»Wo ist denn Daddy heute abend?« fragte Mary, die am Spülbecken stand und Kartoffeln schälte.
»Beim Training.«
»Wieso? Heute ist doch Dienstag.«
Lucille zuckte die Achseln, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen. Sie saß am Küchentisch und klebte Rabattmarken in kleine Heftchen.
Mary sah zu ihrer Mutter hinunter, beobachtete einen Moment, mit welcher Konzentration sie die Marken sortierte, befeuchtete und mit dem Handballen in das Heft preßte. Noch nie hatte Mary erlebt, daß ihre Mutter sich zu dieser stupiden Arbeit herabließ. Das hatten immer Mary und Amy machen müssen, wenn sie auch nie den Lohn dafür hatten einstreichen dürfen. Lucille hatte immer so getan, als wäre das Sammeln von Rabattmarken unter ihrer Würde, und gelegentlich hatte sie sie demonstrativ einer ihrer Freundinnen geschenkt und dazu gesagt: Das ist mir viel zu mühsam. Aber insgeheim hatte sie die Marken immer gesammelt und ihre gefüllten Hefte mal für einen Wecker, mal für eine Nachttischlampe
eingetauscht.
Mary dachte an Mike. Es hätte sie interessiert, ob er wußte, daß sie wieder zu Hause war. Mehrmals hatte sie ihn anrufen wollen, aber stets hatte sie der Mut verlassen, noch ehe sie seine Nummer zu Ende gewählt hatte. Was fürchtete sie? Mike war Mike, und es gab doch gewiß eine Möglichkeit, wieder mit ihm zusammenzukommen.
Aber Mary wußte, wie es werden würde. Selbst wenn er sie mit der Zeit so akzeptieren sollte, wie sie war, würde er in ihrem Beisein niemals ganz locker und entspannt sein können. Er würde sich verhalten wie ihre Eltern, bemüht natürlich und beiläufig.
Draußen fuhr ein Wagen vor. Lucille und Mary hielten in ihrer Arbeit inne. Ihre Blicke trafen sich flüchtig. »Daddy«, sagte Mary leise. Sie ließ den Kartoffelschäler fallen, wischte sich die Hände an der Schürze ab und lief hinaus.
Als die Haustür sich öffnete, blieb sie stehen. Im Abendlicht stand Amy mit ihrem Rucksack. Sie drehte sich um und rief zur Auffahrt hinaus: »Tschüs, Melody. Vielen Dank. Ich ruf dich morgen an.« Dann kam sie herein und schloß die Tür.
»Amy«, sagte Mary.
Amy fuhr zusammen. »Mary! Du bist wieder zu Hause?«
»Sie mußte ihren Besuch abbrechen«, sagte Lucille von der Küche her. »Ich dachte, ihr wolltet die ganze Woche wegbleiben, Amy.«
»Ja, aber Melodys Mutter ist krank geworden, deshalb mußten wir wieder heimfahren.« Sie lief zu Mary und nahm ihre Hand. »Wie war's in Vermont, Mary? Erzähl! Wann bist du heimgekommen? Ach, ich find's toll, daß du wieder da bist.«
Die beiden Mädchen gingen an ihrer Mutter vorbei in das kühle Wohnzimmer.
»Letzten Freitag«, antwortete Mary.
»Amy«, sagte Lucille nervös, »warum gehst du nicht erst mal in dein Zimmer und ziehst dich um? Wir essen bald.«
»Ach, Mama.« Sie warf sich aufs Sofa und sah lachend zu ihrer Schwester auf. »Los, erzähl schon. Wie war's in Vermont?«
»Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, Amy -«
»Mary.« Lucille legte ihrer Tochter die Hand auf die Schulter. »Meinst du nicht, wir sollten warten, bis dein Vater da ist?«
Der Druck von Lucilles Fingern auf ihrer Schulter war beinahe schmerzhaft. »Ja, natürlich, wenn du meinst«, murmelte Mary.
»Aber wieso denn?« Amy sah ihre Mutter an. Als die nichts sagte, richtete sie ihren Blick wieder auf Mary. Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite. »Hey, Mary, du siehst ganz anders aus.«
»Findest du?«
»Ja. Du bist dick geworden.« Amy kicherte.
»Euer Vater wird bald kommen«, sagte Lucille hastig.
Mary sah ihre Mutter an. Ein seltsamer, gequälter Ausdruck flog über Lucilles Gesicht. Dann wurde es weich und traurig.
»Bitte, Mary Ann, laß uns warten, bis euer Vater da ist.«
»In Ordnung.«
Lucille ließ Mary los und ging zur Tür. »Amy, pack du jetzt erst mal deinen Rucksack aus und zieh dich um. Eine Dusche könnte dir wahrscheinlich auch nicht schaden. Wenn du fertig bist, kannst du uns erzählen.«
Amy packte ihren Rucksack und lief aus dem Zimmer. »Ich weiß, warum du dick geworden bist, Mary«, rief sie, während sie durch den Flur rannte. »Das kommt von dem vielen Ahornsirup, den sie in Vermont essen.«
Sie fuhr mit einem Ruck aus dem Schlaf. Einen Moment lang wußte sie nicht, wo sie war. Sie lauschte in die Dunkelheit. Alles war still. Langsam fand sie sich zurecht. Sie war zu Hause, in ihrem Zimmer.
Wie spät mochte es sein? Im Haus rührte sich nichts. Nicht einmal das leise Brummen der Klimaanlage war zu hören. Sie setzte sich auf und merkte, daß sie völlig angekleidet war. In Schnappschüssen kam die Erinnerung. Amy, die im Schwimmbecken planschte; ihre Mutter in der Küche, mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt; das Aufflammen der Lichter im Haus, als es dunkel wurde; das Abendessen zu dritt, ohne ihren Vater, der noch nicht heimgekommen war; sie und Amy beim Abspülen in der Küche; ihre Mutter, die immer wieder zum Fenster hinaussah; Amy im Wohnzimmer beim Fernsehen; sie selbst auf dem Weg in ihr Zimmer, um sich hinzulegen.
Sie knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Halb zehn. Sie glitt aus dem Bett, ging zur Tür und öffnete sie. Am Ende des Flurs schimmerte gedämpftes Licht. Mary hörte Stimmen und ging dem Klang nach. Wie eine Einbrecherin schlich sie über den dicken Teppich. An der Wohnzimmertür blieb sie stehen. Die Schiebetür zur Terrasse war offen. Es roch nach frisch geschnittenem Gras. Ihre Eltern saßen nebeneinander auf dem Sofa, Amy gegenüber.
Mary blieb unbemerkt hinter dem Türpfosten stehen und hörte ihre Schwester sagen: »Aber wie kann denn Mary ein Kind bekommen, wenn sie nicht verheiratet ist?«
Mary zitterten die Knie. Sie lehnte sich an die Wand. Sie fühlte sich verraten. Ihr hättet warten können, dachte sie zornig. Ihr hättet warten müssen.
»Jede Frau kann ein Kind bekommen, Amy«, antwortete
Lucille, »auch wenn sie nicht verheiratet ist.«
»Aber wie denn?«
Mary hielt sich am Türpfosten fest und spähte vorsichtig ins Zimmer. Ihr Blick flog zum Gesicht ihres Vaters. Fast tat er ihr leid; er sah so unglücklich aus.
»Schau mal, Amy, wenn ein Mädchen ein bestimmtes Alter erreicht hat, bekommt es jeden Monat seine Regel. Und wenn das geschieht, kann sie auch jederzeit Kinder bekommen. Wenn sie dann mit einem Mann zusammen ist, wenn sie sich lieben, ich meine -« Lucille stockte.
»Du meinst, wenn sie miteinander schlafen?«
»Ja.«
»Und das hat Mary getan?«
Ehe ihre Mutter oder ihr Vater darauf antworten konnten, trat Mary ins Zimmer. »Nein«, sagte sie klar, »ich habe mit niemandem geschlafen.«
Lucille und Ted hoben ruckartig die Köpfe, Amy fuhr herum. »Es ist mir gleich, was ihr denkt. Ich hab nie was mit einem Jungen gehabt.«
»Aber wie kannst du dann ein Kind bekommen?« fragte Amy verwirrt.
Einen Moment war Mary unsicher und sah hilfesuchend ihren Vater an. Als er nicht reagierte, ging sie zu Amy. Sie kniete neben ihr nieder und sah ihr in die verwirrten braunen Augen. »Ich kann es dir nicht erklären, Amy«, sagte sie ruhig und klar. »Niemand kann es erklären, nicht einmal der Arzt, bei dem ich in Behandlung bin. Ich war auf einmal schwanger, ohne jeden Grund.«
Amy machte ein Gesicht, als säße sie über einer schweren Rechenaufgabe. »Das versteh ich nicht. Wie kann man ohne Grund schwanger werden?«
»Das weiß ich auch nicht«, sagte Mary leise.
Das Schweigen im Zimmer war so drückend wie die Luft in einem Treibhaus. Es füllte den Raum bis in die äußersten Winkel, und keiner konnte sich in dieser Stille regen. Amy und Mary sahen einander immer noch an. Lucille senkte den Kopf und blickte auf ihre Hände. Ted sank tiefer ins Sofa und starrte ins Leere.
Dann schüttelte Amy den Kopf. »Aber wenn du nichts Schlimmes getan hast, Mary«, sagte sie, »warum wollen Mama und Daddy dich dann verstecken?«
Die Sebastianskirche war älter, als es den Anschein hatte. Tarzanas katholische Kirche, ein moderner, weißgekalkter Bau mit großen Fenstern und einem stilisierten Kreuz in der Mitte der Fassade, war dort errichtet worden, wo früher, vor langer Zeit, mitten in einem Orangenhain die bescheidene, aus Lehm erbaute Kirche San Sebastiano gestanden hatte. Von den heute lebenden Gemeindemitgliedern kannte keiner mehr die kleine Kirche, die 1780 erbaut worden war, als die spanischen Franziskaner mit Pater Serra in dieses Tal gekommen waren und die San Fernando Mission gegründet hatten. Heute erinnerte nur noch eine bronzene Gedenktafel, die an einer Ecke des Parkplatzes in den Boden eingelassen war, an die Mission und den Ort, wo 1783 der erste Indianer getauft worden war.
Eine Gruppe Leute trat aus der Kirche in den warmen Morgen hinaus. Hastig suchte Mary unter ihnen nach Pater Crispin und entdeckte ihn auf dem Weg zu seinem Haus.
»Pater!«
Er machte halt und drehte sich um. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er einen Moment in die Sonne, dann glättete sich sein Gesicht, und er sah dem Mädchen mit einem
breiten Lächeln entgegen.
»Pater Crispin«, sagte Mary atemlos. »Kann ich Sie einen Moment sprechen?«
»Aber natürlich, Mary. Komm herein.«
Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Lionel Crispin war trotz seiner Leibesfülle ein sehr agiler Mann.
Sein Büro war dunkel und kühl, holzgetäfelte Wände und braune Ledersessel; starker Kontrast zu dem blendenden Weiß und dem blitzenden Glas der Kirche. Ein wenig außer Atem, setzte er sich an seinen Schreibtisch. Das zugeknöpfte schwarze Jackett spannte über seinem Bauch.
»Setz dich, Mary«, sagte er. »Was kann ich für dich tun?«
Der steife elisabethanische Lehnstuhl war unbequem. Sie legte die Hände auf die hölzernen Armlehnen, die in gekrümmten Tierpfoten endeten.
»Ich wollte Ihnen sagen, daß ich wieder zu Hause bin, Pater.«
Im ersten Moment schien er nicht zu verstehen, dann fragte er erstaunt: »Ach, für immer? Deine Eltern möchten dich wohl lieber zu Hause haben?«
Marys Blick wanderte durchs Zimmer und fiel auf ein Porträt. »Pater, ist das der neue Papst?«
Lionel Crispin sah zu dem Bild hinauf. »Ja, das ist Papst Paul VI.«
Sie nickte und wandte sich wieder dem Priester zu. »Ich habe mich selbst entschieden, nach Hause zurückzukommen. Meine Eltern hatten mit der Entscheidung nichts zu tun. Ich bin letzten Freitag zurückgekommen. Ich wollte nicht mehr im St. Anne's bleiben.«
»Aha.« Das Lächeln verschwand. Die kleinen dunklen Augen unter den buschigen Brauen wurden ernst. »Und ist es
deinen Eltern jetzt recht, daß du zu Hause bist?«
»Ich weiß nicht genau. Ich glaub schon. Sie haben jedenfalls nichts davon gesagt, daß sie mich wieder ins St. Anne's schicken wollen.«
Zwischen den dunklen Augen erschien eine steile Falte, die sich immer mehr vertiefte.
»Pater, ich bin zu Ihnen gekommen, weil ich ein Problem habe und nicht weiß, was ich machen soll.«
»Hast du mit deinen Eltern darüber gesprochen?«
»Um meine Eltern geht es ja, Pater. Wir sind am letzten Sonntag nicht in die Kirche gekommen, weil meine Mutter sagte, sie fühle sich nicht wohl. Aber ich glaube, in Wirklichkeit geniert sie sich mit mir vor den anderen Leuten. Sie hat Angst, daß alle schauen und hinter meinem Rücken tuscheln. Mir ist das gleich, aber meiner Mutter nicht. Ich muß in die Kirche gehen können, Pater.«
Sein Gesicht entspannte sich sichtlich. Er erinnerte sich, daß Mary, als er sie das letztemal in seinem Büro gesehen hatte, fast apathisch gewesen war und kein Wort gesprochen hatte; von der Kirche hatte sie nichts wissen wollen.
Sein Lächeln wurde väterlich. »Natürlich helfe ich dir, Mary. Ich werde mit deiner Mutter sprechen.«
»Danke, Pater.«
»Aber sag mir doch, warum du nicht im St. Anne's geblieben bist.«
Mary senkte die Lider. »Ich habe mich dort nicht wohl gefühlt.«
Er nickte. »Aber dir ist klar, daß es eine Sünde war, einfach wegzulaufen?«
Sie sah ihn erstaunt an. »Wieso?«
»Du hast das vierte Gebot gebrochen. Du warst deinen El-tern ungehorsam.«
»Daran habe ich gar nicht gedacht, Pater. Das beichte ich natürlich.«
Er zog die buschigen Brauen hoch. Vor zwei Monaten hatte sie das Sakrament verweigert. »Dann kann ich wohl annehmen, daß Pater Grundemann vom St. Anne's dir eine Hilfe war?«
»O ja. Er hat sich mehrmals lange mit mir unterhalten. Dann bin ich zur Beichte gegangen und war von da an jeden Tag bei der Kommunion.«
Mit einem befriedigten Lächeln lehnte er sich in seinem Sessel zurück und faltete die Hände auf dem Bauch. »Das freut mich wirklich, Mary. Wirklich.«
Sie hätte das Lächeln gern erwidert, aber sie konnte seinen Blick nicht lange aushalten. Wieder senkte sie die Lider.
»Pater Crispin?«
»Ja?«
»Ich -« Sie brach ab.
»Was ist denn, Mary?«
»Pater, ich weiß immer noch nicht, warum ich schwanger bin.«
Sie sah ihn vorsichtig an. Er wirkte so starr wie aus Stein gehauen, schien nicht einmal zu atmen. Dann beugte er sich plötzlich vor. »Du weißt immer noch nicht, warum?«
Mary schüttelte den Kopf.
Pater Crispin stemmte beide Hände gegen die Schreibtischkante und neigte sich weit zu ihr hinüber. »Du weißt immer noch nicht, warum du in diesem Zustand bist?«
»Nein, Pater.«
Er zwinkerte. »Mary, du bist schwanger, weil du eine unkeusche Handlung begangen hast. Das weißt du doch.«
»Aber ich hab nichts getan, Pater.«
Er zwinkerte mehrmals hintereinander sehr schnell. »Aber -du bist doch im St. Anne's zur Beichte gegangen. Du hast an der heiligen Kommunion teilgenommen.«
»Ja. Pater Grundemann hat mir die Absolution gegeben.«
»Ach! Wenn du überzeugt bist, keine unkeusche Handlung begangen zu haben, was hast du dann gebeichtet?«
»Daß ich versucht habe, mir das Leben zu nehmen.«
Eisiges Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Und als Pater Crispin sprach, war seine Stimme kalt. »Mary Ann McFarland, soll das heißen, daß du an der heiligen Kommunion teilgenommen hast, obwohl du wußtest, daß auf deiner Seele eine Todsünde lastete, die du nicht gebeichtet hattest?«
»Nein, Pater«, entgegnete sie klar, obwohl ihr das Herz bis zum Hals schlug. »Ich habe Pater Grundemann alle meine Sünden gebeichtet und habe dafür die Buße getan, die er mir auferlegt hat.«
»Wovon sprichst du, Mary?«
»Von dem Selbstmordversuch.«
»Und was ist mit der Sünde der Fleischeslust?«
Sie duckte sich unter dem zornigen Blick des Priesters. »So eine Sünde habe ich nicht begangen, Pater.«
Er richtete sich auf, schloß die Augen und faltete wieder die Hände. Mit gekräuselten Lippen schien er ein kurzes lautloses Gebet zu sprechen. Dann öffnete er die Augen wieder und sagte mit langgeübter Geduld: »Mary, hältst du immer noch an der Behauptung fest, unberührt zu sein?«
»Es ist keine Behauptung, Pater. Es ist die Wahrheit. Ich bin unberührt.«
Einen Ellbogen auf den Schreibtisch gestützt, legte Pater Crispin die Stirn in die offene Hand, so daß Mary sein Gesicht nicht sehen konnte. Mary wartete voll Unbehagen. Schließlich hob der Priester den Kopf und sah sie streng an.
»Willst du behaupten, es handle sich bei dir um eine unbefleckte Empfängnis, Mary?«
Sie zuckte zusammen, als hätte er sie geschlagen.
»Mary, du weißt, daß eine Frau nur auf einem Weg ein Kind empfangen kann. Du bist nicht dumm, Mary. Du bist schwanger, weil du mit einem Mann intim warst. Und da du es nicht gebeichtet hast, lastet diese Sünde immer noch auf deiner Seele. Dennoch hast du an der heiligen Kommunion teilgenommen.«
»Pater -«
»Mary Ann McFarland, wofür hältst du mich eigentlich? Beichte deine Sünde und reinige dich. Du bist nicht nur mit einer Todsünde belastet, du hast dich dazu noch der Gotteslästerung schuldig gemacht.«
Sie duckte sich noch tiefer. »Nein«, flüsterte sie, »das habe ich nicht getan.«
»Wie würdest du es denn nennen, wenn jemand im Stand der Sünde zur heiligen Kommunion geht?«
»Aber ich war doch nicht -« Der Priester, der vor ihr in seinem Sessel saß, schien ihr zu einem Riesen heranzuwachsen. Überwältigend in seiner Bedrohlichkeit, sah er sie an, und in seinen Augen funkelte ungezügelter Zorn.
»Pater Crispin, ich schwöre, ich habe niemals etwas getan -
«
»Mary!« Er stand auf, kam um den Schreibtisch herum und streckte die Hand nach ihr aus. »Mary, du kommst jetzt mit mir in die Kirche. Sofort.«
Sie zuckte zurück.
»Nicht zur Beichte. Um zu beten. Wenn du Angst hast, müssen wir zu Gott beten und ihn um seinen Rat bitten. Ich weiß nicht, was dich zwingt zu schweigen, Mary, ob du schweigst, um den Jungen zu schützen, oder weil du dich schämst, deine Sünde einzugestehen. Ganz gleich, was es ist, du mußt dich jetzt an Gott wenden und ihn um seine Hilfe bitten. Komm jetzt, Mary, wir gehen jetzt in die Kirche und knien gemeinsam zum Gebet nieder. Öffne Gott dein Herz. Laß ihn eintreten. Laß dir von ihm helfen. Bitte ihn um seinen Rat, Mary. Er wird die Antwort geben.«
Sie faltete die Hände und preßte die Finger so fest aneinander, daß ihr die Knöchel weh taten, als könnte sie durch den körperlichen Schmerz ihre Inbrunst beweisen. Neben ihr kniete steif Pater Crispin, den Kopf mit dem kahlen Scheitel über die gefalteten Hände geneigt. Sie hörte seinen Atem und spürte seine Nähe.
Die Kirche war leer. Die warme Luft roch nach Weihrauch und Kerzenqualm. Der Altar war unter der Blumenfülle kaum zu sehen. Farbiges Licht strömte durch die Buntglasfenster und tauchte das Gestühl und den Marmorfußboden in gleißendes Licht. Marys Knie auf dem Kunststoffpolster begannen zu schmerzen. Sie versuchte, sich zu konzentrieren und Gott mit stummen Schreien zu zwingen, sie zu hören. Sie stellte sich einen Rosenkranz in ihren Händen vor, meinte zu spüren, daß die Perlen durch ihre Finger liefen. Ein Vaterunser. Drei Gegrüßet seist du, Maria.
Es stimmte nicht. Sie senkte den Kopf in tiefer Konzentration. Ehre dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist. Amen.
Sie betete ein Gegrüßet seist du, Maria nach dem anderen. Die Worte klangen sinn- und bedeutungslos in ihrem Hirn, eine endlose Aneinanderreihung sich wiederholender Vokale und Konsonanten. Sie verlor das geistige Bild des Rosenkranzes. Ein Gegrüßet seist du, Maria verschmolz mit dem nächsten.
Verzweifelt über ihre Unfähigkeit, den rechten Weg zu finden, um mit Gott in Zwiesprache treten zu können, öffnete Mary die Augen und hob den Kopf. Suchend blickte sie zum Altar. Die Augen fest auf den gekreuzigten Jesus gerichtet, begann sie von neuem zu beten.
Aber es ging nicht. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Alles war falsch, nichts stimmte. Sie warf einen Blick auf Pater Crispin, der tief im Gebet versunken war. Von neuem sah sie zum gekreuzigten Christus auf und versuchte es noch einmal.
Herr erbarme dich meiner! Christus, erbarme dich meiner! Ihr Blick schweifte zur Statue der Jungfrau Maria, die links von der Kanzel stand.
Gott allmächtiger, einziger Gott, erbarme dich meiner!
Sie schluckte krampfhaft.
Jesus, erbarme dich meiner!
Heilige Maria, Mutter Gottes, erbarme dich meiner!
Ihr Blick glitt von der Heiligen Jungfrau ab und blieb an dem Bild vor der ersten Station des Kreuzwegs hängen. Eine seltsame, ängstliche Unruhe bemächtigte sich ihrer. Ohne etwas wahrzunehmen, sah sie mit starrem Auge ins Halbdunkel und rang mit den Worten in ihrem Kopf.
O Gott, schrie sie in Gedanken. Sag mir doch, was mit mir geschieht. Sag mir, warum. Sag mir, wieso. Nur du allein kannst mir helfen. Dr. Wade weiß keine Antwort. Pater Crispin weiß keine Antwort. Nur du, Gott, du allein weißt, warum dies geschehen ist. Hilf mir, Gott ...
Mary schloß zitternd die Augen und bemühte sich, ihr Herz zu öffnen. Sie holte tief Atem, hielt lange die Luft an und stieß sie dann langsam aus.
Sie öffnete die Augen. Und plötzlich wurde sie gewahr, worauf ihr Blick gerichtet war.
Auf das Bild des heiligen Sebastian.
Sie vergaß ihre verzweifelten Gebete. Neugierig musterte sie das Gemälde: die Pfeile, die den kraftvollen Körper durchbohrten; die blutenden Wunden; die straffen Sehnen der nackten Schenkel; den geschundenen Leib. Am Ende blieb ihr Blick in Faszination an dem gequälten schönen Gesicht hängen, das trotz aller Qual einen Ausdruck der Verzückung trug.
Sie erinnerte sich.
Und im selben Moment kam ein wohltuender, tröstlicher Friede über sie.