9. Eine Schule des dritten Zyklus

Die vierhundertzehnte Schule des dritten Zyklus befand sich in Südirland. Ausgedehnte Felder, Weinberge und Eichenwäldchen erstreckten sich von den grünen Hügeln hinunter zum Meer. Weda Kong und Ewda Nal waren während der Unterrichtszeit angekommen und gingen langsam den ringförmigen Korridor entlang, der die an der Außenseite des runden Gebäudes angeordneten Klassenzimmer verband. Es war ein trüber, regnerischer Tag, und der Unterricht wurde in den Klassenzimmern und nicht wie üblich auf den Waldwiesen unter den Bäumen abgehalten.

Weda Kong, die sich in ihre Schulzeit zurückversetzt sah, schlich lauschend zu den Eingängen der Räume, die wie in den meisten Schulen ohne Türen, mit vorgebauten, wie Kulissen ineinander verschachtelten Wänden gestaltet waren. Ewda Nal nahm ebenfalls an diesem Spiel teil, und die beiden Frauen spähten vorsichtig in die Klassenzimmer, um Ewdas Tochter auszumachen und doch unbemerkt zu bleiben.

Im ersten Klassenzimmer entdeckten sie einen mit blauer Kreide über eine ganze Wand gezeichneten Vektor, der von einer sich der Länge nach entfaltenden Spirale umgeben war. Zwei Spiralabschnitte waren von querlaufenden Ellipsen umgeben, in die ein rechtwinkliges Koordinatensystem eingezeichnet war.

„Bipolare Mathematik!“, rief Weda mit gespieltem Entsetzen.

„Hier geht es noch um etwas Höheres“, entgegnete Ewda. „Warten wir einen Augenblick.“

„Nachdem wir die Schattenfunktionen der Kochlearrechnung, das heißt, die spiralenförmige progressive Bewegung, die entlang des Vektors entsteht, kennengelernt haben, kommen wir jetzt zu dem Begriff der ›Repagularrechnung‹“, erklärte ein älterer Lehrer mit tief liegenden, leuchtenden Augen. „Der Name der Rechnung leitet sich von einem alten lateinischen Wort ab, das so viel wie ›Schranke‹ oder ›Barriere‹ bedeutet, genauer gesagt, den Übergang von einer Eigenschaft in eine andere, unter einem doppelten Aspekt betrachtet.“ Der Lehrer zeigte auf die große Ellipse, die quer durch die Spirale verlief. „Mit anderen Worten, die mathematische Analyse ineinander übergehender Erscheinungen.“

Weda Kong verschwand hinter einem Vorsprung und zog die Freundin neben sich.

„Das ist etwas Neues! Es geht um den Bereich, von dem Ihr Ren Boos am Meeresstrand gesprochen hat.“

„Die Schule bringt den Schülern stets die neuesten Erkenntnisse bei und siebt Veraltetes aus. Wie könnten wir einen raschen Fortschritt gewährleisten, wenn sich die neue Generation veraltete Kenntnisse aneignete? Es muss ohnehin unendlich viel Zeit aufgewendet werden, bis sich die Kinder in den Staffellauf des Wissens einordnen. Jahrzehnte vergehen, bis sie zur Gänze ausgebildet und zur Bewältigung gigantischer Aufgaben fähig sind. Dieses Pulsieren der Generationen, wo es stets einen Schritt nach vorn und neun Zehntel zurück geht, bis die Ablösung herangereift und ausgebildet ist, stellt das für den Menschen härteste biologische Gesetz, das Gesetz des Todes und der Wiedergeburt, dar. Vieles von dem, was wir in Mathematik, Physik und Biologie gelernt haben, ist veraltet. Anders ist es bei Ihrer Geschichte; sie veraltet langsamer, da sie selbst sehr alt ist.“

Sie schauten in ein anderes Klassenzimmer. Die mit dem Rücken zu ihnen stehende Lehrerin und die dem Unterricht aufmerksam lauschenden Schüler bemerkten nichts. Hier saßen ältere Jungen und Mädchen von ungefähr siebzehn Jahren. Ihre geröteten Wangen verrieten, wie sehr sie vom Unterricht hingerissen waren.

„Die Menschheit, wir, hat die härtesten Belastungsproben bestanden“, sagte die Lehrerin mit erregter Stimme. „Und dennoch ist es bis heute das Hauptanliegen des Geschichtsunterrichts geblieben, die historischen Fehler der Menschheit und deren Folgen zu studieren. Wir haben das Stadium der unerträglichen Kompliziertheit des Lebens und der Dominanz der Gebrauchsgegenstände überwunden und sind nun bei der größtmöglichen Vereinfachung angelangt. Die Kompliziertheit des Lebens hat zu einer Vereinfachung der geistigen Kultur geführt. Es darf keine überflüssigen Dinge mehr geben, die den Menschen belasten, denn seine Erfahrungswerte und sein Wahrnehmungsvermögen sind bei einem einfachen Leben umso feiner. Alles, was zum alltäglichen Leben gehört, wird von den besten Köpfen genauso ernsthaft durchdacht wie wichtigste wissenschaftliche Fragen. Wir sind dem allgemeinen Entwicklungsweg der Tierwelt gefolgt, der auf die Entlastung der Aufmerksamkeit durch Automatisierung von Bewegungen und durch Herausbildung von Reflexen im Nervensystem des Organismus ausgerichtet war. Die Automatisierung der Produktivkräfte hat ein analoges reflektorisches Steuerungssystem in der Produktion geschaffen und es damit der Mehrheit der Menschen ermöglicht, sich mit dem zu beschäftigen, was nun zum Hauptanliegen der Menschheit geworden ist, mit der wissenschaftlichen Forschung. Wir wurden von der Natur mit einem großartigen, für wissenschaftliche Arbeit geeigneten Gehirn ausgestattet, das anfänglich jedoch nur zur Nahrungssuche und der Erforschung der Essbarkeit diente.“

„Gut!“, flüsterte Ewda Nal und bemerkte im selben Augenblick ihre Tochter.

Das Mädchen blickte nichtsahnend auf die wellige Oberfläche des Fensterglases, das einseitig durchsichtig war und verhinderte, dass die Schüler mitbekamen, was außerhalb der Klasse vor sich ging.

Neugierig verglich Weda Kong das Mädchen mit seiner Mutter. Das gleiche lange schwarze Haar, bei der Tochter nur mit einem hellblauen Band durchflochten und von zwei großen Schleifen zusammengehalten. Das gleiche nach unten spitz zulaufende ovale Gesicht, dem die zu breite Stirn und die unter den Schläfen hervortretenden Backenknochen etwas Kindliches verliehen. Ein schneeweißer Pullover aus Kunstwolle unterstrich die Blässe ihrer Haut und das tiefe Schwarz ihrer Augen, Brauen und Wimpern. Die rote Korallenkette passte ausgezeichnet zu dem originellen Äußeren dieses Mädchens.

Ewdas Tochter trug dieselben weiten und kurzen, über dem Knie endenden Hosen wie alle übrigen Schüler der Klasse, nur mit dem einen Unterschied, dass die Seitennähte ihrer Hosen mit roten Fransen besetzt waren.

„Indianerschmuck“, flüsterte Ewda Nal auf den fragenden Blick der Freundin.

Ewda und Weda zogen sich rasch auf den Korridor zurück, da der Unterricht zu Ende war und die Lehrerin das Klassenzimmer verließ, gefolgt von einigen Schülerinnen, darunter auch Ewdas Tochter. Das Mädchen blieb plötzlich stehen, als es die Mutter — sein ganzer Stolz und ständiges Vorbild — erblickte. Ewda konnte ja nicht ahnen, dass es in der Schule einen Klub ihrer Verehrer gab, die sich für denselben Lebensweg wie den der berühmten Ewda Nal entschieden hatten.

„Mama!“, flüsterte das Mädchen und schmiegte sich, einen schüchternen Blick auf die Begleiterin der Mutter werfend, an Ewda.

Die Lehrerin blieb stehen und kam dann näher heran.

„Ich werde den Schulrat informieren“, sagte sie, ohne auf Ewdas Protest einzugehen. „Wir müssen doch von Ihrem Besuch profitieren.“

„Profitieren Sie lieber von dem Besuch dieser Forscherin“, sagte Ewda und stellte Weda Kong vor.

Die Geschichtslehrerin wurde rot bis an die Haarwurzeln und sah plötzlich sehr jung aus.

„Sehr gut!“, antwortete sie und versuchte den sachlichen Ton beizubehalten. „Die älteren Schülergruppen stehen kurz vor ihrem Abschluss. Eine Abschiedsrede auf den Weg von Ewda Nal, gekoppelt mit einem Überblick über die antiken Kulturen und Völker von Weda Kong — das wäre etwas für unsere Jugend! Habe ich recht, Rea?“

Ewdas Tochter klatschte in die Hände. Die Lehrerin rannte leichten Fußes wie eine Turnerin zu den Lehrerzimmern, die sich in einem langen, geraden Anbau befanden.

„Rea, nimmst du dir frei, und wir gehen im Garten spazieren?“, schlug Ewda ihrer Tochter vor. „Ich werde nicht noch einmal kommen können, bevor du dich für deine Heldentaten entscheidest. Und letztes Mal sind wir zu keiner endgültigen Entscheidung gekommen…“

Ohne etwas zu sagen, fasste Rea ihre Mutter an der Hand. In jedem Schulzyklus wechselten Unterricht und Praktika einander ab. Jetzt fand gerade eine von Reas Lieblingsstunden — das Schleifen optischer Gläser — statt, aber was konnte schon interessanter und wichtiger sein als ein Besuch der Mutter?

Weda ließ Mutter und Tochter allein und ging zu einem in der Ferne sichtbaren kleinen astronomischen Observatorium.

Rea, wie ein Kind an den starken Arm der Mutter geschmiegt, schritt tief in Gedanken versunken neben ihr her.

„Wo ist dein kleiner Kay?“, fragte Ewda, und das Mädchen wurde sichtlich traurig.

Kay war ihr Schützling gewesen. Die älteren Schüler besuchten regelmäßig Schulen des ersten und zweiten Zyklus im näheren Umkreis, halfen dort beim Unterricht und bei der Erziehung der von ihnen gewählten Schützlinge. Diese zusätzliche Hilfe war für die Lehrer unentbehrlich, denn die Erziehung erfordert ein Höchstmaß an Sorgfalt und Zeitaufwand.

„Kay ist in den zweiten Zyklus aufgestiegen und weit weg von hier. Es tut mir so leid… Weshalb versetzt man uns bloß alle vier Jahre von einem Ort zum anderen, von einem Zyklus in den anderen?“

„Du weißt doch, dass die Psyche bei eintönigen Eindrücken ermüdet und abstumpft.“

„Ich verstehe nur nicht, weshalb der erste von den vier dreijährigen Zyklen Nullzyklus heißt, schließlich ist auch die Erziehung und Ausbildung der Kleinen von eins bis vier ein sehr wichtiger Prozess.“

„Das ist eine veraltete und unglückliche Bezeichnung. Aber wir vermeiden es nun einmal, eingebürgerte Termini ohne zwingende Notwendigkeit zu ändern. Das bedeutet nur unnötige Vergeudung menschlicher Energie, und ausnahmslos jeder ist dazu verpflichtet, die Menschheit davor zu bewahren.“

„Aber die Aufteilung in Zyklen — die Kinder gehen in verschiedene Schulen, leben an verschiedenen Orten, das ständige Umziehen ist doch auch ein großer Kräfteverschleiß?“

„Aber er wird durch die Verbesserung der Aufnahmefähigkeit und somit des höheren Nutzeffekts beim Lernen reichlich wettgemacht, der sonst mit jedem Jahr nachlassen würde. Ihr kleinen Leute verwandelt euch mit zunehmendem Alter und Bildungsstand in qualitativ verschiedene Wesen. Ein Zusammenleben verschiedener Altersgruppen wäre der Erziehung nur hinderlich und für den Lernenden selbst langweilig. Wir haben den Unterschied auf ein Minimum reduziert, indem wir die Kinder in vier Alterszyklen eingeteilt haben, und dennoch ist das noch keine endgültige Lösung. Aber lass uns erst einmal über deine Träume und Pläne sprechen. Ich werde hier eine Vorlesung halten müssen, und vielleicht klären sich deine Fragen dann auch ganz von selbst.“

Mit dem offenherzigen Vertrauen eines Kindes der Ringära, das weder kränkenden Spott noch Mangel an Verständnis kannte, vertraute Rea ihrer Mutter ihre geheimsten Gedanken an. Das Mädchen war schlechthin die Verkörperung der Jugend, die noch nichts vom Leben weiß, aber bereits voll nachdenklicher Erwartung ist. Mit Vollendung des siebzehnten Lebensjahres war für sie die Schule zu Ende. Danach kam die dreijährige Periode der Herkulestaten, in der sie bereits unter Erwachsenen arbeiten würde. Und nach Ableistung der Herkulestaten würde endgültig über Neigungen und Fähigkeiten entschieden werden. Eine darauf folgende zweijährige Hochschulausbildung gab ihr das Recht, auf dem gewählten Gebiet selbstständig zu arbeiten. Jeder Mensch konnte im Verlauf seines langen Lebens ein Hochschulstudium in fünf bis sechs Fachgebieten absolvieren und mehrmals seinen Beruf wechseln, aber von der Wahl der ersten schwierigen Aufgabe, den Herkulestaten, hing sehr viel ab. Deshalb wurden sie erst nach sorgfältiger Überlegung und unbedingt nach Beratung mit einem Erwachsenen festgelegt.

„Habt ihr schon die psychologischen Abschlusstests hinter euch?“, fragte Ewda und zog die Brauen zusammen.

„Ja. Ich habe zwanzig bis vierundzwanzig in den ersten acht Gruppen, achtzehn und neunzehn in der zehnten und dreizehnten Gruppe und sogar siebzehn in der siebzehnten Gruppe!“, rief Rea stolz aus.

„Das ist ja ausgezeichnet!“, sagte Ewda erfreut. „Dann stehen dir alle Türen offen. Hast du dir deine erste Herkulestat nicht doch anders überlegt?“

„Nein. Ich gehe als Krankenschwester auf die Insel des Vergessens, und danach will unser ganzer Klub, der Klub deiner Verehrer, in einer psychologischen Klinik auf Jütland arbeiten.“

Ewda geizte nicht mit gutmütigen Scherzen an die Adresse der eifrigen Psychologen, trotzdem konnte Rea ihre Mutter schließlich durch Bitten dazu bewegen, Mentor für alle Mitglieder des Klubs zu werden, die ebenfalls vor der Wahl ihrer Herkulestaten standen.

„Dann werde ich bis zum Ende meines Urlaubs hierbleiben müssen.“ Ewda lachte. „Und was wird Weda Kong machen?“

Rea fiel wieder die Begleiterin ihrer Mutter ein.

„Sie ist sehr nett und fast so schön wie du!“, sagte Rea ernst.

„Viel schöner!“

„Nein, das kann ich besser beurteilen… und ich sage es nicht etwa, weil du meine Mutter bist“, betonte Rea. „Auf den ersten Blick ist sie vielleicht schöner, aber du hast eine Kraft in dir, die Weda Kong noch nicht besitzt. Ich sage ja nicht, sie wird sie niemals besitzen. Wenn es so weit ist, dann…“

„… wird sie deine Mutter wie ein Mond die Sterne in den Schatten stellen?“

Rea schüttelte den Kopf.

„Glaubst du, du wirst auf demselben Fleck bleiben? Nein, du wirst noch höher steigen als sie!“

Ewda streichelte ihrer Tochter über das glatte Haar und sah ihr in das hoch erhobene Gesicht.

„Jetzt ist es aber genug mit den Schmeicheleien, mein Kind! Wir vergeuden nur Zeit…!“

Weda ging langsam eine Allee entlang, die sie immer tiefer in einen kleinen Wald großblättriger Ahornbäume führte, deren schweres, feuchtes Blattwerk leise rauschte. Die ersten abendlichen Nebelschwaden versuchten von einer nahe gelegenen Wiese aufzusteigen, wurden jedoch sogleich vom Winde auseinandergeweht. Weda Kong dachte an die bewegte Stille der Natur und daran, an welch günstigen Stellen die Schulen immer gebaut wurden. Eines der wichtigsten Dinge bei der Erziehung war, in den Kindern ein starkes Gefühl für die Schönheiten der Natur und eine enge Beziehung zu ihr heranzubilden. Eine Abstumpfung des Blicks für die Natur kam im Grunde genommen einem Stillstand in der Entwicklung des Menschen gleich, da er, wenn er zu beobachten verlernte, auch die Fähigkeit zu verallgemeinern verlor. Weda dachte über die Bedeutung von pädagogischem Talent nach, über eine der kostbarsten Fähigkeiten überhaupt in einer Epoche, in der man endlich begriffen hatte, dass Bildung letzten Endes Erziehung ist und dass man ein Kind nur auf diese Weise auf den schweren Lebensweg des Menschen vorbereiten kann. Gewiss, die Grundlage bildeten die angeborenen Eigenschaften, aber ohne eine behutsame Formung der menschlichen Seele durch den Lehrer konnten diese schließlich auch unterentwickelt bleiben.

Die Altertumsforscherin war zu jenen fernen Tagen zurückgekehrt, da sie selbst ein junges Mädchen im dritten Zyklus, ein Bündel voller Widersprüche war. Einerseits war sie besessen gewesen von dem brennenden Wunsch, sich zu opfern, und andererseits, vollkommen gefangen in ihrer jugendlichen Egozentrik, unfähig, etwas anders als von ihrer höchst persönlichen Warte aus zu beurteilen. Was haben die Lehrer damals nicht alles getan, überlegte sie, nein, es gibt keinen verantwortungsvolleren Beruf in unserer Welt!

Der Lehrer — in seinen Händen lag die Zukunft des Schülers, da nur durch seine Bemühungen der Mensch immer höherstieg, immer mächtiger wurde und schließlich die schwierigste Aufgabe, sich selbst zu überwinden, seine egoistische Selbstgefälligkeit und seine zügellosen Wünsche zu bezwingen lernte.

Weda Kong wandte sich nun einer von Kiefern umgebenen kleinen Bucht zu, von wo jugendliche Stimmen zu hören waren, und stieß bald auf eine Gruppe von zehn kleinen Jungen mit Kunststoffschürzen, die eifrig mit Äxten — Geräten, die man schon in den steinzeitlichen Höhlen gekannt hatte — einen langen Eichenstamm bearbeiteten. Die jungen Baumeister begrüßten die Altertumsforscherin ehrerbietig und erklärten ihr, dass sie nach dem Vorbild historischer Helden ein Schiff ohne Hilfe von automatischen Sägen und Werkzeug bauen wollten. Das Schiff sei für die Fahrt zu den Ruinen von Karthago bestimmt, die sie während ihrer Ferien zusammen mit dem Lehrer für Geschichte, Geografie und Technik unternehmen würden.

Weda wünschte den Schiffsbauern viel Erfolg und wollte gerade weitergehen, als sich ein großer und schlanker Junge mit flachsblondem Haar vor ihr aufbaute.

„Sind Sie mit Ewda Nal hier? Darf ich Ihnen einige Fragen stellen?“

Weda stimmte zu.

„Ewda Nal arbeitet doch in der Akademie des Leides und der Freude. Wir haben die Gesellschaftsordnung unseres Planeten und einiger anderer Welten durchgenommen, aber von der Bedeutung dieser Akademie noch nichts gehört.“

Weda erzählte von den wichtigen Beobachtungen des gesellschaftlichen Lebens, die an der Akademie vorgenommen wurden, von den statistischen Berechnungen von Leid und Freude im Leben des Einzelnen, von der Untersuchung des Leides nach Altersgruppen. Danach erzählte sie von der Analyse der Veränderungen von Leid und Freude in den einzelnen Entwicklungsetappen der Menschheit. Wie grundverschieden die Emotionen auch sein mochten, die Massenergebnisse, die durch stochastische Methoden ausgewertet wurden, ergaben doch wichtige Gesetzmäßigkeiten. Die Räte, die für die weitere Entwicklung der Gesellschaft zuständig waren und sie steuerten, versuchten stets die besten Kennziffern zu erreichen. Nur wenn die Freude überwog oder dem Leid wenigstens die Waage hielt, konnte der Entwicklungsstand der Gesellschaft als günstig bezeichnet werden.

„Das heißt, die Akademie des Leides und der Freude ist die führende Organisation?“, fragte ein anderer Junge mit verwegenem und keckem Blick.

Die anderen lachten, und Weda Kongs erster Gesprächspartner erklärte: „Ol geht es immer um die Führungsposition, er träumt ständig von den großen Führern der Vergangenheit.“

„Das ist gefährlich“, sagte Weda lächelnd. „Als Historikerin kann ich euch sagen, dass die großen Führer stets am unfreisten und abhängigsten waren.“

„Unfrei durch ihre eigenen Handlungen?“, fragte der flachsblonde Junge.

„Genau. Aber das gilt vor allem für die sich ungleichmäßig und spontan entwickelnden alten Gesellschaftssysteme der ÄUW und noch früher. Heute gibt es keine Führungsposition mehr, da die Handlungen jedes einzelnen Rates ohne die der anderen Räte undenkbar sind.“

„Und was ist mit dem Wirtschaftsrat?“, entgegnete Ol vorsichtig, der zwar etwas verwirrt, aber keineswegs verlegen war. „Ohne ihn kann doch keiner etwas Großes unternehmen.“

„Das stimmt, denn die Wirtschaft ist die einzige reale Grundlage unserer Existenz. Mir scheint aber, ihr habt keine ganz richtige Vorstellung von Führungstätigkeit… Habt ihr schon die Zytoarchitektonik des menschlichen Gehirns durchgenommen?“

Die Jungen bejahten.

Weda bat um einen Stock und zeichnete für die wichtigsten Führungseinrichtungen Kreise in den Sand.

„Hier, in der Mitte, das ist der Wirtschaftsrat. Von ihm führen direkte Verbindungen zu seinen beratenden Organen: zur ALF — der Akademie des Leides und der Freude —, zur APK — der Akademie der Produktivkräfte —, zur ASV — der Akademie für Stochastik und Vorhersage — und zur APA — der Akademie der Psychologie der Arbeit. Dann gibt es noch eine seitliche Verbindung zum Rat für Sternenschifffahrt, einem selbstständig funktionierenden Organ. Davon gehen wiederum direkte Verbindungen zur Akademie für Gelenkte Strahlung und zu den Außenstationen des Großen Rings. Weiter…“

Weda zeichnete ein kompliziertes Schema in den Sand.

„Erinnert euch das etwa nicht an das menschliche Gehirn?“, fragte sie. „Die Forschungs- und Beobachtungszentren sind die Sinneszentren. Die Räte — die Assoziationszentren. Ihr wisst, dass das gesamte Leben aus Anziehung und Abstoßung, dem Rhythmus von Explosion und Ansammlung, Erregung und Hemmung besteht. Das Haupthemmzentrum ist der Wirtschaftsrat, der alles in die realen Möglichkeiten des gesellschaftlichen Organismus und seine objektiven Gesetze umsetzt. Dieses Wechselspiel gegensätzlicher Kräfte, das in eine funktionierende Harmonie gebracht wird, stellt eben unser Gehirn und unsere Gesellschaft dar, die sich beide unentwegt weiterentwickeln. Vor langer Zeit reduzierte die Kybernetik, oder die Wissenschaft von den Steuerungsvorgängen, die kompliziertesten Wechselbeziehungen und Veränderungen auf die relativ einfache Funktion von Maschinen. Aber je mehr unser Wissen zunahm, desto komplizierter erwiesen sich die Erscheinungen und Gesetze der Thermodynamik, Biologie und Wirtschaft, und die vereinfachten Vorstellungen von der Natur oder den Prozessen der gesellschaftlichen Entwicklung verschwanden für immer.“

Regungslos hörten die Jungen Weda zu.

„Was ist nun die Hauptsache in einer solchen Gesellschaftsordnung?“, wandte sie sich an den Verehrer von Führungspersönlichkeiten.

Dieser schwieg verlegen, aber der erste Junge kam ihm rasch zuhilfe.

„Die Weiterentwicklung!“, erklärte er kühn, und Weda war begeistert.

„Eine Auszeichnung für diese hervorragende Antwort!“, rief sie und löste, nachdem sie an sich herabgeschaut hatte, eine Emaillespange von der linken Schulter. Die Spange stellte einen weißen Albatros über blauem Meer dar. Die junge Frau hielt dem Jungen die Spange mit offener Hand hin.

Dieser zögerte verlegen.

„Als Erinnerung an unser heutiges Gespräch und an die Weiterentwicklung!“, sagte Weda nachdrücklich, und der Junge nahm den Albatros.

Das lose Schulterteil der Bluse festhaltend, ging Weda zum Park zurück. Die Spange war ein Geschenk von Erg Noor gewesen, und in dem plötzlichen Verlangen, sie weiterzuschenken, kam vieles zum Ausdruck, unter anderem auch der sonderbare Wunsch, alles Frühere von sich abzustreifen, die Vergangenheit, jene Zeit, die zu vergessen sie im Begriff war.

Die gesamte Bevölkerung des Schulstädtchens war in dem runden Saal in der Mitte des Gebäudes versammelt. Ewda Nal, in einem schwarzen Kleid, trat auf das von oben beleuchtete, zentrale Podium und ließ ruhig ihren Blick durch die Reihen des Amphitheaters schweifen. Das Publikum verstummte und begann ihrer leisen, aber klaren Stimme zu lauschen. Gellende Lautsprecher wurden nur noch bei Sicherheitsanlagen verwendet. Auch große Säle waren seit der Entwicklung der TV-Stereofone nicht mehr notwendig.

„Siebzehn — das ist ein Wendepunkt im Leben. Bald werdet ihr vor der Versammlung des irischen Bezirks die traditionellen Worte sprechen: ›Ihr, die ihr älter seid und mich nun zur Arbeit ruft, nehmt mein Können und Wollen, nehmt meine Arbeit, und lehrt mich bei Tag und bei Nacht! Reicht mir eure Hand, denn schwer ist der Weg, und ich möchte euch folgen.‹ Zwischen den Zeilen dieser alten Formel ist so manches zu lesen, wovon ich heute zu euch sprechen möchte.

Von Kindheit an lehrt man euch die dialektische Philosophie, die einst in den geheimen Büchern der Antike das ›Geheimnis des Widerspruchs‹ genannt wurde. Früher glaubte man, dass nur Eingeweihte — besonders starke, geistig und moralisch hochstehende Menschen von ihrer Macht Gebrauch machen könnten. Heute lernt ihr von frühester Jugend an die Welt durch die Gesetze der Dialektik kennen, und ihre starke Macht dient jedermann. Ihr wurdet in eine wohlgeordnete Gesellschaft hineingeboren, die von vielen Generationen, von Milliarden unbekannter, schwer arbeitender Menschen und Kämpfer für ein besseres Leben geschaffen wurde. Fünfhundert Generationen ist es her, seit sich die ersten Gesellschaften mit Arbeitsteilung herausbildeten. Seit dieser Zeit haben sich die verschiedenen Völkerschaften vermischt. Jeder von uns trägt einen Tropfen Blutes aller anderer Völker in sich, so drückte man das in alter Zeit aus, heute würden wir in diesem Zusammenhang eher von Vererbungsmechanismen sprechen. Gigantische Arbeit ist geleistet worden, um die Erbmasse von den Folgen eines unvorsichtigen Einsatzes radioaktiver Strahlung und von einstmals weit verbreiteten, in ihre Mechanismen eingedrungenen Krankheiten zu reinigen.

Die Erziehung des neuen Menschen ist eine komplizierte Arbeit, die individuelle Analysen und eine äußerst vorsichtige Behandlung des Einzelnen erfordert. Endgültig vorbei sind die Zeiten, da sich die Gesellschaft mit Menschen zufrieden gab, deren Erziehung mehr oder weniger dem Zufall überlassen war und deren Charakterschwächen schlicht und einfach mit Vererbung, also der angeborenen Natur des Menschen, entschuldigt wurden. Heute ist jeder schlecht erzogene Mensch ein Vorwurf an die ganze Gesellschaft, ein peinlicher Fehler eines großen Kollektivs von Menschen.

Aber ihr, die ihr noch nicht eure altersbedingte Egozentrik und die Überbewertung eures eigenen Ichs überwunden habt, müsst euch stets vor Augen halten, wie viel von euch selbst abhängt, in welch hohem Maße ihr selbst der Schmied eures Glücks und eurer Freude im Leben seid. Euch stehen viele Wege offen, und ihr könnt euch frei entscheiden, aber diese Freiheit der Entscheidung bedeutet auch, dass ihr die volle Verantwortung für eure Entscheidung tragt. Längst verflogen sind die Träume des unzivilisierten Menschen von einer Rückkehr zur wilden Natur, von der Freiheit der Urgesellschaften und deren menschlichen Beziehungen. Die Menschheit, ein Verband von kolossalen Menschenmassen, wurde schließlich vor die Wahl gestellt: sich entweder der gesellschaftlichen Disziplin, einer lang andauernden Erziehung und Ausbildung zu unterwerfen oder zugrunde zu gehen — einen anderen Weg für das Überleben auf unserem Planeten, so großzügig seine Natur auch ist, gab es nicht! Jene Jammerphilosophen, die von einer Rückkehr in die Vergangenheit, einer Rückkehr zur Natur träumten, verstanden und liebten die Natur nicht wirklich, ansonsten hätten sie ihre unbarmherzige Grausamkeit erkannt und gewusst, dass sie alles vernichtet, was sich ihren Gesetzen nicht unterwirft.

Der Mensch der neuen Gesellschaft hat die absolute Notwendigkeit erkannt, seine Wünsche, seinen Willen und sein Denken zu zügeln. Die Erziehung des Geistes und des Willens ist heute für jeden von uns ebenso notwendig wie die Erziehung unseres Körpers. Das Studium der Gesetze der Natur und der Gesellschaft sowie ihrer ökonomischen Struktur hat das Verlangen nach individueller sinnreicher Wissensaneignung abgelöst. Wenn wir sagen: ›Ich möchte‹, dann geben wir damit auch zu verstehen: ›Ich weiß, dass das möglich ist.‹

Vor Tausenden von Jahren sagten die alten Hellenen: ›Metron — Ariston‹, das heißt, das Maß ist das Höchste. Und wir fügen hinzu, die Grundlage der Kultur ist, in allem das rechte Maß zu kennen.

Mit wachsendem kulturellen Niveau hat sich das Streben nach dem Glück durch bloßes Eigentum, durch gierige quantitative Vermehrung von Besitztümern abgeschwächt, denn es ist ein Glück, das rasch verflacht und eine undefinierbare Unzufriedenheit hinterlässt.

Wir lehren euch das weit größere Glück des Verzichts, der Hilfe für den Nächsten, der echten Freude an der Arbeit, die das Herz entflammt. Wir haben euch geholfen, euch von der Macht kleinlichen Strebens und kleinlicher Dinge zu befreien und eure Freuden und Enttäuschungen auf eine höhere Ebene — auf die der schöpferischen Arbeit — zu verlagern.

Die Sorge um die Erziehung des Körpers, das reine, richtige Leben Dutzender von Generationen bewahren euch von dem dritten Erzfeind der menschlichen Psyche — der Gleichgültigkeit eines leeren und faulen Geistes. Energiegeladen, ausgestattet mit einer ausgeglichenen gesunden Psyche, in der kraft des natürlichen Verhältnisses der Emotionen mehr Gutes als Böses liegt, tretet ihr nun in die Welt der Arbeit ein. Je vollkommener ihr selbst werdet, desto vollkommener und besser wird die Gesellschaft sein, denn zwischen beidem besteht eine wechselseitige Abhängigkeit. Ihr werdet euch ein geistig hochstehendes Milieu schaffen, als wesentliche Mitglieder der Gesellschaft, und sie wird euch wiederum höher steigen lassen. Das gesellschaftliche Milieu ist der wichtigste Faktor in der Erziehung und Ausbildung des Menschen. Heute wird der Mensch sein ganzes Leben lang erzogen und ausgebildet, und die gesellschaftliche Entwicklung schreitet rasch vorwärts.“

Ewda Nal hielt für einen Augenblick inne und strich sich mit genau derselben Geste wie die im Publikum sitzende und den Blick unablässig auf sie heftende Rea über das Haar.

„Einst nannten die Menschen das Streben nach der Erkenntnis der Wirklichkeit Träumerei“, fuhr sie fort. „Ihr aber werdet euer ganzes Leben lang so träumen können und Freude aus Erkenntnis, Fortschritt, Kampf und Arbeit ziehen. Messt plötzlichen Rückfällen nach geistigen Höhenflügen keinerlei Bedeutung bei, denn sie sind ebenso gesetzmäßige Windungen in der Entwicklungsspirale, wie wir sie in der gesamten übrigen Materie vorfinden. Die Wirklichkeit der Freiheit ist hart, aber ihr seid durch eure Erziehung zur Disziplin und durch eure Bildung darauf vorbereitet. Deshalb sind euch, die ihr eure Verantwortung kennt, alle jene Veränderungen in eurer Tätigkeit gestattet, die schließlich das persönliche Glück ausmachen. Die Träume über eine stille paradiesische Untätigkeit sind durch die Geschichte ad absurdum geführt worden, denn sie widersprechen der kämpferischen Natur des Menschen. Jede Epoche hat stets ihre spezifischen Schwierigkeiten gehabt und hat sie noch heute, aber das höchste Glück für die gesamte Menschheit ist heute eine unablässige und rasche Entwicklung zu immer größeren Höhen des Wissens und der Gefühle, der Wissenschaft und der Kunst.“

Ewda Nal beendete ihre Vorlesung und ging zu den vorderen Sitzreihen hinunter, wo Weda Kong sie stehend empfing und sie auf dieselbe Weise grüßte, wie Tschara nach ihrem Tanz auf dem Fest von dem begeisterten Publikum gegrüßt worden war. Auch alle übrigen Anwesenden erhoben sich und wiederholten diese Geste, als wollten sie gleichsam einen noch nie erlebten Kunstgenuss zum Ausdruck bringen.

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