damals es prophezeit hat. Und immer wieder muß ich ins ›Metropol‹ kommen, und sie stellen Fragen, Fragen … Und ich weiß keine Antwort, ehrlich nicht! Das müssen die sogar merken, und da lassen sie mich immer wieder laufen … Wirklich getan haben sie mir nichts … dem Buben auch nicht …« Valerie fragte abrupt: »Woher wissen Sie von meinem Mann und mir?«

»Ich bin … im diplomatischen Dienst … als Kurier«, antwortete Nora. »Ich fliege zwischen Lissabon und Wien hin und her.«

»Ach, so ist das.«

»So ist das. Lissabon quillt über von Menschen wie mir, Männern und Frauen aller Nationalitäten …«

»Ja, davon habe ich gehört.«

»Nun also. In Lissabon hatte ich mit einem englischen Kollegen zu tun. Wir … befreundeten uns. Da erzählte er mir, daß er gerade Ihren Mann kennengelernt hat. In London. So kam die Verbindung zustande.« Valerie nickte.

»Sie lieben diesen Engländer, nicht?«

»Ja«, sagte Nora.

»Mein Gott, und wie soll das mit Ihnen werden?«

»Wir wollen heiraten, sobald der Krieg zu Ende ist. Kann uns hier bestimmt niemand hören?«

»Kein Mensch.«

Nora sagte, für einen Moment entrückt und glücklich: »Ja, Jack und ich werden heiraten. Und in England leben. Er hat da einen alten Landgasthof geerbt. An der Küste von Sussex. In der Nähe von Hastings. Ich habe Fotos gesehen. Riesige alte Bäume rundherum, an einer Landstraße mit lauter Pappeln …« Sie unterbrach sich: »Was interessiert Sie das? Es geht um Ihren Mann!« Valeries Blicke hingen an Noras Lippen. »Er wollte Ihnen schreiben. Aber das hat mein Freund ihm ausgeredet. Es wäre zu gefährlich gewesen für mich, einen solchen Brief nach Deutschland zu schmuggeln, nicht wahr?«

»Natürlich …«

»Also bin ich der Brief Ihres Mannes. Vertrauen Sie mir?«

»Ja«, sagte Valerie und fuhr mit dem schmutzigen Handrücken über die Augen. »Ich vertraue Ihnen.«

»Gut. Ihr Mann hat eine kleine Wohnung in London. 30, Eaton Mews South. Zuerst mußte er natürlich auf die Isle of Man – wie alle Flüchtlinge. Und dann benötigte er noch die Aufenthalts-und Arbeitsgenehmigung. Aber die bekam er schon vor drei Jahren. Sie brauchen Leute wie ihn. Ihr Mann ist Nachrichtensprecher im Deutschen Dienst der BBC.« Valeries Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt.

»Also doch! Also doch! Er hat es geschafft! Und ich habe seine Stimme wirklich erkannt!« Valerie preßte eine Hand an die Schläfe. »Ich wußte doch nichts von ihm. Nicht einmal, ob seine Flucht gelungen war … So entsetzlich lange wußte ich überhaupt nichts. Ich sagte mir, daß er vielleicht als Radiosprecher in London arbeitet – wenn er London erreicht hat. Aber wie sollte ich das herauskriegen? Mit dem alten Radio bei mir zu Hause kann man BBC nur am Abend empfangen. Und da geht es nicht.«

»Wegen des Jungen.« Nora nickte.

»Wegen Heinz, ja. Dann kam endlich dieser ›Minerva 405‹ auf den Markt.« Valerie wies zu dem großen Radioapparat. »Gleich habe ich einen gekauft. Und ich habe gebetet: Laß mich seine Stimme hören, lieber Gott, laß mich doch seine Stimme hören, bitte! Es dauerte ein paar Tage. Dann hörte ich eine Stimme, die klang wie seine. Je öfter ich sie hörte, um so mehr klang sie wie Pauls Stimme. Zuletzt war ich schon ganz sicher – fast. Und glücklich. So glücklich! Und dazwischen immer wieder so verzweifelt. Denn vielleicht war es doch nicht seine Stimme. Aber nun weiß ich es: Sie ist es! Sie ist es! Seine Stimme … Glauben Sie, daß ich überhaupt kaum begreife, was Paul spricht? Nur an ihn denken kann ich dann. Es ist, als ob er wieder bei mir wäre …«

Nora sagte nervös: »Er wird wieder bei Ihnen sein, Frau Steinfeld.«

»Wann?«

»Wenn wir den Krieg verloren haben.«

Valerie sank zusammen.

»Was haben Sie? Glauben sie etwa, wir gewinnen diesen Krieg?«

»Nein, natürlich nicht. Aber wie lange kann es dauern, bis wir ihn verloren haben? Immer noch siegen wir.«

»Nicht mehr überall. Und gar nicht mehr lange.«

»Und dann? Die Nazis geben doch nicht auf, solange noch ein Stein auf dem anderen steht! Ob wir es überhaupt erleben?«

»Wir werden es erleben«, sagte Nora. Jetzt hatte sie Mitleid mit der einsamen Frau. Mein Gott, dachte sie, und was erwartet dich noch, was muß ich dir noch sagen, mir graut davor, mehr und mehr. »Natürlich werden wir es erleben! Ich gehe dann nach England mit meinem Freund, und Sie leben wieder mit Ihrem Mann zusammen. Sie hatten doch eine besonders glückliche Ehe, sagte man mir.«

Valerie nickte versonnen. »Besonders glücklich, ja. Alles haben wir zusammen getan. Reisen, Theater, Kino. Nicht einmal essen ist er allein gegangen, wenn ich krank war! Dann hat er auch nicht die Köchin für mich sorgen lassen, dann kochte er selber! Gut. Das konnte er wunderbar!« Sie senkte die Stimme. »Und bis zum letzten Tag haben wir zusammen in einem Bett geschlafen. In einem Bett. All die vielen Jahre … Manchmal, nachts, da habe ich wahnsinnige Angst, daß es noch viele Jahre dauert. Dann bin ich eine alte Frau. Sie schütteln den Kopf, aber sehen Sie sich meine Augen an. Die Krähenfüße. Tränensäcke kriege ich auch schon.« Tatsächlich, dachte Nora. Da sind Fältchen und Schatten unter den Augen, und Runzeln, feine, ganz feine. Wie lange werden sie noch so fein bleiben? In dem schlechten Licht draußen habe ich es nicht gesehen. Jetzt, da diese Frau sich vor die Lampe neigt, kann ich es deutlich erkennen … Nora lachte.

»Aber das ist doch Unsinn, Frau Steinfeld! Das reden Sie sich ein! Jung und schön werden Sie aussehen, wenn Ihr Mann wiederkommt.«

»Wissen Sie, mein Paul, der hat nie eine andere angeschaut. Er hat gesagt, für ihn bin ich die Aufregendste von allen! Dabei war ich nie wirklich hübsch …«

»Sie sind schön, Frau Steinfeld«, sagte Nora, und immer größer wurde ihr Mitleid.

»Ach, hören sie auf! Er! Er hat gut ausgesehen! Was glauben Sie, was dem die Frauen nachgelaufen sind! Sein Charme! Der Mann hat einen Charme! Aber immer wollte er nur mich.« Valerie blinzelte vertraulich. »In Wirklichkeit war er bloß so verrückt nach mir, weil ich ihn so amüsiert habe. Sie glauben nicht, was er gelacht hat über mich.«

»So komisch waren Sie?«

»Nie bewußt. Aber wenn ich etwas beurteilt oder mich empört habe, wenn ich meine Ansichten sagte – Gott, hat er da immer über mich lachen können! Bis heute weiß ich nicht genau, warum.«

»Und Herr Landau gestattet, daß Sie hier London hören?«

Valerie winkte ab.

»Der stirbt immer noch jedesmal. Am liebsten möchte er mich umbringen, solche Angst hat er. Es ist doch streng verboten, und er ist in der Partei.«

»Ja, das habe ich gesehen.«

»Nur aus Angst hineingegangen. Der beste Mensch von der Welt, der Martin … der Herr Landau. Wir kennen uns so gut und so lang, darum sage ich Martin. Wir duzen uns, wenn wir allein sind.«

»Das weiß ich auch.«

»Seine Schwester, die Tilly, die würde es mir ja verbieten. Er verrät mich aber nicht! Ich höre täglich die Mittagssendungen, wissen Sie. Ich koche für ihn und mich etwas hier im Teekammerl – oft bringe ich schon Vorgekochtes mit –, und dann treibe ich ihn an, schnell, schnell, damit ich den Anfang von der Sendung nicht verpasse. Über Mittag haben wir doch gesperrt. Ich räume rasch ab und spüle die Teller, und dann nehme ich das da« – Valerie wies zu einer großen, bunten Wolldecke, die auf dem alten Sofa lag – »und setze mich ganz nahe an den Apparat, das da über dem Radio und über dem Kopf, und dann höre ich London … oft … so oft höre ich ihn … das letzte Mal gestern …«

»Wann?«

»Gestern. Am Abend. Ich bleibe auch häufig nach Geschäftsschluß da, wenn er schon weg ist, der Martin. Noch klarer wird der Empfang dann. Meine glücklichste Stunde ist das … Ich sitze da, und seine Stimme ist bei mir … ganz nah … ganz nah …« Valeries Gesicht war plötzlich so weich und schutzlos, daß es Nora das Herz zusammenkrampfte. »Sogar an Sonntagen und an Feiertagen, zu Weihnachten und zu Ostern komme ich her. Heinz ist doch noch so jung, den will ich nicht belasten … Wenn ich zu Mittag London höre, läuft mein armer Martin immer weg, rund um den Häuserblock. Er will nicht dabei sein! Solche Angst hat er!«

»Gestern erst …« wiederholte Nora Hill. Sie dachte: Diese Frau glaubt, gestern die Stimme ihres Mannes gehört zu haben. Und dabei sagte mir Jack noch, daß Paul Steinfeld in dieser Woche Urlaub hat. Es kann also nicht seine Stimme gewesen sein.

»Sie wird natürlich glauben, genau die Stimme ihres Mannes zu erkennen«, hatte Jack Cardiff zu Nora gesagt. »Steinfeld nimmt das auch an. Laß sie in dem Glauben, er wird sie glücklich machen. Auch wenn sie sich irrt und irrt und irrt.«

»Aber wieso?«

»Nach dem, was Steinfeld mir erzählt hat«, hatte Jack Cardiff gesagt, »werden die Sprecher zwar nicht auf einen bestimmten Tonfall gedrillt; aber es ist ganz so wie in einer großen Familie: Die Stimmen werden einander ähnlich. Es hat sich ein ganz bestimmter Rhythmus entwickelt. Sogar die Sprecher drüben selbst können nicht mehr genau sagen, wer da gerade redet. Stimmen kann man ohnedies schwer unterscheiden – und dann noch am Radio, mit den Störsendern dazwischen. Vielleicht hatte Frau Steinfeld auch schon manchmal Zweifel …«

Ja, Zweifel hatte diese Frau manchmal gehabt – früher. Doch nun hörte sie die Stimme des geliebten Mannes, sie war da ganz sicher. Es bedeutete all ihr Glück, dieser Stimme zu lauschen.

Das also ist das Glück, dachte Nora Hill. So kann man es auch definieren. Was für eine dreckige Welt. Und ich muß es ihr jetzt sagen. Schnell jetzt! »Ich habe eine Nachricht für Sie, Frau Steinfeld.«

»Eine Nachricht?«

»Als sie damals Ihren Mann zum Westbahnhof brachten, da war dort furchtbarer Lärm, nicht wahr?«

»Ja …«

»Eine Hitler-Rede. Ihr Mann schrie Ihnen noch etwas zu, aber Sie verstanden es nicht.«

»Woher wissen Sie … ach so.«

»Ihr Mann hat es meinem Freund erzählt. Der hat es mir erzählt. Ihr Mann schrie: ›Du mußt alles tun, alles, alles, alles, um den Buben zu schützen!‹«

Valerie war hochgefahren. Ihr Gesicht wurde grau. Die Augen flackerten wieder.

»Schützen? Ist er denn in Gefahr, der Heinz?«

»Ja«, sagte Nora. Ich muß nun brutal sein, dachte sie. Ich kann es ihr nicht ersparen. Deshalb bin ich ja hier. Ich kann nicht ewig darum herumreden.

»Hören Sie, Fräulein Hill, der Bub ist alles, was ich habe! Wenn ihm etwas zustößt …«

»Es stößt ihm nichts zu.«

»Aber Sie sagen doch, er ist in Gefahr!«

»In Gefahr, ja, das ist er. Aber es wird ihm nicht das geringste passieren, wenn Sie genau tun, was ich empfehle – was Ihr Mann empfiehlt. Es handelt sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme.«

»Was heißt Vorsichtsmaßnahme?«

Nora sagte leise: »Frau Steinfeld, Ihr Mann ist doch Jude. Sie sind Arierin, wie man so sagt. Also ist Ihr Sohn ein sogenannter Mischling Ersten Grades.« Plötzlich trat Schweiß auf ihre Stirn.

Jemand stand da draußen in dem dunklen Magazinraum.

Er war ganz leise durch die Finsternis herangekommen und stand erst seit ein paar Sekunden da. Nora hatte ein überfeines Gehör. Sie vernahm kurzen, hastigen Atem.

Von mir aus gesehen, steht er auf der rechten Seite des Eingangs in diese Kammer, also auf jener, die zu den Magazinen führt. Martin Landau ist im Laden, und der Laden liegt links. Ich habe den Eingang die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Landau ist nicht vorübergegangen. Also kann es nicht Landau sein, der da jetzt auf der rechten, auf der Magazinseite steht und uns belauscht. Eine Falle, dachte Nora. Ich bin in eine Falle gelaufen. Wer immer da steht – er hat zumindest die letzten Sätze gehört, die wir gesprochen haben. Das genügt vollkommen. Es ist nicht die erste Falle, in die ich im Laufe meiner Karriere getappt bin, dachte Nora Hill – all dies und das Folgende in Sekundenschnelle –, aber dadurch wird die Sache nicht angenehmer. Nur bekannter. Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Sie bringen einem das Verhalten für solche Situationen bei der Ausbildung bei. In der Praxis erweist sich die Ausbildung dann meistens als kindisch. Man lernt nur durch Erfahrung. Wenn man nichts lernt, stirbt man. Ich lebe noch. Ich habe nicht die Absicht, mein Leben zu verlieren für die Familie Steinfeld, für irgendwen.

Noras Stimmung schlug wieder um. Vorbei das Mitleid, die Sentimentalität. Eiskalt dachte und handelte sie nun. Sie hatte sich geräuschlos erhoben, sobald sie die ersten Atemzüge von draußen vernahm. Valerie starrte sie an. Was ist, wenn dieser Herr Landau mich in seiner maßlosen Angst verraten hat? dachte Nora. Wenn er die Polizei verständigt hat, die Gestapo? Wenn da draußen, rechts von mir, einen Meter entfernt, so ein Saukerl steht, entschlossen, mich zu verhaften, die Steinfeld zu verhaften. Ach was, die Steinfeld – mich!

Mich wird man nicht verhaften, wenn es mir gelingt, hier herauszukommen. Nur bis zu meinem Chef Carl Flemming muß ich es schaffen. Der ist wirklich ein hohes Tier, seine Schwester hat den Adjutanten Kaltenbrunners geheiratet, und Kaltenbrunner hat Flemming gern. Wenn ich bis zu Flemming komme, diesem elenden Hund, dann bin ich vor der Gestapo sicher. Ich werde rnatürlich niemals zugeben, daß ich in dieser Buchhandlung war, und wenn die Steinfeld und Herr Landau und der Gestapokerl es hundertmal beschwören. Wenn es ein Dutzend Gestaposchweine beschwört!

Sie kommen doch immer in Paaren! Wo ist der andere? Wo? Ich erledige auch ihn noch. Und ich war nie hier, Schluß! Ob Flemming mir glaubt oder nicht, ist egal. Er wird mich auf alle Fälle schützen, denn er ist geil auf mich, Gott sei Dank so geil, daß er mich nicht verlieren möchte, um nichts in der Welt. Ich habe mir schon immer die richtigen Herren ausgesucht in diesem Dritten Reich. Sollte Herr Landau unschuldig sein und der Gestapokerl (oder die Gestapokerle, mein Gott!) mich verfolgt haben und heimlich durch einen Hintereingang in den Laden gekommen sein, dann ist das Pech für die Steinfeld und Herrn Landau. Ich könnte ihnen dann nicht helfen, und ich würde ihnen nicht helfen.

Das alles dachte Nora Hill, während sie ihren letzten Satz sprach. Sie öffnete dabei ihre Krokodilledertasche und entnahm ihr Jacks Pistole. Valerie Steinfeld sah sie entsetzt an, aber sie sagte kein Wort. Alles, was geschah, geschah viele Male schneller, als man es berichten kann. Die Pistole, die Jack Cardiff Nora mitgab, war eine automatische Smith & Wesson, Baujahr 1940, Kaliber 6.35. Nora fühlte sich plötzlich unendlich froh darüber, daß Jack ihr die Waffe praktisch aufgezwungen hatte. Diese Pistole sollte sie Flemming zeigen, ja, und nun mußte sie es sogar tun! Denn sie brachte nicht nur falsche Nachrichten, wie schon seit langem, sondern auch die frohe, wenn auch erlogene Botschaft, daß vermutlich ein britischer Agent mit ihr in Verbindung treten werde. Das hatte sich Jack Cardiff ausgedacht. Zu meinem Schutz, dachte Nora, die Pistole am Lauf packend, weil er mich liebt und so besorgt um mich ist.

»Du begibst dich zusätzlich in Gefahr mit dieser Mission«, hatte Jack gesagt, »und dann wollte ich schon längst, daß du eine Pistole in Deutschland hast.«

Die Walther, die man Nora jedesmal zur Verfügung stellte, wenn sie in Lissabon ankam, mußte sie vor dem Abflug (Munition war gezählt) beim Militärattaché der deutschen Botschaft wieder abliefern. Die Nazis wünschten nicht, daß außer ihnen Menschen mit Pistolen in Deutschland herumliefen.

Jack Cardiff hatte eine Lösung gefunden.

»Flemming erzählst du, der Agent sei ein Verräter, der ein britisches Netz auffliegen lassen will. Er wird dich irgendwann, an einem bestimmten Wochentag, in einem bestimmten Restaurant oder Café ansprechen. Suche dir Tag und Ort aus. Der Mann wird ein Erkennungszeichen verlangen. Und selber eines vorweisen. Dieselbe Waffe, dasselbe Kaliber, dasselbe Baujahr, die gleiche Seriennummer im Einschlagstempel und ein volles Magazin. Er wird freilich nie auftauchen, dieser Mann. Aber so hast du das Recht und sogar die Pflicht, in Deutschland eine Waffe bei dir zu tragen – ständig!«

Ich werde den Kerl da vor dem Durchbruch natürlich nicht erschießen, dachte Nora Hill. Nur niederschlagen. Mit der flachen Seite des Griffs. So wird man später nie beweisen können, daß meine Pistole das Werkzeug war.

Damit duckte sie sich und sprang vor. Valerie hatte das Licht draußen abgedreht, als sie in den kleinen Raum getreten waren. Infolgedessen konnte Nora nun kaum etwas erkennen – nur einen hellen Fleck, das Gesicht dieses Kerls.

Der weiße Fleck war das einzige, was Nora einen Anhalt bot. Sie ließ die Hand, die den Lauf von Jack Cardiffs Pistole hielt, vorsausen und schlug so fest zu, wie sie nur konnte, oben und seitlich. Sie wollte eine Stirnseite treffen. Die Stirnseiten waren das sicherste, das hatte sie schon zweimal festgestellt. Jetzt stellte sie es zum drittenmal fest. Der weiße Fleck rutschte weg. Etwas gurgelte. Stürzte. Der Kerl. Jemand schrie auf. Valerie Steinfeld. Danach war es totenstill.

Nora Hill rannte los, durch den Gang raste sie in den Verkaufsraum hinaus, die Pistole dabei noch in der Hand, eines zweiten Gegners gewärtig. Sie rannte so schnell, daß sie gegen den alten Bären beim Eingang stieß. Er schwankte. Nora Hill hatte die Tür erreicht und riß die Klinke herunter. Die Tür ließ sich nicht öffnen, so sehr Nora Hill an ihr rüttelte. Die Tür war versperrt.

37

»Was ist los, Georg? Ich habe gesagt, daß ich nicht gestört werden darf!« Nora Hill hatte sich wütend im Sessel aufgerichtet und starrte ihren Liebhaber an, der nach kurzem Klopfen das Wohnzimmer des Appartements betreten und Noras Erzählung jäh unterbrochen hatte. Auch Manuel war hochgefahren.

Nora Hills Diener, Vertrauter und Vertreter drehte verlegen an einem Knopf seiner Smokingjacke.

»Es tut mir unendlich leid, gnädige Frau. Ich hätte nie gewagt, zu stören, aber der Fliegende Holländer ist da.«

Nora Hill legte ihre lange silberne Zigarettenspitze auf einen Aschenbecher, der am Rand des offenen Kamins stand.

»Du meine Güte«, sagte sie. »Der Fliegende Holländer. Den habe ich ganz vergessen. Wieder betrunken, was?«

»Und wie, gnädige Frau. Er randaliert. Ich habe alles versucht, um ihn …« Der Athlet im Smoking konnte den Satz nicht zu Ende sprechen. Er wurde von einem großen Mann beiseite gestoßen, der ins Zimmer geschossen kam. Stimmen, Musik und Gesang klangen herein. Der große, starke Mann hatte blondes Haar und ein rosiges, rundes Gesicht. Er war tatsächlich sehr betrunken. Manuel erwartete dauernd, daß er stürzen würde, aber er bewegte sich behende und graziös.

»Madame, endlich!« Er hatte Nora erreicht, beugte sich vor und küßte ihr beide Hände. Selbst das warf ihn nicht um. Er schwankte bloß leise dabei. »Ich komme direkt aus Den Haag. Habe mich nur frisch gemacht und umgezogen. Und nun will dieser Kerl mich nicht zu Ihnen lassen, mich, einen so alten Stammgast …« Er richtete sich auf und warf Georg einen gehässigen Blick zu.

»Sie dürfen ihm nicht böse sein, mein Lieber.« Nora streichelte eine seiner rosigen Patschhände. »Ich habe hier eine Besprechung.« Sie wies auf Manuel. »Herr Aranda, Herr De Brakeleer.«

Der Mann, der De Brakeleer hieß, nahm von Manuel überhaupt keine Notiz.

»Haben Sie die neuen Federn? Sie sagten mir, Sie würden sie heute haben. Um Gottes willen, Madame, enttäuschen Sie mich nicht! Ich habe vor Aufregung während des Fluges getrunken. Wenn Sie jetzt sagen, daß Sie nicht …«

»Natürlich habe ich die neuen Federn.«

»Von einem Paradiesvogel?«

»Von einem Paradiesvogel. Die allerschönsten.«

De Brakeleer konnte sich vor Entzücken nicht fassen. Er klatschte in die Hände und tanzte ein bißchen.

»Paradiesvogel!« rief er. »Oh, oh, Paradiesvogel!«

»Ein Freund von mir hat die Federn geschickt.«

»Wo sind sie?« rief der rosige Holländer, außer sich.

»Georg wird sie Ihnen geben.« Nora sagte zu dem Diener: »Unten in dem großen Maria-Theresien-Schrank.«

De Brakeleer klatschte wieder in die Hände.

»Ich fühle es«, rief er, »oh, ich fühle es, heute wird es wunderbar.«

»Bestimmt«, sagte Nora. »Das Spiegelzimmer, wie immer?«

»Wie immer, natürlich!«

»Und Yvonne?«

»Auch wie immer, selbstverständlich!«

»Sagen Sie Yvonne Bescheid, Georg.«

»Ja, gnädige Frau.«

»Sie sind ein Engel, ein wahrer Engel, Madame. Tausend Dank.«

Nora gab Georg ein Zeichen. Der verbeugte sich vor De Brakeleer und geleitete ihn aus dem Wohnzimmer.

»Sie müssen die Störung entschuldigen.« Nora erhob sich und schwang, auf die beiden Krücken gestützt, zu der Bücherwand, in welche der Fernsehapparat eingebaut war. »Ich erzähle gleich weiter. Ich muß nur sehen, wie das abläuft. Einer meiner schwierigsten Kunden, dieser Fliegende Holländer.«

»Warum heißt er Fliegender Holländer?«

»Das werden Sie gleich verstehen«, sagte Nora, die kleinen Türen des Fernsehapparates öffnend. Manuel bemerkte, daß das Gerät sehr viele Knöpfe besaß.

»Zum Teufel mit dem Holländer«, sagte in dem Kinderzimmer Gilbert Grant. »Nora war so schön im Zug.«

»Sie darf ihr Geschäft nicht vernachlässigen«, meinte Fedor Santarin, der sich unter den Lautsprecher auf das Bett gelegt hatte. »Und wir haben Zeit. Wir müssen doch auf Mercier warten …«

Nora hatte den Apparat eingeschaltet und gleichzeitig auf einen der vielen Knöpfe gedrückt. Zu Manuels Überraschung erschien das Bild des Spiegelzimmers in einer Totalen, aus mittlerer Höhe aufgenommen.

»Sie haben … das ist ein Hausfernsehen?«

Nora stellte das Bild scharf ein.

»Was dachten Sie? Ein normaler Apparat? Meinen Sie, ich habe Zeit, mir ein Fernsehprogramm anzuschauen? In jedem Zimmer ist eine Ecke mit Dusche, Waschbecken und Bidet. Das haben Sie bemerkt, nicht wahr?« Sie sagte es nicht ohne Stolz.

»Ja.«

»Nun. Und genauso hat jedes Zimmer eine kleine Fernsehkamera eingebaut. Versteckt natürlich. Ziemlich komplizierte Anlage. Kostete auch eine Unsumme. Aber ich muß schließlich jederzeit wissen, was sich in den Zimmern abspielt, nicht wahr?« Sie dachte: Und einen Video-Recorder, hier, hinter dem Apparat, habe ich auch. Mit diesem tonbandähnlichen Gerät konnte jede Szene auf dem Schirm in Bild und Ton konserviert und beliebig oft mit einem Schmalfilm-Vorführgerät auf eine Leinwand projiziert werden. Aber das, dachte Nora, geht dich nichts an, mein Kleiner. »Der Beruf der Mädchen ist nicht ohne Risiko«, sagte Nora. »Wenn sie sich bedroht fühlen, brauchen sie nur auf einen Knopf zu drücken. Dann leuchtet da drüben bei der Tafel ein Feld mit der Zimmernummer auf. Ich kann sofort den Apparat einschalten und, wenn nötig, Georg und noch ein paar Männer hinschicken.«

Manuel sah zur Fensterwand. Von einem Vorhang halb verdeckt erblickte er ein schwarzes Glaskästchen, wie es in den Kammern der Hotels für die Etagenkellner angebracht ist.

»So, da sind sie«, sagte Nora.

Manuel sah auf dem großen Bildschirm, daß die Tür des Spiegelzimmers sich öffnete und der Holländer hereinkam. Einen Arm hatte er um die rote Yvonne gelegt, die nun ein schwarzes Cocktailkleid trug. In der Hand hielt sie ein Büschel offenbar prächtig bunter Federn, jede gewiß einen halben Meter lang, sehr dünn und mit feinen Härchen.

»Heute«, erklang De Brakeleers Stimme, »mein Puttputtputt, werde ich dich bespringen, daß dir Hören und Sehen vergeht.«

»Ja, Liebling, ja«, sagte Yvonne. Sie verschwanden beide hinter einem Paravent.

»Dauert noch einen Moment, bis sie sich ausgezogen haben und er präpariert ist«, sagte Nora Hill. Sie schwang auf ihren Krücken zum Kamin, nahm die Zigarettenspitze und ihr Whiskyglas und kehrte zum Fernsehapparat zurück. »Nur ein paar Minuten, dann erzähle ich weiter.«

Der Bildschirm zeigte nun das leere Zimmer. Hinter dem Paravent ertönten undeutliche Stimmen.

»Wie sind Sie eigentlich Agentin geworden?« fragte Manuel. Nora zuckte die Schultern.

»Bald nach dem Tod meiner Mutter verunglückten meine Pflegeeltern – ein Lastauto fuhr in ihren Heuwagen. Tot, beide. Ich kam in ein Fürsorgeheim. Da blieb ich sechs Jahre. Ich war außerordentlich frühreif und stark entwickelt. Der Leiter des Heims wurde völlig verrückt nach mir. Das heißt, ich legte es darauf an, daß er verrückt wurde. Als ich zwölf war, vergewaltigte er mich. Weil ich vergewaltigt werden wollte. Aber das hat er nie gemerkt. Natürlich erpreßte ich ihn. Er war verheiratet, drei Kinder. Der erste Mann, den ich erpreßte – klein, klein nur, er hatte kaum etwas. Er konnte bloß durchsetzen, daß ich nach Berlin kam und ein Stipendium im Cäcilien-Lyzeum erhielt. Er hatte eine Schwester in Berlin. Bei der durfte ich wohnen. Na, los, beeilt euch«, sagte sie in den Apparat.

»Und weiter?«

Nora trank, blies Rauchringe aus.

»Weiter! Mit fünfzehn war ich die Freundin eines Bankiers. Arthur von Knichtlein. Ein ekliger Hund. Auch verheiratet. Den sahnte ich schon ordentlich ab. Eigene Wohnung, der erste Pelz, der erste Schmuck … Ich habe alle meine Männer abgesahnt … bis auf einen …«

»Jack Cardiff.«

»Jack Cardiff.« Sie nickte, rauchte und trank einen großen Schluck. »Der war der einzige. Aber sonst … Herr von Knichtlein hatte einen guten Freund im Innenministerium. Als ihn eines Tages der Schlag traf – den Knichtlein, es geschah in der Bank –, wurde ich schnell die Geliebte jenes Herrn aus dem Ministerium. Da war ich siebzehn. Und sehr schön, das kann ich sagen. Meine Liebhaber wechselte ich dauernd. Ich war bald schon die Sensation von Berlin. Und mit zweiundzwanzig bereits eine reiche Frau. Villenappartement im Grunewald, Auto, Bankkonto. Und Schmuck, Schmuck, Schmuck!« Nora lachte. »Das war eine Besessenheit von mir. Schmuck und Steine. Diamonds are a girl’s best friend, Sie wissen ja. Ich machte das systematisch. Kapitalanlage. Die feinste, die es gibt. Steine verlieren nie ihren Wert, sie sind klein, man kann sie leicht verstecken, verschieben, mitnehmen, wenn man flüchten muß. 1942, als ich in diese Steinfeld-Affäre hineingezogen wurde, lag ein Vermögen, ein wirkliches Vermögen an Schmuck und Steinen in dem Banksafe in Lissabon.«

Phantastisch, dachte Manuel, die Frau auf den Krücken betrachtend, das alles ist phantastisch.

»Ich nahm die Männer, ließ sie fallen, reichte mich selber weiter – warum soll ich nicht darüber reden? Ich war die Königin des ganzen Auswärtigen Amtes. Als dann der Krieg begann und es ernst wurde – ich hätte womöglich noch in einer Fabrik arbeiten müssen! –, suchte ich mir den interessantesten Mann aus. Das war …«

»… dieser Herr Flemming, dessen Schwester …«

»… den Adjutanten von Kaltenbrunner geheiratet hatte, richtig. Herr Flemming schickte mich, als ich fünfundzwanzig war, zum erstenmal ins Ausland. Nach Lissabon. Als Kurier. Da arbeitete seine Dienststelle noch in Berlin. Später wurde das alles dezentralisiert, und wir landeten in Wien. Aber damals, als wir noch so schön siegten, flog ich immer von Berlin aus.« Nora lachte heiser. »Nun ja, solange wir schön siegten, arbeitete ich für die Deutschen. Dann, als wir nicht mehr ganz so schön siegten, wurde ich Doppelagentin.«

»Und 1942 …«

»1942 traf ich Jack Cardiff. Wir verliebten uns. Von da an arbeitete ich nur noch für die Engländer und lieferte meinem Chef, Herrn Flemming, stets falsche Informationen oder wertlose richtige. Und Jack lieferte ich richtige und wichtige über Deutschland. Ich saß ja bei Flemming an der Quelle. Er war übrigens fast eine solche Kanone im Bett wie Jack, mein Chef. Ich dachte immer, wenn es danach ginge, müßten wir den Krieg doch noch gewinnen. Alle waren entzückt von meiner Tüchtigkeit – die Nazis und die Engländer. Jack gab mir sehr raffinierte falsche Informationen. Weil Flemming mich offiziell auf ihn angesetzt hatte, konnte ich mich mit meinem Geliebten überall in Lissabon sehen lassen …«

Hinter dem Paravent war Yvonne hervorgekommen, völlig nackt. Sie hüpfte in gebückter Haltung in das Zimmer hinein, wobei sie eine Henne nachahmte: »Gaaaa-gagagagaga-gaaaa! Gaaaa-gagagagagaga-gaaaa!« Manuel richtete sich auf.

Nun erschien der Holländer auf dem Bildschirm. Auch er war nackt, groß, massig, und in seinem Hintern steckte das ganze Büschel der prächtigsten Paradiesvogelfedern. Wie ein Hahn stampfte Willem de Brakeleer, stolz und mit den Armen rudernd, hinter Yvonne her, die ihm ihren Hintern hinhielt, mit den nackten Füßen auf dem Veloursboden scharrte und weiter gackerte.

»Kikeriki!« ließ de Brakeleer sich vernehmen. »Kikeriki!«

»Niedlich, wie?« sagte Nora. Sie drückte auf einen Knopf neben dem Fernsehgerät. Manuel bemerkte es nicht, denn sie stand vor dem Knopf, der den Video-Recorder in Tätigkeit setzte. Das Gerät würde nun fünfzehn Minuten laufen und aufzeichnen und sich dann von selbst abschalten. Nora Hill empfand ein Gefühl großer Befriedigung. Diese Aufzeichnung hat ein Kollege von euch bestellt, ihr Schweine, die ihr alles mitanhört, die ihr mich erpreßt, dachte sie. Das wißt ihr nicht. Ihr werdet es schon noch merken.

»Gaaaa-gagagagaga – gaaaa!« Yvonne scharrte und hüpfte mit herausgestrecktem Hintern. Hinter ihr her stolzierte Willem de Brakeleer, die herrlichen Federn am Steiß, heftig atmend, durchdringend krähend: »Kikeriki! Kikeriki!«

»Oft«, sagte Fedor Santarin versonnen, während er den Stimmen aus dem Lautsprecher lauschte, der über ihm hing, »möchte ich auch so pervers sein wie ihr im Westen. Es macht mich ganz nervös. Wir sind ein zu verflucht normales Volk, wir Russen.«

»Nicht traurig sein«, tröstete Grant. »Ihr habt doch einen internationalen Ruf im Vergewaltigen!«

»Ach, Vergewaltigen – das ist doch eine natürliche Sache!« Santarin seufzte.

Auf dem Fernsehschirm stelzte der Holländer weiter einher und stieß seine lauten Rufe aus. Yvonne, vor ihm, gackerte nun ununterbrochen. Jetzt kauerte sie sich auf ein Bett, den Rücken hoch in der Luft. De Brakeleer hüpfte an sie heran.

»Kikeriki!« schrie er, und es klang plötzlich unglücklich.

»Gaaaa-gagagagaga – gaaa!« antwortete Yvonne, hinter sich greifend.

Was sie in die Hand bekam, war nicht der Rede wert.

»Wieder nichts«, sagte Nora. »Warum trinkt er auch jedesmal vorher so viel!«

Auf dem Bildschirm sah Manuel, wie sich Yvonne mit Hand, Mund und Stimme bemühte, dem Holländer, der nun zornig stampfte, zu helfen. »Gaaa-gagagagaga – gaaa!!!«

»Kikeriki! Verflucht! Aber es muß doch einmal gehen! Mach weiter! Fester!«

»Gaaaa-gagagagaga – gaaa!«

Es ging nicht.

»Man kann verzweifeln«, sagte Nora. »Der arme Kerl. Ich weiß nicht, wie oft er es schon versucht hat. Und mit was für Federn! Er will immer neue, schönere. Erst einmal kriegen! Ein Vermögen kostet ihn das.«

»Und kein Erfolg.«

»Sehen Sie ja. Bei den Reiherfedern hatte er eine Erektion – für eine halbe Minute. Dann war da wieder Pudding.« Nora Hill trank. »Schauen Sie doch bloß – Yvonne gibt sich solche Mühe. Und mehr Mühe kann sich eine Frau doch wirklich nicht geben, oder?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Gaaa-gagagagaga – gaaaa!« ließ sich Yvonne, heftig beschäftigt, vernehmen. Gleich darauf fragte sie: »Was ist bloß, Burschi? Hast mich denn gar nicht lieb?«

»Kikeriki!« krähte der Holländer. Jetzt hatte er Tränen in den Augen. Wenn das nur alles schön in den Recorder kommt, dachte Nora und sagte: »Ich denke, es genügt.« Sie schaltete den Apparat ab und kehrte elegant und schnell auf ihren Krücken zum Kamin zurück, wo sie sich in ihren Sessel gleiten ließ. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Aber Geschäft ist Geschäft. Wo war ich gerade, als – ach ja. Die Ladentür hatte jemand abgesperrt. Ich rüttelte an ihrer Klinke …«

38

Sie rüttelte an der Klinke der verschlossenen Tür. Sie begriff das nicht. Wieso war hier abgesperrt? Die Totenstille im Laden machte sie plötzlich furchtbar nervös. Sie fühlte Angst in sich emporschießen. Was war geschehen? Vorsichtig blickte Nora über den grünen Vorhang an der Glasscheibe der Tür hinweg nach draußen. Es war kein halbes Dutzend Menschen in der Seilergasse zu sehen.

Aber ich kann die Tür nicht einfach einschlagen, dachte Nora. Ich muß durch den zweiten Ausgang hinaus. Jenen, durch welchen der Kerl kam, den ich niederschlug. Es muß einen geben, zum Hof wahrscheinlich, hinter den Magazinen. Der Kerl ist bestimmt noch nicht sehr aktionsfähig. Natürlich kann ein Kollege von ihm bei dem zweiten Ausgang warten. Schlimm. Aber ich muß es einfach riskieren. Raus! Nur raus hier!

Nora Hill rannte zu dem Gang in der Bücherwand wieder zurück. Im ersten Magazin brannte nun elektrisches Licht. Valerie Steinfeld kniete neben dem Mann, ihn halb verdeckend. Nora hielt die Pistole in der Hand – jetzt richtig. Ich komme hier weg, dachte sie. Ich komme hier weg! Wenn der Kerl am Ende noch ohnmächtig ist, geht das ganz schnell. Sie machte drei Schritte vorwärts. Martin Landau war nicht ohnmächtig. Martin Landau.

An ihn hatte Nora in den letzten Sekunden überhaupt nicht mehr gedacht. Da lag er auf dem staubigen Boden, die Augen geöffnet, leise stöhnend, ein Taschentuch an die rechte Schläfe gepreßt. Das Tuch war bereits durchtränkt, Blut tropfte auf die Erde, beschmutzte seinen Anzug. Nora Hill erschrak nicht, als sie sah, was sie angerichtet hatte, Landau tat ihr auch nicht leid. Sie wurde nur wütend.

»Was führen Sie hier für Idiotenspiele auf?« zischte sie ihn an.

Er hob den Blick.

»Sie … Sie …« begann Martin Landau.

»Haben Sie Verbandzeug?« fragte Nora, an Valerie gewandt.

»Im Teekammerl …«

»Holen Sie, was da ist.«

»Blut …« ächzte Landau. Er würgte. »Ich kann kein Blut sehen …«

»Wenn ich Ihren Schädel verbunden habe, werden Sie kein Blut mehr sehen. Es tut mir leid«, fügte sie freundlicher hinzu. »Aber weshalb schleichen Sie da herum? Wie sind Sie überhaupt auf diese Seite der Kammer gekommen?«

»Gestapo …«

»Was?«

Er schluckte Blut, das ihm in den Mund lief, und sah Nora an.

»Was, Gestapo? Reden Sie!«

»Ein Mann … Muß von der Gestapo sein … Ich habe immer wieder durch die Tür hinausgesehen, während Sie hier waren … Er stand da, die ganze Zeit … Und er ließ das Geschäft nicht aus den Augen …«

»Da steht kein Mensch«, sagte Nora.

»Es stand einer da.«

»Wo?«

»Drüben, schräg gegenüber, Ecke Neuer Markt …«

»Wie sah er aus?«

»Groß und schlank … blauer Mantel und blauer Homburg …«

»Ein Gestapomann mit einem Homburg? Haben Sie schon mal einen Gestapomann gesehen?«

Nora sprach noch ironisch. Aber da war plötzlich der Stachel des Zweifels in ihrem Herzen. Und wenn dieser Feigling doch nicht nur phantasiert? Und wenn ich wirklich beobachtet werde? Blauer Homburg … vielleicht ist der Mann tatsächlich hinter mir her? Und bei der Gestapo? Blauer Homburg – dann trägt er eben gerade so einen Hut! Nicht superschlau werden. Vielleicht ist das auch jemand ganz anderer. Ich bin in Deutschland. Da bespitzelt jeder jeden. Wer weiß, wer das war? Wer weiß, wer das ist? Jetzt habe ich wieder Angst. Große Angst. Vielleicht kann dieser Landau überhaupt nichts dafür. Vielleicht sagt er die reine Wahrheit.

»Es tut mir leid«, murmelte Nora Hill eindringlich. »Verzeihen Sie mir. Bitte. Es tut mir wirklich leid.«

»Ich wollte Sie immerhin retten … Das ist der Dank … Ich habe ein schwaches Herz … deshalb wurde ich auch nicht eingezogen …«

Valerie kam mit einer blauen Blechschachtel, die ein rotes Kreuz in einem weißen Kreis trug. Nora öffnete den Deckel.

»Gut«, sagte sie. »Jetzt noch Wasser. Kaltes. Um das Blut wegzuwaschen.« Valerie eilte in das Teekammerl zurück. Nora stand auf. »Ich bin sofort da!«

Sie rannte in den Laden und zur Eingangstür. Die Augen unmittelbar über dem grünen Vorhangsaum, sah sie noch einmal aufmerksam die Seilergasse entlang, in jedes Haustor, das sie erblicken konnte, bis hinauf zur Ecke des Neuen Marktes. Sie lief zurück zu dem leise jammernden Landau, bei dem Valerie kniete, neben einer Schüssel mit Wasser.

»Richten Sie sich auf«, sagte Nora. Er folgte stöhnend. »Da ist kein Mann mit Homburg und blauem Mantel.«

»Doch.«

»Nein, Herrgott!« Die Angst! Die Angst ließ sie grob werden.

»Dann versteckt er sich. Ich habe es nicht mehr ausgehalten, dieses Herstarren von ihm. Darum habe ich die Tafel ›Komme gleich‹ hinter das Türglas gehängt und bin raus und habe hinter mir zugesperrt und …«

»Nehmen Sie das Taschentuch weg!«

Er nahm es weg. Er hatte nur eine Platzwunde, aber eine ziemlich große. Nora begann, ordentlich Jod daraufzupinseln. Er jaulte laut auf vor Schmerz.

»Reißen Sie sich zusammen!«

»Und dann … Was hast du dann gemacht, Martin?« fragte Valerie, bleich und leise.

»Ich bin die Seilergasse hinuntergegangen … au!«

»Stellen Sie sich nicht so an! Und?«

»Und der Mann mit dem Homburg blieb stehen und schaute mir nach … Ich ging um den Block und kam von der Spiegelgasse wieder zurück, durch den Hof und den Magazineingang …«

»Warum hast du dich bloß so angeschlichen? Warum hast du nicht gehustet oder dich sonst bemerkbar gemacht?« fragte Valerie.

Nora hatte ein schlechtes Gewissen. Sie fühlte sich elend. Was habe ich da angerichtet, dachte sie beschämt. Und sofort: Wie komme ich jetzt weg? Wenn es stimmt, was Landau sagt, ist der Mann noch da, wer immer das ist. Wo? Er ist beim Eingang stehengeblieben, sagt Landau. Aber da sehe ich ihn nicht. Das beweist nichts. Er kann sehr leicht trotzdem da stehen, auf der anderen Straßenseite zum Beispiel. Oder der Mann ist Landau nachgegangen. In diesem Fall steht er beim Hintereingang oder in der Spiegelgasse.

Nora hörte voll Scham und Furcht, was Landau stammelte: »Ich war ganz außer mir vor Angst … Immerhin … Ich wußte nicht mehr, was ich tat … Ich dachte, wenn ihr mich plötzlich hört, dann fängst du an zu schreien, und der Mann draußen …«

»Sitzen Sie aufrecht.« Nora begann, Landau einen Stirnverband anzulegen. Er stöhnte laut.

»Weg! Weg! Weg!« schrie er plötzlich und trommelte mit beiden Fäusten auf den Boden.

»Martin … Martin, bitte … wir waren noch nicht fertig … Fräulein Hill muß mir noch etwas sagen, etwas ganz Wichtiges …«

»Aber nicht hier!«

»Eine Nachricht von Paul!«

»Dann geh mit ihr, verflucht!«

»Wohin? Wohin denn, Martin? Jetzt am hellen Tag!«

»Das ist mir egal!« Er schleuderte das blutige Handtuch fort, erhob sich torkelnd, taumelte in das Teekammerl hinein und ließ sich auf das Ledersofa fallen, dessen Spiralen krachten. »Aaah! Mein Kopf! Also was ist – gehen Sie endlich?« Er griff nach dem altmodischen Telefonhörer.

»Martin!« rief Valerie. »Du wirst doch nicht …«

»Und ob ich werde! Sofort werde ich! Ich lasse mir immerhin mein Leben nicht versauen wegen so einer!«

Nora und Valerie sahen sich an.

»Das hat keinen Sinn«, sagte Nora.

»Aber Sie können nicht … Sie müssen mir doch noch …« Valerie klammerte sich an sie. »Ich weiß etwas!« Valerie holte Atem. »Die Stephanskirche! Keine zwanzig Minuten von hier!«

»Stephanskirche, ja«, sagte Landau. Er nahm die Hand vom Hörer. »Geht da hin. Da wird jetzt kaum ein Mensch sein. Dunkel ist es auch. Über den Hof und die Spiegelgasse. Wenn ihr fort seid, gehe ich auch noch einmal herum und sperre vorn wieder auf. Und wenn der Mann mit dem Homburg kommt und nach euch fragt …«

»Der kommt nicht, seien Sie ruhig, Herr Landau.«

Nora war jetzt fest entschlossen, die beiden ihrem Schicksal zu überlassen. Sie hatte genug. Mehr als genug. Laß mich hier heil rauskommen, lieber Gott, dachte sie, verzeih, daß ich immer nur in solchen Lagen an dich denke, und hilf mir.

»Und wenn er immerhin doch kommt, dann erzähle ich ihm, daß ich gestürzt bin … und die Hausmeisterin von der Spiegelgasse mich verbunden hat … Nein, das geht doch alles nicht!« Landau war schon wieder völlig verzweifelt. »Und das Blut hier? Und wo bist du, Valerie? Und wo ist das Fräulein, wenn der Mann es kommen sah?«

Valerie sagte: »Leg dich hin, Martin. Mach vorläufig überhaupt nicht auf. Warte, bis ich zurück bin. Es wird nicht lange dauern. Dann können wir immer noch sagen, daß wir beide weg waren und daß du gestürzt bist und ich dich verbunden habe.«

»Ich hasse Sie«, flüsterte Martin Landau, die milden grauen Augen auf Nora Hill gerichtet. »Ich hasse Sie …«

Valerie sagte hastig: »Gehen Sie schon voraus. Hier … hier ist eine Taschenlampe, Sie wissen ja nicht, wo die Schalter sind! Durch die Magazine ganz nach hinten, es gibt nur einen Weg. Sie kennen sich aus in der Spiegelgasse?«

»Ja.«

»Setzen Sie sich in der Kirche irgendwohin, wo es sehr dunkel ist«, sagte Valerie beschwörend.

»Ja.«

»Ich komme in ein paar Minuten nach.«

»Ja«, sagte Nora Hill und ging. Vier große Gewölbe mußte sie durchqueren, die Pistole in der rechten, die Taschenlampe in der linken Hand. Die Krokodilledertasche hing am linken Unterarm. Nach Moder roch es, nach altem Leder. Und Bücher türmten sich zu Bergen. Nora leuchtete hin und her, sie fand den Weg nur mir Mühe. Dann, endlich, erreichte sie eine Eisentür. Sie knipste die Lampe aus und legte sie auf einen Tisch. Sie schob den Sicherungshebel der Pistole zurück. Jetzt hielt kalte Furcht sie gepackt, aber jetzt war sie auch völlig skrupellos. Lebend kriegen die mich nicht, dachte sie. Ich weiß, was mich erwartet, wenn die mich kriegen. Lieber Gott, bitte! Schweiß stand wieder auf ihrer Stirn. Sie drückte die Klinke der Eisentür nieder, schleuderte sie auf und preßte sich mit dem Rücken an die Mauer neben dem eisernen Türrahmen. Sie wandte den Kopf seitlich, sah ins Freie. Ein alter Hof voller Gerümpel. In der Mitte ein kahler Kastanienbaum. Kein Mensch. Stille.

Absolute Stille. Nora trat einen Schritt vor. Noch einen. Noch einen. Nun stand sie in der Türöffnung und überblickte den ganzen Hof. Er war verlassen.

Aber vielleicht verbirgt sich jemand hinter den Abfalltonnen, hinter dem Gerümpel, dachte sie. Egal. Ich muß weg. Weg hier!

Sie trat aus der Tür, die Pistole immer noch in der Hand, halb versteckt unter der Tasche. Der zweite Schritt. Der dritte. Nichts. Ihre Knie waren weich wie Gelee, als sie den Hof überquerte. Sie erwartete jede Sekunde, angerufen zu werden. Dann mußte sie herumwirbeln und – nein, es war besser, dann zuerst zu tun, was der Mann forderte … Unsinn! Die Hände hoch, würde er fordern! Weg mit der Pistole! Fallen lassen! Nein, sie mußte sofort schießen. Und dann rennen, rennen …

Schritt. Schritt. Noch ein Schritt.

Nichts.

Als Nora die Hauseinfahrt erreichte, die zur Spiegelgasse führte, fühlte sie, daß ihr Rücken naß war von Schweiß. Niemand im Hof. Und in der Spiegelgasse? Sie trat schnell aus der Einfahrt. Nun war sie schon sicherer. Blick nach rechts, Blick nach links. Kein blauer Homburg, kein blauer Mantel. Wenige Passanten. Niemand kümmerte sich um sie.

Ich wußte es ja, dachte Nora und ließ die Pistole in die Tasche gleiten, Gespenster sieht dieser Landau, Gespenster! Nichts wie zu Carl Flemming jetzt. Zu Flemming und die ganze Geschichte vergessen. Ich bin doch nicht verrückt! Mein Leben riskieren für andere Menschen! Dieses Pärchen ist unzurechnungsfähig, wenigstens der Mann. Und die Frau – was geht sie mich an, was geht mich ihr Junge an?

Nora Hill begann mit schnellen, energischen Schritten die Spiegelgasse hinunterzugehen.

Ich habe die Schnauze voll, dachte sie. Auch Jack muß einsehen, daß ich da nichts mehr tun konnte. Schließlich liebt er mich und würde mich ungern verlieren. In die Stephanskirche – auch noch in den Dom! Ich gehe nicht in den Dom, Frau Steinfeld. Ich denke nicht daran. Nicht ums Verrecken will ich jetzt auch noch eine Sekunde mit dieser Sache zu tun haben. Stephanskirche – Sie werden mich da vergebens suchen, Frau Steinfeld. Tut mir leid. Tut mir furchtbar leid. Gehen Sie zum Teufel, Frau Steinfeld!

39

»Deus indulgentiarum Domine: da animae famuli tui Alois Zwerzina, cujus anniversarium depositionis diem commemoramus …«

Gedämpft tönte die Stimme des hageren alten Priesters aus der Katharinenkapelle hinaus in das mächtige Kirchenschiff des Stephansdomes. Die Katharinenkapelle ist einer von vielen Seitenaltären der Kathedrale.

Grau ist das Mauerwerk des Doms, dunkel und düster war es in ihm. Nur wenige Kandelaber brannten. Das Friedrichsgrab war eingemauert worden. Die mittelalterlichen Glasfenster hinter dem Hauptaltar hatte man ebenso entfernt wie die wertvollsten Gemälde, Plastiken, Reliquien und Flügelaltäre von Sankt Stephan. Sie befanden sich an zahlreichen Orten des Großdeutschen Reiches, tief unter der Erde, in der trockenen Luft von Salzstollen, ›verlagert‹, wie das hieß. Bei einem Luftangriff konnte auch der Dom getroffen werden.

Schatten bewegten sich durch die riesige Kirche, Schuhe schlurften, Frauen und Männer wanderten umher, standen still, in Gebete versunken. Sie waren nur als Silhouetten zu erkennen.

Allein die Katharinenkapelle wurde warm erhellt vom Licht vieler Kerzen. Blumen lagen hier vor dem Altar, nach Weihrauch duftete es, und der hagere alte Priester, unterstützt von einem pickelgesichtigen, eifrigen Ministranten, betete vor einer schwarz gekleideten alten Frau, die in der ersten Bankreihe der Kapelle stand.

»… refrigerii sedem, quietis beatudinem …«

Eine Messe ›In Anniversario Defunctorum‹ ist das, dachte Nora Hill, ich erinnere mich. Das war ein streng katholisches Heim, wo man mich erzogen und verführt hat. Messe zum Jahrestag des Todes eines Herrn Alois Zwerzina. Das da vorne ist gewiß seine Witwe, möglicherweise seine Schwester oder seine Mutter. Auf jeden Fall recht spät für eine solche Messe, der Priester muß schließlich nüchtern sein. Nun, vielleicht kommt sie von weit her, die kleine Frau, und vielleicht kennt sie die Herren von Sankt Stephan gut. Sie sieht wohlhabend aus. Vielleicht hat der Priester auch schon gefrühstückt.

»… et luminis claritatem …«

Nora Hill saß in der letzten Bankreihe vor dem Seitenaltar, neben einer Säule, die gewiß zwei Meter Durchmesser hatte. Sie drückte sich an den kalten Stein. Hier, wo sie saß, war es fast dunkel.

»… per Dominum nostrum!«

Hell läutete der Ministrant ein Glöckchen.

Der Priester wandte sich dem Altar zu und kniete nieder, neben ihm der Junge. Die alte Frau kniete nieder. Nora zögerte, dann glitt auch sie vom Sitz.

Wieder das Glöckchen.

Automatisch tat Nora, was die alte Frau tat: Sie neigte tief den Kopf und bekreuzigte sich. Der Priester betete. Ich will verflucht sein, wenn ich sagen könnte, warum ich nun doch hergekommen bin, dachte Nora Hill. Noch als ich den Graben erreichte, war ich fest entschlossen, Valerie Steinfeld niemals wiederzusehen. Ich hatte mich schon nach links gewandt, um zu Carl Flemming zu eilen. Da, plötzlich, drehte ich mich um und lief hierher. Ich will verflucht sein, wenn ich nicht eine dusselige Gans bin, der nicht zu helfen ist, dachte Nora Hill zornig.

Die alte Frau und Nora Hill setzten sich wieder.

Weit entfernt, auf der andern Seite des Mittelgangs, im Schatten eines Baugerüsts, stand der Mann in dem blauen Mantel, reglos. Den blauen Homburg hatte er abgenommen. Seine Blicke waren unablässig auf Noras Rücken geheftet. Nun glitten sie seitlich. Eine zweite Frau, in einem grauen Stoffmantel, Kopftuch über dem Haar, die offenbar schon längere Zeit im Kirchenschiff umhergewandert war, hatte, wie es schien, endlich gefunden, was sie suchte. Leise und mit langsamen Schritten ging sie auf Nora Hill zu, glitt in deren Bankreihe, setzte sich dicht neben sie.

Der Mann im blauen Mantel hatte ein hageres, hungrig wirkendes Gesicht, stechende dunkle Augen, zusammengewachsene Brauen und kurz geschnittenes dunkles Haar. Er trat noch mehr in den Schatten des Gerüsts. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, als er sah, wie die beiden Frauen miteinander zu flüstern begannen.

40

Der Ministrant trug feierlich ein großes Meßbuch herbei und legte es aufgeschlagen vor den Priester hin. Dieser begann zu lesen: »In diebus illis: Vir fortissimus …«

»Gott sei Dank«, flüsterte Valerie. »Ich konnte Sie nicht finden … bin durch die ganze Kirche geirrt … hatte schon eine wahnsinnige Angst, daß Sie es sich überlegt haben und nicht mehr hierhergegangen sind, nach allem, was passiert ist. Aber nein, eine Frau wie Sie hält Wort! Wären Sie sonst überhaupt in die Buchhandlung gekommen? Sie sind ein guter Mensch.«

Nora wandte den Kopf. Wenn sie etwas haßte, dann waren es Leute, die ihr aus nächster Nähe direkt ins Gesicht sprachen. Hier ließ sich das nun nicht verhindern. Oh, merde, dachte Nora, warum bin ich bloß wirklich hierhergegangen, ich Idiotenweib, warum?

»… offeri pro peccatis mortuorum sacrificium, bene et religiose de resurrectione cogitans …«

»Was haben Sie mir noch zu sagen, Fräulein Hill?«

»Keinen Namen! Zuerst muß ich etwas wissen.«

»Natürlich. Bitte. Fragen Sie.«

Gräßlich, dachte Nora, jetzt in ihrer Furcht sieht sie aus wie ein geprügeltes Tier. Wo ist ihr Mut geblieben, ihre Selbstbeherrschung, ihre Überlegenheit? Ach, dachte Nora, wie wenig von all dem haben selbst die, die am meisten von all dem haben. Sie flüsterte: »Wie alt ist Ihr Sohn jetzt?«

»Er wird siebzehn im Mai.«

»Welche Schule besucht er?«

»Zuerst war er auf einem Realgymnasium. Der Direktor wollte seine Schule unbedingt rein arisch haben. Heinz war der einzige Mischling. Und kein guter Schüler. Da sagten sie mir, als er in der Vierten war, sie würden ihn entweder durchfallen lassen oder ihm ein halbwegs anständiges Zeugnis geben, wenn er das Realgymnasium verließe.«

»Und?«

»Und da sprach ich mit ihm und fragte, was er denn gerne werden würde – es gibt doch diese Fachschulen, nicht wahr?«

»… et quia considerabat, quod hi, qui cum pietate dormitionem acceperant …«

»Ja.«

»Und da sagte er, er würde am liebsten Chemiker werden.«

»Chemiker?«

»Ja. Heilmittelchemiker. Dafür interessiert er sich brennend. Auf der Hohen Warte steht die Staatsschule für Chemie. Mit der Mittleren Reife kann man anfangen. Vier Jahre dauert jetzt im Krieg die Ausbildung, sonst sechs. Aber sie brauchen Betriebschemiker. Dringend. Arier dürfen im Anschluß an die Staatsschule auch die Universität besuchen. Alle bekommen ein Maturazeugnis und ein Diplom. Heinz darf ja nicht auf die Universität. Aber er kann schon in zweieinhalb Jahren als Chemie-Ingenieur arbeiten. Er ist auf einmal ein guter Schüler geworden. Einer der besten! Stellen Sie sich das vor! Keine Stänkereien, kein Ärger, alles geht glatt. Und als Betriebschemiker werde ich ihn dann schon bis zum Schluß durchbringen – hoffentlich!«

Nora neigte sich vor. »Und noch eine Frage. Sie ist ganz wichtig. Haßt Heinz seinen Vater?«

Valeries Kopf sank auf die Brust.

Der alte Priester las wieder aus dem großen Buch: »In illo tempore dixit Jesus turbis Judaeorum …«

»Na!« drängte Nora.

»Er haßt ihn ganz furchtbar«, antwortete Valerie unglücklich, den Kopf weiter gesenkt. »Er wußte doch lange Zeit überhaupt nicht, daß er ein Mischling ist. Er war sogar in der Hitlerjugend.«

»Was?«

»Alle seine Freunde waren da. Er wollte auch so gerne dabeisein. Ich dachte, es ist sicherer so. Ging auch alles gut, bis sie in der Schule den kleinen Ariernachweis verlangten. Da mußte ich es Heinz dann sagen …«

»Warum weinen Sie?«

»Ich erinnere mich … an dem Tag, an dem sie ihn hinauswarfen aus der HJ … da hat er seinen Vater verflucht … Wir konnten ihn fast nicht beruhigen, die Agnes und ich. Agnes Peintinger – das war einmal seine Kinderfrau. Sie arbeitete schon vor seiner Geburt bei uns, und jetzt besorgt sie den Haushalt.«

»Ich weiß alles von Agnes.«

»Mein Mann hat über sie gesprochen, natürlich! Ja, also kaum zu beruhigen war der Heinz. Und dann hat er mich beschimpft, daß ich einen Juden geheiratet habe …« Valerie bedeckte das Gesicht kurz mit beiden Händen. »Furchtbar war das, ganz furchtbar … Er kam sich wie ein Verbrecher vor … ausgestoßen und geächtet und ein Mensch letzter Klasse – alles durch meine Schuld! Die Agnes redete auf ihn ein, noch und noch, monatelang. Da hat er angefangen, mir zu vergeben, wenn auch noch immer nicht ganz, nein, nicht ganz … Aber seinen Vater, den haßt er wie die Pest … Ist das nicht schrecklich?«

»Schrecklich? Wunderbar ist das!«

41

Nackt, vollkommen nackt lag Nora Hill auf dem zerwühlten Bett, die Augen leuchtend, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Das Bett war groß und stand im Schlafzimmer von Jack Cardiffs eleganter Wohnung an der breiten Avenida da Liberdade, nahe dem großen Praca do Marquês de Pombal, dem Platz, in dessen Mitte sich ein Denkmal des Marquês erhebt, der Leitender Minister König Josephs I. und ein großer Reformer gewesen ist. Sonne schien in den Raum, Geräusche von Autos und Menschen drangen aus der Tiefe empor, und es war sehr warm in Lissabon an diesem Nachmittag des 3. Oktober 1942. Am Abend startete Noras Flugzeug. Doch sie hatte noch Zeit, ein paar Stunden hatte sie noch Zeit. Ihre Koffer im Hotel ›Aviz‹, in dem sie immer abstieg, waren schon gepackt.

Aus dem Wohnzimmer kam Jack Cardiff. Er hatte einen grauseidenen Morgenrock angezogen und schob eine kleine Bar auf Rädern vor sich her. Nora sah ihn glücklich an, diesen schlanken, großen Mann mit dem sonnenverbrannten Gesicht und den hellen Augen, diesen Mann, in dessen Umarmung sie sich eben noch auf dem Bett gewälzt hatte, keuchend vor Lust und Gier. Sie liebte ihn, oh, sie liebte ihn, seine Stimme, seinen Körper, jede seiner Bewegungen! Lächelnd sah sie zu, wie er nun geschickt zwei Drinks bereitete – Gin-Tonic. Er reichte ihr ein Glas.

»Auf ein glückliches Wiedersehen, Darling«, sagte Jack Cardiff.

»Auf ein glückliches Wiedersehen«, antwortete Nora Hill. Nachdem sie getrunken hatte, sagte sie: »Jedesmal, wenn ich nach Deutschland zurück muß, habe ich Angst, schreckliche Angst, daß etwas geschieht, was uns trennt, auseinanderreißt …«

»Es geschieht nichts«, sagte er. »Ich bin auch immer traurig, wenn ich nach London muß, Darling, aber beide kommen wir immer wieder zueinander, und so wird es bleiben, bis dieser Krieg zu Ende ist.«

»Dann sind wir zusammen für immer«, flüsterte sie. »Du bist meine Liebe. Meine erste. Meine einzige. Du wirst meine einzige Liebe bleiben.«

»Und du die meine, Darling«, sagte Jack Cardiff. Er trat, das Glas in der Hand, in die offene Balkontür und sah auf die sonnenglänzende Avenida hinab, zu dem Denkmal des Marquês und weiter empor zu dem blühenden Parque Eduardo VII. dahinter. Der große Ziergarten lag auf einem allmählich ansteigenden Abhang. Zwischen Pinien und Korkeichen, Orangen-, Zitronen-, Oliven-, Granatäpfel- und Feigenbäumen erblickte Jack Cardiff die schimmernden Scheiben des Estufa Fria, in dem, wie in einem riesigen Kühlhaus, seltene Pflanzen, Büsche und Farne gedeihen. Zwischen den Beeten mit Krokussen, Narzissen, Lilien und Tulpen winden sich weiße, kiesbedeckte Wege. Kleine Brücken spannen sich über künstliche Bäche. Jack Cardiff sah den dunkelblauen, winzigen See und die blitzenden Wasserkaskaden. Jack Cardiff sagte, während er ein schweres goldenes Zigarettenetui aus der Tasche seines Morgenmantels nahm und zwei Zigaretten mit einem goldenen Feuerzeug in Brand setzte: »Du hast dir alles gemerkt, was mir für Herrn Flemming eingefallen ist?«

Er steckte Etui und Feuerzeug – Geschenke Noras – wieder ein.

Sie nickte, während er zum Bett kam, eine der beiden Zigaretten zwischen ihre Lippen steckte und danach ihre Brustwarzen küßte. Er setzte sich auf das Bett und streichelte sanft Noras Hüften.

»Alles ganz genau«, sagte Nora. Sie räkelte sich unter seinen Händen. Rommels rasender Vormarsch in Nordafrika war Ende Juni bei El-Alamein, hundert Kilometer südwestlich von Alexandria, vor starken britischen Stellungen zum Halten gekommen, ein Durchbruchversuch fehlgeschlagen. Jedermann wußte, daß ein Gegenangriff der Engländer unter General Montgomery unmittelbar bevorstand. Die Briten hatten in den vergangenen Wochen große Mengen von Soldaten, Panzern und Flugzeugen herangeschafft. Über diese Bewegungen, ihr Ausmaß und den rollenden Nachschub sowie über den Beginn der Gegenoffensive brachte Nora dem für den Raum Südeuropa und Afrika zuständigen Ministerialdirektor des Auswärtigen Amtes, Carl Flemming, nun eine Menge Mitteilungen und Zahlen mit. Ein Teil der unwichtigen war richtig, die wichtigen waren alle falsch, ebenso falsch wie Angaben über Vorbereitungen der Engländer und Amerikaner für eine Landung in Süditalien. Das Amt in Wien arbeitete getarnt, es firmierte unter dem nichtssagenden Titel ›Arbeitsstab Flemming‹.

»Ich habe Flemming eine Menge zu erzählen«, sagte Nora.

»Wenn es dann nicht eintrifft, haben wir eben unsere Pläne geändert. Und werden dann vielleicht die Absicht haben, auf Sizilien zu landen. Oder in Griechenland. Das kann noch lange so weitergehen«, sagte Cardiff.

»Wird es noch lange so weitergehen?«

»Ich fürchte, Darling. Sei nicht traurig. Der Tag kommt, an dem wir die Deutschen besiegt haben …«

»Was ist?« Nora sah den einzigen Mann, den sie je geliebt hatte, besorgt an. Eine gewisse Spannung in seiner Stimme, in seinem Gesicht beunruhigte sie. »Du hast etwas!«

In breiten Bahnen fiel das warme Licht der Nachmittagssonne durch das Schlafzimmer.

»Ja, Nora, ich habe noch etwas. Zuerst wollte ich es dir überhaupt nicht sagen. Aber ich habe es versprochen. Und so schob ich es auf – bis zur letzten Minute.«

»Warum?«

»Weil es dich vielleicht gefährdet.«

»Gefährdet bin ich seit Jahren. Sag es mir! Besonders, wenn du es versprochen hast! Ja, da, streichle da weiter. Langsam, ganz zart. Wem hast du es versprochen?«

»Paul Steinfeld«, sagte er.

»Was will Steinfeld?« fragte Nora. Jack hatte ihr von diesem emigrierten Österreicher, dem er in London begegnet war, erzählt, von seiner Frau Valerie, von seinem Sohn Heinz, von den großen Sorgen, die Steinfeld sich machte, weil er nicht wußte, wie es den beiden ging.

Cardiff trank wieder. »Vieles weißt du schon. Ich erkläre dir das Hauptproblem. Wenn es dir zu riskant erscheint, kannst du immer noch nein sagen. Ich werde dir wahrhaftig nicht böse sein.«

»Sprich«, sagte Nora. Sie hatte große, schöne Brüste, einen schlanken, ebenmäßigen Körper, lange Beine mit festen Schenkeln und makellos geschwungenen Waden. »Sprich. Und nimm die Hand nicht weg da, bitte.«

»Hör zu.« Er zog an seiner Zigarette. »Du weißt, die BBC hat phantastische Informationen. Besonders der Deutsche Dienst. Immer wieder bekommen diese Leute die neuesten Geschichten aus Deutschland heraus – es grenzt an Zauberei. Nun haben sie Berichte erhalten, die Steinfeld sehr beunruhigen. Er ist Volljude, wenn auch evangelisch getauft. Seine Frau ist Arierin. Herrgott, dieses Wort! Der Sohn, an dem Steinfelds ganzes Herz hängt, ist also ein Mischling Ersten Grades. Wäre sein Vater nur Halbjude, wäre er Mischling Zweiten Grades. Dann hätte Steinfeld nicht solche Angst um ihn …«

»Die Hand. Laß die Hand da liegen, bitte.«

»Bis vor kurzem haben die Nazis Mischlinge Ersten und Zweiten Grades ganz in Ruhe gelassen. Halbjuden durften Soldaten werden, studieren …«

»Nur bis Anfang dieses Jahres«, sagte Nora.

»Stimmt. Nur bis Anfang dieses Jahres. Dann kamen die ersten Maßnahmen. Die radikale Gruppe um Himmler begann sich gegen Goebbels durchzusetzen, der das ganze Problem auf die Zeit nach dem Endsieg verschieben wollte. Zuerst wurden die halbjüdischen Soldaten heimgeschickt. Dann folgten Schikanen aller Art. Sie steigerten sich. Aus lächerlichsten Anlässen wurden Mischlinge Ersten Grades – besonders solche mit jüdischen Vätern, mit emigrierten jüdischen Vätern! – verhaftet, eingesperrt, in Arbeitslager gesteckt. Und das, sagt Steinfeld, soll nun rasch immer schlimmer werden. Sie haben ihre Nachrichten. Er weiß, wovon er redet. Mit der ›Lösung nach dem Endsieg‹ ist es vorbei!«

»Und?« fragte Nora. Sie legte ihre Hand auf die von Cardiff und hielt sie fest.

Er rauchte nervös.

»Steinfeld sagt, die Nazis bereiten ein Gesetz vor, nach dem Mischlinge Ersten Grades – Bonzen und ihre Verwandten natürlich ausgenommen – Juden gleichgestellt werden sollen. Der Krieg geht langsam schief. Man braucht Ablenkung, Beunruhigung, neuen Terror. Natürlich hat das in den betroffenen Kreisen bereits eine Reaktion ausgelöst. Steinfeld erzählte, sie hätten Kenntnis davon, daß in Deutschland seit einiger Zeit Vaterschaftsprozesse geführt werden. Da tritt die Mutter eines Halbjuden, dessen Vater unerreichbar ist, vor Gericht und schwört, ihr Kind sei der ehebrecherischen Verbindung mit einem arischen Mann entsprungen. Der eigene Mann komme also nicht als Vater in Frage.«

Nora ließ Cardiffs Hand los. Sie hielt ihr Glas hin.

»Mach mir noch einen, bitte«, sagte sie, und, während er zwei weitere Gin-Tonics bereitete: »Davon habe ich noch nie gehört.«

»Die Beteiligten schweigen natürlich. Auch die Richter. Es soll nicht publik werden. BBC hat ein paar Dutzend konkrete Fälle katalogisiert. Hier bitte.«

»Danke, Jack.«

»Mud in your eye, Darling.«

»Mud in your eye.«

»Es gibt bereits Spezialisten unter den Anwälten. Denn so ein Prozeß ist kompliziert. Man muß einen Arier haben, der den Meineid schwört, der wirkliche Vater gewesen zu sein. Steinfeld denkt da an einen alten Freund, bei dem Frau Steinfeld jetzt arbeitet, an den Buchhändler Landau. Er ist der einzige, an den Steinfeld denken kann. Dann muß es Zeugen geben. Was da noch alles nötig ist! Ich sage dir ja, ohne Spezialanwalt geht das gar nicht. Steinfeld kennt einen Anwalt in Wien, persönlich, der dafür in Frage käme. Das ist ein Antinazi, wie er im Buch steht! Der würde die Sache sofort übernehmen …«

Nora ließ sich, das Glas in der Hand, langsam zurückgleiten.

Jack Cardiff fuhr fort: »Natürlich macht es vor Gericht einen guten Eindruck, wenn es da Zerwürfnisse zwischen Vater und Sohn gab, Zwistigkeiten, wenn der Junge den wirklichen Vater haßt. Steinfeld sagt, Heinz hat in den letzten Jahren bestimmt allerhand durchmachen müssen a conto seiner Abstammung. Steinfeld betet zu Gott, daß der Junge ihm die Schuld daran gibt, daß der Junge ihn haßt, so sehr wie möglich haßt. Du siehst, Darling, viele Menschen haben heute ihre schweren und großen Sorgen. Damit verglichen sind unsere klein.«

Nora griff nach seinem Arm.

»Was ist?«

»Leg deine Hand wieder da hin«, sagte Nora mit ihrer tiefen, heiseren Stimme. »Und erzähle mir alles. Alles. Ganz genau. Jede Kleinigkeit. Was ich wissen muß.«

»Du wirst es also tun?« fragte er, Freude und Stolz im Gesicht.

Sie nickte.

42

»… quia descendi de caelo, non ut faciliam voluntatem meam …« erklang die Stimme des alten Priesters in der Katharinenkapelle des kalten, dunklen Stephansdomes. Süßlich duftete Weihrauch, aufreizend Nora Hills Parfüm. Sie hatte Valerie Steinfeld alles erzählt, was Jack Cardiff ihr aufgetragen hatte; gehetzt erzählt, so kurz und komprimiert wie möglich. Auch eine dunkle Kirche war kein sicherer Ort. Nun sah sie die Frau an ihrer Seite an, und das Gefühl der Abneigung bei der ersten Begegnung überkam sie wieder angesichts dieses zusammengesunkenen Menschenbündels, das da vor sich hinstarrte, reglos.

»Und der Anwalt, zu dem Sie gehen sollen, heißt Forster. Otto Forster. Seine Kanzlei hat er in der Rotenturmstraße.«

Keine Antwort.

»Frau Steinfeld!«

Keine Antwort.

Nora stieß Valerie an.

Langsam hob diese den Kopf. Sie schien plötzlich um Jahre gealtert. Aber nun hatte Nora keine Zeit mehr für Mitgefühl, selbst wenn sie es verspürt hätte. Ihr Blick war auf Valeries Armbanduhr gefallen. 9 Uhr 40. Sie mußte zu Carl Flemming in dessen Büro Am Hof. Das wurde sonst lebensgefährlich für sie.

»Haben Sie alles verstanden?« flüsterte Nora gereizt.

Valerie nickte.

»Auch den Namen des Anwalts?«

»Doktor Otto Forster … Rotenturmstraße.«

»Und Sie werden hingehen?«

Schweigen.

»Hören Sie, das alles ist kein Spaß. Auch für mich nicht …«

»Das weiß ich! Und ich danke Ihnen. Aber können Sie mich nicht verstehen? Das kam wie ein Blitz … wie ein Erdbeben …«

»… ut omne, quod dedit mihi …«

»Woher weiß Paul denn von solchen Prozessen, wenn ich nichts davon weiß?«

»Ich wußte auch nichts davon. Er ist besser informiert als wir. Meinen Sie, er würde das leichtfertig von Ihnen verlangen? Haben Sie vergessen, daß er auf den Listen der Nazis stand und ihnen entkommen ist? Haben Sie vergessen, was Sie selbst durchmachen mußten deswegen? Auf welche Mischlinge wird man zu allererst losgehen? Warum glauben Sie, drängt Ihr Mann so?«

»Mein Gott, können Sie das denn nicht verstehen? Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Sie kommen und sagen mir, ich soll einen Prozeß führen …«

»Ihr Mann sagt das. Ihr Mann bittet Sie darum. Ihr Mann rechnet fest damit, daß Sie tun, worum er Sie bittet.«

»Ach, aber er sitzt draußen, wir sitzen hier … Wenn es das Falsche ist, was ich tue … wenn ich den Heinz damit erst recht ins Unglück stürze … Ein so braver Bub ist das … nichts Unrechtes tut er …«

»Was das den Nazis egal ist!«

Wenn ich ein Wort, ein einziges Wort nur verstehen könnte, dachte der Mann im blauen Mantel, mit dem blauen Homburg in den Händen, der im Schatten des Baugerüstes stand.

»Sehen Sie mich nicht so böse an! Bitte, Fräulein! Ich …« Valerie rang nach Atem. »Ich muß es mir doch wenigstens überlegen … und mit dem Martin darüber reden … Es ist doch nichts passiert bisher, weil wir so ruhig und demütig waren …«

Nora Hill wollte aufstehen. Ich kann nicht mehr, dachte sie. Ich muß hier weg. Ich mag diese Frau nicht mehr sehen. Soll sie tun, was sie will. Mein Auftrag ist erledigt.

Sie fühlte, wie Valerie ihren Arm mit beiden Händen umklammerte und festhielt.

»Nicht … gehen Sie nicht so … Wenn Sie den Buben hätten … würden Sie da bedenkenlos zu diesem Doktor Forster laufen?«

»… qui videt Filium et credit in eum …«

»Überlegen Sie sich meinetwegen alles. Tun Sie es. Tun Sie es nicht. Es ist mir egal. Hören Sie, egal ist es mir!« zischte Nora Hill die graugesichtige Frau an und versuchte, sich freizumachen von dem eisernen Klammergriff der fremden Hände.

»Das ist doch ungeheuerlich … das ist doch … ja unmenschlich ist das, was Sie von mir verlangen … Ich soll hingehen und sagen … und es beschwören … und andere sollen es beschwören … und ich habe doch immer nur ihn geliebt, immer nur meinen Paul … Er ist der Vater von Heinz!«

»Leise, verflucht!«

»Natürlich ist er das«, flüsterte Valerie erstickt. »Ich habe meinen Mann nie betrogen … Wir haben uns geliebt … und da soll ich sagen, ich und Martin …«

Mit aller Kraft gelang es Nora, sich zu befreien.

»Lassen Sie mich durch. Ich gehe.«

»Aber wann kommen Sie wieder?«

»Überhaupt nicht. In sechs Wochen fliege ich nach Lissabon zurück. Vorher rufe ich an. Ich stelle die Fragen. Sie sagen nur ja oder nein.« Damit stand Nora auf, schob grob Valeries Beine beiseite und trat aus der Bankreihe. Sie sank leicht in die Knie, bekreuzigte sich und ging schnell zum Ausgang.

Valerie sah ihr nach. Dann holte sie mühsam Atem und blickte nach vorn, in das milde Licht der Kerzen auf dem Altar. Nichts regte sich mehr in ihrem Gesicht, es war wie aus Stein gehauen.

Auch über dich werde ich bald mehr wissen, dachte der Mann mit dem Homburg, der sie genau betrachtete. Dann machte er, daß er aus der Kirche kam. Er hatte es jetzt so eilig wie Nora Hill.

Valerie Steinfeld sah aus, als sei sie soeben gestorben.

43

»Auf den Schreibtisch!«

»Carl, du bist verrückt …«

»Total! Total verrückt nach dir! Zwei Monate habe ich dich nicht gesehen. Mach die Beine breit! Los, die Beine sollst du breit machen!«

»Aber mir ist das schrecklich … deine Leute … das ganze Sekretariat …«

»Die können mich doch alle! Die denken sich sowieso ihren Teil. Soll einer wagen, eine Miene zu verziehen! Nun komm schon, komm …« Der Leiter des ›Arbeitsstabes Flemming‹ ließ sich in einen Sessel fallen. Er packte Nora Hills Unterschenkel und preßte die Füße gegen die Lehnen. Sie saß jetzt vor ihm auf einem großen Schreibtisch, und sie trug noch Strümpfe, Halter, den schwarzen Turban und ihren Schmuck. Der Baby-Leopardenmantel, die Schuhe, das graue Wollkleid, die Krokodilledertasche und die Unterwäsche lagen wild verstreut in Flemmings Büro. Er hatte sie ihr fast vom Leib gerissen.

»Nicht … bitte nicht!«

»Sei ruhig … Du riechst herrlich … herrlich! Was ist das?«

Nora mußte gegen ihren Willen lachen.

»›Fleurs de Rocaille‹ … von Caron …« Wenigstens erfrischen dürfen hatte sie sich in Flemmings Waschraum, als sie angekommen war. Das hatte er gestattet.

»Ein neues Parfüm … hattest du noch nie …«, keuchte er, während er seinen Kopf zwischen ihren Schenkeln vergrub. Ein neues Parfüm, stimmt, dachte Nora. Jack Cardiff hat es mir geschenkt. »Ja … ja, das ist wunderbar … gleich wird es auch für dich wunderbar sein …«

Nora fühlte, wie die Situation und das, was er tat, sie zu erregen begannen.

Ich bin eine Hure, dachte sie. Eine Hure bin ich. Gestern nachmittag lag ich noch in Jack Cardiffs Bett und jetzt … Eine Hure, na schön. Auch eine Hure hat einen Mann, den sie wirklich liebt. Ich liebe Jack. Den da, diesen Stier von einem Nazi, brauche ich, von ihm bin ich abhängig, er schützt mich, ich brauche Schutz. Natürlich ist er davon überzeugt, daß ich mit Jack schlafe. Er spricht nie davon. Vielleicht regt der Gedanke ihn auf. Auch Jack hat mich nie gefragt, was ich mit Flemming treibe. Ein schweigendes Übereinkommen ist das zwischen uns dreien. Moralisch? Aaaaahhh – Moral! Überleben, gut überleben, darauf kommt es jetzt an. Und dann bleibe ich bei Jack und bin ihm treu, für immer. Er ist schon ein Kerl, dieser Carl Flemming …

»Gut so?«

»Ja … ja … ein … bißchen … weiter oben …« Nora Hill atmete schneller. Flemmings Büro lag im dritten Stock eines alten Hauses Am Hof, schräg gegenüber dem Gebäude der Länderbank. Man hatte das Haus beschlagnahmt. Unten gab es noch ein paar Geschäfte. Der Aufgang zum Halbstock und zu einem Lift war mit hohem Drahtgitter gesichert. Kein Unbefugter kam durch diese Sperre.

Der ›Arbeitsstab Flemming‹ hatte drei Dutzend Angestellte verschiedener Rangstufen, die im Hause arbeiteten, und sehr viel mehr Agenten im Außendienst. Eine moderne Telefonanlage war installiert worden, als Flemming einzog, eine große Funkstation. Auf dem Dach reckten sich hohe Antennen. Die Funker saßen im obersten Stockwerk. Spezialisten werteten einlaufende Berichte aus, hielten Kontakt mit Berlin, hörten rund um die Uhr ausländische und geheime Sender ab, setzten Funksprüche an Kuriere unterwegs auf, die in der Chiffrierabteilung verschlüsselt und danach von einem starken Kurzwellensender ausgestrahlt wurden. Schreibmaschinen klapperten, Fernschreiber ratterten, auf den Gängen eilten Männer und Mädchen in Zivil hin und her …

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