»Du hast …« Tilly hielt sich eine Hand vor den Mund.

Triumphierend rief ihr Bruder: »Betrogen! Damals, in dem Jahr, bevor Heinz geboren wurde, war Paul doch dauernd verreist. Wir liebten uns schon lange …«

»Du hast Valerie geliebt?«

»Jawohl, das habe ich! Und sie mich. Wir wußten es, seit sie schwanger wurde, daß ich der Vater sein mußte! Valerie hatte immerhin die größte Mühe, Paul von seinem Argwohn abzubringen! Es ist ihr nie ganz gelungen. Bis zuletzt, bis zu seiner Emigration, hatte Paul Zweifel. Er hat sie oft ausgesprochen, ihr gegenüber …« Martin Landau improvisierte wild drauflos.

Beide Frauen starrten ihn nun an.

Mein Gott, dachte Valerie, mein Gott, wer kann sagen, daß er einen anderen Menschen kennt?

Martin schrie seiner entsetzten Schwester ins Gesicht: »Mein Sohn ist Heinz! Und das sage ich jetzt vor Gericht! Und das beschwöre ich jetzt, damit du es weißt! Und damit du noch etwas weißt: In dieser Sache lasse ich mir nicht das Geringste von dir vorschreiben, nicht das Geringste! Das bin ich Heinz schuldig! Diese Sache geht allein Valerie und mich und unsern Jungen an! Hast du verstanden?« Er schwieg erschöpft, aber mit einem Ausdruck wilder Entschlossenheit im Gesicht.

Ottilie Landau wurde blaß. Sie sah ihrem Bruder fest in die Augen. Er erwiderte den Blick ohne zu blinzeln. Endlich wandte Tilly den Kopf zur Seite. Sie konnte nicht fassen, was da geschehen war. Martin, dieser Angsthase, dieser Neurotiker, dieser ewig geängstigte Mann, der des Nachts schrie vor Furcht in seinen Träumen – das sollte Martin sein? Ihr Bruder war das, der da vor ihr stand?

»Martin …«, begann Valerie, doch er unterbrach sie streng: »Sei ruhig! Tilly mußte es einmal erfahren. Jetzt weiß sie es. Und jetzt weiß sie, was ich tun werde. Sie muß sich damit abfinden. Ich werde mit dir um unseren Sohn – jawohl, um unseren Sohn! – kämpfen. Kämpfen werde ich, bis wir gesiegt …« Er preßte plötzlich eine Hand an das Herz, taumelte zu seinem Stuhl zurück und ließ sich schwer darauffallen.

»Die Tropfen«, stöhnte er. »Schnell!«

Tilly rannte davon.

Valerie sprang auf und stützte den nach Atem Ringenden, der abgehackt flüsterte: »Keine Angst … auf … mich … kannst du … rechnen … eisern …«

21

»Ein Anfall eben«, sagte Martin Landau. »Ging vorüber, natürlich. Ich hatte schon so viele. Ich bin sicherlich bereits hundertmal fast gestorben. Man gewöhnt sich daran.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Zehn nach fünf. Es tut mir leid, Herr Aranda, aber ich muß zurück in die Buchhandlung. Schnell. Sie wissen doch … Tilly …«

»Natürlich.« Manuel erhob sich mit ihm. Die Sonne war untergegangen, im Salon des Appartements wurde es dämmrig. Der Ostwind hatte nachgelassen. Vereinzelt fielen schon wieder Schneeflocken. »Ich danke Ihnen sehr, Herr Landau.«

»Keine Ursache. Das ist ein guter Treffpunkt«, sagte der kleine Buchhändler, während Manuel ihm in den Mantel half. »Ich komme wieder hierher und erzähle weiter.«

»Wann?«

»Tja, morgen ist Samstag, da geht es nicht. Sonntag auch nicht. Aber Montag immerhin! Montag, wieder um drei?«

»Sehr gut.« Manuel berührte die Schulter des zierlichen Mannes. »Ich muß mich bei Ihnen entschuldigen, Herr Landau.«

Der kicherte.

»Weil Sie mich für einen feigen Schwächling gehalten haben? Entschuldigen Sie sich nicht. Ich bin ein feiger Schwächling! Nur damals … ja, das war immerhin die beste Zeit in meinem Leben, dieser Prozeß! Damals war ich einmal, einmal in meinem Leben anders!« Er sagte leise: »Valeries wegen … und dann … Wissen Sie, ich hatte plötzlich das Gefühl, daß ich mich so befreien konnte von meiner großen Schuld.«

»Schuld?«

»In der Partei zu sein. Nein, nein, widersprechen Sie nicht, es war immerhin schon so, wie Valerie sagte. Nicht Heil schreien und nicht flennen vor Begeisterung hätte man sollen am Anfang, dann wäre einem schon am Anfang klargeworden, was das für Menschen waren, was da auf uns zukam …« Nach einer Pause fuhr er fort: »Valerie rief bereits am nächsten Tag diesen Doktor Forster an. Für den Samstag bestellte er sie. In der Zwischenzeit dachten wir uns eine Geschichte aus, Valerie und ich. Die hat sie dem Anwalt dann erzählt.« Landau lachte. »Gott, waren wir naiv!«

»Naiv?«

»Nicht die geringste Ahnung hatten wir, wie so ein Prozeß verlief. Nicht die geringste Ahnung hatten wir, was da auf uns zukam … Aber ich muß jetzt fort, wirklich!«

»Gewiß. Sagen Sie mir noch eines: Hat Frau Steinfeld den Prozeß gewonnen oder verloren?«

Sehr hoch hob sich Landaus Schulter, sehr schief legte sich sein Kopf. Er antwortete sehr leise: »Sie hat ihn gewonnen und verloren.«

»Was heißt das?«

»Das kann ich Ihnen jetzt nicht erklären. Sie müssen sich schon die ganze Geschichte anhören.«

»Also gut. Aber etwas anderes werden Sie mir doch sagen können: Was ist mit Heinz geschehen?«

Wieder sehr leise antwortete Landau: »Er vertrug sich nicht mehr richtig mit seiner Mutter, es wurde immer schlimmer. Die Nazis überlebte er. Aber dann, 1947, starteten die Kanadier ein großes Einwandererprogramm. Und da meldete er sich sofort und ging nach Quebec. Ein Jahr später lief er in ein Auto hinein … Er war sofort tot.«

»Und Paul Steinfeld?«

»Der starb knapp nach Ende des Krieges, in England.«

Und wieder die Lügen, dachte Manuel. Jedesmal, wenn ich diese Frage stelle, belügt man mich. Warum? Werde ich jemals die Wahrheit erfahren?

»Wie traurig«, sagte Manuel.

Er brachte seinen Besucher bis zum Lift, dann kehrte er in den Salon zurück. Hier saß er lange, während es dunkel wurde im Raum, und dachte an seinen Vater.

Wenn sich mit Hilfe des Hofrats Groll herausstellte, daß es diesem Karl Friedjung, dem Direktor der Chemie-Staatsschule, wirklich gelungen war, bei Kriegsende unterzutauchen, wenn sich weiter beweisen ließ, daß dieser Karl Friedjung in Buenos Aires gelandet und den Namen Dr. Raphaelo Aranda angenommen hatte, dann war er, Manuel, der Sohn eines österreichischen Nazis, der den Anstoß zu jenem Verzweiflungsprozeß Valeries gegeben hatte.

Aber der Dr. Raphaelo Aranda war, das stand nun außer Zweifel, auch in eine Spionageaffäre verwickelt gewesen.

Warum hatte Valerie Steinfeld ihn getötet?

Aus politischen Motiven, selber verstrickt in die Affäre? Oder aus persönlichen – den Mann, der Unglück über ihr Leben gebracht hatte und der nun, durch einen Zufall, auf den sie ein Vierteljahrhundert gläubig gewartet hatte, noch einmal ihren Weg kreuzte, damit sie Rache nehmen konnte?

Oder mußte sein Vater aus beiden Gründen sterben?

Oder aus einem ganz anderen?

Gleichviel: Es war nicht mehr der wunderbare Mann, an den Manuel noch vor zwei Tagen im Keller des Gerichtsmedizinischen Instituts voll Trauer und Stolz gedacht hatte. Das würde er niemals wieder sein – falls nicht ein Mirakel geschah und sich alles, alles als falsch erwies, was Manuel bisher entdeckt hatte. Ach, aber ein solches Mirakel gibt es nicht, dachte er.

Zwei Tage! Zwei Tage haben genügt, lebenslange Bewunderung, Liebe und Vertrauen zu einem Menschen zu zerstören.

Manuel fühlte sich plötzlich todmüde, am Ende seiner Kraft.

Er dachte an Irene Waldegg und an den Freund, mit dem sie verabredet war, und dann dachte er schnell an etwas anderes, schaltete alle Lichter im Appartement ein und saß danach wieder reglos da, reglos …

Manuel Aranda blieb an diesem Abend im Hotel. Er aß im Speisesaal, verbrachte noch eine Stunde in der Bar, ging schließlich wieder nach oben, und als er lag, häuften sich neben seinem Bett Zeitungen, die er bestellt hatte, zu Bergen. Es waren sämtliche Blätter, die, zuerst als Aufmacher, später kleiner, Berichte über den rätselhaften Mord und Selbstmord in der Buchhandlung Landau veröffentlicht hatten. Manuel las sie alle. Er fand nicht einen Satz, nicht ein Wort, das ihn weitergebracht, das die Finsternis, durch die er seinen Weg entlangtappte, erhellt hätte, eine einzige Sekunde lang.

Knapp nach elf Uhr läutete das Telefon auf dem Nachttisch.

Groll meldete sich.

»Ja … ja, Herr Hofrat?«

Manuel fuhr in seinem Bett auf.

»Haben Sie schon geschlafen?«

»Nein.«

»Wir haben etwas gefunden, das Sie sehr interessieren dürfte.«

Manuel fragte atemlos: »Betrifft es Karl Friedjung?«

»Ja.«

»Sie wissen, wo er ist?«

»Wir wissen, wo er ist«, sagte der Hofrat Groll.

22

»Wo ist Friedjung?« fragte Manuel, außer Atem. Seinen Mantelkragen hochgeschlagen, stand er im Büro des Hofrats Groll, den er mit schnellem Händedruck begrüßt hatte. Ein dritter Mann, der eine Hornbrille trug und einen traurigen, mutlosen Eindruck machte, lehnte hinter Groll. Der Inspektor Ulrich Schäfer hielt Papiere in der Hand. Er hatte, bedrückt wie stets, Manuel zugenickt, als dieser hereingestürmt war.

»Sagen Sie es Herrn Aranda, Schäfer«, forderte Groll den tristen Inspektor, einen der fähigsten Männer seiner Abteilung, auf.

»Ettinghausenstraße eins«, erklärte Schäfer trübe. Er hatte am Nachmittag mit dem Chefarzt des Sanatoriums in Baden bei Wien telefoniert. Freitags fuhr er sonst immer hinaus und sah den Professor persönlich, heute war er zu beschäftigt gewesen. Die Stimme des Arztes hatte voll jener Zuversicht geklungen, die Schäfer seit einer Ewigkeit kannte und haßte: »Ihre Frau hat gerade eine schlechte Strähne. Das wird sich wieder bessern, glauben Sie mir, Herr Inspektor. Sie wissen doch, die Multiple Sklerose ist eine sehr schwere Krankheit. Wir müssen glücklich sein – es grenzt an ein Wunder! –, daß ihre Frau noch die Kraft …« Er hatte sich schnell verbessert: »… daß Ihre Frau die Kraft besitzt, so gegen sie anzukämpfen. Zwei, drei Wochen, und sie hat die Krise überwunden.«

Ja, hatte Schäfer gedacht, zwei, drei Wochen, und Carla hat die Krise überwunden und kann sich dann vielleicht nicht einmal mehr aufrichten im Bett und sitzen ohne Stütze. Er war sehr unglücklich an diesem Abend. Das alles konnte noch viele Monate, Jahre dauern, und das Geld ging zur Neige. Was geschah, wenn er den teuren Aufenthalt Carlas nicht mehr zu bezahlen vermochte?

»Ettinghausenstraße eins, wo ist das?« fragte Manuel hastig.

»Im Neunzehnten Bezirk. Beim Kaasgraben. Friedjungs Frau haben wir Ettinghausenstraße elf gefunden. Ich war dort. Ich habe mit ihr gesprochen. Eine alte Dame. Zweiundsiebzig. Aber noch ganz gesund und munter«, sagte Schäfer bitter. Carla war achtundzwanzig.

»Und Friedjung … haben Sie mit dem auch gesprochen?« Manuels Worte kamen abgehackt.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Weil man mit Toten nicht sprechen kann«, sagte der Hofrat Groll. »Ziehen Sie Ihren Mantel aus, Herr Aranda. Ja, werfen Sie ihn einfach auf das Sofa.« Er rauchte wieder eine Virginier.

»Er ist tot?« Manuel sank auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.

»Ja.«

»Aber Sie sagten doch, er lebt Ettinghausenstraße eins!«

»Nein, das hat Inspektor Schäfer nicht gesagt. Er sagte, dort sei er.«

»Was heißt das?«

»Ettinghausenstraße eins ist die Adresse einer Kirche. Bei ihr liegt ein Friedhof. Wegen Überfüllung seit langem geschlossen. Nur noch in den Familiengräbern ist Platz. Die Friedjungs wohnen schon seit drei Generationen in der Ettinghausenstraße elf. Sie haben hinter der Kirche – ›Maria Schmerzen‹ heißt sie – so ein Familiengrab. Deshalb konnte Frau Friedjung ihren Mann auch dort bestatten lassen, in ihrer unmittelbaren Nähe.«

»Wann?« fragte Manuel.

»Wann, Schäfer?« fragte Groll.

Der traurige Inspektor blätterte in seinen Papieren.

»Am 27. Februar 1945«, sagte er dann.

»Am …« Manuel konnte nicht weitersprechen.

»Sie haben schon richtig gehört«, sagte Groll. Er hatte wieder seine Jacke ausgezogen, die Weste über dem Bauch geöffnet und den Krawattenknoten herabgezerrt. »Ich habe Schäfer mit der ganzen Sache beauftragt«, sagte der rundliche Hofrat und strich durch sein Silberhaar. »Ich wollte, daß Sie schnell und erschöpfend Auskunft erhalten und daß die Sache unter uns bleibt. Schäfer war im Einwohnermeldeamt – da fing er an –, er klapperte eine Masse falscher Friedjungs ab, bevor er die richtige Witwe fand, er war im Magistrat für den Neunzehnten Bezirk und ließ sich den Totenschein und die Eintragungen in den Registern zeigen, er sprach mit dem Pfarrer von ›Maria Schmerzen‹, und er hat mit einer Minox alle Daten fotografiert, überall beglaubigte Bescheinigungen verlangt – er war sehr fleißig.«

»Ich danke Ihnen«, sagte Manuel. Ihm war wirr im Kopf. Er hatte sich, bemerkte er jetzt, schon fast an den Gedanken gewöhnt, daß Friedjung vor Kriegsende nach Argentinien geflüchtet und sein Vater war. Idiot, sagte er nun zu sich selbst, idiotischer Idiot! Also doch ein reiner Spionagefall. Und Valerie Steinfeld tötete meinen Vater im Auftrag von – von wem? Amerikanern? Russen? Franzosen? Albanern? Chinesen? Ich muß achtgeben, daß ich nicht verrückt werde!

»… 25. Februar 1945, gegen Mittag, ein schwerer Angriff amerikanischer Bomber statt«, klang die Stimme Schäfers an Manuels Ohr. Er nahm sich zusammen. Der Inspektor breitete Papiere vor ihn auf den Schreibtisch, unter dessen großer Glasscheibe das plattgepreßte, grün-silberne Ginkgo-Blatt lag, wies auf mit Hand oder Maschine geschriebene Daten, Namen, Zeiten, Anmerkungen. »Besonders schwer betroffen wurden der Zweite, der Zwanzigste und der Einundzwanzigste Bezirk. Schäden entstanden auch in der Innenstadt und in den nordwestlichen Vororten. Die Staatsschule für Chemie wurde bei diesem Angriff völlig zerstört …«

Davon hatten die Barrys gesprochen, erinnerte Manuel sich.

»Es kamen fünfunddreißig Menschen ums Leben – achtundzwanzig Studenten, sieben Lehrer, darunter Karl Friedjung. Sie saßen alle in dem linken Luftschutzkeller des Gebäudes. Eine Bombe durchschlug das oberste Stockwerk, explodierte in der Mitte, und der linke Keller stürzte teilweise ein. Die Leichen wurden mühsam geborgen … Hier der Bericht der Rettungsmannschaft.«

»Das heben Sie heute noch auf?« Manuel starrte auf drei stark vergrößerte Fotografien von vergilbten Blättern.

»Es war ein öffentliches Gebäude. Da gibt es ein Archiv.« Schäfer sprach leise und beklommen. »Einhundertneunundzwanzig Lehrer und Studenten in dem andern, rechten Keller überlebten, zum Teil verletzt. Im linken Keller überlebte niemand. Die Leichen waren stark verstümmelt …«

»Wie konnte man ihre Identität nachweisen?«

»Durch ihre Personaldokumente, die sie bei sich trugen, und durch ihre Angehörigen. Hier, der polizeiliche Bericht, hier der Bericht des Notarztes. Aus dem polizeilichen Bericht geht hervor, daß Frau Friedjung ihren Mann identifizierte. Der betreffende Tote hatte auch seine Dokumente … Ich fragte Frau Friedjung heute noch einmal. Sie war und ist ihrer Sache ganz sicher. Am 27. Februar 1945 wurde ihr Mann dann hinter der Kirche ›Maria Schmerzen‹ beigesetzt.«

»Was macht Frau Friedjung jetzt?«

»Sie hat die untere Etage der Villa vermietet. Und sie erhält eine Rente. 2115 Schilling und 30 Groschen. Hier, bitte.« Ein neues Papier. »Es sagten damals übrigens auch noch andere Lehrer und Studenten aus, daß dieser Tote Karl Friedjung, ihr Direktor, sei. Es gibt keinen Zweifel. Das ist eine Aufnahme des Grabes.«

Es war eine sehr gute Aufnahme. Man konnte sogar die kleinen Inschriften auf dem großen Stein lesen. Danach wurde Karl Friedjung am 2. April 1904 geboren. Das hieß, er war bei seinem Tode einundvierzig Jahre alt gewesen …

Und mein Vater, dachte Manuel, wurde 1908 geboren. Am 25. August. Da haben wir immer seinen Geburtstag gefeiert. Natürlich, wenn er mit gefälschten Dokumenten lebte … Hör auf! sagte Manuel zu sich. Hör sofort auf! Dein Vater war nicht Friedjung, daran ist nicht zu rütteln!

»Das wäre alles, Schäfer«, sagte Groll. »Ich danke Ihnen sehr für Ihre gute Arbeit. Gehen Sie nun nach Hause, Sie werden todmüde sein. Die Papiere lassen Sie hier, damit Herr Aranda sie in Ruhe ansehen kann.«

»Jawohl, Herr Hofrat.« Schäfer verabschiedete sich, höflich und traurig.

»Ich danke Ihnen auch«, sagte Manuel.

»Es freut mich, wenn ich helfen konnte«, antwortete der Inspektor.

»Das haben Sie. Wir dürfen jetzt eine Möglichkeit in diesem Fall mit Gewißheit ausschließen«, sagte Manuel, und der Hofrat nickte.

Inspektor Ulrich Schäfer verließ das Büro seines Chefs. Mit einem Volkswagen fuhr er heim. Er wohnte im Siebenten Bezirk, in der Seidengasse, ganz nahe der Neubaugasse. Zwei Drittel aller Häuser Wiens sind älter als hundert Jahre. Das Haus, in dem Schäfer wohnte, gehörte zu diesen ehrwürdigen, aber heillos unmodernen Gebäuden. Es war wenigstens noch gut erhalten. Aber es gab keinen Lift, keine Zentralheizung. Seit langer Zeit lebte Schäfer allein hier – ohne Carla …

In dieser Nacht sperrte er die Wohnungstür auf, trat in die frostige Diele, bückte sich mechanisch nach der Post, die durch den Briefschlitz auf den Fußboden gefallen war, und sah sie durch. Rechnungen. Rechnungen. Von Fachärzten. Laboratorien für Blut- und Serumuntersuchungen, vom Sanatorium in Baden. (Er wagte gar nicht, sie gleich zu öffnen.) Der farbenprächtige Prospekt einer Gesellschaft, die höchst preiswerte Luxus-Bungalows an der Costa Brava offerierte. Ein Bankauszug. Eine Vermählungsanzeige von Leuten, an die er sich nicht erinnerte. Und ein blaues, billiges Kuvert, das weder Adresse noch Briefmarke trug. Jemand mußte es durch den Schlitz geworfen haben. Schäfer überlegte kurz, dann riß er den Umschlag auf und entfaltete das graue, dünne Blatt Papier, welches sich darin befand.

Aus lauter ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben waren diese Worte auf den Bogen geklebt worden:

sIE HaBeN SoRGeN eiNe krANke FrAU nICht

mEhR vIel gELD wAs soLL werDEn? WiR

HelFEN GErne weNN Sie unS heLFen Falls SIe

an EINzeLheiTEn interessIERT sind laSSen Sie

koMMenden DienStaG iM »KuRieR« uNtEr

»VErschIEdenes« dieSE AnzeiGE erScheiNen:

orCHesterMusiKer erTeilt GeiGen-

UnTerRicht KomMt ins HaUs

ZuschRiFten Unter ›pAGaniNi 500‹

an Die ExpediTion.

SiE hÖren dann WeiteREs von Uns WeNN sIE

PoLIZEi oder eIneN dRitTen beNachrichtigEN

werDEn SiE es sEhr bereUen.

Der Inspektor Ulrich Schäfer ging in Mantel und Hut, die Handschuhe noch an den Fingern, schnell in das große Wohnzimmer, machte Licht und hob den Hörer des Telefons, um Hofrat Groll anzurufen und ihm von dem anonymen Schreiben sofort Mitteilung zu machen. Er hatte drei Ziffern gewählt, da brach er ab, starrte den Brief an und ließ danach den Hörer langsam wieder sinken. Inspektor Schäfer stand im hellen Licht einer starken Deckenlampe reglos da und konnte, wie es schien, die Augen nicht mehr von dem Papier mit den aufgeklebten Buchstaben nehmen.

23

»… und das ist alles, was ich inzwischen herausbekommen habe«, schloß Manuel. Er hatte Groll, während Schäfer heimgefahren war, und noch lange Zeit weiter von seinen Erlebnissen berichtet. Groll hatte rauchend und schweigend zugehört. Schwer und massig saß er hinter seinem Schreibtisch. Es war 1 Uhr 15.

»Alles läuft also mehr und mehr auf die Annahme der Staatspolizei hinaus, daß Ihr Vater ausschließlich in einen Spionagefall verwickelt und ausschließlich deshalb ermordet worden ist«, sagte Groll nun.

»Von einer alten Frau?« rief Manuel. Er griff sich an die Stirn. »Ich kann das nicht begreifen! Ich kann das nicht glauben!«

»Es bleibt Ihnen kaum etwas anderes übrig«, sagte Groll. »Was Schäfer herausgefunden hat, ist hieb- und stichfest. Karl Friedjung ist 1945 ums Leben gekommen. Also kann ihn Frau Steinfeld nicht 1969 aus irgendwelchen Rachegefühlen vergiftet haben.«

»Aber was sie auf dem Tonband sagte … daß sie so lange gewartet hat … und all das andere …«

»Sie war schwer betrunken, schwer erregt. Nicht zurechnungsfähig.«

»Es gibt da auch noch andere Dinge, Herr Hofrat ! Das Benehmen ihrer Schwester zum Beispiel!«

Groll sagte: »Es kann durchaus sein, daß Frau Steinfeld ein Geheimnis hatte – die Schwester will es Ihnen ja nennen. Trotzdem, das sehe ich jetzt klar: Der Spionagefall und der Prozeß, den Frau Steinfeld geführt hat, das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Sie haben nichts miteinander zu tun. Lassen Sie sich nicht irreführen. Der Prozeß – der liegt ein Vierteljahrhundert zurück. Weiß Gott, was davon noch in die Gegenwart reicht. Ich will gar nicht abstreiten, daß so etwas der Fall sein könnte. Aber hier haben wir nur Erzählungen und Geständnisse aus zweiter Hand – wer sagt uns, daß sie auch stimmen? Die Spionagegeschichte, das ist etwas anderes! Da haben wir Tatsachen, aus erster Hand! Diese Geschichte stimmt – und zwar ist sie so verlaufen, davon bin ich auch überzeugt, wie der Albaner sie Ihnen dargelegt hat.«

»Zagon! Was ist mit ihm? Den habe ich ganz vergessen!« rief Manuel. Er hatte auch vergessen, dem Hofrat Groll von dem Brief Daniel Steinfelds, Paul Steinfelds Bruder, zu erzählen, er war zu aufgeregt.

»Ich habe Zagon heute nachmittag besucht – in der Psychiatrie«, sagte Groll.

»Und?«

Der Hofrat zuckte die Schultern.

»Die Ärzte haben sich davon überzeugt, daß er simuliert. Morgen früh wird er entlassen. Ein Wagen der Botschaft – sie hat offiziell Polizeischutz angefordert und wird ihn auch erhalten – holt Zagon direkt von der Klinik ab und bringt ihn zum Flughafen.«

Manuel sagte: »Und das alles soll Zufall sein? Wie das ineinandergreift! Wie sich das dauernd ergänzt und kreuzt – die Geschichten über den Prozeß, die Geschichte dieses Spionagefalls! Was mir passiert, was Fräulein Waldegg passiert – Zufälle, Zufälle? So viele Zufälle gibt es nicht, Herr Hofrat!«

»Augenblick! Den Zufall, den verwechseln wir zu oft und zu gern mit dem völlig Regellosen. Aber der Zufall hat seine Gesetzmäßigkeiten, lieber Herr Aranda.«

»Wo sind Gesetzmäßigkeiten hinter dem, was ich erlebe, was meinem Vater den Tod brachte, was Frau Steinfeld den Tod brachte?«

»Ich werde es Ihnen erklären«, sagte Groll freundlich. »Und zwar, denke ich, am Beispiel der Sterbetabellen der Lebensversicherungsgesellschaften.« Er beleckte den Zeigefinger und glättete ein Blatt der Virginier, das sich gelöst hatte. »In diesen Tabellen steht zum Exempel zu lesen, daß von den – sagen wir – im Jahre 1895 in Österreich Geborenen im Jahre 1969 – na, irgendeine Zahl! – 9532 sterben werden. Zufällig sterben werden. Und mit ein paar Menschen mehr oder weniger sterben dann tatsächlich so viele. Bloß, wer vom Jahrgang 1895 stirbt, ob der Huber oder der Platschek – das sagt die Tabelle nicht. Der Zufall wird von statistischer Gesetzmäßigkeit registriert.«

»Was hat das alles mit …«, begann Manuel.

»Warten Sie, noch einen Moment. Der Platschek, sagen wir einmal, stirbt nicht. Der Huber, sagen wir, stirbt – als einer von den 9532 Menschen seines Jahrgangs. Aber: Was der Familie Huber nun als schrecklicher Zufall erscheinen muß, nämlich, daß der Großvater von einem Auto überfahren wurde, das erweist sich, sobald es eingetreten ist und man die Ereignisse Schritt um Schritt rückwärts aufdröselt, als eine Kette von Ursachen und Wirkungen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Schauen Sie: Großvater Huber ist – immer alles angenommen – um 17 Uhr 35 aus dem Haus gegangen. Das tut er täglich, um seinen Freund Platschek zu treffen – in einem kleinen Wirtshaus, wo sie ihre ein, zwei Viertel trinken. Platschek ist Großvater Hubers Freund: Im Ersten Weltkrieg war er bei derselben Batterie. Zur gleichen Batterie kamen die beiden, weil sie vom gleichen Jahrgang sind und im gleichen Bezirk wohnten. Das wieder hat seine Ursache darin, daß auch ihre Eltern schon in der – na, zum Beispiel – in der Josefstadt gewohnt haben. Und nun kann man, wenn man Zeit und Lust hat, zurückverfolgen, warum die Eltern in der Josefstadt lebten – und so fort und fort, falls die Urkunden nicht schweigen, Jahrzehnt um Jahrzehnt, Jahrhundert um Jahrhundert.« Groll klopfte auf die Glasplatte. »Nicht anders ist es mit dem Autofahrer – nennen wir ihn Zauner –, der den tödlichen Unfall verursacht hat, indem er Großvater Huber überfuhr. Zauner raste um 16 Uhr 30 los, weil er mit seinem Mädchen verabredet war – und diese Bekanntschaft hat wieder ihre Geschichte, in der eine Ursache die Wirkung der nächsten war. Fangen Sie an, zu verstehen?«

»Ich glaube ja«, sagte Manuel.

»Schön. Und zu dem Unfall kam es, weil der verliebte junge Zauner sich verspätet hatte und zu schnell fuhr. Und er hatte sich verspätet, weil er zu lange im Büro saß. Und da saß er zu lange, weil sein Vorgesetzter noch etwas von ihm wollte, weil eine Reklamation eingegangen war, weil eine Lieferung sich verzögerte, weil, weil, weil. Deshalb mußte also Huber sterben, scheinbar durch einen unglücklichen Zufall, und sein Freund Platschek durfte weiterleben, scheinbar zufällig.«

Manuel sagte: »Ursache und Wirkung! Wenn dieses System … wenn diese …«

»Kausalketten.«

»Wenn diese Kausalketten sich immer anwenden lassen, dann hat also doch alles im Leben seine ›Bestimmung‹, wie manche Leute behaupten. Daß ich hier sitze und nicht in Buenos Aires; daß mein Vater tot ist; daß Valerie Steinfeld tot ist; daß ich Nora Hill kennengelernt habe; daß ich jetzt, anstelle meines Vaters, in einen Spionagefall verwickelt bin; daß Karl Friedjung im Luftschutzkeller gestorben ist; daß ich Sie kennengelernt habe; daß ich versuche, die Wahrheit zu finden …«

»All das, und hunderttausend Dinge mehr, das sieht ganz nach ›Bestimmung‹ aus, ja«, sagte Groll.

»Und stimmt es nicht?«

»Nein, so stimmt es nicht. Heute wissen wir das – und zwar aus den Erkenntnissen der Atomphysik. Ein Gramm Radium zerfällt unter Alpha-, Beta- und Gammastrahlung derart, daß nach – ich glaube – 1580 Jahren nur noch ein halbes Gramm da ist. Dabei zerfällt eine ganz bestimmte Menge von Radium-Atomen. Aber welches Atom jeweils zerfällt, das wissen wir nicht. Hier geht es nicht anders zu als bei den Sterbetabellen: Zwar ist der Atomzerfall ebenso wie das Sterben kausal bedingt, aber nicht determiniert, sondern faßbar nur nach den statistischen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit. Sie müssen also sehr genau unterscheiden zwischen Kausalität und Determinismus!«

Manuel sah Groll in einem Gemisch von Bewunderung und Erschrecken an, während er sagte: »Und wenn nun Ihr Großvater Huber an jenem Tag aus irgendeinem Grund nicht zum Dämmerschoppen gegangen wäre? Wenn mein Vater aus irgendeinem Grund am Abend des neunten Januar nicht in die Buchhandlung zurückgekehrt wäre, um sich das Buch abzuholen, das er bestellt hatte? Wenn er es gar nicht bestellt hätte? Wenn er …«

Groll unterbrach: »Sie reden vom freien Willen.«

»Ja! Vom freien Willen! Den haben wir doch – oder?«

»Wir haben ihn«, sagte Groll, »aber mit dem freien Willen ist es nicht anders als mit dem Zufall.«

»Was heißt das?«

»Der menschliche Wille ist in der Tat frei.« Wieder fiel Asche auf Grolls Weste. Er bemerkte es nicht. »Das hat alles zum erstenmal der große Physiker Max Planck erkannt und durchdacht. Sie kennen ihn natürlich, er hat mit seinen Forschungen über die Quantenphysik einen entscheidenden Beitrag zum Ende des deterministischen Weltbildes geliefert. Ja, sagte Planck, der menschliche Wille ist frei! In dem gleichen Augenblick aber, in dem eine Willensentscheidung so und nicht anders ausgefallen ist, kann ich wiederum eine Kausalkette nach rückwärts aufdröseln – und es stellt sich heraus, warum ich mich so und nicht anders entschieden habe!«

Nach einer Pause fragte Manuel: »Wird sich je herausstellen, warum mein Vater, warum Valerie Steinfeld, warum sie alle, wir alle, uns so und nicht anders entschieden haben – und entscheiden?«

»Es wird sich herausstellen«, antwortete Groll, die Zigarre ausdrückend. »Es muß sich herausstellen, wenn man genügend forscht. Womit ich nicht sagen will, daß es immer gut ist, zu sehr zu forschen. Nicht nur nicht gut – falsch und gefährlich kann es sein.«

»Wie in meinem Fall«, sagte Manuel mit erhobener Stimme. Groll zuckte die Schultern.

»Wie in Ihrem Fall, ja. Warum sehen Sie mich so böse an? Sie haben sich ja schon entschieden, zu forschen, bis Sie die Wahrheit kennen! Die Weichen sind gestellt. Ihr freier Wille läßt Sie weitersuchen, Sie können nicht anders, Sie wollen nicht anders …«

»Nein, ich kann und will nicht anders!« rief Manuel.

»Ja«, sagte der Hofrat. »Ich sehe es, ich höre es. Aber Sie haben auch mich begriffen, nicht wahr?«

»Ich glaube.«

»Zufall und Notwendigkeit«, erklärte Groll, »freier Wille und Zwang – sie sind untrennbar verbunden zu einer Einheit in der Polarität …« Der untersetzte, bescheidene und einsame Chef der Mordkommission senkte den Kopf und blickte auf die Glasplatte seines Schreibtisches und das Blatt darunter mit einem Ausdruck, als fürchte er die Zukunft und alles, was sie noch bringen würde.

24

Die ›Thermopylae‹ wurde 1868 in Schottland gebaut und fuhr als Schnellsegler für den Tee-Handel auf der China-Route. Nun stand ihre Nachbildung auf einem Regal des Bastelzimmers, das sich der vierundsiebzigjährige Anwalt Dr. Forster in einer Turmstube seiner efeubewachsenen Villa eingerichtet hatte. Er bewohnte das obere Stockwerk, sein Sohn und dessen Familie lebten in den unteren beiden Etagen. Das Haus war groß, 1890 erbaut. Es stand in einem verwilderten Garten mit vielen uralten Bäumen. Bäume, alle schwer mit Schnee beladen, säumten auch die Ränder der Sternwartestraße, die im vornehmen, stillen Viertel des Wiener ›Cottage‹ lag.

Forster hatte Manuel zuerst in die helle Bastelstube geführt, welche Fenster nach allen Seiten und einen großen Arbeitstisch besaß. Die ›Thermopylae‹ war 91 Zentimeter lang und völlig originalgetreu im Maßstab 1:96 nachgebaut, Forster präsentierte sie voll Stolz. Er war ein imponierender großer, schlanker und für seine Jahre erstaunlich kräftiger Mann mit immer noch schönen Händen, einem schmalen Gesicht und grauen Augen. Nur noch ganz wenig kurzes, graues Haar hatte er auf dem Schädel, und er besaß nur noch ein Ohr, das linke. Die halbe rechte Gesichtshälfte war verwüstet, zerfleischt, schlecht vernarbt und rot. Forster mußte einen schweren Unfall erlitten haben. Dort, wo sich das rechte Ohr befunden hatte, sah man eine dicke, wulstig zugewachsene, zerklüftete Narbe. (»Ich höre sehr gut, Herr Aranda, solange ich nur mit einem Menschen rede und sonst keine Geräusche, Stimmen, Musik oder Lärm da sind. Wenn das der Fall ist, muß man allerdings links von mir sitzen …«)

Der Anwalt trug einen grauen Flanellanzug, eine Weste mit buntem Schottenmuster, ein weißes Hemd, eine schwarze Strickkrawatte und schwarze Slipper. Er war richtig in Eifer geraten beim Vorzeigen seiner Schätze. Auf den Regalen stand mindestens ein Dutzend weiterer Schiffe, auf dem vollgeräumten Arbeitstisch war ein halb fertiges im Bau, wie in einer richtigen Werft aufgebockt.

»… hier baue ich gerade die ›Cutty Sark‹. Einer der größten Segler der Welt war das, ein besonders schönes Schiff! Schwarz der Rumpf, weiß die Segel!«

Es klopfte.

Eine dicke, rundgesichtige Haushälterin mit schwarzem Kleid und weißer Schürze trat ein.

»Herr Doktor, ich hab jetzt den Kaffee in Ihr Zimmer gebracht.«

»Wir kommen schon!« Der alte Anwalt mit dem fehlenden Ohr erklärte:

»Unsere gute Anna! Ab und zu muß sie hier aufräumen. Zuerst war sie entsetzt. Jetzt hat sie mir verziehen.«

»Sind doch so schön, die Schiffe, die der Herr Doktor macht«, sagte die Anna errötend und verschwand.

Forster sah Manuel an.

»Schiffe macht der Herr Doktor, nur noch Schiffe. Seit Jahren. Ich weiß, was Sie denken«, murmelte er.

»Was denke ich?«

Der Anwalt lächelte.

»Er möchte fort, der alte Mann, denken Sie. Weit, weit fort von hier möchte er, aber das geht nicht mehr, und so baut er seine Traumschiffe, die einst so weit, weit fort von hier, ihre Bahn zogen. Stimmt’s?«

»Ich … nein, also wirklich, das habe ich nicht gedacht«, sagte Manuel, der genau das gedacht hatte.

»Aber ja doch, man sieht es Ihnen an. Und es ist auch richtig. Ich möchte weg von hier, schon lange, und immer mehr, je älter ich werde und je unmöglicher es ist.«

»Warum?«

»Diese Stadt«, sagte Forster. »Und diese Menschen. Ich habe meine Erfahrungen gemacht. Keine beglückenden. Eine herrliche Stadt ist Wien – wenn man weit weg von Wien sein kann. Dann hat man wahrscheinlich sogar Heimweh. Ich denke, ich hätte keines. Aber ich kann auch nicht weg. Gleich nach dem Krieg, da war es mir aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich. Dann mußte ich die Kanzlei wieder auf die Beine bringen und Geld verdienen – eine Frau und einen großen Sohn hatte ich. So vergingen die Jahre. Meine Frau ist gestorben, der Sohn hat die Kanzlei übernommen, ich bin alt geworden. Nun, wenigstens kann ich meine Schiffe noch bauen, wenn ich schon nicht mehr fortfahren kann, fort, fort, weit fort von hier …«

25

Ein Tisch in dem mit kostbaren Empiremöbeln eingerichteten Wohnzimmer war liebevoll gedeckt. Manuel betrachtete beklommen die so schrecklich entstellte rechte Gesichtshälfte Forsters, während der Anwalt Kaffee eingoß und die ›Mehlspeis‹ rühmte, die auf dem Tisch stand: »Das sind Topfenkolatschen, eine Spezialität der Anna. Hat sie eigens für uns gemacht. Bitte, greifen Sie zu!«

Von unten klangen plötzlich sehr gedämpft wilder Jazz und wilder Gesang herauf.

»Die Tochter meines Sohnes«, erklärte Forster. »Gibt eine kleine Party. Für lauter Beatles-Begeisterte. Ich bin ja auch begeistert von den Beatles. Sie?«

»Ich auch.«

»Großartig, was die machen, nicht?« sagte der Vierundsiebzigjährige.

»Das ist ›Yellow Submarine‹!« Er lauschte eine Weile, dann nickte er und sagte noch einmal: »Großartig, wirklich. Jetzt wollen wir zuerst in Ruhe jausen, dann erzähle ich Ihnen, was Sie wissen wollen – den Anfang davon jedenfalls. Sie haben doch Zeit?«

»Gewiß«, sagte Manuel. Alle Zeit von der Welt, dachte er traurig. Am Vormittag war er in die Möven-Apotheke gefahren, um Irene zu sehen und ihr die letzten Ereignisse zu berichten. Sie war sehr nervös und in Eile gewesen. Andauernd hatte sie aus ihrem kleinen Büro in den Verkaufsraum eilen und Kunden bedienen müssen, es herrschte Hochbetrieb an diesem Samstagvormittag. Irenes Augen waren wieder klar und groß, sie schminkte sich nicht mehr so sehr, aber sie machte einen außerordentlich irritierten Eindruck. Nach jeder Unterbrechung entschuldigte sie sich bei Manuel, doch er hatte das Gefühl, daß sie gar nicht richtig zuhörte und aufnahm, was er berichtete. Zuletzt war er von ihrer gereizten Stimmung angesteckt worden.

»Das ist hier wirklich nicht der rechte Ort! Wann kann ich Sie woanders sehen? Heute abend vielleicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Es tut mir leid, aber da geht es wieder nicht.«

»Wieder Ihr Freund?«

»Es ist …« Sie zögerte. »Es ist mein Verlobter«, sagte sie dann ernst und langsam. »Wir müssen uns heute abend noch einmal treffen. Bitte, verstehen Sie, Herr Aranda …«

»Aber selbstverständlich«, antwortete er und fühlte eine Woge unlogischen Zornes in sich aufbranden. Warum, zum Teufel, sollte Irene keinen Verlobten haben? Eine junge, schöne Frau! Es wäre unnatürlich gewesen, hätte sie keinen gehabt.

»Nicht daß ich Sie nicht sehen will! Ich bin doch brennend interessiert an allem! Aber gerade heute abend …«

»Gewiß.«

»Wir müssen uns aber sehen!«

»Wann immer Sie Zeit haben.«

»Jetzt sind Sie böse.«

»Ich? Überhaupt nicht. Wie käme ich dazu?«

»Doch, Sie sind böse, ich sehe es! Aber es geht nicht heute abend, es geht wirklich nicht. Morgen abend vielleicht … Ich weiß es noch nicht … Sie könnten zu mir kommen. Da hätten wir Ruhe. Ich kann noch nichts sagen … Darf ich Sie anrufen?«

»Jederzeit, selbstverständlich«, hatte er gesagt. Gleich darauf war er gegangen. Die Verabschiedung war wieder kurz und förmlich ausgefallen. Vorsicht, hatte er gedacht, während er in seinen Wagen stieg, ich muß nüchtern und vernünftig bleiben. Nur keine Gefühlsduselei – von wegen gemeinsamem Verlust und so. Ein fremder Mensch bin ich für Irene Waldegg, aus, Punkt. Ich mache ja einen Narren aus mir, wenn ich mir da etwas anderes vorstelle …

Die Jause bei Dr. Forster war vorüber, Anna hatte den Tisch abgeräumt und eine Brokatdecke daraufgelegt. Der Anwalt mit der dicken Narbe dort, wo einmal sein rechtes Ohr gewesen, holte einen Aktenumschlag und setzte sich wieder.

»Hier, sehen Sie.« Er hielt Manuel die dünne Mappe hin. Auf ihr stand mit großen Tuschbuchstaben: VALERIE STEINFELD. Und darunter, kleiner: BEGONNEN: 24. OKTOBER 1942. Der Mappenumschlag war fleckig. An den Rändern hatte sich ein wenig Schimmel angesetzt. Manuel sah, daß unter dem Wort BEGONNEN noch etwas stand. Er verdrehte den Kopf und las: BEENDET. Danach folgte ein Doppelpunkt. Darauf folgte nichts mehr.

»Beendet – kein Datum?« sagte Manuel.

»Kein Datum, nein.« Forster drehte den Kopf ein wenig seitlich, so daß sein linkes Ohr nach vorn kam.

»Ist der Prozeß denn nicht beendet worden?«

»Nicht von mir«, sagte Forster. »Ich … ich war in der letzten Phase verhindert … Ja, verhindert ist der richtige Ausdruck. Die Sache kam in andere Hände. Über den Schluß kann ich Ihnen darum nichts erzählen. Aber sehr viel über die Sache. Was Sie hier sehen, ist ein kleiner Bruchteil meiner Unterlagen. Im Archiv der Kanzlei haben die Mädchen bisher leider nur diese Mappe gefunden und darin einige Dokumente. Der Rest muß in anderen Mappen des Falles Steinfeld sein – oder in den Mappen anderer Mandanten. Knapp nach Kriegsende sind Männer in die Kanzlei eingedrungen und haben Prozeßakten, die sie nun belasteten, gesucht und vernichtet. Von diesen Männern wurde natürlich gewaltiges Durcheinander in dem Archiv und der Ablage angerichtet. Die Sekretärinnen meines Sohnes suchen weiter, Herr Aranda. Wir werden in den nächsten Tagen, so Gott will, alles beisammen haben. Sie müssen eben wieder zu mir kommen …«

»Gerne.«

»… denn ohne die Akten kann ich Ihnen nichts erzählen. Ich sagte ja schon: mein Gedächtnis! Nicht mehr das beste. Und dann die lange Zeit. Und was damals alles geschah. Nein, nein, ich brauche die Unterlagen. Aber wir werden sie finden. Und so bekommen Sie doch ein ziemlich vollständiges Bild …« Forster sah Manuel an. »Und wenn Sie genau Bescheid über alles wissen, wenn Ihnen alles klar ist, was geschehen ist und warum – dann fliegen Sie zurück nach Argentinien?«

»Ja, natürlich.«

»Beneidenswert«, murmelte der Anwalt. »Sie können Wien wieder verlassen …« Er räusperte sich. »Ich habe durchgelesen, was man mir bisher gebracht hat. Ich erinnere mich jetzt an Frau Steinfeld wieder sehr genau. Die arme Frau! Vollkommen verstört kam sie zu mir, ich sah es sofort, obwohl sie sich tapfer bemühte, einen mutigen und ruhigen Eindruck zu machen. Ich hatte gerade mehrere solche Fälle. Ich wußte, wie sich Mütter betragen. Ich empfand Mitleid mit ihnen allen. Die armen Frauen … und diese gottverfluchten Hunde!« Forsters Stimme wurde plötzlich laut und leidenschaftlich. »Hier, in dieser Märchenstadt, flogen die ersten Synagogen in die Luft! Im ganzen Großdeutschen Reich wurden hier die Judenverschleppungen am schnellsten und brutalsten organisiert. Bei uns hatte der Judenhaß immer schon die osteuropäische Pogrom-Richtung. 1938, da war diese herrliche Stadt ein Tollhaus! Haben Sie jemals Wochenschau-Aufnahmen der Szenen gesehen, die sich auf dem Heldenplatz abspielten, als Hitler ankam? Ich habe sie gesehen. Ich werde sie nie vergessen! Die Begeisterungsfähigkeit meiner Landsleute in Ehren – aber das grenzte effektiv bereits an Wahnsinn! Oh, die übelsten Faschisten gab es bei uns! Und es gibt sie noch immer!«

Manuel dachte: Dieser Mann redet voll Haß und voll Verzweiflung, und er ist ganz gewiß ein integrer, anständiger und kluger Mensch – wie der Hofrat Groll. Was muß Dr. Forster erlebt haben, um so über sein Land zu reden, um so voller Sehnsucht fort, weit fort sein zu wollen von hier? Er sah den Anwalt an. Die vielen Narben in dessen rechter Gesichtshälfte glühten.

»Es ist schon wieder gut. Aber immer, wenn so etwas …« – er wies auf die Mappe – »… wieder vor mir liegt, wenn ich mich erinnere …«

Er schlug den Umschlag auf.

»Beginnen wir also«, meinte Forster. »Das sind die ersten Unterlagen, wie gesagt. Hier, die allererste! Ich habe den Inhalt von Besprechungen mit Klienten stets sofort einer Sekretärin diktiert, noch in Gegenwart des Klienten.« Forster hob ein Blatt, das gelb vor Alter und eng beschrieben war mit den hohen Typen einer unmodernen Maschine. Er las: »24. Oktober 1942, 10 Uhr 30. Es erscheint Frau Valerie Steinfeld, geboren 6. März 1904 zu Linz, verheiratet, römisch-katholisch, wohnhaft Wien XVIII., Gentzgasse 50 A, und erklärt …«

26

»… daß ich meinen Mann vor vielen Jahren mit einem gewissen Martin Landau betrogen habe. Die Folge dieser Verbindung war ein Kind, mein Sohn Heinz. Ich möchte gerne, daß Sie die Vertretung übernehmen, Herr Doktor, wenn ich jetzt vor Gericht gehe und einen Vaterschaftsprozeß führe.« Valerie saß Dr. Otto Forster im Büro seiner großen Kanzlei am unteren Ende der Rotenturmstraße gegenüber. Man sah den Donaukanal, der sich durch die Stadt zieht, und eine von vielen Brücken. Es herrschte starker Verkehr auf der Marienbrücke an diesem Samstag vormittag. Eine schier endlose Wehrmachts-Kolonne passierte eine überlebensgroße Figur der Mutter Gottes, die aus Bronze gegossen war und matt glänzte.

Soldaten mit ernsten, müden und verschlossenen Gesichtern saßen, dicht gedrängt, auf den Lastern.

Niemand hätte sich vorstellen können, daß alle Brücken über den Donaukanal knapp zweieinviertel Jahre später beim Kampf um Wien von zurückgehender SS ausnahmslos gesprengt werden sollten. Der große, schlanke Dr. Otto Forster mit dem schmalen Gesicht, den grauen Augen und den enganliegenden, wohlgeformten Ohren unterbrach durch eine rasche Bewegung einer seiner schönen Hände den Redestrom Valeries. »Ihr Mann heißt Paul Steinfeld?«

»Ja.«

»Ich kannte einen Paul Steinfeld.« – Vorsicht! – »Ein, hm, alter Klient … arbeitete bei einer Zeitung. Danach war er lange Radiosprecher, glaube ich …«

»Das ist mein Mann«, sagte Valerie. Sie biß sich auf die Lippe, eben noch rechtzeitig, denn sie hatte hinzufügen wollen: Darum komme ich zu Ihnen, er schickt mich!

Das ging natürlich nicht.

Der Anwalt mußte glauben, daß das, was sie erzählte, der Wahrheit entsprach. Wie sollte er sonst ihre Vertretung übernehmen? Das hatte sie alles genau mit Martin durchgesprochen. Valerie saß sehr aufrecht. Sie trug ein braunes Kostüm, die Jacke mit betonten Schultern, und einen gerade modernen Glockenhut aus Filz der gleichen Farbe. Das blonde Haar quoll unter dem Hut hervor.

»Ihr Mann!« Forster, in seinem zweireihigen Anzug mit dem Fischgrätenmuster, richtete sich auf. »Wir kannten uns lange …«

»Mein Mann hat oft Ihren Namen genannt.« (Das war das Äußerste.)

»Er ist Jude, nicht wahr?«

Valerie mußte schlucken.

»Ja«, sagte sie dann. Und fügte – auch das war mit Martin besprochen – hinzu: »Einer der Gründe wahrscheinlich, warum wir schon fast von Anfang an in unserer Ehe nicht harmonierten. Ich wollte es ja nicht wahrhaben. Meine Eltern hatten es mir prophezeit! Sie sagten …«

Forster winkte ab.

»Was ist mit Ihrem Mann geschehen, gnädige Frau?«

»Er emigrierte nach England. Sofort nach dem Anschluß.«

»Ich verstehe.« Forsters Gesicht blieb unbewegt. Auch er mußte das gleiche Spiel wie Valerie spielen. Hinter ihm, an der Wand, hing ein großes Bild – eine Rötelzeichung, darstellend junge Bacchanten in einem Weinberg. Der Anwalt zupfte an seinem rechten Ohr – das schien eine Angewohnheit von ihm zu sein. »Haben Sie Verbindung zu Ihrem Mann, gnädige Frau?«

»Jetzt? Im Krieg?«

»Nun ja, es ist unwahrscheinlich, aber es könnte doch möglich sein. Haben Sie?«

»Natürlich nicht!« (Mit Martin besprochen, alles besprochen.)

»Ich verstehe«, sagte Forster zum zweitenmal und dachte: Also wieder so ein Fall. Er fragte: »Und Ihr Mann? Ihm haben Sie gesagt, daß nicht er …«

»Der Vater von Heinz ist? Nein, das habe ich niemals zugegeben! Obwohl er mich immer wieder verdächtigte, ihn betrogen zu haben …« – natürlich, dachte Forster – »… und obwohl er mir immer wieder Szenen gemacht hat …« – na freilich, dachte Forster – »… habe ich es bis zuletzt energisch abgestritten!«

»Bis zuletzt, mhm.« Forster sah, daß Valerie vor Nervosität an einem kleinen Spitzentaschentuch zog und zerrte. Er half ihr – in diesem Fall war schnelles und direktes Handeln am Platz. »Das bedeutet, daß Ihr Sohn … wie alt übrigens?«

»Sechzehneinhalb.«

»… kein Mischling ist.«

»Deshalb will ich ja den Prozeß führen! Ich schäme mich so.« Wie ich das alles kenne, dachte Forster traurig. »Aber es muß sein. Jetzt muß es sein!«

»Warum muß es jetzt sein, gnädige Frau?« Forster sagte stets ›gnädige Frau‹ zu weiblichen Mandanten, er grüßte niemals mit ›Heil Hitler‹, auch seine Briefe unterschrieb er nicht so und auch nicht ›mit deutschem Gruß‹, sondern stets ›mit besten Empfehlungen‹ und ›Ihr ergebener‹ oder bei Frauen mit ›Handkuß, ergebenster‹.

Valerie war bereits voller Vertrauen zu diesem Mann, dessen Gesicht, dessen Stimme und dessen Augen aussahen, als hätten sie noch niemals das Gefühl der Angst verspürt. Sie berichtete, was Heinz in der Staatsschule für Chemie widerfahren war, und schloß: »Deshalb kann ich jetzt nicht weiter schweigen. Deshalb komme ich zu Ihnen. Es heißt, daß Sie auf solche Prozesse spezialisiert sind.«

»Heißt es das?« sagte Forster und dachte: Hat sich also auch schon herumgesprochen. Na, egal! Paul Steinfeld – was haben wir zusammen gelacht, was für Prozesse während seiner Zeitungszeit erlebt. Und jetzt sitzt seine Frau vor mir. Eine kleine Welt.

»Ja, das heißt es. Jedenfalls sagte es mir eine … eine Freundin. Und deshalb möchte ich Sie zum Vertreter haben. Es muß sein. Das finden Sie doch auch, nicht wahr?«

Er nickte.

»Ja, ich fürchte, gnädige Frau. Wenn Schirach bereits verständigt worden ist … Außerdem sind dauernd Pläne über die Behandlung von Mischlingen im Gespräch.«

Also doch, dachte Valerie. Also stimmt, was Nora Hill gesagt hat. Also weiß Paul mehr, als wir hier wissen.

»Solange der Prozeß läuft, ist Ihr Sohn aber geschützt.«

»Ja, das ist im Moment das Wichtigste. Sein Direktor, dieser Professor Friedjung, der ist nämlich …« Valerie brach ab, während sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus einer Tasche der Kostümjacke zog. In der Bewegung erstarrte sie, als sei ihr etwas eingefallen, murmelte einige unverständliche Worte und schob das Papier zurück.

»Was ist mit Professor Friedjung, gnädige Frau?«

»Ach nichts … Ich dachte an etwas Unwesentliches … Völlig verrückt!«

Forster sah sie grübelnd an. Was hatte diese Frau sagen wollen? Was war das für ein Papier? Er erfuhr es nicht.

Schnell sagte Valerie: »Nichts von Bedeutung … Geschützt, solange der Prozeß läuft, ja. Und dann? Wie groß sind die Chancen, daß man in einer solchen Sache gewinnt?«

»Das kommt auf mancherlei an.«

»Wie viele Prozesse haben sie schon gewonnen?«

»Einen«, sagte er. Und fügte, als er ihr Erschrecken sah, schnell hinzu:

»Aber die anderen laufen noch, und das ist die Hauptsache.«

»Ich verstehe nicht …«

»Es sind immer ziemlich komplizierte Prozesse. Sie können nicht Bescheid wissen, gnädige Frau. Zunächst einmal sind nicht Sie es, die Klage erheben darf.«

»Nicht ich? Wer denn?«

Forster zupfte an seinem rechten Ohrläppchen – der Stelle, an der Manuel Aranda im Januar 1969 den unteren Rand einer großen, wulstigen Narbe erblicken sollte.

»Ihr Sohn allein darf klagen, gnädige Frau.«

»Heinz?«

»Ja, Heinz. Und zwar wird er in seiner Klage fordern, daß ihm, wegen blutsmäßiger Abstammung, die eheliche Geburt abgesprochen wird. So heißt das. Warten Sie, langsam! Da er noch minderjährig ist, braucht er einen Vormund. Dieser Vormund werden Sie sein. Sie müssen sofort zum Amtsgericht Währing gehen und sich zur Vormünderin Ihres Sohnes bestellen lassen. Denn nur als Vormünderin Ihres minderjährigen, klagenden Sohnes darf ich Sie vertreten.« Forster lachte absichtlich laut, als er Valeries betroffenes Gesicht sah. »Juristenkram! Es kommt noch schöner! Wie bei jedem Prozeß gibt es auch hier so etwas wie einen Staatsanwalt, der unser Gegner ist und zu erreichen versucht, daß die Klage abgewiesen wird. Obwohl er selber die ›beklagte Partei‹ darstellt.«

»Wer ist das?« Valerie zerrte an dem Spitzentuch.

»Ein anderer Anwalt«, sagte Forster. »In Juristendeutsch: ›Ein zur Verteidigung der ehelichen Geburt und der blutsmäßigen Abstammung vor Gericht zu bestellender Kurator‹.«

»Aber das ist doch verrückt! Das Gericht setzt einen Anwalt ein, der unter allen Umständen beweisen soll, daß Heinz der Sohn eines Juden und nicht, wie in Wahrheit, der Sohn eines Ariers ist?« Valerie bekam es mehr und mehr mit der Angst zu tun.

»Das ist gar nicht verrückt, gnädige Frau. Wenn da niemand wäre, der bezweifelt, widerspricht, die Rolle des Ungläubigen, des ›Feindes‹ übernimmt, dann wären diese Prozesse ein Kinderspiel, dann hätte man drei davon in einer Stunde erledigt – zur Zufriedenheit der Mütter.«

»Heinz ist der Sohn von einem Arier und nicht von meinem Mann!« rief Valerie. »Glauben Sie mir nicht?«

Forster zupfte an seinem Ohr.

»Wenn ich Ihnen nicht glaubte, könnte ich doch den Fall nicht übernehmen.« Er sah Valerie ausdruckslos an. »Genügt Ihnen das?«

Er glaubt mir natürlich nicht, aber er übernimmt den Fall, gerade deshalb, ich habe verstanden, dachte Valerie – ihre Stimmung schwankte unentwegt zwischen Verzweiflung und Hoffnung – und sagte: »Selbstverständlich genügt mir das, Herr Doktor.«

»Gut. Der Prozeß wird, sobald ich als Rechtsvertreter der Vormünderin des Jungen seine Klage eingebracht habe, im Justizpalast stattfinden. Vor einem Einzelrichter.«

»Einzelrichter? Gibt es mehrere für diese Fälle?«

»Ja, leider«, sagte Forster. »Und sie sind ganz verschieden. Wir wollen hoffen, daß wir Glück haben und auf einen sachlichen, klugen und erfahrenen Richter stoßen.« Er sprach jetzt mit Betonung, sie erfaßte sogleich, daß er seine Worte ›verkleiden‹ mußte: »Wer immer Vorsitzender ist – es steht Ihnen eine schwere Zeit bevor, gnädige Frau. Eine sehr schwere Zeit. Mit der Behauptung, Sie hätten ihren Mann betrogen, ist es natürlich nicht getan. Zunächst brauche ich von Ihnen eine ausführliche schriftliche Erklärung, die dann vor Gericht zur Grundlage des Falles gemacht wird.«

»Was für eine Erklärung?«

»Nun, über Ihre schlechte Ehe, die Sie gegen den Widerstand der Eltern geschlossen haben und die gleich von Anfang an unglücklich verlaufen ist. Ich vermute, es gab Streit, Zerwürfnisse, Szenen?«

»Ja«, sagte Valerie. In unserer ganzen Ehe hat es das niemals gegeben, dachte sie.

Forster nickte und sprach mit monotoner Stimme weiter. Ich muß der armen Person doch wenigstens ein paar Anhaltspunkte geben, dachte er. Wenn sie mir die Erklärung bringt, und sie genügt nicht, muß ich ihr beibringen, wie man sie besser schreibt. Er sagte: »Sie haben unglücklicherweise erst nach der Eheschließung festgestellt, daß Sie und Ihr Mann geistig überhaupt nicht zueinander paßten, wie?«

»Ja!« Valerie kam wieder in Fahrt. (Das hatte sie sich mit Martin Landau überlegt.) »Mein Mann dachte nur an seine Zeitung und an Politik, Politik, Politik!«

»Typisch«, sagte Forster und dachte: Sie begreift schon, na also. »Während Sie, gnädige Frau …«

»Während ich mich stets für künstlerische Dinge interessierte. Ich habe mich sehr intensiv mit Kunstgeschichte befaßt. Habe Kurse besucht. Auf sein Drängen gab ich das auf.«

»Nur mit großem Bedauern?«

»So ist es. Und er … er machte sich lustig über meine Interessen, er verhöhnte mich dafür!« rief Valerie.

Sie versteht, dachte Forster und sagte: »Die andere Rasse, da sehen Sie es wieder einmal, gnädige Frau. Ein krasser Materialist, Ihr Mann – so habe auch ich ihn noch in Erinnerung.« Sie sahen sich an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Natürlich konnte das nicht gutgehen, als er Sie dann auch noch betrogen hat, schlecht behandelt, vernachlässigt … wie?«

Nie, nie hat Paul mich betrogen, dachte Valerie, immer hat er nur mich geliebt und ich ihn, aber nun geht es um den Buben, nun muß es sein!

»Ja, dauernd diese Weibergeschichten«, murmelte sie. »Schrecklich war das.«

Sie wird ihr Taschentuch noch zerreißen, dachte Forster, und: Sie ist der Typ der klaren, sauberen, gesund empfindenden Frau, das sieht jeder. Ich werde ihr vielleicht am besten die Tour suggerieren, mit der ein Kollege in Frankfurt Erfolg hatte. Außerdem ist es wichtig zu wissen, was sie aushält, diese Frau, was man ihr zumuten kann. Er sagte: »Hat Ihr Mann Sie vielleicht betrogen, weil Sie – entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber ich ich muß diese Frage stellen –, weil Sie ihm gewisse sexuelle Praktiken, widernatürliche natürlich, nicht gestatteten?«

Valerie schoß das Blut ins Gesicht. Sie konnte nicht antworten.

»Das Gericht wird noch viel intimere Dinge wissen wollen, gnädige Frau. Am besten, Sie bereiten sich gleich darauf vor. Sie sind eine Dame, die aus einem angesehenen, soliden Elternhaus kommt. Viele Fragen, die der Richter und der Kurator Ihnen stellen werden, wären auch für eine weniger ordentliche Frau als Sie beschämend, erniedrigend und peinigend. Aber es wird unerläßlich sein, daß Sie antworten – die Wahrheit natürlich«, sagte Forster, sein rechtes Ohr bearbeitend. »Die reine Wahrheit, immer. Denn Sie müssen damit rechnen, vereidigt zu werden. Das müssen alle Beteiligten. Und das sollten auch alle Beteiligten gleich von Anfang an wissen. Besonders der Vater des Kindes.« Er tat, als hätte sie seine Frage beantwortet: »Also widernatürliche sexuelle Wünsche, ich habe mir schon etwas Derartiges gedacht …«

Seine Stimme wurde leiser für Valeries Gehör, während sie dachte: So also bringt er mir bei, wie ich mich verhalten muß, was uns bevorsteht.

So bringt er mir bei, daß ich werde lügen, lügen, lügen müssen, meinen Paul mit Dreck bewerfen, verleumden, schlechtmachen, als ein Schwein hinstellen – und daß auch Martin Landau das tun muß. Er will sehen, ob ich durchhalte. Ich halte durch! Lieber Gott im Himmel, hilf mir jetzt, bitte. Es geschieht für den Buben, du weißt es. Hab Erbarmen. Paul will es. Laß alles gutgehen. Und mach, daß mir der Martin nicht zusammenbricht …

»Die Niederschrift, um die ich Sie gebeten habe, gnädige Frau, muß präzise Angaben enthalten: Namen, Orte, Gelegenheiten, Ereignisse. Alle diese Dinge müssen räumlich und zeitlich stimmen, was die Geburt des Jungen angeht. Und für alle diese Dinge brauchen wir Zeugen.«

»Ich habe eine Zeugin. Agnes Peintinger. Unsere Wirtschafterin. Sie war schon vor der Geburt meines Sohnes bei uns. Sie hat alles miterlebt. Sie wird meine Angaben bestätigen.« (Wenn Hochwürden Pankrater es ihr gestattet, dachte Valerie und fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen.)

»Eine Zeugin ist sehr wenig.«

»Da wäre noch die Schwester des Vaters. Die hat auch alles miterlebt … Aber die wird nicht aussagen.«

»Warum nicht?«

»Sie fürchtet sich … will nichts mit Gerichten zu tun haben … will in nichts hineingezogen werden …«

»Sehr bedauerlich. Aber verständlich. Völlig verständlich. So ein Prozeß ist gefährlich. Er kann – unter Umständen, wenn man bei krassen Lügen ertappt wird – lebensgefährlich werden, gnädige Frau.«

Valerie dachte: Wenn Martin das jetzt gehört hätte, daß es lebensgefährlich sein kann, was wäre dann, Allmächtiger, was wäre dann?

»Das Gericht darf auf Antrag des Kurators, also des Verteidigers der ehelichen Geburt, unseres Gegners, Zeugen vorladen und sie zur Aussage auffordern.«

»Tilly – ich meine die Schwester des Vaters – wird aber nicht aussagen!«

»Böse«, sagte Forster.

»Wieso böse?«

»Wenn sie von ihrem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch macht, dann zieht das Gericht natürlich Schlüsse daraus. Es muß doch noch andere Zeugen geben, die bereit sind, Ihnen zu …« Fast hätte ich ›helfen‹ gesagt, dachte Forster, verärgert über sich selbst. »Ich meine: Ihnen bei diesem Prozeß durch eigene Wahrnehmungen zu bestätigen, daß Sie und der wirkliche Vater die Wahrheit sagen. Wir brauchen unbedingt noch jemanden.«

Valeries Gesicht war grau geworden. Ihre Hände öffneten und schlossen sich ununterbrochen, Forster bemerkte es. Nicht schön, dachte er, gar nicht schön. Aber was soll ich tun? Wegschicken die Frau? Mit dem Brief dieses Schweines von einem Direktor schon auf dem Tisch des Herrn Schirach? Was wird dann aus dem Jungen? Man muß es versuchen, versuchen muß man es immer und immer wieder im Kampf gegen diese verfluchte braune Pest.

Valerie blickte auf.

»1923, als wir heirateten, da herrschte solche Wohnungsnot in Wien! Da lebten wir über ein Jahr in Untermiete bei einer gewissen Frau Hermine Lippowski. In Dorbach draußen. Sie hatte uns eine Etage ihrer Villa abgetreten.«

»Würde Frau Lippowski Ihre Angaben als Zeugin bestätigen?«

»Das weiß ich nicht …«

Forster wurde plötzlich wütend.

»Wie haben Sie sich denn das vorgestellt, gnädige Frau? Sie kommen zu mir und sagen: mein Kind hat einen anderen Vater, los, jetzt weißt du es, sieh zu, daß es zum Arier erklärt wird! Was dachten Sie sich denn? Daß die Na … daß die Gerichte solche Prozesse gern sehen?«

Valerie sagte bebend: »Ich werde heute noch Frau Lippowski aufsuchen und mit ihr sprechen.«

»Das werden Sie, ja! Wir müssen so sicher wie möglich gehen. Wir müssen die größten Chancen haben zu gewinnen, bevor wir den Prozeß anfangen. Verzeihen Sie, daß ich laut wurde. Ich denke an Sie … und die Menschen, die Sie hineinziehen in diese Sache.«

»Ich begreife schon«, sagte Valerie leise.

»Nein. Sie begreifen leider immer noch nicht! Es ist das reine russische Roulette, so ein Prozeß – auch mit den besten Zeugenaussagen, auch wenn alles stimmt, auch wenn man einen verständnisvollen Richter bekommt!«

»Was geschieht denn noch?« stammelte Valerie.

»Es wird eine ausführliche, anthropologische Untersuchung geben«, sagte Forster. »Also Untersuchungen der körperlichen und seelischen Eigenschaften des Jungen, der Ihren und der des Vaters – im Sinne der Rassengesetze. Ferner eine Untersuchung des Herrn Steinfeld …«

»Aber der ist doch in England!«

»… auf Grund von Fotografien, soweit das möglich ist. Das Gericht wird Professoren als Gutachter einsetzen. Und dann kommt die Blutgruppenbestimmung. Von ihrem Ausgang hängt alles ab.«

»Ich verstehe nicht …« Valerie atmete schneller.

Etwas knirschte.

Nun hat sie ihr Tuch also zerrissen, dachte Forster und sagte: »Ruhig, gnädige Frau, ganz ruhig. Sehen Sie: Die Blutgruppe des Kindes hat bestimmte Blutgruppen der Eltern zur Voraussetzung, Das können verschiedene Gruppen sein.« Valerie hob den Kopf. »Aber nach den Mendelschen Regeln schließt die Kombination gewisser Blutgruppen bei den Eltern eine bestimmte Blutgruppe des Kindes absolut aus.« Valeries Kopf sank wieder. »Mit anderen Worten: Hat das Kind eine solche Gruppe, und haben Kindesmutter und angeblicher Kindesvater die gewissen anderen Gruppen, dann kann mit Sicherheit behauptet werden, daß der vorgebliche Kindesvater unter keinen Umständen der wirkliche Kindesvater ist.« Danach entstand eine Stille, die so groß war, daß durch die geschlossenen Fenster der grollende Lärm der schweren Wehrmachtslaster hereindrang, die immer noch über die Donaukanalbrücke rollten.

»Sie brauchen doch keine Angst zu haben, gnädige Frau. Sie sind doch ganz sicher, daß Ihr Mann nicht der Vater ihres Sohnes ist, sondern der Mann, dessen Namen Sie mir noch nennen müssen … oder?«

Valerie sagte eilig: »Ganz sicher!«

»Nun also!« Forster dachte: Arme Person. Verfluchtes Nazigesindel.«

Dann wird das auch die Blutgruppenbestimmung ergeben.«

»Ich meine …« Valerie war ins Stammeln gekommen, ihr Gesicht hatte sich wieder blutrot gefärbt, ihre Augen flackerten. »Ich meine … so sicher ich eben sein kann …«

»Wieso? War da – entschuldigen Sie die Frage, gnädige Frau – war da noch ein dritter Mann?« Immer dasselbe Elend, dachte der Anwalt, immer dasselbe.

»Ja … nein … ja …« Valerie war jetzt den Tränen nahe. »Einmal war da noch ein Mann … Aber er kann es nicht gewesen sein … bestimmt nicht … Ich meine … Ich kann es mir nicht vorstellen … Doch, ich bin sicher, es war …«

Der Martin darf von dieser ganzen Blutgruppengeschichte überhaupt nichts hören, dachte Valerie entsetzt. Der kippt mir ja um. Ein Mann wie er! Und in der Partei!

»Wenn Sie nicht absolut sicher sind«, sagte Dr. Forster, »kann natürlich der Fall eintreten, daß trotzdem alles gutgeht, selbst falls der von Ihnen Angegebene – verzeihen Sie – doch nicht der Kindesvater sein sollte. Voraussetzung dafür: Der wirkliche Vater hat dieselbe Blutgruppe wie Ihr Mann – oder eine, die in Verbindung mit der Ihren die des Jungen möglich macht.«

»Sie wird möglich sein! Sie muß möglich sein!« Valerie fuhr hoch.

»Trotzdem … Die lange Zeit, die man da wartet, die Nervenanspannung … Ist es … ist es nicht zu machen, daß wir vor dem Prozeß zu einem Arzt gehen und unsere Blutgruppen feststellen lassen? Nur zu unserer Beruhigung? Sie verstehen schon …«

»Ich verstehe schon«, sagte Forster traurig. »Nein, gnädige Frau, das ist nicht zu machen.«

»Aber wieso nicht?«

»Weil zu einer solchen Untersuchung ein serologisches Laboratorium gehört. Nach einer Bestimmung des Reichssippenhauptamtes haben alle Ärzte oder Institute, die solche Untersuchungen durchführen, diese sofort dem Reichssippenhauptamt zu melden – mit allen Namen und Einzelheiten. Und bei Prozessen wie dem von Ihnen angestrebten erkundigt sich das Gericht gleich zu Beginn beim Reichssippenhauptamt, ob schon eine Blutgruppenuntersuchung vorgenommen worden ist. Wenn ja, dann erblickt das Gericht darin … ich brauche nicht weiterzusprechen.«

»Nein«, sagte Valerie, »das brauchen Sie nicht.« Sie fragte mit sehr leiser Stimme. »Und wenn nun die Untersuchung ergibt, daß der, den ich für den Vater halte, daß der – wegen dieses anderen Mannes, ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich muß es wissen –, daß der als Vater doch nicht in Frage kommt, was geschieht dann?«

»Dann«, sagte Forster, und das Herz tat ihm weh, »wäre allerdings eine sehr unangenehme Situation entstanden, die man auch dann noch in den Griff bekommen könnte, schwer zwar, aber doch, ja, ja, seien Sie beruhigt. Nur den Prozeß, den Prozeß hätten Sie dann natürlich verloren. Nun, also wie ist es? Ich mußte Ihnen das alles vorher sagen, Sie verstehen. Wollen Sie immer noch auf jeden Fall …« Er unterbrach sich selbst, denn das Telefon auf seinem Schreibtisch läutete. Er hob ab. »Ja?« Er rief erfreut: »Klever? Ich lasse ihn bitten, in das Konferenzzimmer zu gehen und ein wenig zu …« Er lauschte wieder. »Aber ich habe eine wichtige Besprechung! Eine halbe Stunde dauert das sicherlich noch …« Er hörte zu. »Na schön«, sagte er dann, »wenn das so ist … ich komme.« Er legte auf und erhob sich. »Verzeihen Sie bitte, gnädige Frau. Dringender Besuch, der nicht warten kann. Wollen Sie mich kurz entschuldigen?«

Valerie gab keine Antwort.

27

Silbern prangte das Abzeichen des NSRB, des ›Nationalsozialistischen Rechtswahrerbundes‹, auf der braunen Amtswalter-Uniform Peter Klevers: ein senkrechtes Schwert, oben mit dem Hakenkreuz als Herzstück eines stilisierten Adlers; seine Schwingen bildeten gleichzeitig die Parierstange des Schwertes, unter ihnen, an den Krallen, hingen je eine Waagschale, und über dem Hakenkreuz befand sich der Adlerkopf. Parteigenosse Ministerialrat Dr. Peter Klever, ein großer Mann mit breitem Gesicht, kurzgeschnittenem, drahtigem Haar und buschigen Augenbrauen, sah in der Uniform mit dem schweren Koppel, der roten Hakenkreuzbinde am linken Ärmel, der wie für einen Reiter geschnittenen Hose und den schwarzen Schaftstiefeln noch mächtiger aus, als er ohnehin war.

»Otto!«

»Peter!«

Forster eilte durch den getäfelten Konferenzraum seiner Kanzlei, in dem ein langer Tisch und viele Stühle standen, auf den Besucher zu, der seine Tellerkappe abgenommen hatte, und schüttelte ihm herzlich die Hand. Danach klopften sie einander auf die Schultern. Klever – er sprach ein sehr preußisch gefärbtes Deutsch – strahlte.

»Mensch, was ich mich freue, dich wiederzusehen!«

»Und ich mich, Peter, und ich mich! Komm, setz dich …«

»Keine Zeit. Sagte ich doch schon im Sekretariat. Ein Wagen wartet unten auf mich. Ich komme direkt von der Bahn. Und in ihrer Dienststelle warten schon ein paar Brüder von der Wiener Anwaltskammer auf mich. Große Sitzung.«

Peter Klever war Anwalt gewesen wie Forster. Er hatte in Berlin, dann in Wien studiert. Als Mitglied des deutschen ›Sozialistischen Akademiker-Verbandes‹ war er gastweise in den österreichischen Verband gleichen Namens eingetreten und hatte da Forster kennengelernt. Sie waren gute Freunde geworden. 1933 wurde die deutsche, 1938 die österreichische Vereinigung verboten und aufgelöst. Doch im geheimen blieben die Kontakte bestehen, die Freundschaften der ehemaligen Verbandsmitglieder waren stärker und enger denn je. Einige von ihnen nahmen in voller Kenntnis der Folgen für die Zukunft wichtige Positionen in der Partei, Wirtschaft und Politik an, um ›drinnen‹ und stets über alles unterrichtet zu sein, um denen ›draußen‹ helfen zu können – schnell, sicher, so gut wie möglich. Unter jenen, die dies gewagt hatten, befand sich auch Peter Klever, der eine hohe Stelle in der Zentrale des ›Nationalsozialistischen Deutschen Rechtswahrerbundes‹ in Berlin besetzt hielt.

Der Ministerialrat sprach zynisch: »Deine Kollegen hier sind schon feine Schweine, Mensch! Ich gratuliere!«

»Sie lassen also nicht locker?«

»Locker?« Klever lachte böse. »Die Anwaltskammer Wien schickt uns dauernd Anzeigen, Denunziationen, Ansuchen auf Eröffnung eines Verfahrens gegen dich – mehr denn je!«

»Was ist jetzt los? Große Aufregung, weil ich diese Abstammungsprozesse führe?«

»Das ist der neueste Zirkus! Du wirst immer verdächtiger. Aber in der Hauptsache geht es natürlich immer noch um die Prozesse, die du vor 1938 geführt hast.«

Vor 1938 hatte Forster Kommunisten und Sozialisten verteidigt, die, noch in der Ära Schuschnigg, hochverräterischer und staatsfeindlicher Umtriebe angeklagt worden waren.

»Ich tue in Berlin, was ich kann, das darfst du mir glauben, mein Alter. Aber die sind nun natürlich auch schon auf Hundert wegen der dauernden Hetze!« Klever schwitzte und wischte sich mit dem Handrücken die Stirn trocken. »Du hast eine Frau und einen Sohn, Otto! Du darfst es einfach nicht so weitertreiben hier. Du bist doch das rote Tuch für die ganzen Scheißer! Vaterschaftsprozesse! Laß es sein, ich flehe dich an! Sei still und leise, vertritt auch mal ein paar Nazis in ungefährlichen Sachen! Du mußt es tun! Du bist in Gefahr, Mensch! Versprichst du mir, vernünftig zu sein und wenigstens die Prozesse nicht mehr zu führen?«

Forster zupfte an seinem rechten Ohr, sah den alten Freund an und sagte lächelnd: »Ich verspreche es dir …«

»Zum Verzweifeln!« Der Berliner stöhnte.

»Wieso? Ich habe es doch versprochen!«

»Aber du hast gelächelt dabei! Und geblinzelt!«

»Wirklich? Ein Reflex«, sagte Forster. »Mir ist gar nicht zum Lächeln und Blinzeln zumute …«

Fünf Minuten später stand er allein im Konferenzraum. Klever hatte ihn verlassen. Er werde ihn auf dem laufenden halten und rechtzeitig warnen, hatte er versprochen. Und war, tief besorgt über die Halsstarrigkeit Forsters, fortgeeilt.

Der Anwalt verweilte ein paar Minuten in dem Raum mit dem großen Tisch und den vielen Stühlen. Ich habe eine Frau und einen Sohn, dachte er. Ich trage die Verantwortung für sie. Wenn mir etwas passiert, sind sie schutzlos. Ich solle diese Vaterschaftsprozesse sein lassen, sagt Peter, wenigstens die. Nicht immer wieder auffallen. Ruhig sein, bescheiden, sich ducken, nichts tun gegen die Barbarei. Wenn die Gestapo einmal eingreift – und eine Anzeige genügt da! –, dann bedeutet das die Vernichtung, das Ende von allem …

Großer Gott, ein Held bin ich auch nicht!

Diese Frau Steinfeld, die hat mir gerade noch gefehlt mit ihrem schiefen, wackeligen, natürlich erlogenen Fall. Wenn das alles wenigstens gut erlogen wäre. Aber die arme Frau hat doch keine Ahnung. Hilflos ist sie, ganz hilflos. Kann man, darf man einen solchen Menschen wegjagen, wenn er um Hilfe bittet?

Langsam ging Forster in sein Büro zurück.

Valerie blickte auf, als er eintrat. Sie hielt das zerrissene Taschentuch in der Hand.

»Nun«, sagte der Anwalt, plötzlich sehr müde und erschöpft, »haben Sie sich entschieden, gnädige Frau?«

Valerie antwortete mit zitternder Stimme: »Ich will den Prozeß führen. Unter allen Umständen. Warum sehen Sie mich so an? Wollen Sie die Sache nun doch nicht übernehmen?«

Der Anwalt setzte sich hinter den Schreibtisch.

Man kann einen solchen Menschen nicht wegjagen, dachte er. Man darf es nicht.

»Selbstverständlich übernehme ich die Sache«, sagte Dr. Otto Forster.

28

»Das ist alles, was ich einer meiner damaligen Sekretärinnen über den ersten Besuch der Frau Steinfeld in der Kanzlei dann noch in ihrer Anwesenheit diktiert habe«, sagte Dr. Otto Forster, siebenundzwanzig Jahre später, ein alter Mann, der Modellschiffe baute und sich fortsehnte aus Wien, weit, weit fort, zu Manuel Aranda. Die wulstige Narbe, die sich dort befand, wo einmal Forsters rechtes Ohr gewesen war, glänzte jetzt weiß wie Wachs. »Natürlich steht nichts von meinem Gespräch mit dem Doktor Klever in der Niederschrift hier. Und auch nichts über Frau Steinfelds Verzweiflung, als ich ihr von der Blutgruppenbestimmung erzählt habe.«

»Ganz klar.«

»Es ist mir wieder eingefallen, als ich mein Diktat von damals gelesen habe. Das ist immer so. Ein Anhaltspunkt – und alles kommt wieder.«

Manuel sagte: »Aber wie der Prozeß ausging, das wissen Sie nicht, Doktor?«

»Nein. Ich kam noch ins KZ«, sagte Forster. »Nach dem zwanzigsten Juli 44 flog mein Freund Peter Klever auf, wurde verhaftet und hingerichtet. Verhaftet wurden auch alle seine Freunde … ich drei Wochen später.«

»Aber weshalb?

»Das war damals so. Einen genauen Grund habe ich nie erfahren … Die Nazis bezogen sich einfach auf die alten Prozesse vor 38. Ich landete in Mauthausen.« Der Anwalt fuhr sich über die gräßlich zerfleischte, vernarbte und entstellte Gesichtshälfte und die Stelle, an der einmal sein rechtes Ohr gewesen war. »In Mauthausen passierte dann auch das. Ein bedauerlicher Unfall.«

»Unfall?«

Forster lachte bitter.

»Stellen Sie sich vor! Ein Wachhund drehte eines Abends durch, riß sich von seinem Führer los und stürzte sich auf mich. Der Posten versuchte noch, das Vieh zurückzureißen. Es gelang ihm nicht. Sie sehen ja … Im letzten Moment erschoß der SS-Mann den Hund. Wirklich im letzten Moment. Sonst würde ich nicht mehr leben. Danach entschuldigte der SS-Mann sich bei mir.«

»Er …«

»Tatsächlich! ›Tut mir leid, du Arschloch. Dabei hast du doch im Moment gar nichts angestellt‹, sagte er. Es war das letzte, was ich hörte, bevor ich das Bewußtsein verlor.« Forster hob die Achseln. »Jung und ziemlich blöde, der Posten. Was wollen Sie? Nicht einmal die SS hatte mehr das gute Personal von 1938. Es ging mir sehr dreckig damals. Ich war mehr tot als lebendig, als wir endlich befreit wurden.«

»Und Sie wissen auch nicht, was aus dem Sohn, was aus dem Vater wurde?«

»Nein, leider. Ich lag lange in einem Spital. Dann mußte ich sehr viel und sehr schwer arbeiten, um die Kanzlei wieder in Gang zu bringen und meine Familie zu versorgen. Wir waren bettelarm, als der Krieg zu Ende war. Im Haus hier wohnten fremde Menschen. Ehrlich: Ich dachte gar nicht mehr an Frau Steinfeld. Es tut mir leid, Herr Aranda«, sagte der alte Mann. »Wir – wir alle – vergessen eben zu leicht und leben nur unser eigenes Leben, und unsere Mitmenschen sind nicht unsere Brüder und Schwestern, wie sie es sein sollten …«

›Yeah! Yeah! Yeah!‹ erklangen die Stimmen der Beatles ein Stockwerk tiefer.

29

Yvonne nahm eine dünne, vergoldete Stecknadel aus Stahl mit breitem Kopf aus dem roten Samtkästchen und bohrte sie vorsichtig durch die schrumpelige Haut des Hodensackes, indem sie mit einem kleinen, gleichfalls vergoldeten Hämmerchen sanft auf die Nadelkuppe schlug. Es war schon die zweite Nadel. Der massige, nackte Mann auf der Streckbank der Folterkammer in Nora Hills Villa stöhnte auf.

»Oh! Oh! Oh! Die Schmerzen! Aber ich verrate nichts, keinen einzigen Kameraden!« Und mit normaler Stimme: »Weiter. Mach weiter!«

Yvonne trug ein durchsichtiges blaues Spitzentrikot, einen breiten, spitzen Strohhut und Sandalen. Ihre Augen hatte sie asiatisch schräg geschminkt. Yvonnes Klient trug Socken und Schuhe. Sie schlug gehorsam weiter. Die Nadel hatte die Haut durchstoßen und drang nun in ein mit rotem Samt bespanntes Brettchen ein, das unter dem Hodensack lag. Der Mann – Herr Direktor Pfitzner, so war er Yvonne vorgestellt worden – stöhnte wieder. Er spreizte die Beine noch weiter, sein Atem begann zu fliegen.

»Martere mich! Quäle mich! Aus mir bekommst du kein Wort heraus!« Und wieder normal: »Die nächste Nadel, schnell!«

Yvonne ergriff mechanisch die dritte Nadel. Sie war an diesem Samstagabend müde nach zwei Nächten Dienst, und sie ärgerte sich darüber, daß stets sie von Gästen wie diesem mit Sicherheit unter allen Mädchen ausgesucht wurde. Warum nicht einmal Coco oder Christine oder Isabell? dachte sie. Warum immer ich? Gut, ich werde am besten von allen bezahlt. Aber was zieht diese Kerle bloß so an? Immer ich, immer ich. Sie trieb die dritte Nadel durch die Haut in das Brettchen. Herr Direktor Pfitzner jaulte auf. Er hatte nun bereits eine stattliche Erektion.

»Ich bin kein Verräter, du verfluchte blaue Mao-Ameise!« schrie Pfitzner. Und flüsterte: »So herrlich war es noch nie!« Er hielt sich an den Lederschlaufen des Streckbettes fest. Seine Augen rollten, die Kiefer mahlten. Rotes Licht erhellte die Folterkammer mit ihrer Eisernen Jungfrau, ihren Blöcken, Spießen, Lanzen, Beilen, Ruten, Stöcken, Daumenschrauben, Vorrichtungen zum Aufhängen, Zangen, Bleikugeln, Peitschen und Ketten.

»Ich rede nicht, du gelbes Schlitzauge! Ich rede nicht! China, verrecke!« schrie Direktor Pfitzner.

»Halt’s Maul, korrumpiertes westliches Schwein!« brüllte Yvonne ihn an und begann mit der vierten Nadel.

»Oh, wie sie wütet, wie sie mich martert!«

Bei der fünften oder sechsten Nadel wird es wohl soweit sein, dachte Yvonne, sachkundig das Glied betrachtend, das leicht zuckte.

Nora Hill hatte ihr Herrn Pfitzner besonders ans Herz gelegt: »Gib dir Mühe, Yvonne, ja, bitte? Besondere Mühe. Der Herr Direktor kommt zum erstenmal. Madeleine schickt ihn.« Madeleine war die Erste Barfrau eines der Lokale in der Innenstadt, aus denen Nora Hill ihre Mädchen zu holen pflegte, wenn Not am Mann war. »Ein Deutscher. Aus Frankfurt. Ganz wichtiger Bonze im Außenhandel. Er hat sich Madeleine anvertraut und erklärt, was er braucht. Er bringt alles mit, in einer Schatulle. Ein blaues Trikot hast du. Auch einen Sonnenhut aus Stroh.«

»Aber warum schon wieder ich, Madame?«

»Madeleine hat Herrn Direktor Pfitzner von dir erzählt, wie du aussiehst, wie du bist – da sagte er: Die und keine andere! Was soll ich machen? Ist doch leichte Arbeit, Yvonne, sei vernünftig. Ich habe auch noch eine Idee, ich glaube, der Herr Direktor wird begeistert sein …«

Und Nora hatte ihre Idee entwickelt.

Sie erinnerte Yvonne an einen Herrn aus Duisburg (Stahl), der vor einigen Monaten zu Besuch gewesen war. Dieser Herr hatte ein Köfferchen mitgebracht, es geöffnet und Yvonne (natürlich auch wieder Yvonne!) genaue Anweisungen gegeben.

»Das da ist die Uniform von einem weiblichen sowjetischen Hauptmann. Die ziehst du an. Hose, Stiefel, Bluse, Gürtel, Kappe, alles.«

»Wo hast du das her, Schatz?«

»Nenn mich nicht Schatz! Nenn mich faschistischer Bandit!«

»Wo hast du das her, du faschistischer Bandit?«

»Theaterkostümverleih. Hier ist eine Schallplatte. Das Deutschlandlied. Wir brauchen einen Plattenspieler.«

»Ist einer da, du Faschist.« Yvonne paßte sich schnell an.

»Großartig. Und hier, ein Rasiermesser. Ich ziehe mich nackt aus und lege mich auf dieses Prokrustesbett. Und dann …« Er hatte weitere Anweisungen gegeben.

Die Sache lief darauf hinaus, daß Yvonne ihn dauernd beschimpfen und dabei anspucken mußte. Mit dem Rasiermesser hatte sie feine, lange Linien über seine Brust zu ziehen. Das Blut quoll in dünnen Rinnsalen aus ihnen. Yvonnes Beschimpfungen wurden immer wüster und lauter, der Herr aus Duisburg (Stahl) regte sich mehr und mehr auf.

»Niemals«, rief er, »niemals werdet ihr Bolschewikenverbrecher siegen!« Darauf erhielt er – auf besonderen Wunsch – eine mächtige Ohrfeige von Yvonne, die danach weiter auf der völlig unbehaarten rosigen Brust des Herrn herumschnitt, sanft und vorsichtig. Es war nun schon eine ganze Menge Blut ausgetreten. Der Herr flüsterte: »Jetzt!«

Daraufhin drückte Yvonne auf einen Knopf und setzte so einen in die Wand der Folterkammer eingebauten Plattenspieler in Gang. Aus zwei Stereo-Lautsprechern an der Decke erklang schmetternd das Deutschlandlied, dessen Text Hoffmann von Fallersleben verfaßt und dessen Musik Joseph Haydn komponiert hatte. Von dieser Nationalhymne der Bundesrepublik, deren erste Strophe mit den Worten ›Deutschland, Deutschland über alles‹ begann, durfte seit dem verlorenen Krieg bei festlichen Anlässen nur noch die dritte Strophe gesungen werden, wennschon ihr Text der Bevölkerung weitgehend unbekannt war.

Der Herr aus Duisburg (Stahl) hatte eine alte Schallplatte – 78 Umdrehungen pro Minute – mitgebracht und um das Abspielen der ersten, nunmehr inopportunen Strophe gebeten.

Also intonierte ein großer gemischter Chor feierlich: ›Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt …‹ Im nächsten Moment schon war dem heroischen Herrn aus Duisburg (Stahl) ein phantastischer Erguß beschieden gewesen …

»Die Platte ist noch da«, hatte Nora Hill zu Yvonne gesagt. »Er hat sie damals vergessen. Herr Direktor Pfitzner kommt auch aus Deutschland. Frankfurt oder Duisburg, ist doch egal. Du bist für ihn eine Chinesin, die ihn foltert, das ist sein Wunsch. Ich denke, wir machen ihm eine besondere Freude, wenn du die Platte laufen läßt, sobald es fast soweit ist …«

Yvonne hatte die fünfte Nadel eingeschlagen.

Es kann sich nur noch um Sekunden handeln, dachte sie, eine aufmerksame Beobachterin.

»Kein Wort«, stöhnte der nackte und dickbäuchige Herr Direktor Pfitzner, »kein Wort bekommst du aus mir heraus! Ich verrate niemanden!«

»Und wie du alle verraten wirst, elender Imperialist! Scheißkerl! Kriegstreiber, verfluchter! Wo verbergen sich die Verbrecher der Konterrevolution? Los, sag es!« brüllte Yvonne ihn an. Die sechste Nadel schlug sie mit etwas mehr Gewalt durch den Sack. Er soll etwas haben für sein Geld, dachte sie, während Herr Direktor Pfitzner vor Wollust aufheulte.

Hoppla, jetzt aber!

Blitzschnell schaltete Yvonne den versteckten Plattenspieler ein, auf dem die zurückgebliebene Platte aus Duisburg lag. Unmittelbar darauf erklang es, schmetternd und inbrünstig, aus den beiden Lautsprechern: ›Deutschland, Deutschland über alles …‹

Na? dachte Yvonne, wieder Herrn Direktor Pfitzner zugewandt, na?

›… über alles in der Welt …‹

Ein tierisches Gebrüll erscholl.

Herr Direktor Pfitzner fuhr von seinem Lager empor. Dabei trat er Yvonne mit dem rechten Schuh voll in den Leib. Sie schrie auf, fiel hintenüber und bekam keine Luft, so weh tat ihr der Tritt. Der Strohhut war weit fortgeflogen.

›… wenn es stets zum Schutz und Trutze …‹

Herr Direktor Pfitzner hatte sich zu seiner ganzen, massige Größe erhoben. Wild standen ihm die Haare vom Kopf ab. Der Bauch schwang hin und her, ebenso das Brettchen zwischen seinen Beinen.

»Abstellen! Sofort abstellen, das verfluchte Lied!«

Herr Direktor Pfitzner tappte suchend hin und her. In seinem Zorn schleuderte er Morgensterne, Peitschen und Daumenschrauben durch den Raum. Er fand den Plattenspieler nicht, und zu den Lautsprechern hinauf kam er nicht, obwohl er ein paarmal Hochsprünge versuchte.

»Das Scheißlied! Abstellen! Abstellen! Wirst du wohl, du dreckige Hure!« Herr Direktor Pfitzner stürzte sich auf die am Boden liegende Yvonne und traktierte sie weiter mit Fußtritten.

Sie schrie gellend.

Herr Direktor Pfitzner raste.

Was ist bloß danebengegangen? dachte Yvonne in Panik. Hat er den Verstand verloren? Herr Direktor Pfitzner riß sie hoch und schlug nun auf Yvonne ein. Sie taumelte gegen die Wand zurück. Er folgte, wild prügelnd und fluchend: »Verrat! Schweine! Unverschämtheit! Anzeigen! Anzeigen werde ich das! Da hast du, du Drecksau … und da … und da!«

›… Von der Maas bis an die Memel …‹ Das Lied erscholl donnernd immer weiter.

Yvonne war jetzt zu weit von dem Knopf entfernt, der den Plattenspieler abgestellt hätte. Blitzschnell drückte sie die Nottaste an der Wand. In Nora Hills Wohnzimmer und an vier anderen Orten im Haus fielen daraufhin in kleinen schwarzen Kästen Metallplättchen herab, welche die Nummer des Zimmers sichtbar werden ließen, in dem Yvonne sich befand.

›… von der Etsch bis an den Belt …‹ jubelten Frauenstimmen.

Herr Direktor Pfitzner riß Yvonne an den Haaren. Er drosch mit geballten Fäusten zu, egal, wohin er traf. Das blaue Spitzentrikot ging in Fetzen. Yvonne schrie. Yvonne versuchte zu flüchten. Er versperrte ihr den Weg. Seine Arme flogen wie Dreschflegel. Er brülle: »Hure, verfluchte! Willst du dich lustig machen über mich?« Er hatte nun auch Schmerzen. Das Brettchen zog. Dies kam hinzu.

»Ich … aber wieso …«

»Kusch! Lustig machen! Dir werde ich’s geben!«

›… Deu-eutschland, Deu-eutschland über a-alles …‹

Die Tür flog auf.

Georg, im Smoking, stürzte herein, gefolgt von einem Hausdiener. Sie sprangen den Rasenden von hinten an, drehten ihm geschickt die Arme auf den Rücken und stießen ihn zur Seite, fort von Yvonne, die schluchzend zu Boden sank.

»Laßt mich los, ihr Hunde! Loslassen … ihr österreichischen Schweine!«

»Beruhigen Sie sich, Herr Direktor, bitte, beruhigen Sie sich«, rief Diener Georg, seinen Mann, ebenso wie der Hausdiener, eisern festhaltend. Er riß den einen Arm Pfitzners etwas hoch. Der Herr Direktor (Außenhandel) brüllte vor Schmerzen.

»Na, werden wir jetzt brav sein?« fragte Georg sanft.

Auf ihren Krücken schwang sich Nora Hill in den Raum, die Tür hinter sich zuwerfend. Sie trug ein nachtblaues langes Kleid und blitzenden Brillantschmuck an diesem Abend.

›… über a-alles in de-er Welt!‹ Der Höhepunkt der Hymne war erreicht. Schmetternd setzte das Orchester ein.

»Was ist hier vorgefallen?« rief Nora Hill. »Etwas nicht zu Ihrer Zufriedenheit?«

Der dicke Mann fuhr herum.

»Zufriedenheit?« schrie er, sich in den Griffen der beiden Männer windend, wodurch das Brettchen an seinen Hoden wieder stechend hin und her schaukelte, während sich der Penis schon längst wieder verschreckt gesenkt hatte. »Zufriedenheit? Ich lasse mich doch nicht verhöhnen!«

»Verhöhnen?« fragte Nora Hill verständnislos.

»Die Hymne! Die gottverdammte Hymne! Das haben Sie absichtlich getan! Sie wollten mich beleidigen!«

»Nichts lag uns ferner! Gewiß, wir haben die Hymne absichtlich für Sie bereitgestellt …«

»Aha!«

»… aber nur, um Ihnen eine besondere Freude zu machen!«

»Freude?«

»Sie sind doch Deutscher. Aus Frankfurt. Und da dachten wir …«

»Ja! Ja! Ja! Aus Frankfurt!« brüllte Herr Direktor Pfitzner wie von Sinnen, während das samtüberzogene Brettchen vor und zurück flog. »Aber aus Frankfurt an der Oder!«

30

»… aus der DDR. Und wir haben ihm die Hymne der Bundesrepublik vorgespielt, wir Idioten«, beendete Yvonne Werra ihren Bericht.

Manuel lachte.

»Ich würde ja auch lachen, wenn mir nicht alles noch so weh täte«, erklärte das schöne Mädchen mit dem flammend roten Haar kläglich. »Madame sagt, sie könnte sich selber stundenlang ohrfeigen. Nie wieder eine Hymne in ihrem Haus! Mit diesen elenden Hymnen fängt überhaupt jedes Unglück an.«

Yvonne lag auf einer breiten Couch in dem hypermodern eingerichteten Wohnzimmer ihres großen Appartements. Wie verabredet, hatte Manuel sie gegen Mittag angerufen, und Yvonne hatte ihn aufgefordert, sie zu besuchen, ohne noch etwas von ihrem Mißgeschick zu erzählen. Sie wohnte im achten Stock eines der neuen Hochhäuser, die an der Donau, direkt am Strom, errichtet worden waren.

»Aber hören Sie – das ist ja bei der Reichsbrücke!« Manuel hatte einen Stadtplan vor sich liegen gehabt, während er sprach.

»Ja, und? Mit Ihrem Wagen sind Sie in zwanzig Minuten hier.«

Auf sein Klingeln war Yvonne, im kurzen Morgenrock über einem Baby-Doll-Set, in der Wohnungstür aufgetaucht, zusammengekrümmt, eine Hand an den Leib gepreßt.

»Was haben Sie, um Gottes willen?«

»Kommen Sie herein. Ich muß liegen.« Sie war in das Wohnzimmer vorausgeeilt und wieder unter die Decke auf der Couch geschlüpft, nachdem sie den Morgenmantel ausgezogen hatte. »Alles nicht so schlimm. Tut nur noch weh. Morgen wird es auch nicht mehr weh tun, sagt der Doktor. Er war heute vormittag hier. Derselbe wie heute nacht.«

»Heute nacht?«

»Madames Hausarzt. Er ist immer zur Hand. Macht alles für sie und uns Mädchen. Alles, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe. Aber was ist …«

»Gleich. Ich erzähle es Ihnen gleich. Es hat mich ganz schön erwischt. Berufsrisiko. Hätte viel schlimmer ausgehen können, sagt der Doktor. Schauen Sie mal!« Sie hatte die Decke zurückgeschlagen, das Hemdchen hochgestreift und einen Umschlag von der rechten Leibseite hochgehoben. Manuel war zurückgefahren, als er die kuchentellergroße, schwarz, rot und grün verfärbte Stelle auf der weißen Haut erblickte – einen schweren Bluterguß.

»Wie ist das passiert?«

Daraufhin hatte Yvonne erzählt, wie das passiert war.

Nun reckte sie sich ächzend.

»Georg mußte Herrn Direktor Pfitzner doch tatsächlich noch zwei kleben, bevor der endlich wieder normal wurde. Ist das zu fassen? Inzwischen war Madame schon davongerannt, um den Doktor zu rufen. Er kommt immer gleich, ein Schatz. Untersuchte mich. Wegen des großen Blutergusses und der anderen, kleineren – ich habe welche am ganzen Körper, dieser Dreckskerl hat mich doch richtig verdroschen, nicht wahr? – befürchtete der Doktor, daß ich möglicherweise eine Leberruptur hätte. Sofort ins Bett. Feuchte Umschläge. Wenn es heute noch so gemein weh getan hätte wie gestern, hätte ich ins Spital müssen. Zum Glück ist es schon viel besser. Wenn ich keine Schmerzen mehr habe, oder nur geringe, darf ich morgen aufstehen. Also, mir ist ja wirklich schon allerhand passiert, aber so etwas noch nie. Georg brachte mich natürlich nachts noch im Wagen von Madame heim. Sie weiß übrigens nicht, daß Sie mich besuchen.«

»Das habe ich mir gedacht. Sonst hätten Sie mir kaum heimlich den Zettel zugesteckt. Ich nehme an, Frau Hill wünscht nicht, daß ihre Mädchen privat besucht werden.«

»Das stimmt. Aber in Ihrem Fall kommt noch etwas anderes dazu.«

Yvonne verzog das Gesicht. »Verflixt, zieht das noch! Dieses Schwein von einem Masochisten!«

»Was kommt noch dazu?«

»Na, Ihr Vater! Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Sehen Sie, ich schrieb schon, ihr Vater sei auch bei mir gewesen, in diesem Zimmer saß er.«

»Wann? Wie oft?«

»Viermal. Immer, wenn ich frei hatte. Das letzte Mal zwei Tage vor seinem Tod.«

»Wo haben Sie sich kennengelernt?«

»Im ›Ritz‹.«

»Was?« Manuel sah sie ungläubig an.

»Ja doch! Eines Abends – ich hatte gerade Dienstschluß und wollte heim – gab mir Madame einen Brief für Ihren Vater mit und bat mich, noch beim ›Ritz‹ vorbeizufahren.«

»Was war das für ein Brief?«

»Keine Ahnung. Ich sah nur, daß Madame ihn von diesem Amerikaner erhielt. Grant heißt er.«

»Ich kenne ihn. Der Stimme nach wenigstens. Ich habe einmal mit ihm telefoniert.«

»Also von dem bekam sie den Brief. Sie tuschelten miteinander, die beiden – und dieser Russe, Santarin.«

»Der ist mir auch ein Begriff. Aber warum sollten gerade Sie den Brief befördern?«

»Madame sagte, die Herren wünschten es so. Es sei eilig, und ich sei der unauffälligste Kurier. Da muß irgendein Geschäft im Gange gewesen sein, zwischen dem Amerikaner und dem Russen und Ihrem Vater.«

»Ja, es scheint so.«

»Ihr Vater ist nie hinausgekommen in die Villa! Ich weiß nicht, wo er sich mit den beiden Männern traf. Jedenfalls traf ich ihn im ›Ritz‹.« Yvonne lächelte. »Wir tranken etwas in der Bar und plauderten. Als er hörte, daß ich den nächsten Tag frei hätte, da fragte er, ob er mich besuchen dürfe.« Yvonne bemerkte Manuels Blick. »Er hat nie versucht … ich habe nie … wir haben nie zusammen geschlafen, das schwöre ich! Er hatte mich einfach gern. Und ich ihn auch. Er war ein interessanter Mensch. Und großzügiger als alle diese Kerle zusammen!« sagte Yvonne und sah betrübt aus. »Furchtbare Angst hatte er.«

Manuel wiederholte verblüfft: »Angst? Wovor?«

»Ermordet zu werden«, sagte Yvonne Werra.

31

»Das hat er Ihnen gesagt?« Manuel war aufgesprungen.

»Ja. Noch im ›Ritz‹. Flüsternd. Bevor er mich fragte, ob er mich besuchen dürfe. Er hat mir leid getan. Überhaupt keine Nerven mehr, Ihr Vater! Schreckhaft. Überreizt. Richtig … unter … unter Terror. Natürlich, sagte ich, dürfe er mich besuchen. Bei mir wurde er dann langsam ruhiger, gelöster, einmal sogar richtig fröhlich … Ich habe versucht, ihn abzulenken, auf andere Gedanken zu bringen, wissen Sie. Er muß sehr schwere Sorgen gehabt haben. Und dauernd diese Angst vor dem Tod.«

Manuel trat dicht an die Couch.

»Hat er gesagt, vor wem er sich fürchtet?«

»Nein. Nie. Ich habe ihn einmal gefragt. Er schüttelte nur den Kopf. Darüber könne er nicht sprechen. Aber er glaubte, daß er Wien nicht lebend verlassen würde. Das sagte er mehrmals.«

»Und Sie haben nichts unternommen?«

»Was hätte ich unternehmen sollen?«

»Die Polizei benachrichtigen!«

Yvonne Werra hob eine Hand.

»Ich habe niemanden benachrichtigt. Erstens hat er mich darum gebeten, keinem Menschen etwas von seiner Angst zu erzählen. Und dann …« Sie zögerte.

»Ja? Und dann?«

Yvonne sagte: »Sehen Sie, ich habe mit so vielen eigenartigen Männern zu tun. Ihr Vater war normal. Aber vielleicht doch nicht ganz, sagte ich mir. Vielleicht war das mit der Todesangst sein Tick. Dachte ich. Ich Idiotenweib! Ach, aber ich hätte ihn doch auch nicht retten können, wenn ich zur Polizei gelaufen wäre … oder?«

»Ich glaube nicht. Machen Sie sich keine Vorwürfe.« Manuel trat an ein Fenster. Tief unter ihm lag, breit, grau und schmutzig, der Strom. Träge floß er dahin. Bei der großen Hängebrücke gab es Kais. An ihnen lagen Schleppkähne vertäut. Autos und Menschen auf der Brücke waren winzig klein. Es schneite nicht an diesem Tag, die Sicht war klar. Manuel erblickte entfernt, im Norden, den Kahlenberg und den Leopoldsberg mit seiner buckeligen Nase. Nahe der Donau stand ein mächtiger Turm. Er trug, wie Manuel sah, hoch oben ein Rundrestaurant, das sich langsam drehte.

»Angst, ermordet zu werden«, sagte Manuel, gegen das Fenster.

»Ja, das wollte ich Ihnen erzählen. Vielleicht hilft es Ihnen. Sie versuchen doch herauszufinden, was geschah, nicht wahr?«

»Das tue ich.«

»Nun, eines steht fest: Ihr Vater rechnete mit einem Anschlag auf sein Leben.« Yvonne sprach reines Hochdeutsch, ohne jeden Akzent. »Er fürchtete ihn. Und als es dann passierte, kann es nicht unerwartet für ihn gekommen sein.«

»Aber wenn er sich fürchtete …« Manuel brach ab.

»Was?« fragte Yvonne, über der Decke den Verband auf ihren Bauch drückend.

»Nichts. Er wußte natürlich nicht, wo man ihn ermorden wollte und wie. Oder?«

»Er sagte einmal: Wenn es geschieht, dann werden sie es so einrichten, daß es ganz plötzlich kommt, an einem völlig unsinnigen Ort, daß es aussieht wie eine völlig unbegreifliche Tat.«

»Das hat er gesagt?«

»Ja. Und ich sagte, er sollte doch zur Polizei gehen! Ja, das habe ich ihm allerdings oft gesagt. Aber er lächelte nur darüber und meinte, die Polizei könne ihm nicht helfen. Niemand könne ihm helfen. Da glaubte ich natürlich erst recht an einen Tick …«

Manuel drehte sich um.

Er sah Yvonne stumm an.

Dann wanderte sein Blick durch den Raum.

Wahrhaftig, dachte er, ich werde von Büchern verfolgt, von Büchern gejagt! Auch bei Yvonne Werra gab es eine ganze Wand, die durch Bücherregale verkleidet war. Manuel trat näher. Wenig Belletristik, bemerkte er. Sehr viele Philosophen und politische, soziologische und gesellschaftskritische Werke.

Und daneben, seltsam genug, Lyrik! Englische, deutsche, französische, italienische Lyrikbände und Übertragungen aus dem Indischen und Japanischen, aus dem Russischen, Polnischen und Portugiesischen.

»Wie alt sind Sie, Yvonne?«

»So alt wie Sie, glaube ich – fünfundzwanzig.«

»Ich bin sechsundzwanzig.«

»Also fast so alt. Warum? Ach so. Ich nehme an, jetzt kommt die originelle Frage.«

»Welche Frage?«

»Was macht ein Mädchen wie Sie in einem Haus wie dem von Frau Hill? Wollten Sie doch fragen, nicht?«

Er nickte.

»Man muß das Establishment bekämpfen, indem man in seine Kreise eindringt und von ihm lernt und profitiert.«

»Was ist das für ein Unsinn?«

»Das ist gar kein Unsinn!« Sie richtete sich halb auf. »Au! Das habe ich auch Ihrem Vater erklärt. Er hat es verstanden.«

»Was?«

»Weshalb ich mein Philosophiestudium aufgegeben habe und zuerst Barfrau und dann ein Mädchen von Madame geworden bin.«

»Ich verstehe es nicht. Warum?«

»Ekel«, sagte Yvonne. »Ekel und Abscheu.«

»Wovor?«

»Vor unserer Gesellschaft. Dem Establishment. Ich habe einen Freund, ja? Schon seit vier Jahren. Der hat zuerst in Wien studiert. Hoch- und Tiefbau, Architektur. Jetzt ist er in München auf der TH. Robert und ich werden heiraten, sobald er sein Diplom hat und zu arbeiten beginnt. Er besucht mich einmal im Monat. Wenn er kann. Er hat wahnsinnig viel zu tun, als Mitglied des SDS.«

»Des was?«

»Des ›Sozialistischen Deutschen Studentenbundes‹.«

»Ach so«, sagte Manuel. »Ein zorniger, junger Mann, wie? Streiks und Demonstrationen und sit-ins und walk-outs und teach-ins und Rektoratsbesetzungen und Protestmärsche und Prügeleien, ich verstehe.«

»Sie brauchen sich gar nicht lustig zu machen! Robert …«

»Ich mache mich nicht lustig. Das ist keine deutsche oder österreichische Erfindung, Yvonne. Das gibt es überall, auch bei uns in Argentinien. Die Jugend der ganzen Welt ist in Aufruhr.«

»Und sollte sie es nicht sein?« Yvonne setzte sich ganz auf und preßte eine Hand gegen die schmerzende Leber.

»Bleiben Sie liegen!«

Aber sie hörte nicht auf ihn. Leidenschaftlich rief Sie: »Sehen Sie sich diese Welt doch an! Ein Schweinestall! Ich will jetzt gar nicht von den Dingen reden, die die Studenten betreffen – von dem Bildungsnotstand, dem Skandal der Universitäten mit ihrem Muff aus tausend Jahren, der Diktatur der Professoren – nein, ich denke an die Diktatur der herrschenden Klassen, der Apparate, an die Unterdrückung jeder freiheitlichen Bewegung in der ganzen Welt, egal, ob es sich um Weiße oder Schwarze oder Rote oder Gelbe handelt! An den Terror der Machtzentren in Industrie, Wirtschaft, Kultur und Politik! An die Willkür der Massenmedien! Hier arbeitet Robert übrigens. In einer Basisgruppe ›Gedrucktes Wort‹.« Yvonne hatte das alles hervorgesprudelt. Jetzt rang sie nach Luft. Bevor Manuel etwas sagen konnte, redete sie schon weiter. Sie redete eine Viertelstunde lang, ohne sich unterbrechen zu lassen.

Ich kann verstehen, dachte Manuel, daß dieses Mädchen meinen Vater interessiert hat. Und abgelenkt von seiner Todesangst.

Todesangst.

Er hatte sie also die ganze Zeit über in Wien. Er erwartete seine Ermordung! Das ist neu. Das ändert wiederum alles. Das bedeutet, daß er bei Valerie Steinfeld dann vor jenen Menschen trat, der den Tod für ihn bereithielt. Einen Tod, der – wie hatte Yvonne gesagt? – ganz plötzlich kam, an einem völlig unsinnigen Ort, damit es so aussah wie eine völlig unbegreifliche Tat!

So sieht es ja auch aus. Aber Valerie Steinfeld hat sich gleichfalls vergiftet. War das auch geplant? Kann man so etwas planen? Ist so etwas denkbar? Denkbar! Langsam beginne ich, alles für denkbar zu halten in dieser Geschichte, grübelte Manuel.

»… wer ist es denn, der heute Macht hat in dieser Welt? Der Einfluß hat und Geld, der Kriege anzettelt und Katastrophen, der herrscht und unterdrückt und feilscht und betrügt und lügt und verrät und mordet und die Völker versklavt? Ich sehe es doch! Einen besseren Anschauungsunterricht als ich kann niemand haben!« Yvonne hatte sich in Feuer geredet. »Alle Regimes, die die Welt ins Unglück gestürzt haben – alle Kirchen, der Kommunismus, der Faschismus –, alle haben ihre Ziele durch die Tabuisierung der Sexualität erreicht! Jede Erektion war ein Sünde! Alle Triebe mußten im Dienst an der Partei oder im Heldentod für das Vaterland ausgetobt werden! Folge? Na, bitte! Impotente! Masochisten! Süchtige! Warme! Fetischisten! Verkorkst, verkommen, verbittert, böse! Eine Horde von Geisteskranken, die bei lebendigem Leib verfaulen – Madames Gäste! Diplomaten! Bankiers! Militärs! Künstler! Psychiater! Industriekapitäne! Kirchenherren! Agenten! Doppel-, Drei- und Vierfachagenten! Intellektuelle und Demagogen! Politiker! Die ganze führende Schicht! Was Sie wollen! Und das läßt sich peitschen und stechen und schlagen und auf die Brust machen und an den Füßen aufhängen! Das steckt sich Federn in den Hintern und muß gekratzt und geritzt und gekitzelt und bespien werden! Und verlangt nach ›Kapuzen‹ und ›Sägen‹ und ›Fünferpyramiden‹ und ›Igel und Hase‹ und ›Sandmännchen‹ und ›Wasserfrauen‹ und …«

»Wonach?« fragte Manuel verblüfft.

»Nach … ach, was soll ich Ihnen das alles erklären! Immer dieselben komplizierten Sauereien. Anders ist das Gesindel doch nicht glücklich zu machen! Unsere Gesellschaft – voilà! Bei Madame erlebe ich sie, Abend für Abend!« Yvonne schwieg, schwer atmend.

»Von dem, was Sie erleben, leben Sie aber sehr gut und müssen nicht schwer arbeiten wie andere Mädchen und haben ein Auto und eine schöne Wohnung …«

»Und ich gebe die Hälfte von allem, was ich verdiene, dem SDS!« rief Yvonne.

»Donnerwetter«, sagte Manuel. Er ließ sich auf einen Hocker fallen und mußte wider Willen lachen.

Yvonne hatte Humor. Sie lachte mit, bis ihre Leber weh tat.

»Aua!« sagte sie. »Na ja, komisch ist es schon. Wahnsinnig komisch. Das ganze Leben.« Sie wurde ernst. »Sie haben jetzt genauso gelacht wie ihr Vater. Den amüsierte das enorm, als ich ihm davon erzählte. Und weil ich merkte, daß es ihn ablenkt, habe ich natürlich immer mehr erzählt, und ich habe auch übertrieben … weil es ihm doch solchen Spaß machte!«

»Yvonne«, sagte Manuel, »Sie sind ein gutes Mädchen.«

»Ach was«, sagte Yvonne. »Hören Sie damit bloß auf.« Sie lächelte plötzlich und sagte: »Danke.«

Manuel lächelte gleichfalls und sah sich wieder die Bücherwand an.

»Ach ja, und dann die Gedichte«, sagte Yvonne. »Ich liebe Gedichte. Ihr Vater liebte sie auch.«

»Ich weiß.«

»Er war ganz begeistert, als er sah, wie viel Lyrik ich besitze. Ich mußte ihm oft Gedichte vorlesen.«

»Was für Gedichte?«

»Alle möglichen. Durcheinander. Klassisch und modern. Er saß da drüben in dem Lehnstuhl und trank Whisky, und ich saß hier auf der Couch oder auf dem Boden und las ihm vor, was ich besonders gern habe. Ich kann Englisch und Französisch und Italienisch – er konnte diese Sprachen auch. Spanisch kann ich nur schlecht. Wir hatten so ein Spielchen …«

»Was für ein Spielchen?«

»Ich las in der Originalsprache, und dann versuchten wir, das Gedicht ins Deutsche zu übersetzen. Wer die schönere Übersetzung zustande brachte. Das war nett. Nur einmal …«

»Ja?«

»Ach, eine Lächerlichkeit. Nichts von Bedeutung.«

»Was wollten Sie sagen, Yvonne?«

»Wirklich, Herr Aranda, es ist unwichtig.«

»Sagen Sie es trotzdem!«

»Na schön.« Sie legte sich zurück. »Ich habe Kipling gern. Nicht gerade seine nationalistischen Gedichte – aber alle anderen.«

»Ich auch«, sagte Manuel. »Und mein Vater liebte Kipling.« Yvonne nickte.

»Ich habe ihm darum auch viel von Kipling vorgelesen. Englisch. ›The Ballad of East and West‹. ›Gentlemen-Rankers‹ – Sie wissen ja: ›Verdammt in alle Ewigkeit‹! ›Mandalay‹. ›Bolivar‹. ›Tommy‹. ›Tomlinson‹. Und so weiter. Und da bekamen wir einmal eine kleine Auseinandersetzung. Ich erinnere mich nur daran, weil es das einzige Mal war, daß ich Ihren Vater verärgert sah, aufgebracht, erregt … ja, tatsächlich, erregt!«

»Bei welcher Gelegenheit war das?« fragte Manuel, und er bemühte sich, die eigene Erregung zu verbergen, die ihn plötzlich übermannte.

»Ach, wegen ein paar Zeilen aus ›Das Licht erlosch‹. Gleich am Anfang. Sie kennen sie vielleicht: ›Und Jimmy …‹«

»Im Moment erinnere ich mich nicht …«

»Aber ja doch!« Yvonne zitierte: »›And Jimmy went to the rainbow’s foot, because he was five and a man. And that’s how it all began, my dears, and that’s how it all began‹. – Na?«

»Und? Und was geschah da?«

Yvonne zuckte die Schultern.

»Lächerlich, ich sage Ihnen, lächerlich das Ganze! Wir wollten diese Strophe übersetzen. Ich übersetzte so: ›Und Jimmy ging nach dem Regenbogen, weil er schon fünf war und ein Mann. Und so fing alles an, meine Lieben, und so fing alles an.‹«

Manuel fühlte sein Herz klopfen, hastig und heftig. Er setzte sich auf den Couchrand.

»Und mein Vater?«

»Der übersetzte: ›Und Jimmy ging zum Regenbogen‹. Und darüber diskutierten wir dann. Ich meine: Man kann doch nicht zum Regenbogen gehen, nicht wahr? Der Regenbogen – das ist das Schöne, die Wahrheit, die Gerechtigkeit, allgemeine Vernunft, allgemeines Glück, allgemeiner Frieden – all das niemals zu Erreichende eben. Also schrieb Kipling wörtlich: ›Und Jimmy ging zum Fuß des Regenbogens‹. Zum Fuß! Ich versuchte, das nachzuempfinden, indem ich sagte: Er ging nach dem Regenbogen‹. Nach! Aber Ihr Vater, der sagte ›zum Regenbogen‹. Und das kam mir nicht richtig vor … Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen!«

»Ich verstehe sehr gut.« Wie laut mein Herz pocht, dachte Manuel. Ob sie es hört? Komme ich jetzt weiter? Komme ich jetzt endlich ein Stück weiter auf meinem Weg? »Und darüber gerieten Sie also aneinander.«

»Es war einfach ridikül! Und auch gar nicht ernst – von meiner Seite wenigstens. Ihr Vater – komisch, Ihr Vater, der nahm es ernst. Ganz sonderbar ist das, ja … Richtig aufgeregt hat er sich. ›Nach dem Regenbogen ist unschön! Holprig! Zu lang!‹ behauptete er.«

»Er sagte: ›Zu lang‹? Diesen Satz sagte er?«

»Wieso? Was meinen Sie? Ich verstehe nicht …«

»Er sagte: ›Nach dem Regenbogen‹ ist zu lang?‹«

»Ja!«

»Sind Sie ganz sicher?«

»Ganz sicher! Ich höre ihn noch! Aber weshalb ist das wichtig? Sie sehen auf einmal so blaß aus, Herr Aranda. Ist Ihnen nicht gut?«

32

Das Café war groß, alt und schmutzig.

Es hieß ›Eldorado‹ und lag in der Praterstraße. Hier verkehrten Falschspieler, Huren und ihre Zuhälter, männliche und weibliche Säufer, alt, heruntergekommen, erbarmungswürdig, Obdachlose und Berufsverbrecher. Fast allnächtlich fanden Razzien statt.

Manuel war bis zum ›Eldorado‹ gefahren, ein langes Stück Weg von Yvonnes Wohnung fort, obwohl er gleich bei ihrem Haus und später immer wieder Telefonzellen gesehen hatte. Er wollte Yvonne so wenig wie möglich gefährden. Aber er mußte den Hofrat Groll sprechen.

»Wünschen, der Herr?«

Kaum war Manuel in das dämmrige Lokal eingetreten, da stand schon ein Riese von Kellner vor ihm, stiernackig, pockengesichtig, in einer fleckigen weißen Jacke und einem schmuddeligen Hemd. Zwei Vorderzähne fehlten. Es war plötzlich ganz still geworden in dem gutbesuchten Café. Die Huren, Zuhälter und Süffel starrten Manuel an. Die Zuhälter hatten Karten sinken lassen, die Huren Illustrierte und Groschenhefte. Das schien ihr Sonntagnachmittagsvergnügen zu sein: hier mit ihren Kerls zu sitzen. Die Louis und die Huren waren fein gekleidet. Die Süffel waren besoffen. Das waren sie immer, sonntags und wochentags. Das Café schloß nur von vier bis sechs Uhr morgens.

»Einen Cognac und telefonieren.«

»Da hinten ist die Zelle«, sagte der Boxer-Kellner. Er begleitete Manuel in den Gang zu den Toiletten. »Französischen?«

»Was?«

»Cognac.«

»Meinetwegen.« Manuel verschwand in der Zelle, in der es nach Zigarettenrauch und Urin stank.

Eine junge Hure stand automatisch auf und fuhr sich mit den Händen über die Hüften.

»Was hast du denn, Lucy-Baby?« fragte ihr Kerl am Nebentisch.

»Na, du siehst doch. Ein Freier …«

Der Louis strich ihr zärtlich über den Hintern.

»Setz dich, Herzerl. Heute nachmittag brauchst du keinen drüberlassen. Warst die ganze Woche so brav – bei dem Dreckswetter.«

Lucy-Baby setzte sich. Sie war gerührt.

»Das ist aber lieb von dir, Schorsch!«

»Und morgen fahren wir zum Gerngroß nach Mariahilf und kaufen das Kleid, das rote, was dir so gefällt.«

Lucy-Baby war den Tränen nahe.

»Wirklich? Du … du bist so gut zu mir, Schorschilein!«

»Nur gerecht. Fleiß muß belohnt werden«, sagte Schorschilein.

»Ich tu es doch gern, für dich …«

»Bei dem feinen Pinkel hättest du sowieso keine Chance«, sagte ein kahlköpfiger Süffel, der an einem Tischchen aus falschem Marmor saß, ein Weinglas vor sich auf der fleckigen Platte.

»Du leck mich am Arsch«, sagte Lucy-Baby hoheitsvoll.

»Richtig. Halt’s Maul, Tschecherant«, sagte Schorschilein und knallte vier Karten auf den Tisch. »Bube, Dame, König, As. Gemma scheißen, die Herren!«

Die anderen Spieler äußerten teils Unmut, teils Bewunderung.

»… Praterstraße, Café ›Eldorado‹. Da ging er hinein. Over.« Der Mann mit dem Handmikrophon, der in dem weißen Chevrolet saß und diese Worte sprach, trug einen Dufflecoat. Sein Wagen parkte ein Stück von Manuels Mercedes entfernt auf der verlassenen Straße. An diesem Tag hatten die Amerikaner die Bewachung Manuels übernommen.

»Okay, Eagle Master«, kam eine Stimme aus dem Lautsprecher des Chevrolets. Sie gehörte einem Mann im Senderaum der Zentrale am Hietzinger Kai. »Kann einer von euch mal an dem Lokal vorbeigehen und sehen, was er macht?«

Der Mann mit dem Mikrophon sah zu seinem Kollegen am Steuer, während er anwortete: »Charley war schon da. Unser Freund telefoniert. Moment! Jetzt kommt er heraus! Steigt in seinen Wagen. Fährt los. Wir folgen!«

»Okay, Eagle Master. Meldet euch bald wieder. Over.«

Eagle Master meldete sich in der Tat bald wieder: »Stardust, ich rufe Stardust …«

»Ich höre, Eagle Master.«

»Aranda ist zum Sicherheitsbüro gefahren. Er geht eben hinein. Jetzt! Sonntagnachmittag! Er muß irgend etwas herausgefunden haben. Verständigen Sie auf alle Fälle den Chef, Stardust. Wir bleiben hier und warten auf Aranda.«

»In Ordnung, Eagle Master. Bleiben Sie auf Empfang. Over …«

Eine Minute später läutete im Schlafzimmer von Gilbert Grants großer Wohnung, einer Villenetage in einer stillen, verschneiten Straße Hietzings, das Telefon. Der massige Amerikaner, der aussah wie ein Zwilling von Orson Welles, schlief noch – laut schnarchend, mit offenem Mund. Er hatte den Abend und einen großen Teil der vergangenen Nacht in Gesellschaft Fedor Santarins und zweier ihnen vorgesetzter Nachrichtenoffiziere verbracht, denen sie Bericht über alles Vorgefallene erstatten mußten. Das Treffen hatte in Santarins Wohnung stattgefunden, die sich direkt an die Büros der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹ in dem schönen Barockpalais an der Wollzeile anschloß. Santarins und Grants Verbindungsmänner, die bereits einer anderen, höheren Kaste angehörten und sich entsprechend hochmütig betrugen, waren dem Amerikaner derart auf die Nerven gegangen, daß er noch mehr als sonst getrunken hatte. Da tat man die ganze Drecksarbeit, so clever und so gut man konnte, und dann kamen diese Schweine und erteilten Worte des Lobes und des Tadels, Zensuren, Weisungen, neue Anordnungen aus. ›Danke‹ – das war ein Wort, das man von diesen Hunden niemals zu hören bekam, und wenn man die Sache noch so prima machte! Santarin, der hatte bessere Nerven. Der überspielte alles mit Zynismus und blieb gleichgültig. Zuletzt hatte er Grant noch nach Hause gebracht …

Nun fuhr der schwammige Amerikaner im Bett auf und griff nach dem Telefonhörer. Ihm war schwindlig. Ihm war schlecht. Er hatte auch noch zwei Pulver genommen, denn er war so wütend und erregt gewesen, daß er nicht hatte einschlafen können. Er mußte sich zweimal schleimig räuspern, ehe er überhaupt sprechen konnte. Auch sein Telefon besaß – wie das Santarins – einen Zerhacker und einen Entzerrer. Schweigend hörte Grant dem Bericht des Mannes aus der Zentrale an.

»Ist gut, ich komme rüber«, sagte er zuletzt. Er legte auf und telefonierte noch etwas benommen mit Santarin.

Der Russe, soigniert wie immer, sagte: »Die kleine Yvonne wird unserem Freund etwas erzählt haben.«

»Klar. Aber was?« Auf seinem Bett fuhr Grant sich durch das wirre Haar.

»Ich habe das Gefühl, wir werden es bald wissen. Ich komme zu Ihnen, in die AMERICAR. Was für ein Glück, daß Sie heute unseren Freund bewachen.«

»Wieso?«

»Ihr Alkoholspiegel hat noch nicht die nötige Höhe, wie? Auf diese Weise erfährt doch Mercier nichts von der Sache! Was geht das alles die Franzosen an, hm? Glauben Sie, Mercier versucht nicht, uns zu hintergehen, wo er nur kann – trotz der Vereinbarung, die wir geschlossen haben?«

Fedor Santarin war ein außerordentlich kluger Mensch.

33

»Es ist das richtige Zitat!« Der Hofrat Groll kam Manuel entgegengeeilt, als dieser das stille Büro betrat. Er half ihm aus dem Mantel. »Trotz eines kleinen Gedächtnisfehlers, merkwürdigerweise bei Ihrem Herrn Vater und bei der guten Yvonne. Richtig heißt es nämlich statt ›Jimmy‹ ›Teddy‹ – aber das weiß ich nur, weil ich habe nachschauen lassen. Für uns ist natürlich einzig und allein ›Jimmy‹ richtig … Trans hat mich eben angerufen.«

»Wer?«

»Trans – so heißt die Chiffrierabteilung der Staatspolizei. Abkürzung von translatio – Übersetzung.«

»Und?«

Der silberhaarige Kriminalist war außerordentlich bedrückt und unruhig. Er überspielte seinen Zustand, indem er scheinbare Freude geradezu outrierte. Wäre Manuel nicht so erregt gewesen, er hätte merken müssen, daß Groll etwas hinausschieben, nicht gleich sagen, am liebsten gar nicht sagen wollte – und doch wußte, daß dies unmöglich war. Nun mußte er, natürlich er!, Manuel informieren. Er wollte es wenigstens langsam tun, Schritt um Schritt, so behutsam wie möglich.

»Die Kollegen am Parkring drüben dechiffrieren den Gesamttext. Sie haben Tabellen dazu, Maschinen, einen Computer …« Groll führte Manuel an den Schreibtisch. Dort lagen die Fotokopien der Manuskriptseiten, die im Tresor des Anwalts Stein verschlossen waren. Der Hofrat schob seinen Stuhl heran. Er dachte: Dieser Junge ist psychisch labil. Wie wird er reagieren? Alles ist möglich, Verzweiflung und Apathie ebenso wie blinder Haß und Aggression. Aggression und Haß gegen jene, die den Vater in diese Geschichte verwickelt haben. Großer Gott, also gegen Amerikaner, Sowjets und Franzosen! Wenn der Junge jetzt aber auch nur einmal falsch reagiert, ist er erledigt. Diese Leute kennen kein Erbarmen. Aranda befindet sich in akuter Lebensgefahr!

»Setzen Sie sich, Manuel – Sie haben doch nichts dagegen, wenn ich Sie Manuel nenne?«

»Natürlich nicht …«

»Schön. Nun, also, ich erkläre Ihnen das System. Solange wir den Klartext von Trans nicht haben, können wir genausogut … Ich meine, während wir warten müssen …« Jetzt stottere ich auch noch, dachte Groll erbittert.

»Erklären Sie mir das System, Herr Hofrat«, sagte Manuel.

Groll fuhr sich mit einer Hand über die Stirn.

»Was haben Sie?«

»Etwas Kopfweh. Der Schnee. Also: Wie ich vermute, ist es ein ›Cäsar‹. Ein fünfundzwanzigfacher ›Cäsar‹, angewendet nach der Substitutionsmethode.« Groll nahm ein Blatt Papier und einen Bleistift. »Ich mache uns hier nur eine primitive Skizze, damit Sie die Methode begreifen. Zuerst schreibe ich das Zitat auf, das dem Code zugrunde liegt …«

Der rundliche Hofrat schrieb:

UND JIMMY GING ZUM REGENBOGEN

»Jetzt setzen wir unter jeden Buchstaben die Zahl, die ihm zukommt, wenn wir das gewöhnliche Alphabet mit seiner Buchstabenfolge zur Vorlage nehmen. Welcher Buchstabe kommt dem A am nächsten? Denn ein richtiges A haben wir ja in dem Satz überhaupt nicht.«

»Aber ein B in ›Regenbogen‹!«

»Richtig. Also schreiben wir unter das B in ›Regenbogen‹ die Zahl 1. Welcher Buchstabe kommt nach der Alphabet-Reihenfolge nun als nächster?«

»Das D in ›Und‹!«

»Also eine 2 unter das D. Nächster Buchstabe?«

»E. In ›Regenbogen‹.«

»Gut.«

»Da gibt es gleich drei E’s!«

»Eben. Sonst wäre der Code ja auch leicht zu brechen. Ihr Vater hat die einzelnen E’s in der Reihenfolge ihres Vorkommens beziffert, sagte mir Trans am Telefon. So weit waren sie schon, daß sie das wußten.« Ich gewinne Zeit, dachte Groll, aber wieviel? Und dann? Und in ein paar Minuten? Was wird dann sein? Er sagte: »Auf die gleiche Weise verfuhr Ihr Vater mit allen Buchstaben, die mehrfach vorhanden sind. Also: Erstes E 3, zweites E 4, drittes E 5. Weiter! Als nächster Buchstabe in der Alphabetfolge käme das G. Da haben wir sogar vier in dem Satz! Der Reihe nach: 6, 7, 8 und 9 …«

Sie arbeiteten weiter, bis die Skizze des Hofrats so aussah:

U

N

D

J

I

M

M

Y

G

I

N

G

Z

U

M

22

16

2

12

10

13

14

24

6

11

17

7

25

23

15

R

E

G

E

N

B

O

G

E

N

21

3

8

4

18

1

20

9

5

19

Groll sagte: »Nun schreiben wir einmal den Anfang des verschlüsselten Textes Ihres Vaters unter die Zahlen.«

Er notierte:

U

N

D

J

I

M

M

Y

G

I

N

G

Z

U

M

22

16

2

12

10

13

14

24

6

11

17

7

25

23

15

E

I

Q

X

S

R

F

S

T

R

L

U

C

T

X

R

E

G

E

N

B

O

G

E

N

21

3

8

4

18

1

20

9

5

19

M

N

C

R

Y

E

Y

B

S

X

»Aber der verschlüsselte Text läuft doch weiter und weiter«, sagte Manuel. »Viele Seiten lang!«

»Stimmt. Doch der Jimmy-Satz ist der Code-Schlüssel. Wenn man zu seinem Ende kommt, fängt man immer wieder von vorn an. Wie ich jetzt …«

Groll schrieb:

U

N

D

J

I

M

M

Y

G

I

N

G

Z

U

M

22

16

2

12

10

13

14

24

61

1

17

7

25

23

15

N

L

G

Z

Q

V

T

R

K

D

R

W

R

F

T

R

E

G

E

N

B

O

G

E

N

21

3

8

4

18

1

20

9

5

19

W

H

V

E

M

G

A

J

G

X

»Wie gesagt, ich erkläre es ganz primitiv«, sagte Groll. »Jetzt müßte man mit dem Jimmy-Zitat wieder von vorn anfangen, nicht wahr? Die Buchstaben des Zitats kann man übrigens weglassen. Wichtig sind nur die Zahlen. Unter die müßte man die Code-Buchstaben, die folgen, notieren. Aber das genügt schon.«

»Herr Hofrat, können Sie mir nicht gleich sagen, wie der Klartext lautet?« drängte Manuel.

»Das weiß ich doch selbst noch nicht«, log Groll. »Wir wollen ihn gerade finden! Wenigstens den Anfang.« Und der wird reichen, großer Gott, dachte er. »Es geht bei uns natürlich unendlich viel langsamer als bei Trans. Die haben Tabellen. Die haben den Computer, ich sagte es schon. Auch Ihr Vater hat eine Tabelle gehabt, um schnell arbeiten zu können. Er wird sie weggeworfen haben, als er fertig war.«

»Herr Hofrat, bitte!«

»Ja, natürlich … Also: Nun schreiben wir noch das gesamte Alphabet auf, fortlaufend. Zweimal hintereinander. Das wird auch genügen, denke ich.« Er notierte:

A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z

»Nun lassen Sie uns sehen. Der erste Buchstabe im Chiffretext ist ein E. Der erste Buchstabe im Zitat, das dem Chiffretext zugrunde liegt, ist ein u. Unter dem u steht 22. Ihr Vater hat nun den ersten Buchstaben des ersten Wortes, das er chiffrieren wollte, im Alphabet gesucht und 22 Buchstaben weitergezählt. Dabei kam er zu dem E in seinem Chiffriertext. Wir müssen es umgekehrt machen. Wir müssen uns aus unseren zwei Alphabeten ein E heraussuchen – das zweite würde ich vorschlagen, denn 22 Buchstaben zurück sind ein weiter Weg – und rückwärts zählen, zweiundzwanzigmal. Also: D, C, B, A, Z, Y … I! I ist unser erster Klarbuchstabe.«

Groll schrieb: I

»Der nächste Buchstabe in dem verschlüsselten Text – die Anordnungen zu Fünfergruppen sind nur als weitere Erschwerung der Entschlüsselung gedacht, wie die mehrfach vorkommenden gleichen Buchstaben im Zitat –, der nächste Buchstabe ist ein I. Sehen wir im Zitat nach. Welche Zahl steht unter seinem zweiten Buchstaben? Dem N in ›Und‹?«

»Darunter steht 16!«

»Das heißt, von dem Buchstaben, den er verschlüsseln wollte, mußte Ihr Vater im Alphabet 16 Buchstaben weiterzählen. Dabei kam er zu einem I. Wir müssen nun von dem 116 Buchstaben zurückzählen. Dabei kommen wir« – Groll tippte mit dem Bleistift schnell die Reihe vom zweiten I in der Alphabetentwicklung zurück – »zu einem S.«

Er schrieb S.

Sie arbeiteten weiter. Nach sieben Minuten hatten sie diesen Klartext dechiffriert:

ISOLIERUNG UND WIRKUNG DES NERVENGIFTES AP SIEBEN

34

Stille.

Absolute Stille.

Überhaupt keine Reaktion.

Mechanisch die wenigen Bewegungen, starr der Blick.

Genauso habe ich mir das vorgestellt, dachte der Hofrat, Manuel aufmerksam betrachtend. Jetzt sieht er langsam Licht. Jetzt wird ihm alles klar. Und es ist wahrscheinlich sogar eine gewisse Erleichterung für ihn, wenigstens klarzusehen! Vorläufig noch eine Erleichterung! Warten wir ab. Warten wir ab …

Natürlich kannte ich schon den Anfang des Textes, wußte ich bereits, worum es ging, als der Junge kam. Die Männer von Trans sagten ihn mir. Ich habe derartiges erwartet. Von Anfang an. Seit ich wußte, daß Russen, Amerikaner und Franzosen mit dem Vater dieses Jungen verhandelten. Seit ich wußte, daß der Vater eine der größten Fabriken für Schädlingsbekämpfungsmittel in Argentinien besaß. Auch für Hanseder und die Staatspolizei ist dies nun keine große Überraschung mehr. Sie alle tippten wie ich. Darum habe ich ja gleich am Anfang dieser verfluchten Geschichte versucht, den Jungen von seiner Jagd abzubringen.

»Selbstverständlich dachte ich schon daran, daß es sich um so etwas handeln könnte«, sagte Manuel mit flacher, ausdrucksloser Stimme, den Kopf ruckartig bewegend, die Augen starr. »Er war schießlich Chemiker und Biologe, mein Vater. Schädlingsvernichtung … Ich dachte … Aber ich konnte es mir einfach nicht vorstellen! Ich glaubte, alles über ihn und seine Arbeit, über unser Werk zu wissen … Ich …« Er neigte sich vor.

»Weiter!«

»Das dauert ewig, bei unserer Methode! Trans schickt in spätestens zwei Stunden einen Kurier mit dem ganzen Text!«

»Und was machen wir in den zwei Stunden, Herr Hofrat? Hier sitzen und warten?«

Jetzt hat es ohnehin keinen Sinn mehr, dachte Groll, daß ich den Jungen vor irgend etwas bewahren will. Wir werden also losfahren. Sicherlich besser gleich als später. Groll kannte auch schon die nächsten Worte des Manuskripts. Trotzdem dechiffrierte er sie zusammen mit Manuel.

AUFGABESCHEIN IN KUVERT AN MICH SELBST ADRESSIERT UND POSTE RESTANTE POSTAMT 119 GESCHICKT

»Was für einen Aufgabeschein?« fragte Manuel langsam. Er sah Groll direkt ins Gesicht, aber dieser hatte das Gefühl, daß der Junge ihn trotzdem nicht wirklich zur Kenntnis nahm.

»Das weiß ich nicht«, sagte der Hofrat. »Nach allem, was wir herausgebracht haben, verkaufte Ihr Vater dieses … dieses Produkt an Russen und Amerikaner. Das verschlüsselte Manuskript hat er für seinen dritten Partner angefertigt, für die Franzosen.«

»Aber warum?« Immer noch die modulationslose Stimme, immer noch der starre Blick.

»Vielleicht ist er mit ihnen nicht so einfach handelseinig geworden. Vielleicht mißtraute er ihnen. Ich denke folgendes: Die Franzosen wollten erst Ware, dann zahlen. Das war ein zu großes Risiko für Ihren Vater, der, wie diese Yvonne Ihnen erzählt hat, in beständiger Todesangst lebte. Kein Wunder bei dem, was er tat! Russen und Amerikaner hätten unter allen Umständen vesucht, einen Verkauf an die Franzosen zu verhindern, wenn ihnen diese Absicht Ihres Vaters bekannt gewesen wäre. Und sie war ihnen bekannt, es sieht ganz so aus.«

»Und der Verkauf wurde verhindert. Mein Vater wurde ermordet.«

»Ja. Wenn ich auch nicht weiß, ob …« Groll brach ab. Sinnlos jetzt, dachte er. »Auf jeden Fall wollte Ihr Vater am Freitagmorgen heimfliegen, das wissen wir. Am Donnerstag wurde er vergiftet. Ich stelle mir vor: Wäre er nicht vergiftet worden, dann hätte er das chiffrierte Manuskript vor seinem Abflug den Franzosen übergeben, um dann in dem für ihn viele Male sicheren Buenos Aires zu warten, bis die Franzosen tatsächlich bezahlten. Im Besitz des Geldes, hätte er ihnen den Schlüssel zum Code verraten und bei einem Notar eine Vollmacht hinterlassen, den postlagernden Brief zu beheben, den er an sich selber schickte und der nun im Postamt 119 liegt. Er wollte unbedingt fort aus Wien, Ihr Vater. Der Boden war ihm hier zu heiß geworden. Wo ist sein Paß?«

»Im Hotel.«

»Wir fahren da vorbei und holen ihn. Und mein Freund Hanseder soll inzwischen versuchen, den Leiter des Postamts zu erreichen. Damit wir den Brief bekommen. Heute ist Sonntag, das Amt geschlossen. Es liegt weit draußen in der Pötzleinsdorferstraße.«

35

Das Kuvert war mit dem Wappen des ›Ritz‹ geziert. Der mißgelaunte Leiter des kleinen, alten Vorstadtpostamts, ein erstaunlich junger Mann, überreichte es ihnen nach einem kurzen Blick auf ihre Ausweispapiere. Hanseder hatten den empörten Beamten durch seine Leute buchstäblich aus dem Ehebett holen lassen.

Manuel öffnete das Kuvert. Ein hellblauer Zettel lag darin. In großen schwarzen Ziffern trug er die Nummer 11 568, die Druckschrift GEPÄCK-AUFBEWAHRUNG WIEN WESTBAHNHOF sowie einen leicht verwischten Gummi-Datumstempel vom 2. Januar 1969.

»An diesem Tag ist mein Vater in Wien angekommen!« Manuels Stimme klang stumpf. »Und noch am gleichen Tag trug er etwas zur Gepäckaufbewahrung …«

»Also zum Westbahnhof«, sagte Groll.

Ihre Schritte klopften laut auf dem defekten Holzboden des kleinen Postamts, als sie es verließen. Manuel ging neben dem Hofrat, der – es war eisig kalt, Ostwind heulte und trieb Schneeschlieren vor sich her – eine Baskenmütze über dem silbergrauen Haar trug. Manuel hatte seine Pelzkappe auf.

Groll setzte sich an das Steuer des großen Dienstwagens, mit dem sie gekommen waren, Manuel nahm neben ihm Platz. Sie fuhren den weiten Weg zum Gürtel zurück und über diesen bis zur Mariahilferstraße und zum Bahnhof. Sie fuhren ohne Begleitschutz. Groll hatte eine Pistole bei sich. Aber er war überzeugt, daß nichts geschehen würde. Das hatte er auch Manuel gesagt: »Es war eine gute Idee von mir, die Herrschaften alle wissen zu lassen, daß das Originalmanuskript Ihres Vaters bei einem Anwalt liegt und sofort veröffentlicht wird, wenn Ihnen das Geringste zustößt. Die sind jetzt alle mächtig besorgt um Ihr Wohlergehen.«

Während er den verödeten Gürtel entlangfuhr – einer Gespensterstadt glich Wien an diesem düsteren Januarsonntag –, sah Groll ein paarmal in den Rückspiegel.

»Brav, brav. Ihre Beschützer«, sagte er. »Drehen Sie sich um. Der weiße Chevrolet.«

»Woher wissen Sie, daß es gerade dieser Wagen ist?«

»Er hatte vor dem Sicherheitsbüro geparkt. Folgt uns seither.«

Groll schaltete einen Gang zurück und trat fest auf das Gaspedal. Sein Wagen schoß vor. Auch der Chevrolet beschleunigte sofort die Fahrt.

»Na?« sagte Groll.

Manuel anwortete nicht …

In der riesigen Halle des Westbahnhofs hielten sich, der Wärme wegen, einige Stromer auf, verkommen aussehende, unrasierte Männer in Lumpen. Sie hockten auf den Bänken im oberen Hallenteil, schliefen oder tranken aus Flaschen. Nur wenige Reisende waren zu sehen.

Der Gepäckschalter befand sich zwischen einem großen Zeitungsstand und einem ebenso großen Delikatessenladen. Hier standen ein paar Menschen.

Groll drehte sich scheinbar gelangweilt um. Durch eine der großen Glastüren war ein Mann im Dufflecoat getreten, der nun, da er Grolls Blick auf sich ruhen fühlte, zu einer Tabak-Trafik schlenderte und Zigaretten kaufte. Na also, dachte der Hofrat.

»So, hier der Herr, bittschön.« Der Beamte war aus dem Kofferlabyrinth mit einer flachen, viereckigen Schachtel von etwa fünfzig mal fünfzig Zentimetern aufgetaucht. Die Schachtel hatte man mit Kupferdraht und Plomben gesichert. Der Mann sah auf den Datumstempel des Aufgabescheins.

»Seit dem zweiten Januar da. Heute ist der neunzehnte. Das macht …«

Der Mann rechnete mit Lippen, die sich lautlos bewegten. … Neunzig Schilling! Viel Geld, ja. Aber das liegt ja auch so lange bei uns. Und pro Tag kostet es …«

»Schon gut.« Manuel bezahlte. Er hob den Karton auf und war überrascht von dem Gewicht. »Was kann da drin sein?«

»Kommen Sie in den Wagen. Ich habe eine Kneifzange. Wir werden es gleich sehen«, sagte Groll.

Der Mann im Dufflecoat saß neben seinem Kollegen in dem weißen Chevrolet, der auf dem großen Parkplatz vor dem Bahnhof stand, als Manuel und Groll ins Freie traten und auf den Wagen des Hofrats zugingen. Der Mann im Dufflecoat sprach in ein Handmikrophon: »Sie haben einen Karton bei der Gepäckaufbewahrung abgeholt …« Er beschrieb ihn. »Sie steigen in Grolls Wagen. Sie fahren los. Wir folgen ihnen. Over.«

»Okay, Eagle Master«, sagte Gilbert Grant, der vor dem Kurzwellensender in dem fensterlosen Büro am Ende des gewaltigen Ersatzteillagers seiner Firma AMERICAR saß. Neonlicht fiel auf ihn und den elegant wie stets gekleideten Fedor Santarin. Draußen in der Halle war es unheimlich still. Heute wurde nicht gearbeitet.

Grant, der mittlerweise ein mächtiges Frühstück verzehrt und sich wieder erholt hatte, sah den Russen aus rotgeäderten Augen an. »Schwarzer Karton, flach und anscheinend schwer. Unseren Karton hat Aranda aus der Gepäckaufbewahrung im Schwechater Flughafen geholt. Wetten, es ist dasselbe drin?«

»Natürlich ist dasselbe drin«, sagte der Russe. »Aber wir haben unseren Karton und alles andere erhalten, nachdem wir mit Aranda – Gott sei seiner Seele gnädig – zu einem Abschluß gekommen waren. Die Franzosen schafften das nicht mehr. Doktor Aranda verstarb – welch Jammer – zu früh für sie. Darum bekam Mercier auch nie seinen schwarzen Karton.«

»Aber was ist da passiert? Wieso holt der Sohn das Ding erst heute?« Der Russe zog die Hose an den Bügelfalten hoch, bevor er sich auf eine Kiste mit verpackten Autoscheinwerfern setzte.

»Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß der junge Aranda geblufft hat.«

»Was heißt das? Sie meinen, er hat das Manuskript seines Vaters gar nicht?«

»Unsinn. Gilbert, Sie saufen langsam Ihr Gehirn weich! Natürlich hat er das Manuskript. Wie er uns sagte. Bei einem Anwalt verwahrt. Aber den Schlüssel zum Dechiffrieren, den hatte er bis heute nicht, obwohl er es behauptete!«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Meine Überzeugung.«

»Wenn er ihn aber jetzt hat …«

»Jetzt hat er ihn, da können Sie Gift drauf nehmen!«

»… dann muß er ihn bei Yvonne gefunden haben.«

»Sehr wahrscheinlich.«

»Aber wie? Was weiß Yvonne? Ist sie eingeweiht?«

»Gilbert, wirklich! Natürlich ist sie nicht eingeweiht. Der Alte war doch kein Idiot.«

»Aber wie hat der Sohn dann bei ihr …«

»Das weiß ich nicht. Glück. Zufall. Uninteressant. Jetzt hat er den Schlüssel. Uns kann das egal sein. Für uns ändert es nicht das Geringste. Auch nicht, daß er jetzt den Karton hat, weil er den Code dechiffrieren konnte und vermutlich gleich zu Beginn etwas über den Karton im Manuskript steht.«

»Wir werden Yvonne …«

»Wir werden Yvonne in Ruhe lassen, aber absolut! Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist der kleinste Zwischenfall. Mercier hat dem jungen Aranda damals am Telefon jedes Wort geglaubt. Gott sei Dank. Hoffentlich tut er es noch immer.«

36

Dr. Raphaelo Aranda sprach mit angenehmer, ruhiger und tiefer Stimme. Er sprach in fast akzentfreiem Englisch. Die Stimme eines Toten ertönte, dozierend, klar, überdeutlich fast. Manuel saß reglos, die Hände auf den Knien. Schon einmal hatte er die Stimme eines Menschen vernommen, der tot war – Valerie Steinfelds Stimme. Und, wie um ihn immer und immer wieder darauf hinzuweisen, darauf hinzustoßen, daß diese beiden, sein Vater und Valerie Steinfeld, zusammengehörten, untrennbar und unlösbar, daß sie eins waren, auch noch im Tode, über den Tod hinaus eins, eins, eins, erklang nun die Stimme von Manuels Vater.

»Wir wissen«, sagte diese wohlklingende Stimme, »daß bakteriologische und chemische Waffen unendlich wirksamer sind als selbst Wasserstoffbomben. Zum einen können alle B- und C-Waffen ohne besondere Kosten hergestellt werden; zum andern bringen insbesondere B-Waffen mit einem Bruchteil des Risikos und einem Bruchteil des Aufwands eine millionen- und milliardenfach größere Erfolgsquote. Im Falle des von uns entwickelten Nervengiftes AP Sieben kann man getrost von einer trilliardenfachen Quote sprechen …«

Auf der silbernen Kinoleinwand des kleinen Vorführraums im Keller des Sicherheitsbüros erschien eine Graphik. Ein 16-Millimeter-Farbfilm lief ab. Er war mit Magnetton versehen. Die große Rolle hatte sich in dem schwarzen Karton befunden, der Groll und Manuel auf dem Westbahnhof ausgehändigt worden war.

»Wie hat mein Vater das nach Wien gebracht?« hatte Manuel gefragt, als er, noch im Wagen, die Filmrolle erblickte.

Groll hatte aus dem Fenster gesehen.

»Jemand von der argentinischen Botschaft war bei Ihnen, nicht wahr? Die Herren sind besorgt. Es gibt diplomatische Kuriere. Was sie befördern, wird nicht geöffnet und beim Zoll nicht untersucht. Ich könnte mir vorstellen, daß Ihr Vater …«

»Ach so.«

»Er wird ja wohl noch eine zweite Kopie des Films gebraucht haben.«

»Eine zweite?«

»Nun ja, für die Amerikaner und Russen«, hatte Groll gesagt.

Die Stimme des Dr. Raphaelo Aranda erklang, freundlich und bestimmt. Sie erläuterte die Graphik des Films: »Um alles menschliche, tierische und pflanzliche Leben auf der Fläche eines Quadratkilometers Erde zu vernichten, braucht man nach den Berechnungen des Mikrobiologen Professor Meselson von der Harvard-Universität rein quantitativ …« – ein Stab fuhr die Graphik ab – »… von dem amerikanischen Nervengift Sarin – zehn Tonnen. Es bildet sich da eine giftige Wolke in einer Höhe von hundert Metern …« Weiter glitt der Stab über die schwarzen Linien auf gelbem Grund. Weiter ertönte die Stimme von Manuels Vater: »Bei einer Wasserstoffbombe – ein Kilogramm. Bei giftigen Bakterien – ein Zehntelgramm. Bei giftigen Viren – ein Tausendstelgramm …« Die Stimme hob sich: »Bei unserem neuen Kampfstoff AP Sieben benötigt man – nicht mehr als ein halbes Tausendstelgramm …«

Manuel stöhnte.

Die Starre weicht, dachte Groll. Er sah den jungen Menschen besorgt an. Und ich kann dir nicht helfen, dachte er, ich kann dir nicht helfen. Niemand kann das. Die Filmapparatur stand zwischen ihnen auf einem festen Tisch. Vor dem Eingang des schalldichten Kellerraumes hatte der Hofrat zwei Beamte postiert. Weitere hielten sich im Stiegenhaus und beim Tor des Sicherheitsbüros auf. Im Widerschein der Leinwand sah Groll, daß Schweißtropfen auf Manuels Stirn traten.

Die Graphik verschwand.

Das Bild eines weiß und silbern blinkenden Laboratoriums erschien. Gestalten in orangeroten Schutzanzügen, Schutzstiefeln, Schutzhandschuhen, Kapuzen und Gasmasken bewegten sich gespenstisch darin. Mitten im Raum stand ein Zuchtstier, dessen Beine mit Ketten festgehalten wurden. Einer der Gespenstermänner preßte eine hohle Halbkugel aus Gummi mit der aufgeschnittenen Seite gegen Maul und Nüstern des Tieres. Von der Halbkugel lief ein Schlauch zu einem Gerät, an dem ein zweiter Gespenstermann einen Schalter betätigte. Im nächsten Moment brach der Stier zusammen. Aus seinem Maul, das nun wieder frei war, troff Schaum. Die Augen, weit aufgerissen, zeigten nur Weißes. Das Tier war tot.

Die Stimme von Manuels Vater kommentierte sachlich und freundlich: »Der Stier atmete fünfhundert Kubikzentimeter Luft ein, in denen sich nur zehn Moleküle AP Sieben befanden. Das Einatmen des Kampfstoffes bewirkt augenblicklichen Kreislaufstillstand und damit den sofortigen Tod …«

Ein Beben ging durch Manuels Körper.

Die Bilder auf der Leinwand wechselten. Sie zeigten Luftschleusen, Ultraviolettleuchten zum Sterilisieren der Luft, andere Laboratorien, wobei die Filmstimme des Vaters erklang: »… infolgedessen ist AP Sieben das ideale Aerosol – ein Mittel, das in staubfeiner Tröpfchenform der Größenordnung von einem Mikron, also einem Tausendstel Millimeter Durchmesser, aus Flugzeugen, Raketen oder Ballons abgesprüht werden kann. Tröpfchen von solcher Kleinheit durchdringen in Sekundenbruchteilen die Alveolen der Lunge, wie diese Sprühversuche zeigen …«

Die Aufnahmen waren gestochen scharf.

Käfige mit Hunden, Vögeln, Meerschweinchen, Kaninchen, Aquarien mit Fischen.

Kameras fuhren über diese Behausungen hin. Alle Tiere waren gesund und munter.

Die Kameras fuhren auf ihren Schienenwegen zurück.

In den Käfigen und Aquarien lagen sämtliche Tiere tot, verendet.

Die Filmstimme des Vaters: »… aber nicht nur durch Einatmen, auch durch Berührung mit der Haut tötet AP Sieben in weniger als fünf Sekunden jedes Lebewesen …«

Jetzt erschien im Bild ein Schimpanse, gleichfalls gefesselt. Ein völlig vermummter Mann ließ aus einer Pipette mit haardünner Öffnung – Großaufnahme – den kaum sichtbaren Tropfen einer farblosen Flüssigkeit auf den Rücken des Tieres fallen. Der Schimpanse zuckte zusammen, sein Körper verkrampfte sich gräßlich. Er brach in die Knie, seinen Leib schüttelten Zuckungen – ganz kurz nur. Dann war auch dieses Tier tot.

»… andere Sprühversuche beweisen, daß AP Sieben mit der gleichen Perfektion und Schnelligkeit auf alle Pflanzen wirkt …«

Neue Aufnahme.

Bäume, Gras, Blumen und Getreide in großen Glashallen.

Von einem Moment zum andern waren die leuchtenden Farben verschwunden, die Bäume entlaubt, die Blumen, das Gras und das Getreide verwelkt, in sich zusammengesunken, schwarz …

»AP Sieben ist kälte- und hitzebeständig … und deshalb unter jeder Gegebenheit einsetzbar …

Bilder immer neuer Räume erschienen auf der Leinwand, immer neuer Tiere im Augenblick ihres blitzschnellen Todes. Immer neue vermummte Gestalten und blitzende Apparaturen waren zu sehen …

Aufnahmen durch ein Mikroskop. Man sah winzige kugelförmige Gebilde.

»… das ist der Bazillus Clostridium venenatissimum. Über die Methoden seiner Zucht und der Isolierung seines Toxins soll hier nicht gesprochen werden …«

»Nein, darüber werden wir alles in dem entschlüsselten Bericht lesen«, sagte Groll. »Clostridium – das ist die Gruppe äußerst bösartiger Bakterien, zu denen die Erreger von Wundstarrkrampf und Gasbrand gehören. Und ›venenatissimum‹ sagt alles: ›der giftigste‹ Bazillus!«

»… an dieser Stelle nur soviel: Wir entdeckten den Erreger bei einer kleinen Nagetierart Argentiniens. Nach Isolierung seines Toxins testeten wir sämtliche bekannten Schutz- und Gegenmittel. Es gibt bislang kein solches Schutz- oder Gegenmittel. Alle Impfstoffe bleiben wirkungslos …«

Andere Räume, steril, blitzend, sauber, mit Affen und Ziegen gefüllt – eben noch lebend, im nächsten Moment tot.

»Dies sind Versuchstiere, die mit stärksten Antistoffen geimpft wurden. Sie sehen: Keines dieser Mittel schützt im geringsten gegen AP Sieben …«

»Wo wurden diese Aufnahmen gemacht?« fragte Groll. »Das müssen doch geheime Laboratorien sein … gewiß in einem Sperrgebiet … Haben Sie eine Ahnung, Manuel, wo dieses Gebiet liegen könnte?«

Auf der Leinwand starben Tiere, große Tiere, kleine Tiere. In kleinen Räumen. In großen Räumen. Einzeln. In Massen. Es war, als liefe ein Film über ein Auschwitz der Tiere ab.

»Ich … ich habe keine Ahnung …«

»Sie haben mir mal erzählt, Ihr Vater sei oft auf Reisen gewesen.«

»Ja, das stimmt.«

»Reisen wohin?«

»Ich weiß es nicht … zu Zweigwerken unserer Fabrik, dachte ich immer. Er blieb nie lange weg …«

Als Begleitung all des Gräßlichen ertönte weiter die Stimme von Manuels Vater: »… feste Oberfläche der Erde beträgt 149 Millionen Quadratkilometer. Für den theoretischen Fall einer Ausrottung alles menschlichen, tierischen und pflanzlichen Lebens auf dem gesamten Festland würden rund fünfundsiebzig Kilogramm des konzentrierten Kampfstoffes genügen …«

Manuel rang nach Luft.

»Könnten es Auslandsreisen gewesen sein?« fragte Groll.

Manuel sagte etwas. Groll verstand nicht.

»Wie?«

»Ich … ich glaube nicht …«

»Was haben Sie?«

Groll sah, daß Manuel plötzlich beide Hände vor das Gesicht schlug, und hörte, wie er laut aufschluchzte.

Dann stammelte er: »Unfaßbar … ein Monstrum … ein Ungeheuer … Ich bin der Sohn eines Verbrechers …« Neuerliches Schluchzen. Manuel hob das Gesicht, er starrte Groll an. Seine Stimme zitterte: »Aber wie muß mein Vater gelitten haben!«

»Was heißt das?«

»Wer hat ihn gequält? Wer hat ihn verfolgt? Wer hat ihn erpreßt zu all dem?« rief Manuel mit sich überschlagender, zuletzt versagender Stimme. Er keuchte und schluchzte, Tränen rannen über sein Gesicht, Groll sah es im Widerschein der Leinwand.

Der Junge will die Wahrheit immer noch nicht wahrhaben, dachte Groll erschüttert. Er wehrt sich gegen sie. Es ist, trotz allem, sein Vater – der ›Verbrecher‹, das ›Monstrum‹. Er hört die Stimme seines Vaters, er, der Sohn, er, bei dem ich jetzt davor zittere, daß er in einer Panikreaktion das eigene Leben aufs Spiel setzt.

All das habe ich gefürchtet. All das wollte ich verhindern. Es ist mir nicht gelungen.

Nun wären wir soweit.

37

Schwarze Pest. Pocken. Milzbrand. Gehirngrippe. Ruhr. Gasbrand. Gelbfieber. Rotz. Wundstarrkrampf. Typhus. Papageienkrankheit. Fleischvergiftung. Fleckfieber. Bangsche Krankheit. Q-Fieber … rund 160 furchtbare Erkrankungen werden in den Laboratorien des Ostens und des Westens für die Menschheit vorbereitet. Das wußte der Hofrat Groll ebenso wie Manuel Aranda. Sie mußten nicht darüber reden. 30 Gramm des Q-Fieber-Erregers beispielsweise, so hatte man errechnet, könnten 28 Milliarden Menschen infizieren.

Zwei Fingerhüte voll Botulinus-Toxin, einem Gift, mit dem AP Sieben nahe verwandt sein mußte, würden ausreichen, um die Bevölkerung halb Europas zu töten, weniger als ein Pfund genügte demnach für die Vernichtung der Bevölkerung der ganzen Erde. Doch das war eine theoretisch errechnete Zahl. Und gegen dieses Toxin hatte man einen Impfstoff gefunden. Gegen AP Sieben aber gab es – und daß mußte Raphaelo Aranda glauben – kein Serum, gab es keine Abwehr …

Und überall auf der Welt sucht man nach solchen Bakterien, Viren, Toxinen, nach ›B-Waffen‹, und stellt sie her.

Und überall auf der Welt arbeitet man an chemischen Kampfstoffen, die man verschämt ›C-Waffen‹ nennt.

Im Osten und Westen werden Giftgase fabriziert, die unendlich wirksamer sind als etwa das im Ersten Weltkrieg eingesetzte Senfgas: Die farb- und geruchlosen Stoffe bleiben unbemerkt.

Es werden Nervengase produziert und auch bereits ausprobiert – im Jemen zum Beispiel durch die Ägypter, in Vietnam zum Beispiel durch die Amerikaner –, Nervengase, die eine ganze Skala von Wirkungen auslösen können: von Bewußtseinsstörungen über Lähmungen bis zum Tod.

Es werden hergestellt – und auch bereits, in Vietnam zum Beispiel, ausprobiert – Erntevernichtungsmittel, etwa Pflanzenhormone oder gewisse Pilzarten, die über weite Landstriche hinweg die Vegetation vertilgen und den Boden unfruchtbar machen.

Der Hofrat Groll wußte das. Manuel Aranda wußte das.

Beiden war bekannt, was Professor Edward M. Backett, Sozialmediziner an der englischen Universität Aberdeen, gesagt hatte: »Es ist heut jedem, der dazu entschlossen ist, möglich, die Menschheit zu vernichten.«

Oh, und Professor Backett ahnte nichts von der Existenz des Kampfstoffes AP Sieben, den Manuel Arandas Vater und seine Mitarbeiter heimlich in verborgenen Laboratorien entwickelt hatten. Nein, er ahnte nichts von dem Kampfstoff AP Sieben, dessen Geheimnisse der Dr. Raphaelo Aranda in Wien soeben an Amerikaner und Sowjets verkauft hatte: an beide Mächte, ein glattes Geschäft, das auf der ebenso verbreiteten wie mörderischen Lehre vom Gleichgewicht des Schreckens basierte, welches angeblich allein den Weltfrieden erhalten konnte.

Der untersetzte Hofrat mit dem silbernen Haar und Manuel Aranda saßen nun wieder in Grolls stillem Büro. Vor den Fenstern, von denen eines halb geöffnet war, sanken Schneeflocken zur Erde. Schweigend lasen die Männer zwei Kopien des dechiffrierten Manuskripts, die ein Kurier der Staatspolizei gebracht und Groll übergeben hatte. Manuel saß nahe neben dem Hofrat, am Schreibtisch. Die starke Tischlampe brannte. Im Zimmer war es dunkel und warm. Keiner der Männer sprach ein Wort.

Von Zeit zu Zeit sah der Hofrat Groll besorgt den jungen Mann an. Doch Manuel hatte sich nach dem Ausbruch im Filmvorführraum des Sicherheitsbüros mit äußerster Anstrengung aller Kräfte gefangen, und sein Gesicht war nun erschreckend unbewegt und ausdruckslos. Das begann den Hofrat zu ängstigen. Der Junge darf nicht in dieser Starre verharren!, dachte er und las schaudernd weiter. Er verstand genug von Biologie und bakteriologischer Kriegsführung, um zu begreifen: Alles, was es bisher auf diesem Gebiet gab, war lächerlich, verglichen mit den Auswirkungen von AP Sieben …

Und das will etwas heißen, überlegte Groll, wenn man zum Beispiel daran denkt, was die bekanntesten amerikanischen Nervengifte GA, GB und GD anrichten, deren Grundlagen, wie die der meisten Nervengifte, schon während des Zweiten Weltkrieges bei den IG-Farben-Werken entwickelt worden sind.

GB ist viermal giftiger als GA und wirkt dreißigmal schneller tödlich. Es erweist sich in kleinsten Mengen als hochtoxisch. Die Symptome beginnen mit Schnupfen, Augenstechen und Erbrechen und enden mit Konvulsionen und Tod nach spätestens zwei Minuten. GD hat ähnliche Eigenschaften, nur verfliegt es langsamer und bleibt deshalb länger wirksam. GA, GB, GD – alles nichts im Vergleich mit AP Sieben! dachte Groll. Er sah wieder zu Manuel. Der las und bewegte keinen Muskel seines Gesichts. Auch Groll las weiter. Was hier, entschlüsselt, in dürren Worten stand, das war noch viel schlimmer, als der Film anzusehen gewesen war …

Die beiden Supermächte arbeiten fieberhaft an B- und C-Waffen, dachte Groll. Seit 1961 hat Amerika den Etat für die Entwicklung solcher Kampfmittel verfünffacht. 1967 – nun, da er mit dem Fall Aranda beschäftigt war, hatte Groll sein Gedächtnis durch die Lektüre alter Zeitschriften und Handbücher seiner großen Bibliothek aufgefrischt – erreichte das Jahresbudget der amerikanischen Kriegsgiftforschung und -herstellung 920 Millionen Dollar. 400 Millionen zahlte das Pentagon für Entlaubungs-Chemikalien, die den Dschungel Vietnams lichten sollten. Vor einem Monat erst hatte die US-Luftwaffe zu demselben Zweck 200 Millionen angefordert.

Die Amerikaner besaßen, für 75 Millionen Dollar unweit Washingtons erbaut, Fort Detrick, eine ›zentrale Forschungsstätte‹. Die Engländer experimentierten hauptsächlich in Porton Down. Rußland und die Ostblockstaaten hielten ihre Laboratorien besser geheim. Der geflüchtete westdeutsche Mikrobiologe Ehrenfried Petras erklärte 1968 im ostdeutschen Fernsehen, daß auch die Bundesrepublik über Auftrag der Amerikaner an der Entwicklung neuer B- und C-Kampfstoffe beteiligt sei, daß die Amerikaner solche Aufträge an viele Länder vergeben würden.

Im Osten war das ebenso. Die Russen standen den Amerikanern in nichts nach! Etwa ein Sechstel der Munition bei den Sowjetverbänden am Eisernen Vorhang war, wie der amerikanische Geheimdienst meldete, mit chemischem Kampfstoff gefüllt.

Natürlich gab es Pannen.

Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen ereigneten sich allein im Sperrbezirk von Fort Detrick seit 1950 750 Unfälle. Mindestens vier Forscher starben an den zu Kriegszwecken ersonnenen Infektionen – zwei von ihnen an Milzbrand. Einen mühsam vertuschten Skandal gab es, als ein zweiundzwanzigjähriger Soldat, der in der Anlage Dienst tat, plötzlich elend an Lungenpest zugrunde ging. In München kam es 1967 zu einer rätselhaften Q-Fieber-Epidemie. Im US-Staat Utah fand man auf einem einsamen Weidegelände 6500 tote Schafe – Opfer eines aus einer nahen Forschungsstätte entwichenen Nervengiftes, hingeweht vom Wind zu den Tieren …

Manuel hatte gestöhnt.

Doch nun wendete er eine Seite und las weiter, wie erstarrt, ohne Leben, das sonnengebräunte Gesicht grau. Auch Groll las. Was hier in Worten und Zahlen eines Wissenschaftlers stand, das war – ja, die Apokalypse war das, wahrhaftig, die Geheime Offenbarung des heiligen Apostels Johannes …

›… Von diesen drei Plagen wurde der dritte Teil der Menschen getötet, vom Feuer und Rauch und Schwefel … Die übrigen Menschen aber, die nicht getötet wurden durch diese Plagen, bekehrten sich nicht von den Werken ihrer Hände … Sie bekehrten sich auch nicht von ihren Mordtaten und von ihren Zaubereien, auch nicht von ihrer Unzucht und ihren Diebereien …‹

Fünftausend Wissenschaftler, dachte Groll, darunter siebzehn Nobelpreisträger, haben eine Petition an Präsident Johnson unterzeichnet, in der ein Verzicht auf den Einsatz dieser neuartigen Waffen verlangt wird. Man hat ihre Forderungen nicht erfüllt …

›… und ich sah einen anderen mächtigen Engel vom Himmel herabsteigen; er war in eine Wolke gehüllt, über seinem Haupte hatte er den Regenbogen. Sein Antlitz war wie die Sonne, und seine Beine wie Feuersäulen. In seiner Hand hatte er ein geöffnetes Büchlein. Er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer und rief mit lauter Stimme, so wie ein Löwe brüllt. Und nachdem er gesprochen hatte, erhoben die sieben Donner ihre Stimmen …‹

In einigen kommunistischen Staaten, dachte Groll, voller Entsetzen immer weiterlesend, sind vor einiger Zeit Millionen Menschen geimpft worden, ohne es zu wissen. Das hat mir Hanseder erzählt. Während sie in Kinos oder Versammlungssälen saßen, atmeten sie Stoffe ein, die scheinbar zur Verbesserung der Luft versprüht wurden. Und während sie Zeitungen lasen, drang ihnen durch die Berührung der Seiten mit den Fingern ein chemisches Mittel unter die Haut, das sie gegen eine Vielzahl von Seuchen immun machen sollte …

›… als die sieben Donner geschrien hatten, wollte ich schreiben. Da hörte ich eine Stimme vom Himmel zu mir sagen: Versiegle, was die sieben Donner gesprochen haben, und schreibe es nicht auf!‹

Er hat es aufgeschrieben, dieser Dr. Raphaelo Aranda, dachte Groll, er hat es aufgeschrieben. Es ist zu spät. Zu spät.

Immun sollten jene Millionen Menschen werden gegen Viren und Bakterien, die ein potentieller Gegner verbreiten konnte. Nun, bei Dr. Raphaelo Arandas AP Sieben gab es noch keine Immunität, noch keine Rettung, gab es nur Tod und Verderben, Verderben und Tod …

›… der Engel aber, den ich stehen sah, auf dem Meer und auf dem Land, hob seine rechte Hand zum Himmel und schwor bei dem, der in alle Ewigkeit lebt, der den Himmel geschaffen hat und was darin ist, und die Erde und was auf ihr ist, und das Meer, und was in ihm ist: »Nun wird keine Zeit mehr sein …«‹

O Gott, dachte Groll: 75 Kilo des AP-Sieben-Konzentrats, und es wird kein menschliches, tierisches oder pflanzliches Wesen mehr auf dieser Welt geben, es wird diese Welt nicht mehr geben. Das ›Doomsday poison‹, das Gift des Jüngsten Tages, es ist gefunden, es existiert, das Geheimnis seiner Herstellung ist verraten worden an die beiden mächtigsten Staaten der Welt …

›… sondern in den Tagen der Stimme des siebenten Engels, wenn er zu posaunen beginnt, wird vollendet werden das Geheimnis Gottes …‹

Groll blickte zu Manuel und sah, daß dieser die Blätter seines Manuskriptes hatte sinken lassen und mit zuckendem Gesicht in die Dunkelheit des Raums und zu einem der Fenster blickte, vor dem der Schnee zur Erde sank.

Manuel flüsterte heiser: »Das halte ich nicht aus … das halte ich nicht aus! Ich bin sein Sohn … der Sohn dieses Schweins … Mein Leben ist ruiniert … Ich kann nicht weiterleben …«

Und wenn er nun nicht Amok läuft, sondern Selbstmord begeht? dachte Groll. Ich muß ihn in der Hand behalten, diesen Jungen, ich muß ihn behüten und beschützen vor sich selber und vor anderen. Behüten und beschützen! Wenn ich das nur kann, mein Gott, wenn ich das nur kann. Er sagte: »Jetzt wissen wir wenigstens, was geschehen ist, Manuel … Und wir werden herausfinden, warum Valerie Steinfeld deinen Vater getötet hat …« Er bemerkte nicht, daß er ›deinen‹ sagte. »… Dein Vater hat gebüßt für seine Taten … Es gibt nichts auf der Welt, keine Äußerung eines menschlichen Wesens, die nicht bei genauer Betrachtung aller Lebensumstände eine Erklärung findet …«

»Ja!« Manuel richtete sich auf. »Ja! Ja! Und ich muß sie finden, diese Erklärung, auf alle Fälle! Ich fliege heim. Es wird sich doch jetzt, wo ich das alles weiß, in Buenos Aires etwas finden lassen … Ich muß zurück!«

38

»Kikeriki! Verflucht! Aber es muß doch einmal gehen! Mach weiter! Fester!«

Nackt kauerte die rothaarige Yvonne auf dem Bett. Mit Hand und Mund bemühte sie sich, Herrn Willem de Brakeleer, der rosig, massig, gleichfalls nackt und mit einem Büschel prächtiger Paradiesvogelfedern im Hintern vor ihr stand und zornig aufstampfte, zu helfen.

»Gaaa–gagagagagaga – gaaa!« ließ sich Yvonne, heftigst beschäftigt, vernehmen. Gleich darauf fragte sie: »Was ist bloß, Burschi? Hast mich denn gar nicht lieb?«

»Kikeriki!« schrie de Brakeleer. Jetzt hatte er Tränen in den Augen, die Video-Recorder-Aufzeichnung zeigte es ganz deutlich. Nora Hills Hausfernsehanlage funktionierte ausgezeichnet. Der Holländer trampelte vor Wut, Yvonne saugte und streichelte und kniff – es war alles vergebens. Das letzte Bild verschwand von der Filmleinwand, die sofort darauf blendend hell wurde. Jean Mercier schaltete den Vorführapparat ab und das Deckenlicht in dem fensterlosen Hinterzimmer des luxuriösen Reisebüros ›Bon Voyage‹ ein. Der Franzose schlief kaum noch. Er hatte einen mächtigen Rüffel von seinen Vorgesetzten erhalten, die er beständig verfluchte. Was konnte er dafür, daß alles so schiefgelaufen war, daß diese Valerie Steinfeld den Doktor Raphaelo Aranda vergiftete, bevor man geschäftseinig wurde? Der Doktor hatte einen unverschämt hohen Betrag gefordert. Der war von Merciers Vorgesetzten abgelehnt worden. Drücken, befahlen sie Mercier, drücken! Mercier hatte versucht, die offensichtliche Panik, in welcher der Argentinier lebte, auszunützen, um ihn zu drücken.

Es wäre mir auch gelungen, dachte Mercier immer wieder bitter. Aber da griff diese Steinfeld ein. Und jetzt bin ich schuld an allem. Sollen sich meine Bonzen doch bei Santarin und Grant beschweren, daß die ihnen die Tour vermasselt haben! Ich habe getan, was möglich war. Schon im eigensten Interesse.

Im eigensten Interesse hatte Jean Mercier seit 1940 getan, was möglich war. Damals nahmen sich die Deutschen des jüngsten Majors im ›Deuxième Bureau‹, den sie verhaftet hatten, an. Sie mußten ihn nur drei Tage foltern, dann hatten sie einen ergebenen neuen Mitarbeiter gewonnen, der in den folgenden Jahren Landsleute verriet, Verschwörungen aufdeckte und Resistance-Ringe sprengen half. Mercier war ein getreuer Diener der Deutschen. Er mußte immer an die drei Tage im Keller denken, und er besaß eine Frau, die er sehr liebte.

Für das, was er getan hatte, wurde er 1945 wieder verhaftet und gefoltert, von Franzosen diesmal. Seine Frau erschossen ein paar Patrioten in ihrer Küche. Mercier wurde nicht erschossen. Er war ein zu wertvoller Mann. Und er konnte Schmerzen nicht ertragen. So wurde er Agent für Frankreich – auf Zeit, vierundzwanzig Jahre nun schon war er das, eingesetzt an den verschiedensten Orten, zuletzt in Wien. Wenn er noch fünf Jahre gut arbeitete, hatte er Anspruch auf eine kleine Pension und konnte sich zur Ruhe setzen. Wenn er nicht gut arbeitete, würde er das Leben verlieren – sehr qualvoll, das sagten sie ihm immer wieder …

Es war lange Zeit sehr still in dem Hinterzimmer. Außer Mercier und De Brakeleer befanden sich hier noch zwei stämmige, schweigsame Franzosen, die an einer Wand lehnten und Zigaretten rauchten. Mercier hatte sie zu dieser Besprechung hinzugebeten. Man konnte nie wissen, was ein Mann in seiner Aufregung anstellte.

Willem de Brakeleer stellte gar nichts an.

Er saß da wie ein sehr toter Riesenfisch mit blondem Haar. Sein Mündchen stand kreisrund offen. Die Augen waren aus den Höhlen getreten, die rosigen Patschhände lagen gleich Flossenenden auf den dicken Knien. Er trug einen Anzug, der ihm zu klein war und sich über der mächtigen Figur spannte.

Eine Uhr neben der Leinwand zeigte die Zeit: 18 Uhr 43.

Der Holländer verzog das Gesicht plötzlich. Er sagte – französisch – voller Selbstmitleid: »Nie, nie, nie hätte ich gedacht, daß Madame Hill sich zu einer solchen Gemeinheit hergibt.«

»Oh!« Mercier winkte ab. »Da sind Sie aber in einem großen Irrtum befangen, Monsieur. Madame Hill hat mit diesem Film nicht das Geringste zu tun. Sie weiß nichts von ihm. Sie wäre außer sich, wenn sie wüßte, daß wir ihn angefertigt haben.«

»Sie weiß nichts …«

»Sie hat keine Ahnung.« Mercier war ein Mann der Prinzipien: Eine Frau, die einem geholfen hatte, verriet man nicht. »Keinen Schimmer einer Ahnung! Wofür halten Sie Madame? War sie nicht immer entgegenkommend? Freundlich? Hat sie nicht alles getan, was in ihren Kräften stand, um Sie glücklich zu machen?«

»Sie schwören, daß Madame nichts mit diesem … Film zu tun hat?«

»Ich schwöre es beim Leben meiner Mutter«, sagte Mercier. Seine Mutter war seit dreißig Jahren tot. Er hob die Brauen. »Es war gar nicht leicht, die automatische Anlage zu installieren, ohne daß Madame etwas merkte. Wir brauchten einige Nächte dazu. Und die Hilfe eines Mädchens natürlich.«

»Yvonne!«

»Nein, nicht Yvonne. Das schwöre ich Ihnen auch. Ein anderes Mädchen. Sie kennen es gar nicht. Glauben Sie, Yvonne hätte sich für so etwas hergegeben?«

Der Holländer schüttelte gramvoll den Kopf.

»Aber warum?« stöhnte er.

Der eine Bulle an der Wand lachte kurz.

»Tja, warum, Monsieur. Sehen Sie, wir beide befinden uns in einer unangenehmen Situation.«

»Wieso?«

»Sie sind Generalvertreter einer englischen Firma, die Kampfflugzeuge, vor allem Jagdbomber, herstellt. Sie verdienen hervorragend. Man würde Sie natürlich von einem Tag zum andern feuern, wenn dieser Film – in mehreren Kopien – Ihren internationalen Geschäftspartnern und Ihrer Firma, der …« – Mercier nannte einen Namen – »… zugeschickt würde. Sind Sie meiner Meinung?«

De Brakeleer ächzte laut.

»Was habe ich Ihnen getan? Ich kenne Sie überhaupt nicht. Warum wollen Sie mich vernichten?«

Der eine Bulle an der Wand lachte wieder. Er hatte Sinn für Komik. Merciers Stimme wurde sanft, fast schnurrend.

»Ich will Sie nicht vernichten. Ich will Sie um einen Gefallen ersuchen. Monsieur, Sie haben einmal bei der Polizei gearbeitet. Sie hatten einen hohen Posten. Sie waren – auf Interpol-Ebene – Chef der Einbruchsbekämpfung in den Niederlanden.«

»Woher wissen Sie …«

»Wir haben uns natürlich über Sie erkundigt, Monsieur. Wir suchten einen Mann wie Sie. Nur Sie können uns helfen. Sie haben Ihre Position vor fünf Jahren aufgegeben, weil Sie bei …« – er nannte wieder den Namen der Flugzeugwerke – »… ein Vielfaches verdienten. Aber Sie stehen noch mit Ihren alten Kollegen in Verbindung, und Sie kennen sich im Metier noch aus. Sie wissen, wer wer ist.«

»Das ist eine Agentengeschichte, was? Sie sind ein französischer Agent!«

»Wie kommen Sie auf diese Idee, Monsieur? Bitte, sagen Sie so etwas nicht. Nie mehr. Zu niemandem. Sonst gehen Kopien des Films sofort …«

»Schon gut, schon gut. Also Sie sind kein Agent. Und was fehlt Ihnen?«

»Ein Film«, sagte Jean Mercier.

»Noch ein Film?«

»Es handelt sich um eine komplizierte Geschichte. Monsieur De Brakeleer.« Traurig sagte Mercier: »Viele Filme spielen in ihr eine Rolle. Filme aller möglichen Art. Dieser Art …« – er wies zu dem Vorführgerät – »… und anderer. Außer einem Film fehlt mir auch noch ein Manuskript. Das Manuskript liegt bei einem Anwalt. In einem Tresor mit einer siebenstelligen Nummernkombination.«

»Siebenstellig!« wiederholte De Brakeleer erschrocken.

»Angeblich siebenstellig. Ein Problem, ein großes Problem. Der Film liegt auch in diesem Tresor. Wenn er nicht darin liegt, dann gibt das Manuskript Auskunft darüber, wo er zu finden ist. Aber ich kann natürlich nicht einen Tresor mit einer siebenstelligen Kombination öffnen. Niemand, den ich kenne, kann das. Trotzdem muß es geschehen, Monsieur. Sehr bald.«

»Ach so!« Der Holländer wurde plötzlich dunkelrot im Gesicht. »Und Sie meinen, ich würde Fachleute kennen, die …«

»Das meine ich, ja.«

»Aber das ist doch verrückt! Selbst wenn ich von einem solchen Mann wüßte – was könnte ich ihm sagen?«

»Daß er nach Wien kommen und den Tresor öffnen soll, ganz einfach. Er kann dafür jeden Betrag haben, den er fordert. Ich bezahle. Die Hälfte im voraus, die Hälfte sofort nach Ende der Arbeit. Nun?«

»Sie erpressen mich!« klagte De Brakeleer.

Der erste Bulle verschluckte sich fast vor Lachen. Der zweite ließ laut einen fahren und lachte gleichfalls.

»Den hatte ich schon lange auf der Pfanne«, sagte er. »Der Dicke fördert meine Gesundheit.«

Mercier sagte nichts und sah De Brakeleer nur lächelnd an. Dummköpfe und Schufte, dachte er. Schufte und Dummköpfe. Wenn ich es erlebe, gehe ich in irgendein Nest an der Côte d’Azur. Ein Fischerdorf. Ich liebe die Riviera.

De Brakeleer murmelte: »Siebenstellig … Das ist ja Irrsinn! Soweit ich weiß, kommt überhaupt nur ein einziger Mann in Frage, der einen solchen Tresor schafft …«

»Na, wunderbar!«

»… aber dieser Mann hat sich vor vier Jahren zur Ruhe gesetzt. Er ist nicht mehr im Milieu. Er arbeitet nicht mehr. Ein Deutscher. Lebt in Bremen. Reicher Mann.«

»Man ist nie reich genug. Er wird eben noch einmal arbeiten. Für viel, sehr viel Geld. Sie werden ihn überzeugen. Appellieren Sie an seinen künstlerischen Ehrgeiz! Tun Sie, was Sie für richtig halten. In drei Tagen spätestens muß dieser Mann seine Bereitschaft erklären, sonst …«

»Hören Sie doch endlich auf, mir zu drohen! Glauben Sie, ich werde jetzt nicht tun, was ich nur kann? Mein Gott! Und alles nur, weil ich …« De Brakeleer brach ab und stützte den schweren Kopf in die Patschhände. Er war sehr unglücklich. Endlich hob er den Kopf wieder. »So, wie Sie sich das vorstellen, geht das nicht, Monsieur! Dieser Spezialist muß wissen, um was für einen Tresor es sich handelt, bevor er seinen Plan entwirft, bevor er sich an die Arbeit macht. Das ist schwieriger als eine Gehirnoperation …«

»Ich weiß.«

»Der Spezialist muß die Type des Tresors kennen, die Herstellerfirma, wegen der Eigenheiten jeder einzelnen Firma, er muß wissen, wie der Tresor steht, ob er eingebaut ist, welche Warnanlagen er besitzt, in welcher Straße und in welchem Haus und in welchem Stockwerk die Anwaltskanzlei liegt … er braucht Details …«

»Darum fahren Sie jetzt schon zu ihm. Ihr Mann soll Ihnen genau sagen, was er wissen muß. Ich werde ihm die Informationen beschaffen, die er benötigt, Fotos, Lagepläne, alles«, sagte Mercier und dachte, heute ist Sonntagabend. Wenn der Inspektor Schäfer morgen das Inserat im ›Kurier‹ aufgibt, das wir ihm vorgeschrieben haben, dann erscheint es übermorgen. Und am Mittwoch können wir schon mit Schäfer einig sein. Mercier war davon überzeugt, daß der Inspektor die Adresse des Anwalts, zu dem er das Manuskript getragen hatte, verraten würde – gegen viel Geld natürlich. Mercier hatte sich von den Bonzen Vollmachten geben lassen. Daß Schäfer das Manuskript befördert hatte, wußte Mercier dank eines Mannes, den er im Sicherheitsbüro ständig bezahlte. Der Mann kostete wenig, er war ein kleiner Beamter, der nie viel meldete. Nur diesmal eben hatte er von Schäfers Botengang erfahren und sein Wissen Mercier noch am Donnerstagabend mitgeteilt. Man konnte die Menschen entweder erpressen oder bezahlen. Eines von beidem ging immer. Daran glaubte Mercier fest. Die sich nicht erpressen ließen, weil es kein Material gegen sie gab, ließen sich bezahlen. Alle. Ausnahmslos. Es kam nur auf den Preis an. Was für ein Glück, dachte Mercier, daß Schäfers Frau Multiple Sklerose hat und ihm das Geld für das Sanatorium ausgeht. Er sagte: »Sie sprechen mit Ihrem Spezialisten. Sie überzeugen ihn.«

»Aber wenn ich das nicht kann …«, jammerte De Brakeleer.

»Das wäre böse für Sie. Sie müssen sich Mühe geben, mein Bester. Dann werden Sie es schon können. Sie kehren nach Wien zurück und erhalten alle benötigten Informationen. Danach fliegen Sie noch einmal zu Ihrem Genie. Und wenn er alles weiß, was er wissen muß, kommt er sofort her …«

39

Es war wärmer geworden gegen Abend, und nun schneite es wieder heftig in dicken, weichen Flocken. Der Wind hatte sich gelegt. Die Stadt versank weiter und weiter in Schnee. Das Fehlen des gewöhnlichen Verkehrslärms an diesem Sonntag ließ, im Verein mit dem unendlichen Fallen der Flocken, eine riesige, unwirkliche Stille entstehen, so, als sei diese Stadt fast gänzlich ausgestorben, eine gewaltige Ansammlung von Häusern, Hütten, Gebäuden, Palästen, Kirchen und Lichtern, die allein deshalb hinter den Fenstern brannten, weil die Menschen durch den Tod überrascht und daran gehindert worden waren, sie zu löschen.

Der Weinhauer Ernst Seelenmacher hatte sechs Gäste in seinem kleinen Heurigen. Er trug einen grau-grünen Lodenanzug und ein weißes, am Hals offenes Hemd, wie immer. Er saß an dem Tischchen mit der Zither, und er spielte langsame, traurige Weisen. Er sang nicht an diesem Abend. Sein von Wind und Regen gegerbtes Gesicht trug einen entrückten Ausdruck. Er war mit den Gedanken weit fort. Sein Freund, der Hofrat Wolfgang Groll, hatte angerufen und gesagt, daß Manuel Aranda kommen werde: Der junge Mann befinde sich in einem gefährlichen Gemütszustand. Er habe eben zur Kenntnis nehmen müssen, daß sein Vater ein skrupelloser, verbrecherischer Mensch gewesen war.

Gegen neun Uhr war Manuel auch wirklich erschienen – in Begleitung einer jungen Frau, die gleichfalls ernst und bedrückt wirkte.

»Er hat sich von hier aus noch mit der Nichte dieser Valerie Steinfeld verabredet«, hatte Groll seinem Freund am Telefon gesagt. »Sie werden irgendwo essen, und dann will der Junge bei dir etwas trinken. Er sagte, dein Wein habe ihm damals so gut getan. Und die junge Frau erklärte, sie wolle den Abend nicht zu Hause verbringen. Sei nett zu den beiden. Paß ein bißchen auf sie auf – vor allem, daß der Junge nicht zuviel trinkt. Der braucht jetzt einen klaren Kopf. Ich würde mich wahrscheinlich vollaufen lassen, wenn ich an seiner Stelle wäre …«

Manuel Aranda und Irene Waldegg saßen allein in einem der vier kleinen Räume, die alle weiß gekalkt und durch Bogengänge miteinander verbunden waren. Ein leerer Weinheber und Gläser standen vor ihnen. Irenes Augen waren an diesem Abend sehr groß und seltsam feucht. Ihr braunes Haar glänzte im Licht. Sie trug ein graues Kostüm, einen violetten, hochgeschlossenen Pullover, und sie war etwas geschminkt. Die blassen Wangen schienen rosig, die blutleeren Lippen zinnoberrot zu sein. Die beiden Menschen saßen nebeneinander auf einer Holzbank und lauschten dem Spiel Seelenmachers.

Von Zeit zu Zeit, nach Perioden des Schweigens, begann Manuel immer wieder hektisch zu reden. Das ging seit Stunden, seit er Irene abgeholt hatte. Beim Abendessen in einem Lokal in Währing war das so gewesen, im Auto unterwegs, hier, beim Wein. Jetzt hatte Manuel sich gefangen – äußerlich. Er konnte ruhig und zusammenhängend sprechen, ohne Hysterie, ohne laut zu werden.

Ein junges, hübsches Mädchen in einem Dirndl kam, nahm den leeren Weinheber vom Tisch und stellte einen neuen hin.

»Herr Seelenmacher läßt schön grüßen«, sagte sie dazu lächelnd. »Er hat gesehen, daß Sie nichts mehr zu trinken haben.«

»Danke!« Manuel blickte durch den Bogengang in den Nebenraum. Seelenmacher nickte und lächelte. Auch Manuel nickte. Er füllte die Gläser neu und trank Seelenmacher zu. Der Weinhauer hob, ohne das Spiel zu unterbrechen, sein Glas.

Manuel sah Irene an, lange und so, als hätte er sie noch nie gesehen. Sie erwiderte seinen Blick ernst. Ihre Stimme klang unsicher, als sie sagte: »Sie fliegen also zurück. Wann …?«

»Morgen abend. 23 Uhr 40. Es gäbe die Möglichkeit, schon am Vormittag zu fliegen. Aber ich muß noch auf Cayetano warten.«

»Wer ist das?«

»Der Generaldirektor der QUIMICA ARANDA. Vertrauter und Stellvertreter meines Vaters. Ein Freund. Auch meiner. Habe ich stets geglaubt. Hoffe ich noch immer. Er hat die Leitung der Geschäfte übernommen und sich um alles gekümmert … auch um das Begräbnis meines Vaters … Ich war ja nicht da …« Manuel trank hastig. »Wir haben häufig miteinander telefoniert in den letzten Nächten. Da ist es drüben Tag … Er sagte, er werde schnellstens nach Wien kommen. Er bringt zwei unserer Anwälte mit.«

»Warum?« fragte Irene.

»Nun, ich wollte doch in Wien bleiben! Ich wollte herausfinden, warum Ihre Tante meinen Vater …« Manuel brach ab. Ein Schweigen folgte. Er sprach mühsam weiter: »Es war dringend nötig, daß ich mit Cayetano redete. Das Werk muß schließlich weiterarbeiten. Die Besitzverhältnisse müssen geklärt werden. Ich bin der Erbe. Mit den beiden Anwälten hätten wir auf der argentinischen Botschaft alles erledigen können, die Umschreibung der Fabrik auf mich, alle Formalitäten … Cayetano hätte drüben als mein Vertreter weitergearbeitet. Und ich hätte bleiben können.«

»Aber jetzt wissen Sie, was Ihr Vater getan hat, und müssen zurück.«

»Ja. Cayetano und die Anwälte landen morgen mittag in Wien. Sie werden mit mir heimfliegen. Ich will sie nicht unterwegs alarmieren. Vor allem, weil ich annehmen muß, daß Cayetano von der Geschichte wußte …« Manuel preßte beide Hände gegen den Kopf. Irene sah ihn mitleidig an. Er schien das zu fühlen, denn er ließ die Hände sinken und sagte mit Mühe: »Der Wein ist gut, nicht wahr?« Dann fragte er leise: »Darf ich … darf ich Sie nun, vor dem Abschied, Irene nennen?«

»Ja, Manuel«, sagte sie. Und hastig. »Das ist ein schönes Lied.«

Er winkte das hübsche Mädchen im Dirndl herbei.»Der Herr wünschen?«

»Dieses Lied, das Herr Seelenmacher spielt – ich habe es schon einmal hier gehört.«

Das Mädchen sagte: »Er spielt es oft, der Herr Chef. Es ist gar keine Heurigenmusik. Aber sein Lieblingslied. Von Bach, glaube ich.«

»Würden Sie ihn fragen, ob er es für uns auch singen will?«

»Gerne.« Das Mädchen ging zu Seelenmacher und sprach mit ihm. Der Weinhauer nickte herüber, zupfte ein paar Übergangsakkorde und begann die zarte, wehmütige Melodie von neuem. Nun sang er, leise und mit tiefer Stimme: »Willst du dein Herz mir schenken, so fang es heimlich an – daß unser beider Denken niemand erraten kann …«

Manuel und Irene saßen ganz still. Sie sahen sich nicht an.

Seelenmacher sang die zweite Strophe: »Die Liebe muß bei beiden allzeit verschwiegen sein. Drum schließ die größten Freuden in deinem Herzen ein …«

»Die größten Freuden«, sagte Manuel. Er starrte auf die Holzplatte des Tisches. »Die größten Freuden …«

»Es wird vorübergehen«, sagte Irene. »Alles geht vorüber. Als Valerie tot war, da dachte ich, die Welt müßte zu Ende sein. Sie ist es nicht.«

Er hob den Kopf.

»Das Geheimnis wurde verraten. Amerikaner und Russen kennen es. Genügt das nicht?«

»Sie werden dafür sorgen, daß es nicht auch noch andere Länder kennenlernen. Sie werden …«

»Jajaja«, sagte er verzweifelt. »Ich werde! Ich werde! Und was erreiche ich damit? Natürlich muß ich es tun. Sofort. Schnellstens. Der Staat muß mir helfen dabei. Er wird mir helfen. Mein Land kann es nicht riskieren, in einen Weltskandal verwickelt zu werden. Aber mein Vater war nicht allein! Die Männer in diesem geheimen Werk – ich ahne noch nicht einmal, wo es ist –, die mit ihm arbeiteten … so etwas ist immer Teamarbeit … Alle diese Männer wissen Bescheid. Was macht man mit ihnen? Kann man sie töten, damit sie auch bestimmt schweigen? Kann man sie einsperren für den Rest ihres Lebens? Man kann es nicht! Wie viele von ihnen haben wohl auch schon verraten, was sie wissen?« Er sah völlig hilflos aus. »Ich bin zu jung, Irene … zu jung für all das, was passiert … Ich bin allein … ich weiß nicht, was nun werden soll … Ich weiß nur, daß ich nach Hause muß, um zu versuchen, noch Schlimmeres zu verhindern, als mein gottverfluchter Vater schon angerichtet hat …«

Er sah aus wie ein Schüler in diesem Moment, und Irene hatte Angst, daß er in Tränen ausbrechen würde. Seine Unterlippe zitterte. Er hielt das Glas mit beiden Händen, als er trank. Auch die Hände zitterten.

Irene sagte: »Dieser Cayetano wird Ihnen helfen.«

»Und wenn nicht? Wenn er mit meinem Vater unter einer Decke gesteckt hat?«

»Das glaube ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Warum hat Ihr Vater seine Geschäfte in Wien abgewickelt?« Er starrte sie an, das Glas noch in den Händen.

»Ja, das ist richtig …«

Sie sprach schnell weiter: »Warum hat er es nicht von Buenos Aires aus erledigt? Nein! Heimlich und mit allen Vorsichtsmaßnahmen hat er es hier getan. Das muß doch einen Grund haben. Und vielleicht ist der Grund der, daß Cayetano eben nichts davon ahnte …«

»Ja, das wäre möglich. Möglich wäre es …«

»Vielleicht war Ihr Vater der einzige, der über alles Bescheid wußte. Vielleicht … Ich meine, Sie sagten doch selber, das sei immer eine Teamarbeit … Die Mitarbeiter, die Ihr Vater hatte, die kennen vielleicht jeder nur ihr Gebiet des Projekts … ein kleines Teilgebiet …«

Er wurde lebhaft.

»Dann muß ich erst recht schnellstens heim!«

»Aber Ihre Sicherheit!« Irene schrak auf. Der Gedanke war ihr plötzlich gekommen. »Wie wollen Sie sich schützen?«

»Das Material bleibt bei dem Anwalt.«

»Sie können ihn doch nicht täglich von drüben anrufen – in alle Ewigkeit!«

»Ich werde ihm vor meinem Abflug mitteilen, daß ich nicht mehr anrufe. Wenn mir etwas passiert, wird er davon erfahren. Dann ist es immer noch Zeit, das Material der Öffentlichkeit zu übergeben.«

»Und wenn er es nicht erfährt?« Nun war Irenes Stimme unruhig. »Wenn Ihnen etwas zustößt drüben … und es wird vertuscht … so geschickt, daß man hier glaubt, es ginge Ihnen gut …«

»Der Hofrat Groll meint, das ist unmöglich, weil ich mich sofort mit den Behörden in Verbindung setzen werde. Ich bleibe ja auch deshalb noch hier bis morgen nacht: Sobald Cayetano da ist, gehe ich mit ihm zur Botschaft und erstatte Strafanzeige gegen meinen Vater und das Werk. Die Botschaft muß das zur Kenntnis nehmen. Der Staat auch …« Manuels Stimme war immer leiser geworden.

»Hoffentlich«, sagte Irene, noch leiser. Sie sahen sich an.

»… daß unser beider Denken niemand erraten kann«, erklang die Stimme Ernst Seelenmachers. Er hatte das Lied ein zweites Mal gesungen, jetzt erst bemerkten sie es.

40

Zu dieser Zeit – 21 Uhr 55 – übergab ein Inspektor des Sicherheitsbüros dem Anwalt Dr. Stein in der Halle von dessen Villa in Döbling einen schwarzen, flachen Karton.

Der Inspektor Alfred Kernmayr war Dr. Stein telefonisch durch Groll angekündigt worden, als Manuel sich, wie täglich, bei dem Anwalt gemeldet hatte.

»Da ist ein Karton, der muß unbedingt sofort in den Tresor, Doktor. Tut mir leid, daß ich Sie damit heute, am Sonntag, überfalle, aber es ist äußerst wichtig.«

»Lieber Hofrat, ich bringe ihn gern in die Stadt. Nur im Moment geht es nicht. Wir haben Gäste. Ich fahre, sobald die weg sind.«

»Gut«, hatte Groll gesagt. »Ich wollte Ihnen ja am liebsten wieder meinen alten Schäfer schicken, aber der ist heute bei seiner kranken Frau. So bringt Inspektor Kernmayr den Karton. Er wird sich ausweisen. Und ich danke Ihnen.«

In der mit Kupferdraht gesicherten Schachtel lag auf der Filmrolle eine Durchschrift des dechiffrierten Manuskripts von Manuels Vater. Die andere Kopie hatte Groll verbrannt. Er hatte auch mit seinem Freund Hanseder von der Staatspolizei telefoniert. Der war nur zu einverstanden damit gewesen, daß der Film schnellstens in den Tresor Dr. Steins kam. »Wir haben den Klartext. Damit müssen wir vorsichtig genug sein. Der Film gehört dem jungen Mann«, sagte Hanseder. »Er wird jetzt hoffentlich nicht die Nerven verlieren und alles an die große Glocke hängen?«

»Nein, davon habe ich ihn abgebracht. Schwer. Er ist völlig außer sich.«

»Kann ich mir denken.«

»Der hat sich mächtig verändert in ein paar Stunden, Franz. Der ist in ein paar Stunden ein paar Jahre älter geworden! Wie besessen. Manisch. Er fliegt morgen nacht heim, um dort nach dem Rechten zu sehen, aber er wird mehr denn je versuchen, die ganze Wahrheit herauszubekommen.«

»Wird er sie je herausbekommen?«

»Ich weiß es nicht. Er spielt mit seinem Leben, das ist ihm klar.«

»Und Jimmy ging zum Regenbogen«, murmelte Hanseder.

»Tun wir das nicht alle?« fragte Groll. »Wollen wir nicht alle – für uns, für andere – das Unmögliche?«

Nachdem der Inspektor Kernmayr den Karton übergeben hatte, fuhr der Anwalt Stein, gefolgt und bewacht von sechs Beamten in drei Autos des Sicherheitsbüros, durch das Schneetreiben zu seiner Kanzlei auf dem Kohlmarkt. Er verwahrte den Karton in dem riesigen Tresor seines Sprechzimmers, wo dieser in die Mauer eingebaut war und eine halbe Wandseite einnahm. Dreißig Minuten später war Stein wieder daheim. Seine Frau kannte ihn gut und lange. Er führte eine glückliche Ehe. Seine Frau fragte nicht, warum er fortgefahren war und was das alles zu bedeuten hatte. Sie wußte: Ihr Mann und der Hofrat Groll waren befreundet. Stein tat oft seltsame Dinge, nachdem er mit Groll gesprochen hatte.

»Wenn das so weiterschneit, bricht morgen früh der ganze Verkehr im Land zusammen«, sagte der Anwalt.

»Ja, Liebling, es schneit wirklich sehr stark«, antwortete seine Frau.

41

»Was haben Sie?« Manuel starrte Irene an.

»Einen Schwips. Endlich!«

»Unsinn! Was haben Sie getan? Was sagten Sie eben?«

»Nichts Besonderes …« Irene lehnte sich zurück. »Geben Sie mir eine Zigarette? Danke …« Sie blies eine Wolke Tabakrauch aus. »Ich hätte gar nichts davon erzählt. Aber da Sie mich nach meinem Verlobten fragten …«

»Ja, ich fragte nach ihm, weil … weil … Ich dachte plötzlich, er könnte es ungehörig finden, daß wir hier zusammensitzen … Ich wollte nicht … und da sagten Sie …«

»Ich sagte, daß ich ihn hinausgeworfen habe«, erklärte Irene ruhig.

»Ich verstehe nicht … Sie sind verlobt …«

»Nicht mehr. Ich war es, ja, fast ein Jahr. Und ich kannte diesen Mann fast drei Jahre. Ich glaubte, ihn zu kennen! Ich habe mich getäuscht.« Irene sog hastig an der Zigarette. Ihre Stimme zitterte jetzt etwas. »Ich war sehr verliebt in ihn … ich … ja, ich liebte ihn! Heuer wollten wir heiraten.« Irene hob eine Hand. »Schluß. Aus. Vorbei. Es tut schon gar nicht mehr weh …«

»Was hat dieser Mann Ihnen angetan?«

Irene lachte kurz.

»Er ist Staatsanwalt. Sehr ehrgeizig. Sehr erfolgreich. Erstklassige Familie, Alter Herr einer einflußreichen Studentenverbindung. Es fing schon an, als Valerie Ihren Vater und dann sich vergiftete.«

»Was fing da an?«

»Er bekam den Schrecken seines Lebens! Man wußte, daß wir verlobt waren. Der Skandal! Ich – die Nichte einer Mörderin und Selbstmörderin. In einen völlig, undurchsichtigen Kriminalfall verwickelt. Zuerst selber unter Verdacht gewesen. Da meinte mein Freund, er könne mich ein paar Tage nicht sehen. Bis sich alles beruhigt hat.« Sie sprach lächelnd, aber ihre Augen wurden feuchter. »Es beruhigte sich nur nichts. Im Gegenteil. Sie tauchten auf. Mein Freund konnte sich ausrechnen, daß diese Geschichte noch lange nicht zu Ende war. So trafen wir uns am Freitagabend, er wollte mit mir sprechen. Er schlug vor, daß wir uns nicht sehen, bis alles wirklich vorbei ist. Er muß schließlich auf seine Stellung Rücksicht nehmen. Und auf seine Familie. Natürlich liebt er mich wahnsinnig …« – Irene lachte, nun schon leicht betrunken – »… aber eben der Ruf, der gute Ruf, nicht wahr? Ich sollte mir alles bis Samstag überlegen. Da wollte er mich wieder treffen. Er traf mich auch. Und als ich ihm sagte, was ich von ihm hielt, wurde er böse, sehr böse! Das war eine … eine häßliche Begegnung.« Irene hob ihr Glas. Manuel füllte es, und sie trank wieder.

»Ich sagte ihm, daß ich erwartet hätte, er würde gerade in dieser Situation zu mir stehen. Eine vorläufige Trennung lehnte ich ab. Er wand und drehte sich. Er kam mit tausendundeinem Grund dafür, warum wir uns trennen müßten, bis Gras über die Sache gewachsen sei. Und plötzlich … kennen Sie das, Manuel? … plötzlich bemerkte ich, daß ich ihn überhaupt nicht liebte … daß da ein fremder Mann vor mir saß … ein abstoßender, eitler, hochmütiger, unbarmherziger, karrierebesessener Mann … kein Mann für mich … und da warf ich ihn hinaus …« Sie drückte ihre Zigarette aus und lachte unsicher. »Deshalb konnte ich Sie nicht sehen an diesen beiden Abenden. Nun wissen Sie es. Nun ist es vorüber. Schauen Sie, ich habe Ihnen also auch noch eine Geschichte zu erzählen gehabt.«

»Keine schöne.«

»Nun, das ist die Ihre ebenfalls nicht.«

»Irene …«, begann er.

»Ja?«

»Nichts …« Er senkte verlegen den Kopf.

»Schon gut«, sagte Irene Waldegg. »Schon gut. Es ist schon alles gut, Manuel.«

»Nichts ist gut!« sagte er.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Irene.

Und danach saßen sie schweigend nebeneinander und blickten auf ihre Gläser, lange Zeit. Sie schreckten zusammen, als sie Seelenmachers Stimme hörten.

»Ich will nicht stören. Aber Sie schauen so unglücklich aus, alle beide, da habe ich mir gedacht, ich muß mit Ihnen reden. Mein Freund Groll hat mir gesagt, daß Sie große Sorgen haben, Herr Aranda, und uns verlassen wollen.«

»Ich will nicht, weiß Gott … aber ich muß!«

Ernst Seelenmacher hielt einen Krug und drei neue Gläser in den Händen. »Darf ich mich zu Ihnen setzen?«

»Gerne. Aber Ihre Gäste …«

»Sind schon alle gegangen … Als Sie das erste Mal hier waren, da befanden Sie sich in einer ähnlichen Situation, Herr Aranda. Oben in meinem Arbeitszimmer, erinnern Sie sich?«

Manuel nickte.

»Und ich brachte Ihnen eine ähnliche Weinsorte – Frühroten Veltliner. Und wir tranken zusammen.«

»Ja«, sagte Manuel, »und Sie erzählten mir, daß Sie ein Priesterseminar besucht haben und eigentlich Pfarrer werden wollten. Und von Ihrer Freundschaft mit jenem Rabbiner. Und die Geschichte von den sechsunddreißig Gerechten, ohne welche die Welt keinen einzigen Tag bestehen könnte, und die es immer gibt.«

»Immer«, sagte Seelenmacher und goß die neuen Gläser voll. »Sie zweifeln daran?«

»Ja, sehr.«

»Es ist so … Sie sind unglücklich, alle beide. Sie sind ratlos, alle beide. Ich weiß, welches Unglück Ihnen widerfahren ist, Herr Aranda. Sie irren umher, Sie vermuten Zusammenhänge, aber Sie finden keine. Sie glauben nicht an Zufall, aber Sie sehen auch keine Gesetzmäßigkeit. Die Zeit wird kommen, da werden Sie sehen, daß eine – nun, keine Gesetzmäßigkeit, aber daß doch das Gesetz des Schicksals hinter allem steht, was geschehen ist, weil wir alle Menschen sind, hineinverstrickt in die Menschenwelt. Darf ich Ihnen noch eine Geschichte meines alten Freundes, des Rabbiners, erzählen?«

»Ja, bitte«, sagte Irene.

Ernst Seelenmacher sah auf seine großen, rauhen Hände. Er sah sich in dem Raum dieses Weinhauerhauses um, in dem schon vor mehr als vierhundert Jahren Menschen Schutz vor anderen Menschen gesucht und gefunden hatten.

»Diese Geschichte«, sagte Seelenmacher, »hat Martin Buber aufgeschrieben. Danach nahm im zaristischen Rußland der berühmte Rabbi Elimelekh einmal das Sabbatmahl zusammen mit seinen Schülern ein. Ein Diener stellte die Suppenschüssel vor ihn hin. Der Rabbi ergriff sie so ungeschickt, daß sie umfiel und die Suppe über den ganzen Tisch rann. Ein Schüler namens Mendel – er wurde später Rabbi von Rymanow – rief entsetzt: ›Was tun Sie bloß? Man wird uns alle in den Kerker werfen!‹ Die anderen Schüler lächelten über diese albernen Worte. Sie hätten laut herausgelacht – nur die Anwesenheit des Rabbi hinderte sie daran. Dieser lächelte nicht. Er nickte dem jungen Mendel zu und sagte ernst: ›Fürchte nichts, mein Sohn.‹«

»Ja«, sagte Manuel. »Und?«

»Einige Zeit später wurde bekannt, daß dem Zaren an eben diesem Samstag ein Gesetz vorgelegt worden war, das schwere Bestrafungen der Juden in ganz Rußland vorsah. Der Zar sollte nur noch unterschreiben. Immer wieder griff er zur Feder, aber immer wieder wurde er durch ein wichtiges oder triviales Ereignis gestört. Schließlich unterzeichnete er das Gesetz. Dann faßte er nach der Büchse, um Streusand auf die Urkunde zu klopfen, doch in seiner Nervosität nahm er statt dessen das Tintenglas und schüttete den gesamten Inhalt über das Dokument. Danach zerriß er es und verbot seinen Ministern, ihm einen solchen Erlaß noch einmal vorzulegen.« Seelenmacher sagte leise: »Der Rabbi Elimelekh war weit, weit vom Zaren entfernt, als er die Suppenschüssel umstürzte. Ein anscheinend sinnloser Vorfall, und zur gleichen Zeit ein Vorfall von historischer Bedeutung – gehörten sie nicht trotzdem zusammen in das Webmuster des Lebens? Provozierte der eine nicht den anderen? Waren sie nicht in Wahrheit nur eine Sache? Es gibt keine anderen Zufälle als magische«, sagte Seelenmacher. »Und diese hängen magisch miteinander zusammen …«

Danach war es still, und keiner der drei sah den anderen an, und draußen fiel der Schnee, geräuschlos, unaufhörlich, unerschöpflich, Gebieter über Stadt und Land, während zur gleichen Zeit ein kleines Mädchen namens Janine Clairon in einer Villa in Anfa, dem exklusiven Viertel von Casablanca, glücklich lächelnd träumte, es laufe über den Rasen des Gartens dem geliebten Vater entgegen, der endlich von seiner Reise heimgekehrt war.

42

Manuel hielt vor dem Haus in der Gentzgasse, schaltete die Scheinwerfer auf Standlicht und die Scheibenwischer aus. Irene und er sahen durch die Windschutzscheibe in das schwere Flockentreiben. Der Motor pochte leise, es war warm im Wagen.

»Das ist also der Abschied«, sagte er.

»Vielleicht könnte ich morgen noch zum Flughafen kommen? Mein Auto ist wieder repariert. Ich …«

»Nein.« Manuel schüttelte den Kopf. »Der Hofrat Groll hat davon abgeraten. Auch in Schwechat werden natürlich Agenten sein. Vielleicht fliegen sogar einige mit. Sie sollten da nicht mit mir auftauchen, sagte Groll. Tagsüber müssen Sie in der Apotheke arbeiten. Zu Mittag kommt Cayetano. Ich fürchte, wir sehen uns jetzt zum letztenmal.« Wie pathetisch das klingt, dachte er.

»Sie werden nicht mehr nach Wien zurückkommen?« fragte Irene nach einer Weile. Die Scheiben des Wagens waren schon fast ganz zugeschneit. »Aber ja … das heißt, vielleicht … später … Ich weiß ja nicht, was mich daheim erwartet.«

Sie wandte sich ihm mit einem jähen Ruck zu.

»Also dann, Manuel …«

»Ich habe noch eine Bitte«, sagte er scheu. »Kein Kuß, nein. Das wäre … wäre absurd, nicht wahr? Was ich gern haben möchte, das ist eine Fotografie von Ihnen.«

»Wozu?«

»Damit ich immer weiß, wie Sie aussehen.«

»Und was hätten Sie davon?«

Es war nun so dunkel im Wagen, daß er nur ihre Silhouette erkennen konnte.

»Ich … ich weiß nicht … Ich hätte eben gerne ein Bild.«

»Valerie hat eine große Schatulle, in der liegen alle unsere Fotos. Natürlich können Sie eines von mir haben.«

»Darf ich mit hinaufkommen?«

»Ja«, sagte sie.

»Danke.« Er schaltete den Motor ab. Durch hohen Schnee wateten sie zum Hauseingang. Der alte Aufzug zitterte und ächzte, als sie mit ihm emporfuhren. Irene sperrte die Wohnungstür auf. Sie ging voraus in das zentral gelegene große Zimmer und drehte alle Lichter an. Die Vorhänge waren noch nicht geschlossen, und Manuel sah die Schneeflocken in ihrer unendlichen Zahl, wie sie, beleuchtet vom Lampenlicht, im Hof zu Boden sanken.

»Hier«, sagte Irene. Sie stand vor einer Bücherwand und versuchte, ein großes Kästchen aus Mahagoniholz zwischen zwei schweren Bänden herauszuziehen.

»Ich helfe Ihnen!« Er eilte zu ihr, kam aber zu spät. Mit einem Ruck war das Kästchen plötzlich in Bewegung geraten, Irenes Händen entglitten und zu Boden gefallen. Der Deckel flog auf. Ein Strom von Fotografien, großen und kleinen, ergoß sich über den Teppich.

»Das habe ich ja fein gemacht!« Irene kniete nieder, sie las die Bilder auf. Er kauerte sich neben sie, um zu helfen. Fotos, Fotos sammelte er ein. Er suchte eines von Irene. Aber er fand keines unter denen, die er in die Hand nahm. Männer, Frauen, eine Frau …

»Das ist ein Bild Ihrer Tante, nicht wahr?«

Sie blickte auf und nickte.

Er hatte noch nie eine Fotografie Valerie Steinfelds gesehen, aber so, wie dieses Porträt sie zeigte, hatte er sie sich vorgestellt: ein ovales Gesicht, helle Augen, sehr helles Haar, vielleicht bleich geworden, vielleicht bleich getönt, die Haut noch glatt, der Mund groß und vollippig, die Nase klein, die Ohren anliegend und gut sichtbar unter der kurzen, sorgfältig geschnittenen Frisur. Valerie Steinfelds Gesicht war ernst auf diesem Bild, verschlossen und beherrscht. Sie hatte direkt in das Objektiv der Kamera gesehen.

»Ja, das ist Valerie. Vor ein oder zwei Jahren …«

Er blickte das Foto noch immer an.

Valerie Steinfeld. Ein Mensch mit einem Geheimnis. So sah sie auf dem Bild auch aus. Sie hatte es mit ins Grab genommen, ihr Geheimnis … Manuel hob weitere Fotos auf. Da war Valerie wieder – Jahrzehnte jünger, blond, lachend, glücklich, an der Seite eines großen, dunklen, lachenden Mannes. Und da, und da, immer wieder sie und dieser Mann – Paul Steinfeld sicherlich. Und da waren Fotos eines Jungen, sicherlich des Sohnes. Hier war ein Bild von Martin Landau – gewiß zwanzig Jahre alt …

»Was ist das?«

»Was?«

Irene hielt ein Blatt Papier in den Händen, das sie auseinandergefaltet hatte. Gelblich, alt und brüchig war dieses Papier, breit bedeckt mit Schriftzügen.

»Pasteur 1870 …«, las Irene verständnislos. »Das habe ich noch nie gesehen. Wie kommt das hier herein? Es muß ganz unten gelegen haben … Ich hatte das Kästchen eine Ewigkeit nicht in den Händen …«

»Zeigen Sie doch!« Manuel hatte einen Blick auf das alte Papier geworfen, und plötzlich klopfte sein Herz rasend. Er riß Irene das Blatt fast aus der Hand.

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