Auf dem breiten Balkon des Observatoriums blies der Wind von der heißen afrikanischen Küste den Duft blühender Pflanzen übers Meer heran und weckte beunruhigende Sehnsüchte in den Herzen. Mwen Maas vermochte sich einfach nicht in jenen Zustand klaren, selbstsicheren und zweifelsfreien Denkens zu versetzen, wie es vor einem verantwortungsvollen Experiment notwendig war. Ren Boos hatte aus Tibet mitgeteilt, dass der Umbau der Kor-Yull-Anlage abgeschlossen sei. Die vier Beobachter des Satelliten 57 hatten sich sofort bereit erklärt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, nur um bei dem Experiment mitzuhelfen. Etwas Derartiges hatte es auf dem Planeten seit Langem nicht gegeben.
Das Experiment sollte jedoch ohne die Erlaubnis des Rates und ohne die vorhergehende breite Diskussion aller Möglichkeiten gestartet werden, was dem Ganzen einen Beigeschmack feiger Geheimhaltung verlieh, die für den modernen Menschen so gänzlich untypisch war.
Ihr großes Ziel schien zwar alle diese Maßnahmen zu rechtfertigen, aber… das Gewissen verlangte nun mal nach einem sanften Ruhekissen. Daher kam es zu dem uralten menschlichen Konflikt zwischen einem Zweck und den Mitteln zu dessen Erfüllung. Die Erfahrung Tausender von Generationen lehrte, dass man stets den kritischen Punkt ermitteln musste, wie dies die Repagularrechnung bei abstrakten mathematischen Aufgaben tat. Aber wie sollte man im Falle von Intuition und Moral eine solche Rechnung anstellen?
Dem Afrikaner ließ das Schicksal von Bet Lon keine Ruhe. Vor zweiunddreißig Jahren hatte einer der bekanntesten Mathematiker der Erde, Bet Lon, herausgefunden, dass einige Anzeichen in der Verschiebung starker Kräftefelder durch die Existenz paralleler Dimensionen erklärt werden können. Er führte eine Reihe interessanter Experimente durch, bei denen Gegenstände einfach verschwanden. Die Akademie der Grenzen des Wissens fand einen Fehler in seinen Theorien und gab hinsichtlich der beobachteten Phänomene eine vollkommen andere Erklärung ab. Bet Lon war ein Mensch mit überdurchschnittlich entwickelten geistigen Fähigkeiten, gleichzeitig aber auch mit ungehemmten Wünschen und einem schwach ausgebildeten Sinn für moralische Werte. Eigensinnig und egoistisch, wie er war, beschloss er, seine Versuche in dieser Richtung fortzusetzen. Um schlagkräftige Beweise zu erhalten, warb er mutige junge Freiwillige an, die im Dienste der Wissenschaft zu allen Opfern bereit waren. Die Menschen verschwanden bei den Experimenten von Bet Lon genauso spurlos, wie es die Gegenstände getan hatten, und kein Einziger meldete sich je zurück von jener „Seite der anderen Dimension“, wie es der skrupellose Mathematiker so sehr gehofft hatte. Als Bet Lon eine Gruppe von zwölf Menschen ins „Nichtsein“ befördert oder, richtiger gesagt, umgebracht hatte, wurde er vor Gericht gestellt. Da er beweisen konnte, er sei davon überzeugt gewesen, die Menschen bewegten sich quicklebendig in der anderen Dimension und dass er nur mit Einwilligung seiner Opfer gehandelt habe, wurde Bet Lon zur Verbannung verurteilt, verbrachte zehn Jahre auf dem Merkur und zog sich dann auf die Insel des Vergessens zurück. Bet Lons Geschichte passte nach Mwen Maas’ Ansicht sehr gut auf ihn selbst. Auch Bet Lon hatte seine Experimente im Geheimen durchgeführt, getrieben von Motiven, die die Wissenschaft ablehnte, und diese Ähnlichkeit gefiel Mwen Maas ganz und gar nicht.
In zwei Tagen würde eine weitere Sendung über den Ring stattfinden, und danach hätte er acht Tage zur freien Verfügung — acht Tage für das Experiment.
Mwen Maas warf den Kopf zurück. Die Sterne schienen ihm heute besonders hell und nahe. Viele von ihnen kannte er bei ihren alten Namen wie gute Freunde. Ja, und waren sie nicht auch die ureigensten Freunde des Menschen, die ihm stets den Weg gewiesen, seine Gedanken beflügelt und ihn zum Träumen ermutigt hatten?
Der matte kleine Stern, der sich dem nördlichen Horizont zuneigte, war der Polarstern oder Gamma Cephei. In der Ära der Uneinigen Welt stand der Polarstern im Kleinen Bären, doch die Drehung der Randgebiete der Galaxis zusammen mit der Drehung des Sonnensystems führte ihn in Richtung Cepheus. Der in der Milchstraße sich aufwärts erstreckende Schwan, eines der interessantesten Sternbilder des Nordhimmels, hatte sich bereits mit seinem langen Hals nach Süden geneigt. Dort war ein schöner Doppelstern zu sehen, den die alten Araber Albireo genannt hatten. Aber in Wirklichkeit gab es dort drei Sterne: Albireo I, den Doppelstern, und Albireo II, ein riesiger hellblauer, weit entfernter Stern mit einem großen Planetensystem. Er war fast ebenso weit von der Erde entfernt wie das gigantische Gestirn am Schwanz des Schwans, der Deneb, ein weißer Stern mit der viertausendachthundertfachen Leuchtkraft der Sonne. Während der letzten Sendung hatte der Stern Schwan, ein treuer Freund der Erde, eine Botschaft von Albireo II aufgefangen, eine Warnung, die vierhundert Jahre nach ihrer Ausstrahlung angekommen, aber dennoch außerordentlich interessant war. Ein bekannter Weltraumforscher des Albireo II, dessen Name in der Erdsprache mit Wlich os Ddis wiedergegeben wurde, war im Gebiet der Lyra umgekommen, nachdem er mit der schrecklichsten Gefahr des Kosmos, einem Stern Ookr, zusammengestoßen war. Die Wissenschaftler der Erde rechneten diese Sterne zur Klasse E, so genannt zu Ehren des größten Physikers der alten Zeit, Einstein, der die Existenz solcher Sterne vorausgesagt hatte, was in der Folge sehr lange umstritten geblieben war. Man errechnete sogar eine Grenze der Masse eines solchen Sterns, die unter dem Namen Tschandrasekhargrenze bekannt wurde. Aber dieser Astrophysiker der alten Zeit war bei seinen Berechnungen lediglich von der elementaren Mechanik der Anziehung und der allgemeinen Thermodynamik ausgegangen, ohne die komplizierte elektromagnetische Struktur von Riesen und Überriesen auch nur in Betracht zu ziehen. Dabei waren es gerade diese elektromagnetischen Kräfte, die die Existenz von E-Sternen bedingten. Die Sterne konkurrierten hinsichtlich ihrer Größe mit den roten Giganten der Klasse M — mit solchen wie dem Antares oder der Beteigeuze — und unterschieden sich von diesen durch eine größere Dichte, die ungefähr der Dichte unserer Sonne entsprach. Die riesige Anziehungskraft eines solchen Sterns verhinderte jede Ausstrahlung, sodass das Licht den Stern nicht verlassen und in den Weltraum dringen konnte. Diese unglaublich riesigen und geheimnisvollen Massen, die heimlich alles in ihrem trägen Ozean verschluckten, was in die Fangarme ihrer Anziehungskraft geriet, hatten unendlich lange im Weltraum existiert. In der altindischen religiösen Mythologie wurden die Zeiten untätiger Ruhe der Gottheit „Brahmanächte“ genannt, die nach dem Glauben der Alten von Zeiten der Schöpfung abgelöst wurden. In Wirklichkeit jedoch kam dies einer langfristigen Akkumulation von Materie gleich, die später mit der Aufheizung der Oberfläche des Sterns endete, so lange, bis er die Klasse 0 oder hunderttausend Grad erreicht hatte. Schließlich kam es zu einer kolossalen Explosion, welche neue Sterne mit neuen Planeten in den Weltraum hinausschleuderte. So war einst auch der Krebsnebel explodiert, der nun einen Durchmesser von fünfzig Billionen Kilometern erreicht hatte.
Auf die vollkommen dunklen E-Sterne wurde man nur aufgrund ihrer Anziehungskraft aufmerksam, und ein Sternenschiff, dessen Kurs in der Nähe eines solchen Ungeheuers verlief, war zum Untergang verurteilt. Auch die unsichtbaren infraroten Sterne der Spektralklasse T stellten eine Gefahr für Schiffe dar, genauso wie die aus großen Teilchen bestehenden Dunkelwolken oder zur Gänze erkaltete Himmelskörper der Klasse II.
Mwen Maas dachte, dass die Schaffung des Großen Rings, die eine Vereinigung aller bekannten mit denkenden Lebewesen bewohnten Welten bedeutete, wohl die größte Revolution auf der Erde und folglich auch für jeden anderen bewohnten Planeten gewesen war. Vor allem war es ein Sieg über die Zeit, über die Kürze des Lebens gewesen, die weder der irdischen Menschheit noch ihren verstandesmäßigen Brüdern erlaubte, in die entferntesten Tiefen des Raumes vorzudringen. Die Verbreitung einer Botschaft über den Ring war eine Sendung in eine unendlich ferne Zukunft, da die Gedanken des Menschen auf diese Weise immer weiter in den Raum hinausgetragen wurden, bis sie die entferntesten Winkel erreichten. Die Erforschung sehr ferner Sterne war in den Bereich des Möglichen gerückt, es war nur noch eine Frage der Zeit. Vor Kurzem hatte die Erde eine Botschaft von einem riesigen, aber sehr fernen Stern mit dem Namen Gamma Cygni erhalten. Bis zu ihm waren es zweitausendachthundert Parsec, und die Botschaft war mehr als neuntausend Jahre unterwegs gewesen; trotzdem war man in der Lage gewesen, sie zu verstehen, da sie von Mitgliedern des Rings mit ähnlicher Denkart dechiffriert wurde. Ganz anders verhielt es sich, wenn eine Botschaft von den Kugelsternsystemen oder — haufen eintraf, die viel älter sind als unsere flachen Systeme.
Dasselbe galt für das Zentrum der Galaxis — in ihrer axialen Sternwolke existierte ein kolossaler Lebensraum auf Millionen von Planetensystemen, die keine nächtliche Dunkelheit kannten, weil sie von der Strahlung des Zentrums der Galaxis beleuchtet wurden. Von dort wurden unverständliche Botschaften empfangen, Bilder komplizierter Strukturen, die jedes Vorstellungsvermögen überstiegen. Die Akademie der Grenzen des Wissens bemühte sich schon seit vierhundert Jahren erfolglos um deren Dechiffrierung. Aber vielleicht — dem Afrikaner stand bei dem plötzlichen Gedanken das Herz für einen Augenblick still — kamen von den nahen Planetensystemen, den Mitgliedern des Rings, Berichte über das innere Leben jedes bewohnten Planeten — über seine Wissenschaft, Technik, sein Kunstschaffen —, während die fernen alten Welten der Galaxis die äußere, kosmische Bewegung ihrer Wissenschaft und ihres Lebens zeigten? Wie sie die Planetensysteme nach ihrem eigenen Gutdünken umgestalteten? Den Raum für den Verkehr ihrer Schiffe von störenden Meteoriten reinfegten und diese zusammen mit kalten, für das Leben ungeeigneten Außenplaneten in das Zentralgestirn warfen, um dessen Strahlungsdauer zu verlängern oder den Heizeffekt ihrer Sonnen absichtlich zu erhöhen. Vielleicht war das noch nicht alles, und sie gestalteten auch benachbarte Planetensysteme so um, dass die besten Lebensbedingungen für gigantische Zivilisationen entstanden.
Mwen Maas setzte sich mit dem Archiv für Mitteilung des Großen Rings in Verbindung und wählte die Chiffre einer sehr fernen Botschaft. Auf dem Bildschirm zogen langsam sonderbare Bilder vorüber, die vom Kugelsternhaufen Omega Centauri auf die Erde gekommen waren. Dieser Kugelsternhaufen war der zweitnächste des Sonnensystems und befand sich in einer Entfernung von lediglich sechstausendachthundert Parsec. Zweiundzwanzigtausend Jahre war das Licht seiner hellen Sterne unterwegs gewesen, bis es in das Blickfeld des irdischen Beobachters kam.
Ein dichter blauer Nebel breitete sich in gleichmäßigen Schwaden aus, die von vertikalen schwarzen, ziemlich rasch rotierenden Zylindern durchbohrt wurden. Die Konturen der Zylinder zogen sich von Zeit zu Zeit kaum merklich zusammen, bis sie niedrigen, durch ihre Grundflächen miteinander verbundenen Kegeln glichen. Dann zerbarsten die blauen Nebelschwaden zu scharfen Feuersicheln, die sich wie wild geworden um die Kegelachsen drehten, die Dunkelheit zog sich irgendwo nach oben zurück, riesige blendend weiße Säulen wuchsen empor, aus denen facettierte Spitzen von grüner Farbe wie schräg gelegte Kulissen hervorzuckten.
Mwen rieb sich vor Anstrengung die Stirn. Zu gerne wollte er wenigstens irgendetwas erkennen, was eine Deutung zuließ.
Auf dem Bildschirm wanden sich die grünen Spitzen in Spiralen um die weißen Säulen und ergossen sich dann plötzlich in einem Strom metallisch glänzender Kugeln nach unten. Es entstand ein großer, ringförmiger Gürtel, der immer mehr in die Breite und Höhe wuchs.
Über sich selbst schmunzelnd, schaltete Mwen Maas die Aufzeichnung aus und kehrte zu seinen früheren Überlegungen zurück.
Da es keine besiedelten Welten oder, besser gesagt, keine Verbindung zu solchen Welten in den höheren Breiten der Galaxis gibt, überlegte er, können wir, die Menschen der Erde, noch nicht den dunklen Äquatorialgürtel unserer Galaxis verlassen, können nicht über den kosmischen Staub hinausgelangen, in den unser Stern — die Sonne und ihre Nachbarn — getaucht ist. Deshalb ist es für uns schwieriger, das Universum kennenzulernen als für andere…
Mwen Maas richtete seinen Blick auf den Horizont, dorthin, wo unterhalb des Großen Bären und unter den Jagdhunden das Sternbild Haar der Berenike lag — der Nordpol der Galaxis. Genau in dieser Richtung eröffnete sich die ganze Weite des außergalaktischen Raumes, ebenso wie am gegenüberliegenden Punkt der Erde, im Sternbild des Sculptors, unweit von dem bekannten Stern Fomalhaut am Südpol des galaktischen Systems. Im Randgebiet, wo die Sonne lag, betrug die Breite des Arms der spiralenförmigen galaktischen Scheibe nur etwa sechshundert Parsec. Senkrecht zur Äquatorebene der Galaxis brauchte man dreihundert bis vierhundert Parsec, um sich über ihr gigantisches Sternenrad zu erheben. Diese für ein Sternenschiff nicht zu bewältigende Entfernung lag jedoch innerhalb der Reichweite der Ringsendungen. Trotzdem hatte sich bisher noch kein Planet der in diesem Gebiet befindlichen Sterne dem Ring angeschlossen…
Die ewigen Rätsel und unbeantworteten Fragen würden im Nu gelöst sein, wenn es ihm gelänge, eine der größten wissenschaftlichen Revolutionen zu vollbringen, das heißt, die Zeit zu besiegen und zu lernen, jede beliebige Entfernung in jedem beliebigen Zeitraum zu überwinden und sich damit die unendlichen Weiten des Kosmos zu unterwerfen. Dann wären nicht nur unsere Galaxis, sondern auch andere Sterneninseln von uns nicht weiter entfernt, als die kleinen Inseln im Mittelmeer, das im Dunkel der Nacht unter ihnen rauschte. Darin lag die Rechtfertigung für das tollkühne Experiment, das sich Ren Boos ausgedacht hatte und das von ihm, Mwen Maas, dem Leiter der Außenstationen der Erde, verwirklicht werden sollte. Wenn sie doch nur die Durchführung des Experiments besser begründen könnten, um die Erlaubnis des Rates zu erhalten…
Die Lichter der Spiralstraße wechselten ihre Farbe von Orange zu Weiß: Es war zwei Uhr nachts und somit Stoßzeit. Mwen Maas erinnerte sich, dass am nächsten Tag das Fest der Flammenschalen stattfinden würde, zu dem ihn Tschara Nandi eingeladen hatte. Der Leiter der Außenstationen konnte das rötlich-bronzefarbene Mädchen mit den geschmeidigen Bewegungen, das er am Meeresstrand kennengelernt hatte, nicht vergessen. Sie war wie eine Blume der Offenherzigkeit und leidenschaftlicher Gefühlsausbrüche, was in der Ära des Rings mit ihren äußerst beherrschten und disziplinierten Menschen selten war.
Mwen Maas kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, rief das Institut der Metagalaxis an, das nachts arbeitete, und forderte für den nächsten Abend die Stereofilme über einige Galaxien an. Nachdem er die Bestätigung seines Auftrags erhalten hatte, stieg er auf das Dach des inneren Gebäudes, wo er sein Gerät für weite Sprünge stehen hatte. Mwen Maas liebte diesen wenig populären Sport und hatte es darin zu einiger Meisterschaft gebracht. Nachdem er sich den Heliumballon umgegürtet hatte, schwang sich der Afrikaner mit einem federnden Sprung in die Lüfte, wobei er für einen Augenblick den von einem leichten Akku betriebenen Zugpropeller einschaltete. Mwen Maas beschrieb in der Luft einen Bogen von ungefähr sechshundert Metern Länge, landete auf einem Vorsprung des Hauses für Ernährung und machte einen neuerlichen Satz. Mit fünf solchen Sprüngen erreichte er einen Aluminiumturm in einem kleinen Garten unter der Steilwand eines Kalksteinberges, schnallte das Gerät los und rutschte an einer Stange auf den Boden hinunter, wo nicht weit entfernt unter einer riesigen Platane sein hartes Bett stand. Unter dem Rascheln der Blätter des mächtigen Baumes schlief er ein.
Das Fest der Flammenschalen verdankte seinen Namen einem berühmten Gedicht des Dichters und Geschichtsschreibers San Sen, der darin eine altindische Sitte beschrieb, nach der die schönsten Frauen gewählt wurden, um den zu großen Taten ausziehenden Helden Schwerter und Schalen mit brennendem aromatischem Harz zu überreichen. Schwerter und Schalen waren zwar längst außer Gebrauch gekommen, galten jedoch noch immer als Symbole für Heldentaten, die unter der kühnen, kraftstrotzenden Bevölkerung des Planeten stark zugenommen hatten. Die enorme Arbeitsfähigkeit der Menschen, wie man sie in der Vergangenheit nur bei besonders ausdauernden Persönlichkeiten, sogenannten Genies, hatte beobachten können, hing zur Gänze von der physischen Stärke des Körpers und einem Überfluss an Hormonstimulanzien ab. Indem man bereits seit einem Jahrtausend für eine geregelte physische Ertüchtigung der Menschheit sorgte, war auch der Durchschnittsmensch auf dem Planeten Erde jenem antiken Helden mit seinem unersättlichen Drang nach Heldentaten, Liebe und Erkenntnis ähnlich geworden.
Das Fest der Flammenschalen war zum Frühlingsfest der Frauen geworden. Jedes Jahr, im vierten Monat nach der Wintersonnenwende oder nach der alten Zeitrechnung im April, zeigten sich die anmutigsten Frauen der Erde in Tänzen, Gesängen und gymnastischen Übungen. Die feinsten Nuancen der Schönheit verschiedener Völker, die in der vermischten Bevölkerung des Planeten zum Ausdruck kamen, glänzten hier, den Facetten von Edelsteinen gleich, in einer unerschöpflichen Vielfalt und verschafften den Zuschauern — angefangen von den durch geduldige Arbeit erschöpften Wissenschaftlern und Ingenieuren wie auch den kreativen Künstlern und den jungen Schülern des dritten Zyklus — eine unendliche Freude.
Nicht weniger schön war das Fest des Herkules für die Männer, das im Herbst, im neunten Monat nach der Wintersonnenwende, abgehalten wurde. Ursprünglich legten die Jungen, die die Reife erlangt hatten, Rechenschaft über die von ihnen vollbrachten Herkulestaten ab. Aber inzwischen war es Brauch geworden, in diesen Tagen eine Volksschau der im letzten Jahr erzielten hervorragendsten Leistungen und Errungenschaften zu veranstalten. Das Fest des Herkules wurde zu einem gemeinsamen Fest für Männer und Frauen, aufgeteilt in drei Tage — den Tag der Wunderbaren Nützlichkeit, der Höheren Kunst und der Wissenschaftlichen Kühnheit und Fantasie. Auch Mwen Maas war einmal Held des ersten und dritten Tages gewesen…
Mwen Maas trat genau in dem Moment in den gigantischen Sonnensaal des Tyrrhenischen Stadions, als Weda ihren Auftritt hatte. Er fand den neunten Sektor des vierten Radius, wo Ewda Nal und Tschara Nandi saßen. Er stellte sich in den Schatten einer Arkade und lauschte Wedas tiefer Stimme. Ganz in Weiß, den blonden Kopf hoch erhoben und das Gesicht den oberen Galerien zugewandt, sang sie ein Lied der Freude und erschien dem Afrikaner wie die Verkörperung des Frühlings.
Jeder der Zuschauer drückte auf einen der vor ihm liegenden vier Knöpfe. Die an der Decke des Saales aufleuchtenden goldenen, blauen, smaragdfarbenen oder roten Lichter zeigten die Bewertung des einzelnen Künstlers an und ersetzten somit den rauschenden Beifall früherer Zeiten.
Als Weda geendet hatte, wurde sie mit einem bunten Leuchten goldener und blauer Lichter und vereinzelten grünen belohnt. Wie üblich rot vor Aufregung kehrte sie zu ihren Freundinnen zurück. Da trat auch Mwen Maas hinzu und wurde freundlich begrüßt.
Der Afrikaner sah sich um auf der Suche nach seinem Lehrer und Vorgänger, aber Dar Weter war nirgends zu sehen.
„Wo haben Sie Dar Weter versteckt?“, wandte sich Mwen Maas scherzhaft an die drei Frauen.
„Und wo haben Sie Ren Boos gelassen?“, antwortete Ewda Nal ihrerseits, und der Afrikaner beeilte sich, ihrem durchdringenden Blick auszuweichen.
„Weter gräbt unter Südafrika herum, auf der Suche nach Titan“, sagte die weichherzigere Weda Kong, und ein Schatten huschte über ihr Gesicht.
Tschara Nandi zog die schöne Altertumsforscherin mit einer tröstenden Geste an sich und presste die Wange gegen die ihre. Die Gesichter der beiden Frauen, so verschieden sie auch waren, ähnelten einander durch den gemeinsamen Zug von sanfter Zärtlichkeit.
Tscharas Augenbrauen, geradlinig und tief unter der breiten Stirn, glichen der Kontur eines kreisenden Vogels und befanden sich in vollkommener Harmonie mit den schmalen, lang geschnittenen Augen. Wedas Brauen verliefen dagegen nach oben.
Der Vogel schlägt mit seinen Flügeln um sich…, dachte der Afrikaner.
Tscharas dichtes, glänzendes schwarzes Haar fiel ihr in den Nacken und auf die Schultern, was einen starken Kontrast zu Wedas straff anliegender und hochgesteckter Haartracht schuf.
Das Mädchen sah auf die Uhr in der Kuppel des Saales und erhob sich.
Verblüfft registrierte der Afrikaner Tscharas besonderen Aufzug. Auf ihren braunen Schultern lag eine Platinkette, die den Hals frei ließ. Unterhalb des Schlüsselbeins wurde die Kette mit einem leuchtend roten Turmalin zusammengehalten.
Die straffen Brüste, gleich breiten, umgestürzten Schalen von verblüffend vollendeter Formung, waren fast unbedeckt. Zwischen ihnen, vom Verschluss der Kette bis zum Gürtel zog sich ein schmaler Streifen dunkelvioletten Stoffs. Ebensolche Streifen verliefen quer über jede Brust und wurden von einer Kette fixiert, die auf dem nackten Rücken geschlossen wurde. Die sehr schmale Taille des Mädchens umgab ein weißer, von schwarzen Sternen übersäter Gürtel mit einer Platinschnalle in der Form einer Mondsichel. Hinten am Gürtel war die hintere Hälfte eines langen Rockes aus schwerer weißer Seide befestigt, auch er mit schwarzen Sternen besetzt. Bis auf die Kette und die glitzernden Schnallen auf den kleinen schwarzen Pantoffeln trug die Tänzerin keinerlei Schmuck.
„Gleich bin ich an der Reihe“, sagte Tschara seelenruhig und ging zum Durchgang. Sie warf noch einen Blick auf Mwen Maas und verschwand, begleitet von einem Geflüster von Fragen und Tausenden von Blicken.
Auf der Bühne erschien eine Turnerin — ein Mädchen von höchstens achtzehn Jahren mit einer hervorragenden Figur. Zum Rezitativ der Musik vollführte die von goldfarbenem Licht überflutete Turnerin eine Kaskade rasch aufeinanderfolgender Salti, Sprünge und Drehungen, wobei sie in den Augenblicken des Motiv- und Rhythmuswechsels in ausgewogenstem Gleichgewicht verharrte. Die Zuseher belohnten ihren Auftritt mit einer Vielzahl goldener Lichter, und Mwen Maas dachte, dass es Tschara Nandi nicht leicht haben werde, nach diesem Erfolg aufzutreten. Besorgt sah er in die gesichtslose Menge des Publikums und bemerkte plötzlich im dritten Sektor den Maler Kart San, der ihn mit einer wie dem Afrikaner schien unpassenden Fröhlichkeit begrüßte. Der Maler, der Tschara als „Tochter des Mittelmeeres“ gemalt hatte, hätte doch mehr als jeder andere über den Ausgang ihres Auftrittes besorgt sein müssen.
Der Afrikaner dachte gerade daran, dass er sich nach Abschluss des Experiments das Bild ansehen wollte, als die Lichter an der Decke erloschen. Der durchsichtige Boden aus organischem Glas erstrahlte im himbeerfarbenen Ton glühenden Eisens. Von der Rampe her ergossen sich Ströme roten Lichtes. Sie warfen sich hin und her, nahmen von Neuem Anlauf und verbanden sich mit dem Rhythmus der Melodie, dem durchdringenden Gesang der Geigen und dem tiefen Klang eherner Saiten. Etwas benommen von der Dynamik und dem Tempo der Musik, bemerkte Mwen Maas nicht sofort, dass Tschara in der Mitte der flammenden Bühne stand. Sie begann ihren Tanz mit einer solchen Geschwindigkeit, dass es den Zuschauern den Atem verschlug.
Mwen Maas dachte erschrocken, was geschehen würde, wenn die Musik eine noch größere Beschleunigung erforderte. Es tanzten nicht nur die Beine und die Arme, sondern der ganze Körper des Mädchens reagierte auf die feurige Musik mit einem nicht weniger heißen Lebensodem. Wenn die Frauen Altindiens tatsächlich so gewesen waren wie Tschara, überlegte Mwen Maas, dann hatte der Dichter recht gehabt, wenn er sie mit flammenden Schalen verglich und dem Frauenfest den Namen gab.
Tscharas rötlich gebräunte Haut nahm im Widerschein der Bühne und des Bodens eine kupferne Tönung an. Mwen Maas’ Herz begann heftig zu schlagen. Diese Hautfarbe hatte er auch an den Menschen des märchenhaften Planeten Epsilon Tucanae beobachtet. Damals war ihm plötzlich klar geworden, dass es so etwas wie eine Durchgeistigung des Körpers gab. Ein durchgeistigter Körper war in der Lage, durch Bewegungen, durch einen ausgeklügelten Wechsel wunderbarer Formen die feinsten Nuancen von Gefühlen, der Fantasie, der Leidenschaft sowie der Sehnsucht nach Glück auszudrücken.
War sein Denken bisher einzig und allein auf die Überwindung der unglaublichen Entfernung von neunzig Parsec ausgerichtet gewesen, so erkannte Mwen Maas auf einmal, dass der unerschöpfliche Reichtum an Schönheit der irdischen Menschheit nicht weniger wunderbare Farben zutage bringen vermochte, als das in seiner Erinnerung so sorgfältig gehegte Bild des fernen Planeten. Doch sein tief sitzender Drang nach Erfüllung dieses unmöglichen Traumes konnte nicht so rasch ausgelöscht werden. Tscharas Ähnlichkeit mit der rothäutigen Tochter des Epsilon Tucanae bestärkte den Leiter der Außenstationen noch in seinem Entschluss.
Ewda Nal und Weda Kong, selbst ausgezeichnete Tänzerinnen, sahen Tschara zum ersten Mal tanzen und waren begeistert. Weda, aus der die Wissenschaftlerin, Anthropologin und Altertumsforscherin sprach, kam zu dem Schluss, dass es in der fernen Vergangenheit in Gondwana stets mehr Frauen als Männer gegeben haben müsse, die im Kampf mit einer Vielzahl von gefährlichen Raubtieren den Tod fanden. Später, als sich in den dicht besiedelten Ländern des Südens die Despotien des alten Orients herausbildeten, starben die Männer in ständigen, zum Teil durch religiösen Fanatismus oder von zufälligen Launen des jeweiligen Despoten ausgelösten Kriegen. Die Töchter des Südens führten ein hartes Leben, durch das ihre Schönheit immer vollkommener wurde. Der Norden mit seiner spärlichen Bevölkerung und der kargen Natur kannte den staatlichen Despotismus des Mittelalters nicht. Dort überlebten mehr Männer, wurden die Frauen mehr geachtet und lebten ein würdevolleres Leben.
Weda verfolgte jede von Tscharas Gesten und dachte, dass in ihren Bewegungen eine erstaunliche Zwiespältigkeit liege: Sie waren zugleich sanft und raubtierhaft. Das Sanfte rührte von den fließenden Bewegungen und der unglaublichen Geschmeidigkeit des Körpers her, der raubtierhafte Eindruck ergab sich aus den abrupten Übergängen, Drehungen und Posen, die sie mit der fast unerreichbaren Schnelligkeit eines Raubtieres vollführte. Diese einschmeichelnde Geschmeidigkeit hatten sich die dunkelhäutigen Töchter Gondwanas in einem Jahrtausende währenden Existenzkampf erworben. Aber in welcher Harmonie befand sie sich hier mit Tscharas feinen und markanten Zügen ihres kretisch-hellenischen Gesichts!
Rasch aufeinanderfolgende dissonante Töne fremdartiger Schlaginstrumente begannen sich in ein kurzes, verlangsamtes Adagio einzuflechten. Der ungestüme Rhythmus ansteigender und abfallender menschlicher Gefühle fand im Tanz Ausdruck im Wechsel zwischen komplexer Bewegungen und abrupten völligen Stillstands, wenn sich die Tänzerin in eine regungslose Statue verwandelte. Das Erwachen schlummernder Gefühle, ihr ungestümer Ausbruch, ein erschöpftes Sinken, der Tod und die Wiedergeburt, ebenfalls stürmisch und unbekannt, das Leben, unterdrückt und gegen den unausweichlichen Verlauf der Zeit ankämpfend, gegen eine klare und unbarmherzige Bestimmtheit von Pflicht und Schicksal — all das vermochte Tscharas Tanz auszudrücken. Ewda Nal fühlte, wie nahe ihr die psychische Grundlage des Tanzes ging, wie sich ihre Wangen mit Röte bedeckten und ihr Atem immer schneller wurde… Mwen Maas, der nicht wusste, dass der Komponist diese Ballettsuite speziell für Tschara Nandi geschrieben hatte, hatte aufgehört, sich über das wilde Tempo zu sorgen, denn ihm war klar geworden, dass das Mädchen mühelos damit fertigwurde. Wellen roten Lichts umhüllten ihren kupferroten Körper, umgaben die kräftigen Beine mit blutroten Farbspritzern, tauchten unter in den dunklen Falten des Stoffes und verwandelten die weiße Seide in das Rosa eines Sonnenaufgangs. Ihre Arme, erhoben und zurückgeworfen, kamen über ihrem Kopf langsam zum Stillstand. Und plötzlich, ohne jedes Finale, brach der stürmische Klang hoher Töne ab, erloschen die roten Lichter. Die hohe Kuppel des Saales erstrahlte in ihrem üblichen Licht. Das erschöpfte Mädchen verneigte sich, wobei ihr das dichte Haar ins Gesicht fiel. Den Tausenden goldenen Lichtern folgte ein dumpfer Lärm. Die Zuschauer erwiesen Tschara die höchste künstlerische Ehre, indem sie aufstanden und die Hände über dem Kopf falteten. Und Tschara, die vor ihrem Auftritt so ganz ohne jede Furcht gewesen war, wurde verlegen, strich sich die Haare aus dem Gesicht und lief, den Blick auf die oberen Galerien gerichtet, von der Bühne.
Die Festordner kündigten eine Pause an. Mwen Maas machte sich auf die Suche nach Tschara, und Weda Kong und Ewda Nal traten auf die gigantische, einen Kilometer breite Treppe aus hellblauem opaken Glas — Smalte — hinaus, die vom Stadion direkt aufs Meer hinausführte. Die klare und kühle Abenddämmerung verlockte die beiden Frauen, dem Beispiel Tausender anderer Zuseher zu folgen und baden zu gehen.
„Nicht umsonst ist mir Tschara Nandi sofort aufgefallen“, begann Ewda Nal. „Sie ist eine erstaunliche Künstlerin. Wir haben eben einen Tanz wahrer Lebenskraft gesehen! Darin liegt wahrscheinlich auch etwas von dem Eros der Alten…“
„Jetzt verstehe ich, wieso Kart San der Meinung ist, dass Schönheit wichtiger ist, als es uns scheint“, sagte Weda zustimmend. „Sie ist Glück und Sinn des Lebens, wie er damals so treffend sagte! Und was Sie sagten ist ebenfalls richtig.“ Sie warf ihre Schuhe fort und tauchte die Füße in das warme Wasser, das gegen die Stufen klatschte.
„Jedenfalls wenn die psychische Kraft von einem gesunden, vor Energie strotzenden Körper ausgeht“, berichtigte Ewda Nal, zog ihr Kleid aus und warf sich in die klaren Fluten.
Weda holte sie ein, und die beiden Frauen schwammen auf eine riesige Gummiinsel zu, die eineinhalb Kilometer entfernt vom Stadion glitzerte. Die flache Insel, deren Oberfläche auf gleicher Höhe mit dem Wasserspiegel lag, säumten Reihen von muschelartigen Schutzdächern aus perlmuttartigem Kunststoff, groß genug, um drei bis vier Menschen vor Sonne und Wind zu schützen und gegen Nachbarn abzuschirmen.
Die beiden Frauen legten sich auf den weichen, schaukelnden Boden einer solchen „Muschel“ und atmeten den frischen Geruch des Meerwassers ein.
„Seit wir uns neulich am Meeresstrand getroffen haben, sind Sie aber schön braun geworden!“, sagte Weda und musterte ihre Freundin. „Waren Sie am Meer oder stammt Ihre Bräune von Selbstbräunungspillen?“
„Von den Pillen“, gestand Ewda. „Ich bin nur gestern und heute in der Sonne gewesen.“
„Wissen Sie wirklich nicht, wo Ren Boos ist?“, fuhr Weda fort.
„Ungefähr weiß ich, wo er ist, und das genügt, um beunruhigt zu sein!“, antwortete Ewda Nal leise.
„Wollen Sie etwa…?“ Weda verstummte, ohne ihren Gedanken zu Ende geführt zu haben, und Ewda öffnete träge ihre halb geschlossenen Lider und sah ihr direkt in die Augen.
„Mir kommt Ren Boos wie ein hilfloser, noch unreifer kleiner Junge vor“, warf Weda zögernd ein. „Sie hingegen sind so stark, haben einen Intellekt, der keinem Mann nachsteht. Man hat immer das Gefühl, Sie haben eine eiserne Willenskraft in sich.“
„Das hat Ren Boos auch gesagt. Aber was Ihr Bild von ihm angeht, liegen Sie zumindest teilweise falsch — es ist genauso einseitig, wie Ren selbst. Er ist ein Mensch mit kühnem und stark entwickeltem Verstand und großer Schaffenskraft. Sogar in unserer Zeit findet man nur wenige Menschen seiner Art auf unserem Planeten. Im Vergleich zu seinen herausragenden Talenten erscheinen seine übrigen Eigenschaften unreif, weil sie wie die von Durchschnittsmenschen oder sogar noch etwas infantiler sind. Sie haben Ren zu Recht einen kleinen Jungen genannt, aber zugleich ist er auch ein Held, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Nehmen Sie Dar Weter — auch er hat etwas Jungenhaftes an sich, was aber lediglich von einem Übermaß an physischer Kraft und nicht wie bei Ren von einem Mangel daran herrührt.“
„Und wie beurteilen Sie Mwen?“, fragte Weda neugierig. „Jetzt, wo Sie ihn doch besser kennen?“
„Mwen Maas ist eine schöne Kombination aus kühlem Verstand und archaischen zügellosen Wünschen.“
Weda Kong brach in Lachen aus:
„Wie gerne würde ich auch so zutreffende Charakterisierung vornehmen können.“
„Nun, die Psychologie ist mein Beruf“, sagte Ewda achselzuckend. „Aber erlauben Sie, dass ich Ihnen jetzt eine Frage stelle. Sie wissen, dass mich Dar Weter beschäftigt…?“
„Sie befürchten halbe Entscheidungen?“, fragte Weda errötend. „Nein, hier wird es keine fatalen Halbheiten und keine Unaufrichtigkeit geben. Alles ist sternenklar…“ Und unter dem prüfenden Blick der Psychiaterin sprach Weda gelassen weiter. „Erg Noor… unsere Wege haben sich seit Langem getrennt. Es ist nur so, dass ich mich, solange er im Kosmos war, nicht einem neuen Gefühl hingeben konnte, mich nicht von ihm lösen wollte, aus Angst, dadurch die Hoffnung, den Glauben an seine Rückkehr zu schwächen. Jetzt ist es wieder eine Sache genauer Berechnung und Zuversicht. Erg Noor weiß alles, aber geht seinen eigenen Weg.“
Ewda Nal legte ihren schmalen Arm um Wedas geradlinige Schultern.
„Das heißt — Dar Weter?“
„Ja!“, antwortete Weda entschlossen.
„Und weiß er davon?“
„Nein. Wenn die Tantra hier ist… Ist es nicht Zeit, zurückzuschwimmen?“, rief Weda.
„Für mich wird es Zeit, das Fest zu verlassen“, sagte Ewda Nal. „Mein Urlaub geht zu Ende. Vor mir liegt eine neue große Aufgabe in der Akademie des Leides und der Freude, und vorher muss ich noch meine Tochter besuchen.“
„Haben Sie schon eine erwachsene Tochter?“
„Siebzehn ist sie. Mein Sohn ist bedeutend älter. Ich habe die Pflicht einer Frau mit normaler Entwicklung und normalen Erbanlagen erfüllt und zwei Kinder und nicht weniger auf die Welt gebracht. Jetzt möchte ich noch ein drittes, aber nur ein erwachsenes!“
Ewda Nal lächelte, und ihr sonst so ernstes Gesicht erstrahlte vor zärtlicher Liebe, wobei sich ihre steile Oberlippe etwas öffnete.
„Und ich stelle mir einen hübschen kleinen Jungen mit großen Augen und demselben zärtlichen und erstaunten Mund… aber mit einer Stupsnase vor“, sagte Weda verschmitzt, den Blick geradeaus gerichtet.
Nach einer kurzen Pause fragte ihre Freundin:
„Haben Sie noch keine neue Arbeit?“
„Nein, ich warte auf die Tantra. Danach gehe ich auf eine lange Expedition.“
„Fahren Sie mit, zu meiner Tochter“, schlug Ewda vor, und Weda willigte bereitwillig ein.
Eine Wand des Observatoriums war zur Gänze von einem sieben Meter breiten hemisphärischen Bildschirm verdeckt, der zur Vorführung von Bildern und Filmen von besonders starken Teleskopen diente. Mwen Maas sah sich eine Übersichtsaufnahme vom Himmelsabschnitt in der Nähe des Nordpols der Galaxis an — den Meridionalstreifen der Sternbilder vom Großen Bären bis zum Raben und Centaurus. Hier, in den Jagdhunden, dem Haar der Berenike und der Jungfrau, befand sich eine Vielzahl von Galaxien — Sterneninseln des Universums in der Form flacher Räder oder Scheiben. Besonders viele hatte man im Haar der Berenike entdeckt — separate, regelmäßige und unregelmäßige, mit unterschiedlicher Rotationsgeschwindigkeit und unter allen möglichen Blickwinkeln, solche, die unvorstellbar weit, mitunter Milliarden von Parsec entfernt waren, und solche, die regelrechte Wolken aus Zehntausenden von Galaxien bildeten. Die größten Galaxien erreichten einen Durchmesser von zwanzig- bis fünfzigtausend Parsec, wie unsere Sterneninsel oder die NN 89105 + SB 23 Galaxis, in alten Zeiten auch als M-31 oder Andromedanebel bekannt. Die kleine, matt leuchtende Sterneninsel war von der Erde aus mit bloßem Auge zu erkennen. Schon vor langer Zeit waren die Menschen hinter das Geheimnis dieser Wolke gekommen. Der Nebel erwies sich als riesiges, radförmiges Sternensystem, anderthalbmal so groß wie unsere Galaxis. Die Erforschung des Andromedanebels hatte trotz der vierhundertfünfzigtausend Parsec, die ihn von den irdischen Beobachtern trennten, stark zur Kenntnis unserer eigenen Galaxis beigetragen.
Von Kindheit an kannte Mwen Maas die großartigen Fotografien von verschiedenen Galaxien, die mithilfe der Elektroneninversion von Abbildungen oder mithilfe von Radioteleskopen aufgenommen worden waren, die noch weiter in die Tiefen des Kosmos vordrangen als zum Beispiel die zwei Riesenteleskope im Pamir und in Patagonien, von denen jedes einen Durchmesser von vierhundert Kilometern hatte. Diese Galaxien, ungeheure Ansammlungen Hunderter Milliarden von Sternen, untereinander Millionen von Parsec entfernt, hatten ihn schon früher gereizt und in ihm den brennenden Wunsch wachgerufen, die Gesetzmäßigkeiten ihres Aufbaus, die Geschichte ihrer Entstehung sowie ihr weiteres Schicksal zu erforschen. Und vor allem beschäftigte ihn genau wie jeden Erdenbewohner die Frage, ob auf den unzähligen Planetensystemen dieser Inseln des Universums Leben existierte, ob dort Feuer des Denkens und Wissens brannten, ob es in den so unendlich fernen Weiten des Kosmos menschliche Zivilisationen gab.
Auf dem Bildschirm tauchten drei Sterne auf, von den alten Arabern Sirrah, Mirach und Alamak genannt — Alpha, Beta und Gamma Andromedae, die auf einer aufsteigenden Geraden lagen. Zu beiden Seiten dieser Linie gab es zwei nahe beieinanderliegende Galaxien — den gigantischen Andromedanebel und die schöne Spirale M-33 im Sternbild des Dreiecks. Mwen Maas wechselte den Film.
Nun war eine Galaxis an der Reihe, die seit alters her bekannt und früher NGC 5194 oder M-51 genannt worden war, im Sternbild der Jagdhunde lag und Millionen von Parsec entfernt war. Dabei handelte es sich um eine der wenigen Galaxien, die von uns aus, senkrecht zur Ebene des „Rades“ gesehen, als Scheibe erschienen. Ein hell leuchtender dichter Kern aus Millionen von Sternen, von dem zwei Spiralarme ausgingen. Ihre langen Enden wurden immer schwächer und nebelhafter, bis sie schließlich in der Dunkelheit des Raumes verschwanden, wobei sie sich auf Zehntausende von Parsec in einander entgegengesetzte Richtungen fortsetzten. Zwischen den Spiralarmen oder Hauptzweigen erstreckten sich, abwechselnd mit Dunkelgebieten — Ansammlungen nichtleuchtender Materie —, kleinere Sternhaufen und Wolken leuchtenden Gases mit genau derselben Krümmung wie Turbinenschaufeln.
Wunderschön war die riesige Galaxis NGC 4565 im Haar der Berenike. Aus der Entfernung von sieben Millionen Parsec sah man sie hochkant stehen. Auf eine Seite geneigt wie ein kreisender Vogel, streckte diese Galaxis ihre offenbar aus Spiralarmen bestehende dünne Scheibe weit von sich, und in ihrem Zentrum leuchtete wie eine stark abgeplattete Kugel der Kern, der eine dichte, leuchtende Masse zu sein schien. Es war deutlich zu sehen, wie flach die Sterneninseln waren — die Galaxis konnte mit dem feinen Rädchen eines Uhrwerks verglichen werden. Die Ränder des Rädchens waren verschwommen, so als lösten sie sich in der bodenlosen Finsternis des Raumes auf. An einem solchen Rand unserer Galaxis befanden sich auch die Sonne und ein winziges Staubkörnchen — die Erde, die durch die Macht des Wissens mit einer Vielzahl besiedelter Welten in Verbindung stand und die Flügel des menschlichen Denkens über die Unendlichkeit des Kosmos ausbreitete!
Mwen Maas schaltete auf Galaxis NGC 4594 im Sternbild der Jungfrau um, die ihn schon immer am meisten interessiert hatte und ebenfalls in der Ebene ihres Äquators zu sehen war. Diese Galaxis in einer Entfernung von zehn Millionen Parsec glich einer dicken Linse brennender Sternmasse, umgeben von einer Schicht leuchtenden Gases. Am Äquator wurde die Linse von einem breiten schwarzen Streifen — einer Ansammlung dunkler Materie — durchschnitten. Die Galaxis erweckte den Eindruck einer rätselhaften, aus einem tiefen Abgrund leuchtenden Laterne.
Welche Welten mochten sich dort verbergen, in dieser Galaxis, deren gesamte Leuchtkraft heller war als die anderer Galaxien und im Durchschnitt die Spektralklasse F erreichte? Gab es dort Bewohner mächtiger Planeten, mühte sich der Geist auch dort, genau wie bei uns, mit der Enträtselung von Naturgeheimnissen ab?
Bei dem Gedanken an das völlige Schweigen dieser riesigen Sterneninseln ballten sich bei Mwen Maas die Fäuste. Er begriff die gesamte Ungeheuerlichkeit der Entfernung: Bis zu dieser Galaxis brauchte das Licht zweiunddreißig Millionen Jahre! Für einen Informationsaustausch waren folglich vierundsechzig Millionen Jahre notwendig!
Mwen Maas begann in dem Filmmaterial zu wühlen, und bald erstrahlte auf dem Bildschirm inmitten spärlicher und matter Sterne ein großer, heller und rundlicher Lichtfleck. Ein unregelmäßiger schwarzer Streifen schnitt den Fleck in zwei Teile und ließ die grell leuchtenden Lichtmassen zu beiden Seiten davon noch stärker hervortreten. Der Streifen wurde zu den Enden hin breiter und überschattete ein riesiges Feld leuchtenden Gases, das den grellen Fleck in einem Ring umgab. Das war ein Bild von zusammenstoßenden Galaxien im Sternbild des Schwans, das allein durch unglaublich raffinierte technische Manipulationen zustande gekommen war. Der Zusammenstoß gigantischer Galaxien von der Größenordnung unserer Galaxis oder des Andromedanebels war seit Langem als Quelle für Radiostrahlung bekannt, wohl der stärksten in dem uns zugänglichen Teil des Universums. Kolossale Gasströme, die sich unaufhörlich und rasch bewegten, erzeugten elektromagnetische Felder von einer solch unvorstellbaren Stärke, dass sie in alle Ecken und Enden des Universums Nachricht von der titanischen Katastrophe sandten. Die Materie selbst strahlte dieses Alarmsignal von einer Funkstation mit einer Leistung von einer Quintilliarde oder tausend Quintillionen Kilowatt aus. Aber die Entfernung zu den Galaxien war so groß, dass die Aufnahme auf dem Bildschirm ihren Zustand vor Hunderten von Millionen von Jahren zeigte. Wie die einander durchdringenden Galaxien jetzt aussahen, würde man erst in so ferner Zeit erfahren, dass es ungewiss war, ob die Menschheit dann noch existierte.
Mwen Maas sprang auf und presste seine Hände so fest auf den massiven Tisch, dass die Gelenke krachten.
Sendezeiten von Millionen von Jahren, eine Zeitspanne, in der Zehntausende von Generationen hinwegsterben würden, Zeitspannen, die selbst für unsere fernsten Nachkommen ein vernichtendes „Niemals“ bedeuteten, würde man mit einem Wink des Zauberstabes hinwegfegen können. Und dieser Stab war Ren Boos’ Entdeckung und das von ihnen gemeinsam durchzuführende Experiment.
Unvorstellbar ferne Punkte des Universums würden so in greifbare Nähe rücken!
Die Astronomen in alter Zeit glaubten, dass die Galaxien in verschiedenen Richtungen auseinanderstrebten. Das Licht, das von fernen Sterneninseln in die irdischen Teleskope drang, war verfälscht — die Lichtschwingungen wurden länger und verwandelten sich in rote Wellen. Diese Rötung des Lichts galt als Beweis dafür, dass sich die Galaxien vom Beobachter immer weiter entfernten. Die Menschen der Vergangenheit waren gewohnt, Phänomene einseitig und geradlinig zu deuten — so stellten sie auch die Theorie von einem auseinanderstrebenden oder explodierenden Universum auf, da sie noch nicht begriffen, dass sie lediglich eine Seite des großartigen Vorgangs von Zerstörung und Neubildung sahen. Und genau diese Seite der Dispersion und Zerstörung, das heißt des Überganges von Energie in niedere Formen nach dem zweiten Gesetz der Thermodynamik, war mit den menschlichen Sinnen und den zu ihrer Unterstützung konstruierten Geräten wahrnehmbar. Die andere Seite aber, die der Anhäufung, Ansammlung und Entstehung, wurde von den Menschen nicht wahrgenommen, da das Leben selbst seine Kraft aus der Energie schöpfte, die von den Sternen, den Sonnen, zerstreut wurde. Dementsprechend entwickelte sich auch unsere Wahrnehmung von der Umwelt. Der mächtige Verstand des Menschen kam jedoch auch hinter diese verborgenen Prozesse der Entstehung von Welten in unserem Universum. Aber in jenen fernen Zeiten glaubte man, dass sich eine Galaxis umso rascher entfernte, je weiter sie von der Erde entfernt war. Mit der fortschreitenden Erforschung des Weltraums entdeckte der Mensch sogar Galaxien mit Geschwindigkeiten, welche der des Lichtes nahekamen. Als Grenze des sichtbaren Universums wurde jene Entfernung festgesetzt, wo die Galaxien Lichtgeschwindigkeit erreicht zu haben schienen — in Wirklichkeit jedoch hätte man dann niemals Licht von ihnen empfangen und sie auch niemals sehen können. Inzwischen wusste man, was die Rötung des Lichtes ferner Galaxien verursachte. Es gab nicht nur einen Grund dafür. Von fernen Sterneninseln erreichte die Erde nur jenes Licht, das von ihren hellen Zentren ausgestrahlt wurde. Diese kolossalen Massen von Materie waren von ringförmigen elektromagnetischen Feldern umgeben und beeinflussten die Lichtstrahlen nicht nur durch ihre Stärke, sondern auch durch ihre Ausdehnung. Die Lichtschwingungen wurden allmählich abgebremst und verwandelten sich in längere rote Wellen. Die Astronomen wussten seit Langem, dass sich das Licht sehr dichter Sterne rot verfärbt, dass sich die Linien des Spektrums nach Rot hin verschoben, und der Stern sich so zu entfernen schien, wie zum Beispiel die zweite Komponente des Sirius — der Weiße Zwerg Sirius B. Je weiter eine Galaxis entfernt war, desto zentraler war die Strahlung, die die Erde erreichte, und desto stärker die Rotverschiebung im Spektrum.
Außerdem gerieten Lichtwellen bei einer sehr langen Reise durch den Weltraum ins „Schaukeln“, und die Lichtquanten büßten einen Teil ihrer Energie ein. Heute war dieses Phänomen geklärt — bei den roten Wellen konnte es sich auch um ermüdete „alte“ Wellen gewöhnlichen Lichts handeln. Sogar alles durchdringende Lichtwellen „veralteten“, während sie unvorstellbare Entfernungen zurücklegten. Welche Hoffnung bliebe dem Menschen, den Raum und die Zeit zu überwinden, wenn nicht durch einen Angriff auf die Schwerkraft selbst mithilfe ihres Gegenteils, wie es aus den mathematischen Berechnungen von Ren Boos hervorging?
Nein, seine Skrupel schwanden. Er war im Recht, wenn er dieses noch nie dagewesene Experiment durchführte!
Mwen Maas trat wie üblich auf den Balkon des Observatoriums hinaus und begann auf und ab zu gehen. In seinen müden Augen leuchteten noch die fernen Galaxien, die Wellen roten Lichts als Hilferufe zur Erde sandten und an den alles bezwingenden Verstand des Menschen appellierten. Mwen Maas lachte leise und zuversichtlich auf. Diese roten Strahlen würden dem Menschen genauso vertraut werden wie jene, die Tschara Nandis Körper auf dem Fest der Flammenschalen mit dem roten Licht des Lebens eingehüllt hatten, Tschara, die ihm ganz unerwartet als die kupferrote Tochter des Sterns Epsilon Tucanae, das Mädchen seiner Wunschträume, erschienen war.
Und er würde Ren Boos’ Vektor nicht mehr nur in der Hoffnung, diese wunderbare Welt zu erblicken, auf den Epsilon Tucanae richten, sondern auch zu Ehren Tscharas — zu Ehren der irdischen Repräsentantin des fremden Sterns!