10. Das tibetische Experiment

Die Kor-Yull-Anlage befand sich auf dem Gipfel eines flachen Berges, der lediglich einen Kilometer vom Tibetischen Observatorium des Rates für Sternenschifffahrt entfernt war. Die Höhe von viertausend Metern ließ keine andere Vegetation zu als die vom Mars eingeführten schwarzgrünen blattlosen Bäume mit ihren einwärts, zum Wipfel hin gebogenen Zweigen. Obwohl sich im Tal hellgelbes Gras im Winde beugte, standen die Abkömmlinge einer fremden Welt vollkommen reglos wie Eisenstangen da. Die Halden der Gebirgshänge waren mit einer Flut von Steinen, den Überresten zerborstener Felsen, bedeckt. Die Felder, Flecken und Streifen von Schnee strahlten in jenem eigenartigen Weiß, wie es reiner Bergschnee unter freiem Himmel annimmt.

Hinter den Überresten rissiger Dioritmauern, den Ruinen eines einst mit erstaunlicher Verwegenheit in dieser Höhe erbauten Klosters, erhob sich ein röhrenförmiger Stahlturm, der von zwei durchbrochenen Bögen gekrönt war. Auf ihnen glitzerte eine riesige, dem freien Himmel zugewandte parabolische Spirale aus Berylliumbronze, übersät von den glänzenden Punkten der Rheniumkontakte. Direkt an diese erste Spirale schloss sich eine zweite an, deren offene Seite dem Boden zugewandt war und acht große Kegel aus einer grünen Borlegierung überspannte, von denen Rohrleitungen von einem Durchmesser von sechs Metern abgingen. Über das Tal liefen Masten mit Leitringen — eine provisorische Abzweigung von der Hauptleitung des Observatoriums, die während einer Sendung die Energie sämtlicher Kraftwerke auf dem Planeten aufnahm. Während Ren Boos sich seinen Strubbelkopf kratzte, betrachtete er befriedigt die Veränderungen an der ursprünglichen Anlage. Freiwillige hatten sie in unglaublich kurzer Zeit umgebaut. Am schwierigsten hatte sich die Errichtung der tiefen offenen Gräben erwiesen, die man ohne jede Unterstützung durch schwere Maschinen in das unnachgiebige Gebirgsgestein hatte hauen müssen. Aber nun war auch das geschafft. Die Freiwilligen, die sich natürlich als Belohnung das großartige Experiment ansehen durften, hatten sich ein Stück von der Anlage entfernt und einen steilen Berghang nördlich des Observatoriums für ihr Zeltlager gewählt.

Mwen Maas, in dessen Händen alle Verbindungen mit dem Kosmos lagen, saß dem Physiker auf kaltem Stein gegenüber und berichtete ihm leicht fröstelnd die neuesten Nachrichten des Rings. Der Satellit 57 war in letzter Zeit für die Aufrechterhaltung der Verbindung mit den Sternen- und Planetenschiffen eingesetzt worden und arbeitete folglich nicht für den Ring. Außerdem war Wlich os Ddis auf dem E-Stern gestorben. Der erschöpfte Physiker wurde wieder lebhafter.

„Die hohe gravitative Spannung in einem E-Stern führt bei einer weiteren Evolution des Gestirns zu einer äußerst starken Aufheizung“, sagte er. „Es entsteht ein violetter Überriese von ungeheurer Kraft, der die kolossale Gravitation überwindet. Er besitzt bereits keinen roten Spektralteil mehr — ungeachtet der Stärke des Gravitationsfeldes werden die Wellen der Lichtstrahlen nicht länger, sondern kürzer.“

„Werden ganz violett und ultraviolett“, fügte Mwen Maas hinzu.

„Nicht nur das. Der Prozess geht weiter. Die Quanten werden immer stärker, bis schließlich der Übergang zum Nullfeld stattfindet und eine Antiraumzone entsteht — die zweite Seite der Bewegung der Materie, die wir hier auf der Erde aufgrund unserer winzigen Maßstäbe nicht kennen. Wir könnten nichts Ähnliches erreichen, auch wenn wir den gesamten Wasserstoff der irdischen Ozeane verbrennen würden.“

Mwen Maas rechnete blitzschnell im Kopf nach.

„Wenn wir fünfzehntausend Trillionen Tonnen Wasser in die Energie des Wasserstoffzyklus umrechnen, so ergibt das nach dem Relativitätsprinzip Masse/Energie grob gesprochen eine Trillion Tonnen Energie. Die Sonne spendet in der Minute zweihundertvierzig Millionen Tonnen — alles in allem somit die Sonnenstrahlung von zehn Jahren!“

Ren Boos lachte zufrieden auf.

„Und wie viel liefert der blaue Überriese?“

„Schwierig zu sagen. Aber sehen Sie selbst: In der Großen Magellanschen Wolke gibt es in der Nähe des Tarantelnebels den Sternhaufen 1910… Verzeihen Sie, ich habe mich so daran gewöhnt, mit den alten Bezeichnungen und Nummerierungen der Sterne zu operieren.“

„Macht nichts.“

„Der Tarantelnebel ist übrigens so hell, dass er, befände er sich an der Stelle des uns allen bekannten Orionnebels, genau dieselbe Leuchtkraft hätte wie unser Vollmond. Im Sternhaufen 1910 mit einem Durchmesser von lediglich siebzig Parsec gibt es nicht weniger als hundert Überriesen. Dort befindet sich der doppelte Überriese S Doradus mit seinen hellen Wasserstofflinien im Spektrum und den dunklen am violetten Rand. Er ist größer als die Umlaufbahn der Erde um die Sonne und besitzt eine Leuchtkraft von einer halben Million unserer Sonnen! Dachten Sie an einen solchen Stern? In demselben Sternhaufen gibt es Sterne von noch größeren Ausmaßen, mit dem Durchmesser der Umlaufbahn des Jupiters, aber sie befinden sich nach ihrem E-Zustand noch in der Phase der Aufheizung.“

„Lassen wir die Überriesen in Ruhe. Die Menschen haben jahrtausendelang zu den ringförmigen Nebeln im Wassermann, im Großen Bären und der Lyra hinaufgesehen und nicht begriffen, dass sie neutrale Felder mit Nullgravitation vor sich haben, was nach dem Repagulargesetz den Übergang von Gravitation zu Antigravitation bedeutet. Genau dort lag auch das Rätsel des Nullraumes verborgen…“

Ren Boos sprang von der Schwelle des Unterstandes auf, der aus großen, gegossenen Silikatblöcken zusammengebaut war und als Steuerzentrale diente.

„Ich bin jetzt ausgeruht. Wir können beginnen!“

Mwen Maas’ Herz begann heftig zu klopfen, die Aufregung schnürte ihm die Kehle zu. Der Afrikaner atmete tief und unregelmäßig. Ren Boos blieb ruhig, nur der fiebrige Glanz in seinen Augen verriet, wie viel Konzentration und Willenskraft er aufbieten musste, um das gefährliche Experiment zu beginnen.

Mwen Maas nahm die kleine, aber starke Hand von Ren Boos in seine große Handfläche. Ein Kopfnicken, und die Silhouette des Leiters der Außenstationen war bereits am Bergabhang, auf dem Weg zum Observatorium zu sehen. Ein kalter Wind heulte wild von den vereisten Bergriesen herunter, die wie Wächter über dem Tal standen. Mwen Maas lief ein kalter Schauer über den Rücken. Unwillkürlich beschleunigte er seinen ohnehin raschen Gang, obgleich es eigentlich keinen Grund zur Eile gab: Das Experiment würde erst nach Sonnenuntergang gestartet werden.

Mwen Maas konnte über den Mondwellenbereich eine Funkverbindung zum Satelliten 57 herstellen. Die auf der Station aufgestellten Reflektoren und Richtgeräte würden in den wenigen Minuten auf Epsilon Tucanae fixiert sein, da sich der Satellit vom dreiunddreißigsten Grad nördlicher Breite auf den Südpol zubewegte und der Stern von seiner Umlaufbahn aus sichtbar wurde.

Mwen Maas nahm seinen Platz am Pult des unterirdischen Raumes ein, der dem im Mittelmeerobservatorium zum Verwechseln ähnlich war.

Zum tausendsten Mal sah er die Blätter mit den Angaben über den Planeten des Sterns Epsilon Tucanae durch, überprüfte Punkt für Punkt die Berechnungen der Umlaufbahn des Planeten und nahm erneut Verbindung mit dem Satelliten auf. Er erteilte den Beobachtern des Satelliten 57 den Befehl, die Richtung entlang eines Bogens, der viermal so groß war wie die Parallaxe des Sterns, langsam zu ändern, sobald das Feld eingeschaltet würde.

Die Zeit kroch dahin. Mwen Maas konnte den Gedanken an Bet Lon, den verbrecherischen Mathematiker, einfach nicht abschütteln. Dann aber erschien Ren Boos am Pult der Versuchsanlage auf dem Bildschirm des Televideofons. Seine struppigen Haare standen noch mehr als gewöhnlich ab.

„Die Dispatcher in den Kraftwerken sind benachrichtigt worden und haben ihre Bereitschaft gemeldet.“ Mwen Maas griff nach den Hebeln auf dem Pult, aber eine Bewegung von Ren Boos auf dem Bildschirm ließ ihn innehalten.

„Das Q-Reservekraftwerk in der Antarktis muss informiert werden. Die vorhandene Energie reicht sonst nicht aus.“

„Das habe ich schon erledigt, es ist bereit.“

Der Physiker dachte noch einige Sekunden lang nach.

„Auf der Tschuktschenhalbinsel und auf Labrador stehen Kraftwerke für F-Energie“, sagte er zögerlich. „Vielleicht sollte man mit ihnen vereinbaren, dass sie sich im Augenblick der Feldinversion einschalten… ich habe Angst, die Anlage könnte nicht richtig funktionieren…“

„Bereits geschehen.“

Ren Boos strahlte begeistert und machte mit der Hand ein Zeichen.

Die riesige Energiesäule erreichte den Satelliten 57. Auf dem Hemisphärenbildschirm des Observatoriums erschienen die aufgeregten Gesichter der jungen Beobachter.

Mwen Maas begrüßte die mutigen Leute und überprüfte die Richtung der Energiesäule, um sicherzugehen, dass sie auch genau auf den Satelliten gerichtet war und ihm folgte. Dann schaltete er die gesamte Energie auf die Anlage von Ren Boos um. Der Kopf des Physikers verschwand vom Bildschirm.

Die Zeiger auf den Indikatoren für Energieentnahme neigten sich nach rechts, womit sie das unaufhörliche Anwachsen der Energiekondensation anzeigten. Die Signallichter wurden immer heller und weißer. Sobald Ren Boos einen Feldstrahler nach dem anderen eingeschaltet hatte, fielen die Zeiger sprunghaft auf den Nullstrich zurück. Ein erstickender Ton von der Versuchsanlage ließ Mwen Maas zusammenzucken. Der Afrikaner wusste, was zu tun war. Eine Hebelbewegung, und die Energie eines Q-Kraftwerkes ergoss sich in turbulentem Strom in die erlöschenden Augen der Geräte, erfüllte ihre fallenden Zeiger mit neuem Leben. Aber kaum hatte Ren Boos den Hauptinvertor dazugeschaltet, als die Zeiger von Neuem zurücksanken. Fast instinktiv schaltete Mwen Maas gleich beide Q-Kraftwerke dazu.

Ihm schien, als wären die Geräte erloschen und ein sonderbares Licht habe den Raum erfüllt. Das Summen setzte aus. Eine Sekunde später machte sich im Bewusstsein des Leiters der Außenstationen ein Schatten des Todes breit und schwächte sein Wahrnehmungsvermögen ab. Die Hände auf den Rand des Pultes gepresst und stöhnend vor Anstrengung und schrecklichen Schmerzen im Rückgrat, kämpfte Mwen Maas gegen ein Ekel erregendes Schwindelgefühl an. Das fahle Licht begann aus einer Richtung des unterirdischen Raumes immer greller zu leuchten — aus welcher Richtung konnte Mwen Maas nicht sagen oder hatte es vergessen. Vielleicht vom Bildschirm oder von der Seite, wo sich Ren Boos’ Anlage befand…

Plötzlich war es ihm, als zerreiße ein schwingender Vorhang, und Mwen Maas hörte deutlich das Plätschern von Wellen. Ein undefinierbarer, nicht wiederzugebender Geruch stieg in seine weit aufgeblasenen Nasenflügel. Der Vorhang schwang nach links, aber während sich in der Ecke noch jener alte graue Schleier hin und her wiegte, erhoben sich vor seinen Augen mit ungewöhnlicher Deutlichkeit hohe Kupferberge, eingesäumt von Wäldern türkisfarbener Bäume, und zu seinen Füßen plätscherten die Wellen eines violetten Meeres. Der Vorhang zog sich noch weiter nach links, und er erblickte seinen Traum. Ein rothäutiges Mädchen saß auf dem obersten Absatz einer Treppe an einem Tisch aus weißem Stein und blickte, die Ellbogen auf seine polierte Oberfläche gestützt, ins Meer. Plötzlich erblickte auch sie etwas, und ihre weit auseinanderliegenden Augen füllten sich mit Verwunderung und Entzücken. Das Mädchen erhob sich mit vollendeter Eleganz und streckte dem Afrikaner ihre offene Hand entgegen. Ihre Brust hob und senkte sich rasch, und in diesem Augenblick von Wahn erinnerte sich Mwen Maas an Tschara Nandi.

„Offa, alli kor!“

Ihre melodische, sanfte und doch kräftige Stimme bohrte sich in Mwen Maas’ Herz. Er öffnete den Mund, um ihr zu antworten, doch da erhob sich an der Stelle, wo das Mädchen eben noch gestanden hatte, eine grüne Flamme, und ein entsetzliches Pfeifen erfüllte den Raum. Während der Afrikaner sein Bewusstsein verlor, fühlte er, wie er von einer weichen, unbezwingbaren Kraft zusammengefaltet, wie der Läufer einer Turbine herumgewirbelt und dann an etwas Hartem platt gequetscht wurde… Sein letzter Gedanke galt dem Schicksal des Observatoriums und Ren Boos’…

Die Mitarbeiter des Observatoriums und die Bauarbeiter, die in einiger Entfernung am Abhang standen, sahen sehr wenig. Hoch am tibetischen Himmel blitzte etwas auf und verdunkelte für einen Moment das Leuchten der Sterne. Irgendeine unsichtbare Kraft stürzte auf den Berg mit der Versuchsanlage nieder, zog sich zu einem Wirbelsturm zusammen und schleuderte eine gewaltige Masse von Steinen in die Luft. Wie von einer gigantischen hydraulischen Kanone abgefeuert, schoss ein schwarzer Trichter von einem Kilometer Durchmesser auf das Observatoriumsgebäude zu, flog in die Höhe, knickte um und prallte erneut gegen den Berg mit der daraufstehenden Anlage, die er zur Gänze in Trümmer zerschlug und versprengte. Einen Augenblick später war alles still. In der mit Staub erfüllten Luft lag der Geruch brennender Steine und Rauch, vermischt mit einem sonderbaren Duft, der an die blühenden Strände tropischer Meere erinnerte.

An der Unglücksstelle sahen die Menschen, dass sich in dem Tal zwischen dem Berg und dem Observatorium eine breite Furche mit geschmolzenen Rändern aufgetan hatte und der dem Tal zugekehrte Abhang des Berges zur Gänze wegrasiert war. Das Observatoriumsgebäude selbst war ganz geblieben. Die Furche reichte bis an die Südostmauer heran, wo sie den Verteilerstollen mit den Gedächtnismaschinen zerstört hatte, und endete an der Kuppel der unterirdischen Kammer, die mit einer vier Meter dicken Schicht aus geschmolzenem Basalt bedeckt war. Der Basalt sah aus, als sei er auf einer riesigen Schleifmaschine geschliffen worden. Ein Teil der Schicht war jedoch unversehrt und hatte Mwen Maas und den unterirdischen Raum vor der völligen Vernichtung bewahrt.

Ein Rinnsal geschmolzenen Silbers — die Reste der Sicherungen des Energiesammelkraftwerks — glitzerte in einer Bodenvertiefung.

Bald waren Kabel für eine Notbeleuchtung gelegt. Im Lichte des Scheinwerfers auf dem Leuchtturm der Anfahrtsstraße bot sich den Menschen ein erschütterndes Bild — die Metallkonstruktion der Versuchsanlage war in einer dünnen Schicht auf die gesamte Furche verschmiert, sodass sie wie verchromt glänzte. In die senkrechte Steilwand des wie mit einer Klinge akkurat wegrasierten Berghanges war ein Stück der Bronzespirale hineingedrückt. Das Gestein war wie Lack unter einem heißen Siegel zu einer glasigen Schicht zerlaufen. Die darin versenkten Metallwindungen mit den weißen Zähnen der Rheniumkontakte funkelten im elektrischen Licht wie eine aus Email gegossene Blume. Ein Blick auf diese Juwelierarbeit von zweihundert Metern Durchmesser genügte, um jedermann Angst vor der unbekannten Kraft einzuflößen, die hier gewütet haben musste.

Als der von Trümmern verschüttete Eingang in die unterirdische Kammer freigelegt war, fand man Mwen Maas kniend und mit dem Kopf auf dem Stein der unteren Treppenstufe liegend. Der Leiter der Außenstationen hatte offensichtlich in einem Augenblick wiedererlangten Bewusstseins den Versuch unternommen, ins Freie zu gelangen. Unter den freiwilligen Helfern fanden sich Ärzte, und der starke Organismus des Afrikaners erholte sich mithilfe nicht weniger starker Medikamente bald von der Quetschung. Auf beiden Seiten gestützt, erhob sich Mwen Maas zitternd und schwankend.

„Was ist mit Ren Boos…?“

Die Gesichter der Umstehenden verfinsterten sich. Der Leiter des Observatoriums antwortete mit rauer Stimme:

„Ren Boos ist schrecklich entstellt. Er wird wohl kaum noch lange durchhalten…“

„Wo ist er?“

„Er wurde hinter dem Berg, am Ostabhang, gefunden. Er muss aus dem Unterstand herausgeschleudert worden sein. Auf dem Berggipfel ist nichts übrig geblieben, sogar die Klosterruinen wurden weggefegt.“

„Und Ren Boos liegt noch dort?“

„Er ist nicht transportfähig. Seine Knochen sind gebrochen, die Rippen zerschlagen…“

„Und?“

„Sein Bauch ist aufgerissen, die Gedärme hängen heraus…“

Mwen Maas’ Beine versagten, und er klammerte sich krampfhaft an den Hals der ihn stützenden Leute. Aber seine Willenskraft und sein Verstand arbeiteten noch.

„Ren Boos muss unter allen Umständen gerettet werden! Er ist einer der hervorragendsten Wissenschaftler…!“

„Das wissen wir. Fünf Ärzte sind bei ihm. Man hat ein steriles Operationszelt über ihm errichtet. Neben ihm liegen zwei freiwillige Blutspender. Das Thyratron, das künstliche Herz und die Leber arbeiten bereits.“

„Dann führen Sie mich in die Fernsprechzentrale. Nehmen Sie Verbindung mit dem Weltnetz auf, und rufen Sie das Informationszentrum des nördlichen Gürtels! Was ist mit dem Satelliten 57?“

„Wir haben ihn gerufen, aber er schweigt.“

„Suchen Sie den Satelliten im Teleskop, und untersuchen Sie ihn bei starker Vergrößerung im Elektroneninvertor…“

„Die Maschinen sind stark beschädigt, und die Indikatoren zeigen keine neuen Aufzeichnungen an.“

„Alles zum Teufel“, flüsterte Mwen Maas mit gesenktem Kopf.

Der Diensthabende des nördlichen Informationszentrums sah auf dem Bildschirm ein blutverschmiertes Gesicht mit fiebrig glänzenden Augen. Er musste ein zweites Mal hinsehen, bevor er den Leiter der Außenstationen, einen überall auf der Erde bekannten Mann, identifizieren konnte.

„Ich muss mit Grom Orm, dem Vorsitzenden des Rates für Sternenschifffahrt, und mit Ewda Nal, der Psychiaterin, sprechen.“

Der Diensthabende nickte und machte sich an den Knöpfen und Feineinstellungen seiner Maschine zu schaffen. Eine Minute später war die Antwort da.

„Grom Orm bereitet Material vor und übernachtet im Haus des Rates. Soll ich dort anrufen?“

„Ja, rufen Sie ihn! Und Ewda Nal?“

„Sie befindet sich derzeit in der vierhundertzehnten Schule in Irland. Wenn Sie sie sprechen müssen, dann versuche ich, sie über…“, sagte der Diensthabende und schaute auf einen Plan, „die Sprechstelle 5654 P zu erreichen.“

„Ja, ich muss sie unbedingt sprechen! Es geht um Leben und Tod!“

Der Diensthabende blickte von seinen Plänen auf.

„Ist ein Unglück geschehen?“

„Ja, ein großes Unglück!“

„Dann werde ich den laufenden Dienst meinem Assistenten übertragen und mich selbst ausschließlich um Ihre Angelegenheit kümmern. Warten Sie!“

Mwen Maas ließ sich in den Sessel fallen, der ihm untergeschoben worden war, und versuchte seine Gedanken und seine Kraft zu sammeln. Da stürzte der Leiter des Observatoriums ins Zimmer.

„Wir haben eben die Stellung des Satelliten 57 fixiert. Er ist nicht mehr da!“

Mwen Maas sprang auf, als hätte er keinerlei Verletzungen davongetragen.

„Der vordere Teil, der Sternenschiffträger, ist übrig geblieben“, lautete die Hiobsbotschaft weiter. „Er fliegt auf derselben Umlaufbahn. Wahrscheinlich gibt es noch kleinere Bruchstücke, die wir jedoch noch nicht geortet haben.“

„Das heißt, die Beobachter…?“

„Sind zweifellos umgekommen!“

Mwen Maas presste seine Fäuste gegen die unerträglich schmerzenden Schläfen. Einige Minuten qualvollen Schweigens vergingen. Dann erstrahlte der Bildschirm von Neuem.

„Grom Orm ist im Haus der Räte am Apparat“, sagte der Diensthabende und betätigte einen Hebel.

Auf dem Bildschirm erschien in dem großen, matt beleuchteten Saal der allen bekannte charakteristische Kopf des Vorsitzenden des Rates für Sternenschifffahrt — das schmale, fast stromlinienförmige Gesicht mit der großen Adlernase, die tief liegenden Augen unter skeptisch hochgezogenen Brauen, der energische Zug um die fest zusammengepressten Lippen.

Mwen Maas senkte unter dem Blick des Ratsvorsitzenden unwillkürlich den Kopf wie ein ungezogener Junge.

„Soeben ist der Satellit 57 zerstört worden!“ Der Afrikaner stürzte sich in sein Bekenntnis wie in dunkles Wasser.

Grom Orm zuckte zusammen, und sein Gesicht wurde noch kantiger.

„Wie konnte das geschehen?“

Mwen Maas erzählte in knappen und präzisen Worten alles, ohne die Illegalität des Experiments zu verheimlichen oder sich zu schonen. Die Brauen des Ratsvorsitzenden zogen sich zusammen, um seinen Mund ringelten sich tiefe Falten, doch sein Blick blieb ruhig.

„Warten Sie, ich kümmere mich um Hilfe für Ren Boos. Glauben Sie, Af Nut könnte…“

„Oh, wenn Af Nut kommen könnte!“

Der Bildschirm wurde wieder dunkel. Das Warten wurde unerträglich. Mwen Maas nahm seine letzten Kräfte zusammen. Nein, bald würde… und da war Grom Orm schon wieder!

„Ich habe Af Nut aufgespürt und ihm ein Planetenschiff geschickt. Er braucht wenigstens eine Stunde, um die Apparaturen und seine Assistenten zusammenzubekommen. In zwei Stunden ist Af Nut im Observatorium. Jetzt zu Ihnen — ist das Experiment gelungen?“

Die Frage kam für den Afrikaner überraschend. Er hatte den Epsilon Tucanae zweifellos gesehen. Aber war dies ein echter Kontakt mit der unerreichbar fernen Welt gewesen? Oder hatten die mörderische Wirkung des Experiments auf seinen Organismus und der brennende Wunsch, den Stern zu sehen, in ihm eine wirklichkeitsnahe Halluzination hervorgerufen? Konnte er der gesamten Welt mitteilen, dass das Experiment gelungen sei, dass neue Anstrengungen, Opfer und Mittel für eine Wiederholung notwendig seien, dass die von Ren Boos angewandte Methode zielführender sei als die seiner Vorgänger? Im Vertrauen auf die Gedächtnismaschinen hatten sie, wie Verrückte, das Experiment lediglich zu zweit ausgeführt! Und was hatte Ren gesehen, was würde er berichten können? Ja, wenn er überhaupt wieder sprechen würde… wenn er überhaupt etwas gesehen hatte…

Mwen Maas richtete sich noch gerader auf.

„Beweise, dass das Experiment geglückt ist, besitze ich keine. Was Ren Boos beobachtet hat, weiß ich nicht…“

Auf Grom Orms Gesicht spiegelte sich unverhohlenes Bedauern wider. War es eine Minute zuvor noch aufmerksam gewesen, so nahm es jetzt einen strengen Ausdruck an.

„Was schlagen Sie vor?“

„Ich bitte um die Erlaubnis, die Station unverzüglich an Junius Antus übergeben zu dürfen. Ich bin nicht würdig, sie noch länger zu leiten. Dann… werde ich bis zum Schluss bei Ren Boos bleiben…“ Der Afrikaner stockte und berichtigte sich dann. „… bis zum Schluss der Operation. Danach… danach werde ich mich bis zum Gerichtsverfahren auf die Insel des Vergessens zurückziehen… Ich habe bereits selbst das Urteil über mich gefällt.“

„Vielleicht haben Sie recht. Aber mir sind noch viele Umstände unklar, und ich enthalte mich deshalb eines Urteils. Ihr Vorgehen wird auf der nächsten Sitzung des Rates untersucht werden. Wen halten Sie für am geeignetsten, Sie zu vertreten — vor allem, was den Wiederaufbau des Satelliten betrifft?“

„Ich kenne keinen besseren Kandidaten als Dar Weter!“

Der Vorsitzende des Rates nickte zustimmend. Er sah den Afrikaner noch einige Zeit an, als wolle er noch etwas hinzufügen, machte dann aber nur eine Abschiedsgeste. Der Bildschirm erlosch — und gerade rechtzeitig, denn plötzlich wurde Mwen Maas vor den Augen schwarz.

„Bitte benachrichtigen Sie Ewda Nal für mich“, flüsterte er dem neben ihm stehenden Leiter des Observatoriums zu, fiel zu Boden und verlor nach einigen vergeblichen Versuchen, sich wieder aufzurichten, schließlich das Bewusstsein.

Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit im tibetischen Observatorium stand ein kleiner, gelbhäutiger Mann mit einem fröhlichen Lächeln und ungewöhnlich gebieterischen Gesten und Worten. Die Assistenten, die mit ihm angekommen waren, fügten sich mit einer solch freudigen Bereitwilligkeit, wie wahrscheinlich nur die treuen Soldaten den großen Heerführern der Antike gefolgt waren. Doch die Autorität des Lehrers unterdrückte keinesfalls ihr selbstständiges Denken und ihren Unternehmungsgeist. Es war eine hervorragend aufeinander eingespielte Gruppe von starken Leuten, die würdig waren, den Kampf gegen den schlimmsten und unversöhnlichsten Feind des Menschen, den Tod, aufzunehmen.

Als Af Nut erfuhr, dass Ren Boos’ Abstammungskarte noch nicht eingetroffen sei, brach er in einen Ruf der Empörung aus, beruhigte sich jedoch ebenso schnell, als ihm mitgeteilt wurde, dass die Karte von Ewda Nal zusammengestellt und von ihr persönlich gebracht würde.

Der Leiter des Observatoriums fragte vorsichtig, wofür die Karte denn notwendig sei und was Ren Boos seine fernen Vorfahren noch nützen könnten. Af Nut kniff verschmitzt die Augen zusammen, so als wolle er ein großes Geheimnis preisgeben.

„Die genaue Kenntnis der Erbstruktur jedes Menschen ist notwendig für das Verständnis seiner psychischen Konstitution und für Vorhersagen in diesem Bereich. Nicht weniger wichtig sind Daten über neurophysiologische Eigenheiten, die Widerstandskraft des Organismus, die Immunologie, die Anfälligkeit für Traumata sowie Allergien gegenüber Medikamenten. Ohne eine genaue Kenntnis von der Erbstruktur und der Bedingungen, unter denen die Vorfahren lebten, ist es unmöglich, die richtige Behandlungsmethode zu wählen.“

Der Leiter des Observatoriums wollte noch etwas fragen, aber Af Nut schnitt ihm das Wort ab:

„Meine Antwort soll Ihnen als Grundlage für selbstständige Überlegungen dienen. Für mehr ist jetzt keine Zeit!“

Der Astronom murmelte entschuldigende Worte, die der Chirurg jedoch nicht mehr hörte.

Auf einem kleinen Platz am Fuße des Berges entstand ein transportables Operationsgebäude, wurden Wasser, Strom und Pressluft angeschlossen. Eine Unzahl Freiwilliger bot ihre Dienste an, und das Gebäude wurde innerhalb von drei Stunden fertiggestellt. Af Nuts Assistenten wählten unter den Ärzten, die am Bau der Anlage mitgeholfen hatten, fünfzehn Mann für den Dienst in der so rasch errichteten chirurgischen Klinik aus. Ren Boos wurde unter eine durchsichtige Plastikhaube gelegt, die zur Gänze sterilisiert und durch Spezialfilter mit steriler Luft vollgeblasen worden war. Af Nut und vier seiner Assistenten betraten den Vorraum des Operationssaales, wo sie einige Stunden verharrten, in denen sie mit bakteriziden Wellen und durch mit antiseptischem Gas angereicherte Luft behandelt wurden, bis selbst ihr Atem steril war. Währenddessen wurde Ren Boos’ Körper stark tiefgekühlt. Dann begann man mit der raschen und sicheren Arbeit.

Die gebrochenen Knochen und zerrissenen Gefäße des Physikers wurden mit Klammern und Nahtmaterial aus Tantal zusammengefügt, die vom lebendigen Gewebe nicht abgestoßen wurden. Af Nut untersuchte die verletzten Eingeweide. Die geplatzten Gedärme und der Magen wurden von abgestorbenen Teilen gesäubert, zusammengenäht und in ein Gefäß mit der rasch abheilenden Flüssigkeit B 314 gelegt, welche den somatischen Eigenheiten des Organismus entsprach. Danach machte sich Af Nut an die schwierigste Aufgabe. Er löste die schwarz gewordene, mit Rippensplittern durchbohrte Leber aus ihrer Lage unter den Rippen und zog, während sie die Assistenten in die Höhe hielten, mit verblüffender Sicherheit die dünnen Fäden der automatischen Nerven des sympathischen und parasympathischen Systems heraus. Die kleinste Verletzung dieser dünnsten Nervenäste konnte zu schweren irreversiblen Schäden führen. Mit einer blitzschnellen Bewegung durchschnitt der Chirurg die Pfortader und schloss an ihren beiden Enden die Röhrchen künstlicher Blutgefäße an. Nachdem er dasselbe mit den Arterien gemacht hatte, legte Af Nut die nur durch die Nerven mit dem Körper verbundene Leber in ein Gefäß mit der Flüssigkeit B 3. Nach einer fünfstündigen Operation floss künstliches Blut in den Gefäßen von Ren Boos’ Körper, das vom eigenen Herzen des Verletzten sowie von einem künstlichen Herzen — einer automatischen Pumpe — in Bewegung gehalten wurde. Nun konnte man in Ruhe das Verheilen der herausgenommenen Organe abwarten. Af Nut konnte die verletzte Leber nicht einfach durch eine im chirurgischen Fonds des Planeten gelagerte fremde Leber ersetzen, da für das Anheilen der Nerven zusätzliche Untersuchungen notwendig gewesen wären, der Zustand des Patienten aber nicht die kleinste Verzögerung zuließ. Einer der Chirurgen blieb bei dem reglosen Körper, der wie eine obduzierte Leiche ausgestreckt dalag, bis die nächste Schicht von Ärzten die Sterilisierung durchlaufen hatte.

Die Türen der um den Operationssaal errichteten Schutzmauer öffneten sich geräuschvoll, und Af Nut, wie ein eben erwachtes Raubtier mit den Augen blinzelnd und sich reckend, erschien in Begleitung seiner blutverschmierten Assistenten. Ewda Nal, erschöpft und blass, trat ihm entgegen und überreichte ihm die Abstammungskarte. Af Nut griff hastig danach, warf einen Blick darauf und seufzte erleichtert auf.

„Es scheint, es wird alles gut verlaufen. Gehen wir, und ruhen wir uns aus!“

„Und… wenn er aufwacht?“

„Kommen Sie! Er kann nicht aufwachen. Glauben Sie, wir sind so dumm und haben nicht dafür vorgesorgt?“

„Wie lange müssen wir warten?“

„Vier, fünf Tage. Wenn die biologischen Untersuchungen präzise waren und die Berechnungen stimmen, dann können wir nochmals operieren und die Organe wieder einpflanzen. Danach wird das Bewusstsein…“

„Wie lange können Sie hierbleiben?“

„Ungefähr zehn Tage. Das Unglück fiel genau in meine unterrichtsfreie Zeit. Ich werde die Gelegenheit nützen und mir Tibet ansehen — ich war noch nie hier. Es ist mein Los, dort zu leben, wo die meisten Menschen sind, das heißt, im Wohngürtel!“

Ewda Nal sah den Chirurgen voller Begeisterung an. Af Nut lächelte finster.

„Sie sehen mich ja an, wie die Menschen früher ein Gottesbild angesehen haben. Das passt ganz und gar nicht zu meiner besten Schülerin!“

„Ich sehe Sie jetzt tatsächlich mit anderen Augen. Es ist das erste Mal, dass das Leben eines mir teuren Menschen in den Händen eines Chirurgen liegt, und ich verstehe erst jetzt die Emotionen jener Leute, die mit Ihrer Kunst in Berührung gekommen sind — Wissen, vereint mit unnachahmlichem Können!“

„Gut! Schwärmen Sie, wenn Ihnen das hilft. Aber ich werde an Ihrem Physiker nicht nur eine zweite Operation, sondern noch eine dritte vornehmen…“

„Welche dritte?“, fragte Ewda, sofort auf der Hut. Aber Af Nut blinzelte verschmitzt und zeigte dann auf den Pfad, der vom Observatorium heraufführte.

Auf ihm kam Mwen Maas gesenkten Hauptes angehumpelt.

„Da kommt noch ein — unfreiwilliger — Verehrer meiner Kunst… Unterhalten Sie sich mit ihm, wenn Sie sich schon nicht ausruhen wollen, ich muss gehen…“

Der Chirurg verschwand hinter dem Hügel, wo sich die provisorische Unterkunft der eingeflogenen Ärzte befand. Ewda Nal bemerkte schon aus weiter Ferne, wie eingefallen und alt der Leiter der Außenstationen aussah… Nein, Mwen Maas leitete ja schon nichts mehr. Sie berichtete dem Afrikaner, was ihr Af Nut mitgeteilt hatte, und der atmete erleichtert auf.

„Dann reise auch ich in zehn Tagen ab!“

„Handeln Sie auch richtig, Mwen? Ich bin noch zu benommen, um das Vorgefallene einzuschätzen, aber mir scheint, dass Ihre Schuld kein solch hartes Urteil fordert.“

Mwen Maas verzog schmerzlich das Gesicht.

„Ich habe mich von Ren Boos’ glänzender Theorie hinreißen lassen. Ich hatte nicht das Recht, die gesamte Energie der Erde gleich für den ersten Versuch aufzubieten.“

„Ren Boos hat aber doch bewiesen, dass das Experiment bei geringerem Energieeinsatz zwecklos wäre“, entgegnete Ewda.

„Das stimmt, trotzdem hätten wir zuerst indirekte Experimente durchführen müssen. Aber ich war krankhaft ungeduldig und wollte nicht Jahre warten. Vergeuden Sie Ihre Worte nicht — der Rat wird meinen Entschluss bestätigen, und die Ehren- und Rechtskontrolle wird ihn nicht aufheben!“

„Ich bin selbst Mitglied der Ehren- und Rechtskontrolle!“

„Außer Ihnen gibt es noch zehn weitere Mitglieder. Da meine Arbeit gesamtplanetar ist, müssen die Kontrollen des Südens und Nordens gemeinsam entscheiden — also insgesamt einundzwanzig Personen außer Ihnen…“

Ewda Nal legte dem Afrikaner die Hand auf die Schulter.

„Setzen wir uns, Mwen, Sie sind noch schwach auf den Beinen. Wissen Sie, dass die ersten Ärzte, die Ren untersuchten, das Todeskonsilium einberufen wollten?“

„Ja, ich weiß. Aber es waren zwei zu wenig. Die Ärzte sind ein konservatives Volk, und nach den alten Bestimmungen, die sie noch immer nicht geändert haben, dürfen nur zweiundzwanzig Ärzte den sanften Tod eines Patienten beschließen.“

„Vor Kurzem noch musste ein Todeskonsilium aus sechzig Ärzten zusammengesetzt sein!“

„Das ist ein Überbleibsel der alten Zeiten, das von der Furcht vor einem Missbrauch rührte und dazu führte, dass Kranke oft zu langem und unnötigem Leiden und deren Angehörige zu schweren moralischen Qualen verdammt waren, obwohl es bereits keinen Ausweg mehr gab und der Tod auf sanfte und rasche Weise hätte herbeigeführt werden können. Aber sehen Sie, wie nützlich eine Tradition sein kann — zwei Ärzte zu wenig, und mir gelang es… dank Grom Orm… Af Nut zu holen.“

„Gerade daran wollte ich Sie auch erinnern. Ihr Konsilium, das über den gesellschaftlichen Tod entscheiden soll, besteht einstweilen nur aus einem Menschen!“

Mwen Maas nahm Ewdas Hand und führte sie an seine Lippen. Sie gestattete ihm diese Geste tiefer und intimer Freundschaftsbezeugung. Er, dieser starke, aber durch moralische Verantwortung tief bedrückte Mensch, hatte in diesem Moment nur sie als Freund. Nur sie. Wenn jetzt Tschara statt ihrer hier stünde? Nein, um Tschara entgegentreten zu können, bedurfte der Afrikaner erst eines seelischen Aufschwungs, zu dem ihm noch die Kraft fehlte. Mochte bis zur Genesung von Ren Boos und dem Rat für Sternenschifffahrt alles seinen Lauf nehmen!

„Wissen Sie, welche dritte Operation Ren bevorsteht?“ Ewda wechselte das Thema.

Mwen Maas überlegte einen Augenblick lang und rief sich das Gespräch mit Af Nut ins Gedächtnis zurück.

„Er möchte die Gelegenheit, da der Körper Ren Boos’ geöffnet ist, nützen, um seinen Organismus von der angestauten Entropie zu säubern. Was sonst mithilfe der Physiochemotherapie langsam und schwierig erreicht wird, kann im Zuge eines solchen kapitalen chirurgischen Eingriffs unvergleichlich rascher und gründlicher gemacht werden.“

Ewda versuchte sich an alles zu erinnern, was sie über die Voraussetzung für die Erreichung eines hohen Alters — der Säuberung des Organismus von der Entropie — wusste. Die fisch- und lurchartigen Vorfahren des Menschen hatten in ihrem Organismus Schichten widersprüchlicher physiologischer Strukturen hinterlassen, von denen jede ihre Eigenheiten bei der Bildung entropischer Rückstände besaß. Diese jahrtausendelang beobachteten alten Strukturen — einst Ursachen für das Altern und für Krankheiten — konnte man inzwischen einer sehr effektiven energetischen Säuberung durch chemische Waschung, Strahlentherapie und Wellenbehandlung zur Aufrüttelung des alternden Organismus unterziehen.

In der Natur wurde die Zunahme der Entropie dadurch aufgehalten, dass die Lebewesen aus der Paarung verschiedener Individuen hervorgingen, die aus verschiedenen Gegenden stammten und damit unterschiedlicher genealogischer Herkunft waren. Diese Vermischung der Erbmasse als Mittel im Kampf gegen die Entropie gab den Wissenschaftlern das größte Rätsel auf, über das sich Biologen, Physiker, Paläontologen und Mathematiker schon seit Jahrtausenden den Kopf zerbrochen hatten. Aber es hatte sich gelohnt: Die maximale Lebenserwartung war bereits auf fast zweihundert Jahre angestiegen, und was die Hauptsache war: das zermürbende, schleichende Altern konnte beseitigt werden.

Mwen Maas erriet die Gedanken der Psychiaterin.

„Ich habe über einen neuen und großen Widerspruch in unserem Leben nachgedacht“, sagte der Afrikaner langsam. „Einerseits die hoch entwickelte biologische Medizin, die den Menschen mit neuen Kräften ausstattet, und andererseits die immer stärker zunehmende schöpferische Arbeit des Gehirns, die den Menschen rasch verbraucht. Wie kompliziert sind doch die Gesetze unserer Welt!“

„Das stimmt, und deshalb zögern wir die Entwicklung des dritten Signalsystems des Menschen einstweilen noch hinaus“, sagte Ewda Nal. „Das Gedankenlesen erleichtert zwar die Verständigung der Individuen untereinander außerordentlich, bringt aber einen großen Kräfteverschleiß mit sich und schwächt die Hemmungszentren. Letzteres ist besonders gefährlich…“

„Und dennoch erreicht der Großteil der Menschen — die wirklich arbeiten — aufgrund der ständigen nervlichen Anspannung nur die Hälfte der maximalen Lebenserwartung. So viel ich davon verstehe, kann die Medizin dagegen nichts ausrichten, es sei denn, sie verbietet die Arbeit. Aber wer möchte schon um ein paar zusätzlicher Lebensjahre willen auf die Arbeit verzichten?“

„Niemand, weil der Tod für den Menschen nur dann schrecklich ist und er sich nur dann ans Leben klammert, wenn er es in untätiger und trostloser Erwartung nie erlebter Freuden verbracht hat“, sagte Ewda versonnen, wobei sie unwillkürlich daran denken musste, dass die Menschen auf der Insel des Vergessens wahrscheinlich länger lebten.

Mwen Maas erriet von Neuem ihre Gedanken und schlug mit finsterem Gesicht vor, ins Observatorium zurückzukehren und sich auszuruhen. Ewda fügte sich.

Zwei Monate später stöberte Ewda Nal Tschara Nandi im obersten Saal des Informationspalastes auf, der mit seinen hohen Säulen an einen gotischen Dom erinnerte. Die schräg einfallenden Sonnenstrahlen kreuzten sich auf halber Höhe des Saales, sodass der obere Teil hell beleuchtet und der untere in warmes Dämmerlicht getaucht war.

Das Mädchen stand an eine Säule gelehnt, die Arme auf dem Rücken verschränkt und die Beine gekreuzt. Ewda Nal konnte wie üblich nicht umhin, ihr schlichtes Äußeres — ein kurzes, graublaues Kleid mit tiefem Ausschnitt — zu bewundern.

Als Tschara die sich ihr nähernde Ewda Nal erblickte, füllten sich ihre traurigen Augen mit neuem Leben.

„Was machen Sie hier, Tschara? Ich dachte, Sie wollten uns bald wieder mit einem neu einstudierten Tanz überraschen, und nun zieht es Sie zur Geografie.“

„Mit dem Tanzen ist es vorbei“, sagte Tschara ernst. „Ich suche mir eine Arbeit auf einem mir vertrauten Gebiet. In einer Kunstlederfabrik in den Binnenmeeren von Celebes und auf der Station für die Züchtung ganzjährig blühender Pflanzen in der ehemaligen Wüste Atacama sind Stellen frei. Die Arbeit auf dem Atlantischen Ozean hat mir Spaß gemacht. Dort war alles so hell und klar, mir war so froh zumute — das hohe Meer, das unbeschwerte Einssein mit ihm, das lustige Spiel und der Wettlauf mit den hohen Wellen, die überall auf einen warteten. Sobald man mit der Arbeit fertig war, konnte man…“

„Wenn ich melancholisch gestimmt bin, muss ich auch immer an meine Arbeit im psychologischen Sanatorium auf Neuseeland denken, wo ich als blutjunge Krankenschwester angefangen habe. Auch Ren Boos spricht jetzt, nach seiner schrecklichen Verletzung, oft davon, dass er als Regulierer von Fluggleitern wohl am glücklichsten gewesen sei. Aber Sie wissen ebenso gut, Tschara, dass dies nur ein Zeichen von Schwäche ist! Ein Zeichen von Erschöpfung durch die ungeheure nervliche Anspannung, die notwendig ist, um auf jenem hohen schöpferischen Niveau zu bleiben, das Sie als wahre Künstlerin erreicht haben. Und es wird noch schlimmer, wenn Ihr Körper eines Tages jene großartige Lebensenergie verliert. Aber solange Sie die noch besitzen, sollten Sie uns mit Ihrer Kunst und Schönheit Freude bereiten.“

„Sie wissen nicht, Ewda, wie mir zumute ist. Jedes Einstudieren eines Tanzes ist ein freudiges Suchen. Ich fühle, dass ich die Menschen eines Tages wieder mit etwas Schönem beglücken werde, das ihnen Freude bereitet und an ihre tiefsten Gefühle rührt… Und dafür lebe ich. Es wird der Augenblick kommen, da mein Vorhaben in Erfüllung geht und ich mich ganz einem neuen Höhenflug von brennender und verwegener Leidenschaft hingebe… Das überträgt sich wahrscheinlich auch auf die Zuschauer und ist der Grund, weshalb sie meinen Tanz mit solcher Begeisterung aufnehmen. Mich ganz hingebe, für euch alle…“

„Und was ist dann? Ein plötzlicher Tiefpunkt?“

„Ja! Ich bin wie ein Lied, das verflogen ist und sich in Luft aufgelöst hat. Ich schaffe nichts, was sich in dem Geist des Zuschauers einprägt.“

„Sie geben den Menschen weit mehr als das — etwas, was sie in ihrem Herzen bewahren!“

„Das ist nichts Handfestes und sehr kurzlebig — ich meine mich selbst!“

„Haben Sie noch nie geliebt, Tschara?“

Das Mädchen senkte die Lider.

„Ist es dabei ähnlich?“, antwortete sie mit einer Gegenfrage.

Ewda Nal schüttelte den Kopf.

„Ich meine jenes starke Gefühl, zu dem Sie, aber bei Weitem nicht alle fähig sind…“

„Ich verstehe — bei der Begrenztheit meines intellektuellen Lebens bleibt mir immer noch mein Gefühlsreichtum.“

„Im Wesentlichen ist der Gedanke richtig, nur würde ich ihn anders formulieren. Sie wurden so reichlich mit Gefühl bedacht, dass die andere Seite nicht unbedingt ärmer, wenngleich nach dem Gesetz des Widerspruchs natürlich schwächer ausgebildet sein wird. Aber wir sprechen hier über abstrakte Dinge, dabei muss ich Sie in einer ganz dringenden Angelegenheit sprechen, die unmittelbar mit unserem Gespräch zu tun hat. Mwen Maas…“

Das Mädchen zuckte zusammen.

Ewda Nal nahm Tschara an der Hand und führte sie in eine der halbrunden Seitennischen des Saales, wo die dunkle Holztäfelung in strenger Harmonie zu der Buntheit des blaugoldenen Glases in den breiten Arkaden und Fenstern stand.

„Tschara, meine liebe Tschara, Sie sind eine lichtbedürftige irdische Blume, verpflanzt auf den Planeten eines Doppelsterns. Am Himmel stehen zwei Sonnen, die eine blau, die andere rot, und die Blume weiß nicht, welcher sie sich zuwenden soll. Aber Sie sind eine Tochter der roten Sonne, und weshalb strecken Sie sich der blauen entgegen?“

Ewda Nal zog das Mädchen fest, aber zärtlich an ihre Schulter, und Tschara schmiegte sich plötzlich ganz an sie. Die berühmte Psychiaterin streichelte mit mütterlicher Zärtlichkeit über das dicke, etwas steife Haar und musste plötzlich daran denken, wie es durch eine jahrtausendelange Erziehung gelungen war, die kleinen persönlichen Freuden des Menschen durch große und der Allgemeinheit gehörende zu ersetzen, doch wie weit entfernt sie noch waren vom Sieg über die Einsamkeit des Herzens, vor allem bei einem so komplizierten, mit Gefühlen und Eindrücken übervollen Herzen, gehegt von einem Körper reich an Leben…! Dann sagte sie:

„Mwen Maas… Sie wissen, was mit ihm geschehen ist?“

„Natürlich, der gesamte Planet spricht über sein misslungenes Experiment!“

„Und wie denken Sie darüber?“

„Dass er recht hatte!“

„Ich auch. Deshalb muss man ihn von der Insel des Vergessens zurückholen. In einem Monat findet die Jahresversammlung des Rates für Sternenschifffahrt statt. Dort wird über seine Schuld befunden und der Urteilsbeschluss zur Bestätigung an die Ehren- und Rechtskontrolle übergeben, die über das Schicksal jedes einzelnen Menschen auf der Erde wacht. Ich habe allen Grund, anzunehmen, dass das Urteil milde ausfallen wird, aber dazu muss Mwen Maas unbedingt hier sein. Für einen Menschen mit denselben starken Gefühlen wie Sie ist es nicht gut, wenn er längere Zeit, zumal noch in Einsamkeit, auf dieser Insel verbringt!“

„Glauben Sie, ich trage tatsächlich so viel von den antiken Frauen in mir, dass ich mein Leben ganz dem eines Mannes unterordnen kann, selbst wenn ich ihn mir selbst erwählt habe?“

„Tschara, mein liebes Kind, so dürfen Sie nicht sprechen. Ich habe Sie zusammen gesehen und weiß, dass Sie beide wie füreinander geschaffen sind. Verurteilen Sie ihn nicht, weil er sich nicht bei Ihnen hat blicken lassen, sich vor Ihnen versteckt hat. Begreifen Sie doch, was es für einen Menschen, wie Sie selbst einer sind, bedeuten muss, als bedauernswerter, geschlagener Mann, den Verurteilung und Verbannung erwartet, vor Sie hinzutreten! Vor die Frau, die er liebt — und das ist so, Tschara! Vor Sie, eine der Zierden der Großen Welt!“

„Darum geht es nicht, Ewda. Aber braucht er mich jetzt überhaupt, da er müde und gebrochen ist? — Ich fürchte, dass er nicht genügend Kraft besitzt für einen großen Höhenflug, dieses Mal nicht des Geistes, sondern der Gefühle… für eine solch große Liebe, zu der wir beide, wie es mir scheint, fähig sind… Er könnte ein zweites Mal den Glauben an sich verlieren, und das würde er nicht überstehen. Deshalb dachte ich mir, dass es besser ist, wenn ich in die Atacamawüste fahre.“

„Tschara, Sie haben ja recht, aber nur in einer Hinsicht. Denken Sie auch an die Einsamkeit und die unnötigen Selbstbeschuldigungen eines großen und leidenschaftlichen Mannes, der jeden Halt verloren hat, weil er aus unserer Welt geschieden ist. Ich würde ja selbst zu ihm fahren… Aber ich muss mich um den noch halbtoten Ren Boos kümmern. Als Schwerverletzter hat er doch den Vorrang. Dar Weter wurde dazu bestimmt, den neuen Satelliten zu bauen, und das ist seine Hilfe für Mwen Maas. Ich glaube, keinen Fehler zu begehen, wenn ich Ihnen ganz nachdrücklich sage: Fahren Sie zu ihm, ohne etwas von ihm zu erwarten, nicht einmal einen zärtlichen Blick, keine Pläne für die Zukunft, keine Liebe. Nur helfen Sie ihm, bringen Sie ihn dazu, dass er an seinem eigenen Urteil zweifelt, und dann kehren Sie beide in unsere Welt zurück. Sie haben die Kraft dazu, Tschara! Werden Sie fahren?“

Das Mädchen, dessen Atem rasch ging, hob seine kindlich vertrauensvollen Augen zu Ewda Nal empor, und es standen Tränen in ihnen.

„Heute noch!“

Ewda Nal gab Tschara einen festen Kuss.

„Sie haben recht, es eilt. Bis Kleinasien können wir zusammen auf der Spiralstraße fahren. Ren Boos liegt im chirurgischen Sanatorium auf der Insel Rhodos, und Sie schicke ich dann weiter nach Deir ez Zor, auf den Stützpunkt, von wo aus Fluggleiter der technisch-medizinischen Ersten Hilfe Flüge nach Australien und Neuseeland unternehmen. Ich freue mich schon auf das Gesicht des Piloten, dem es ein Vergnügen sein wird, die Tänzerin Tschara — o weh, nicht die Biologin Tschara — an jeden beliebigen Ort zu bringen…“

Der Zugführer lud Ewda Nal und ihre Begleiterin ein, im Steuerwaggon Platz zu nehmen. Auf den Dächern der riesigen Waggons führte ein mit einer Silikollhaube überdachter Korridor entlang, durch den die Diensthabenden von einem Ende zum anderen gehen konnten, um das System der elektrischen Geräte zu überwachen. Die beiden Frauen stiegen eine Wendeltreppe hinauf, gingen durch den Korridor und kamen in eine große Kabine, die über dem stromlinienförmigen ersten Waggon lag. In dem kristallenen Ellipsoid saßen in der Höhe von sieben Metern über dem Gleisbett zwei Maschinisten, die durch die hohe pyramidenförmige Haube des elektronischen Steuerungsroboters getrennt waren. Über parabolische Monitore konnten sie alles beobachten, was zu beiden Seiten und hinter dem Zug vor sich ging. Die auf dem Dach wie Fühler zitternden Antennen der Warnanlage zeigten bereits auf eine Entfernung von fünfzig Kilometern jedes Erscheinen eines Fremdkörpers auf der Spiralstraße an, obwohl solche Fälle nur unter den seltensten Umständen eintraten.

Ewda und Tschara setzten sich auf einen Diwan an der Rückwand der Kabine, der sich einen halben Meter über den beiden Maschinisten befand. Beide Frauen ließen sich von der breiten, gigantischen Spiralstraße hypnotisieren, die ihnen entgegenzufliegen schien. Sie führte über Bergkämme, überquerte auf riesigen Dämmen Niederungen, Meeresengen und — buchten auf niedrigen, tief im Wasser verankerten Masten. Bei einer Geschwindigkeit von zweihundert Kilometern in der Stunde wirkte der an den Abhängen der riesigen Gruben und Aufschüttungen angepflanzte Wald, je nach der Art der Bäume — Kiefern, Eukalyptus oder Oliven — wie ein dichter rötlicher, malachitfarbener oder dunkelgrüner Teppich. Die ruhige Meeresoberfläche des Archipels zu beiden Seiten des Hochgleises wurde durch die Erschütterung der Luft, die von dem rasenden, zehn Meter breiten Zug rührt, in Bewegung versetzt. Das Kräuseln verlief in der Form von Fächern und verdunkelte das durchsichtige blaue Wasser.

Den Blick auf die Straße geheftet und ihren Gedanken und Sorgen nachhängend, saßen die beiden Frauen schweigsam nebeneinander. So vergingen vier Stunden. Weitere vier Stunden verbrachten sie unter den anderen Passagieren in den weichen Sesseln des Salons der ersten Etage. Erst unweit der Westküste von Kleinasien trennten sie sich. Ewda stieg in einen Elektrobus um, der sie zum nächsten Hafen brachte, und Tschara fuhr weiter bis zur Station Ost-Taurus, dem ersten Meridionalast der Spiralstraße. Nach weiteren zwei Stunden erreichte sie eine drückend heiße Ebene, über der sich ein dunstig glühender, trockener Himmel spannte. Hier, am Rande der ehemaligen Syrischen Wüste, lag Deir ez Zor, der Stützpunkt für die Spiralenschiffe, die für bewohnte Gebiete zu gefährlich waren.

Während sie auf ein Spiralenschiff wartete, verbrachte Tschara Nandi qualvolle Stunden in Deir ez Zor, die sich tief in ihr Bewusstsein einprägten. Ohne Unterlass überlegte sie sich ihre Worte und ihr Auftreten, versuchte sich das Wiedersehen mit Mwen Maas vorzustellen, schmiedete Pläne, wie sie ihn auf der Insel des Vergessens, wo alles im Gleichlauf ereignisloser Tage unterging, suchen würde.

Endlich zogen unter ihr die endlosen Felder der Thermoelemente in der Nefud- und Rub-al-Chali-Wüste vorüber, jener gigantischen Kraftwerke, welche Sonnenwärme in elektrische Energie verwandelten. Durch Nacht- und Staubrollläden geschützt, standen sie in regelmäßigen Reihen auf eingeebneten und befestigten Wanderdünen, auf abgetrennten, nach Süden geneigten Plateaus, auf Labyrinthen aufgeschütteter Wadis und glichen so Denkmälern des gigantischen Kampfes der Menschheit um Energie. Mit der Entdeckung der neuen Arten von Kernenergie — P, Q und F — war die Zeit der harten Sparmaßnahmen vorbei. Ganze Wälder von Windmotoren, eine weitere Energiereserve für den nördlichen Wohngürtel, lagen reglos entlang der Südküste der Arabischen Halbinsel. Das Spiralenschiff hatte im Nu die kaum wahrnehmbare Küstenlinie überflogen und jagte nun über dem Indischen Ozean dahin. Eine Entfernung von fünftausend Kilometern war eine Kleinigkeit für diese schnelle Maschine. Von den besten Wünschen für eine baldige Rückkehr begleitet, stieg Tschara Nandi wenig später, wenn auch etwas unsicher auf den Beinen, aus dem Spiralenschiff aus.

Der Leiter der Landestation beauftragte seine Tochter, Tschara Nandi, mit einem kleinen Lat — so hießen die flachen Gleitboote — auf die Insel des Vergessens überzusetzen. Die beiden Mädchen genossen sichtlich die schnelle Fahrt des kleinen Schiffes auf den hohen Wellen des offenen Meeres. Das Lat steuerte direkt auf eine große Bucht am Ostufer der Insel des Vergessens zu, wo sich eine der medizinischen Stationen der Großen Welt befand.

Kokospalmen mit langen gefiederten Blättern, die beinahe die auf den Sandbänken plätschernden Wellen berührten, hießen Tschara bei ihrer Ankunft willkommen. Die Station war menschenleer — die Mitarbeiter waren ins Innere der Insel gefahren, um dort Zecken zu vernichten, die man bei Nagetieren im Wald gefunden hatte.

Auf der Station gab es Pferdeställe. Pferde wurden nur noch an Orten wie der Insel des Vergessens oder in Sanatorien gehalten, wo wegen des Lärms keine Fluggleiter eingesetzt werden konnten und Elektrobodenfahrzeuge nicht infrage kamen, weil es keine Straßen gab. Tschara ruhte sich ein wenig aus, zog sich um und sah sich dann die schönen und seltenen Tiere an. In den Ställen traf sie eine Frau, die äußerst geschickt zwei Maschinen — für die Futterverteilung und die Reinigung — bediente. Tschara half ihr, und so kamen die beiden Frauen ins Gespräch. Das Mädchen fragte, wie man am leichtesten und raschesten jemanden auf der Insel finden könne, und erhielt den Rat, sich einem der Schädlingsbekämpfungstrupps anzuschließen, die die ganze Insel durchkämmten und sie besser als die Einheimischen kannten. Tschara gefiel diese Idee.

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