16

»In zwei Wochen werde ich Mary röntgen, Mr. McFarland, und es wäre mir lieb, wenn Sie und Ihre Frau mitkämen. Ich wollte Ihnen rechtzeitig vorher Bescheid geben, damit Sie sich den Termin freihalten können.«

»Das ist sehr freundlich, Dr. Wade. An welchen Tag hatten Sie gedacht?«

Jonas griff nach dem Kalender auf seinem Schreibtisch. »Jeder Tag in der Woche nach dem einundzwanzigsten wäre mir recht. Besprechen Sie es mit Ihrer Frau, Mr. McFarland, und rufen Sie meine Sprechstundenhilfe an. Sie vereinbart dann einen Termin mit der Röntgenabteilung.«

Es blieb einen Moment still. Ted McFarland machte sich wohl eine Notiz. Dann sagte er: »Dr. Wade, wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit einer Mißbildung bei dem Kind?« Er schien den Stier gleich bei den Hörnern packen zu wollen.

»Das kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich möchte, daß Sie und Ihre Frau dabei sind, wenn wir die Aufnahmen bekommen, für den Fall, daß das Kind geschädigt sein sollte. Dann braucht Mary Ihre Unterstützung.«

Teds Stimme klang seltsam dünn und doch zugleich kraftvoll. »Wenn es eine Mißbildung ist, was schlagen Sie dann vor?«

Jonas schloß einen Moment die Augen. »Das kann ich im Augenblick noch nicht sagen, Mr. McFarland. Es hängt von vielen Dingen ab. Wenn das Kind schwere Mißbildungen aufweist, werden Sie die Angelegenheit mit Ihrem Priester

besprechen wollen, denke ich.«

Es folgte eine kurze Pause, dann sagte Ted: »Sie denken an eine Abtreibung, nicht wahr?«

»Wenn Marys Leben bedroht ist, ja.«

»Aber sie ist im sechsten Monat. Ist es nicht jetzt schon ein -richtiges Kind?«

»Doch.«

»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, Dr. Wade. Meine Frau und ich werden kommen. Besten Dank, daß Sie angerufen haben.«

Nachdem Jonas Wade aufgelegt hatte, blieb er untätig an seinem Schreibtisch sitzen und starrte auf die rote Mappe, die den ersten Entwurf seines Berichts enthielt. Nur das letzte Kapitel fehlte jetzt noch. Er hatte flüchtig erwogen, sich in dieser Angelegenheit an Ted McFarland zu wenden - er und seine Frau, beide mußten die Genehmigung geben -, hatte es sich aber in letzter Minute anders überlegt. Der arme Mann hatte im Augenblick genug um die Ohren. Die Genehmigung zur Veröffentlichung konnte warten. Wenn die Röntgenaufnahmen ein völlig mißgebildetes Kind zeigten, würde der Artikel sowieso nicht fertiggeschrieben werden. Wenn sie jedoch ein normal entwickeltes Kind zeigen sollten, würde Jonas schon einen geeigneten Zeitpunkt finden, um sich mit den McFarlands über eine Veröffentlichung seines Berichts zu unterhalten und zu einigen.

Jonas massierte sich leicht das Gesicht, während seine Gedanken sich dem nächsten Problem zuwandten - der vorgesehenen Freigabe des Kindes zur Adoption. Er mußte einen Weg finden, um den McFarlands reinen Gewissens raten zu können, das Kind zu behalten. Aber genau das war der Haken: das reine Gewissen. Jonas war sich völlig klar, daß er in dieser

Frage vor allem sein eigenes Interesse im Auge hatte. Wenn sowohl Mary als auch ihre Eltern es für besser hielten, das Kind wegzugeben, und wenn Pater Crispin sie darin unterstützte, dann war das zweifellos für die Beteiligten die beste Lösung, und Jonas Wade konnte sich nicht anmaßen, ihnen zu etwas anderem zu raten. Doch wenn das Kind weggegeben wurde, konnte er seinen Artikel nicht beenden. Er hatte ein stabiles Fundament gelegt, um seine Theorie zu untermauern, aber ohne die nach der Geburt fälligen Beweise zur weiteren Untermauerung seiner Behauptungen konnte er seinen ganzen Plan fallenlassen.

Jonas stand vom Schreibtisch auf und sah sich in seinem Arbeitszimmer um. Unbeantwortete Korrespondenz und ungelesene Fachzeitschriften lagen verstreut auf dem Ledersofa; neue Bücher, die er noch nicht einmal ausgepackt hatte. Er hatte in den letzten Monaten kaum etwas anderes im Kopf gehabt als seine Arbeit an dem >Fall< McFarland.

Eiliges Klopfen an seiner Zimmertür riß ihn aus seinen Gedanken. »Jonas?« rief Penny von draußen.

Er machte auf.

»Ich dachte, du wolltest heute abend mit Cortney reden.«

Leichter Vorwurf schwang in ihrem Ton, und ihre Miene drückte Gereiztheit aus, die er sonst nicht an ihr kannte. Sie spähte an ihm vorbei ins Arbeitszimmer. Da lag die rote Mappe, die sie in letzter Zeit so häufig in seinen Händen gesehen hatte: beim Frühstück, auf der Terrasse, sogar wenn er vor dem Fernsehapparat saß. Immer wieder pflegte er sie aufzuschlagen, um hier ein Wort, dort einen Satz zu streichen und eine neue Formulierung einzusetzen. Penny wußte, daß das Projekt für Jonas sehr wichtig war, er hatte ihr darüber berichtet, hatte sie seinen ersten Entwurf lesen lassen - aber es begann sie allmählich zu ärgern, daß er darüber die Familie vernachlässigte.

»Cortney hat mir gesagt, daß sie Ende des Monats ausziehen will. Jonas, sie hört nicht auf mich. Du mußt mit ihr sprechen.«

»Gut«, sagte er. »Wo ist sie?«

»Aber Daddy, ich bin achtzehn Jahre alt. Es gibt einen Haufen Mädchen, die arbeiten und gleichzeitig zur Schule gehen. Brad hast du's doch auch erlaubt. Warum mir nicht?«

»Cortney, es sind ja nur noch drei Jahre, dann hast du deinen Abschluß und kannst dir die Arbeit suchen, die dir wirklich Spaß macht. Was willst du denn jetzt tun? Dich im Supermarkt an die Kasse setzen?«

»Warum nicht? Sarah arbeitet in einem Schnellimbiß. Wir teilen uns die Miete und die Ausgaben fürs Essen, und in die Schule fahren wir mit dem Rad. Sie wohnt nicht weit von der Schule.«

Jonas ließ sich in das weiche Polster des Gartensessels sinken und starrte geistesabwesend auf die welken braunen Blätter, die sich vom leichten Wind getrieben auf dem Wasser des Schwimmbeckens drehten. Eine für Oktober ungewöhnliche Kälte lag in der Luft, ein Vorgeschmack vielleicht auf einen harten Winter.

»Ich halte das nicht aus«, fuhr Cortney fort. »Ihr beiden, du und Mama, verlangt, daß ich jeden Abend um elf zu Hause bin. Ich finde das einfach lächerlich. Ich bin achtzehn, Dad.«

»Warum wiederholst du das so oft? Glaubst du, ich hätte es vergessen?«

Cortneys Gesicht wurde hart. Sie sah mit einem Schlag zehn Jahre älter aus. »Ja, das glaube ich. Du behandelst mich wie eine Fünfjährige. Aber ich bin kein kleines Kind mehr. Ich möchte endlich auf eigenen Füßen stehen und für mich selbst sorgen.«

Jonas konnte es sich nicht verkneifen, Cortney mit Mary Ann McFarland zu vergleichen. Sie waren nur ein Jahr auseinander, aber Cortney wirkte reif und erwachsen, während Mary in vieler Hinsicht noch ein Kind war. Cortney hatte die Eigenständigkeit ihrer Mutter mitbekommen, Pennys Fähigkeit, ihr Leben in die eigenen Hände zu nehmen und jede Lage zu meistern. Gerade in solchem Moment, wo Cortney ihre Persönlichkeit geltend machte, hatte sie mehr Ähnlichkeit denn je mit Penny.

Während Jonas den pragmatischen Ausführungen seiner Tochter über ihr zukünftiges Leben zuhörte, musterte er ihr Gesicht. Ihre Stimme, ihre Worte verklangen, wie vom Winde weggetragen, während ihre Gesichtszüge eine ungeheure Klarheit gewannen. Es war beinahe so, als sähe Jonas sie zum erstenmal.

Nie zuvor war ihm die starke Ähnlichkeit Cortneys mit ihrer Mutter aufgefallen. Die lange, gerade Nase mit den schmalen Nasenflügeln, die schmalen Lippen, die leicht schrägstehenden Augen, die Linie der Wangenknochen und des Kinns -alles wie bei Penny. Und Cortney hatte auch die Manierismen ihrer Mutter geerbt, ihre Art, die Augen zu schließen, wenn sie ihren Worten Nachdruck verleihen wollte, ihre Gesten, ihren Gang. Ihre Lippen bewegten sich auf die gleiche Weise wie Pennys, die Muskulatur darunter war nicht Cortneys, sondern Pennys. Je deutlicher das Jonas jetzt wahrnahm, zum erstenmal, um so unbehaglicher wurde ihm.

Stecke sie in ein Hochzeitskleid, flüsterte es in ihm, und du siehst das Mädchen, das du geheiratet hast.

Er ertappte sich dabei, daß er in ihrem Gesicht nach Anteilen von sich suchte. Guter Gott, war es Einbildung, oder hatte Cortney wirklich gar nichts von ihm mitbekommen? Würde ein Fremder auch Jonas Wade in ihr erkennen, oder würde er nur eine junge Penny sehen?

Das sind keine Nachkommen von Primus, hatte Dorothy Henderson gesagt. Sie sind Primus ...

»Daddy?«

Eine Kluft des Entsetzens und des Abscheus tat sich plötzlich vor ihm auf. Meine eigene Tochter. Wenn sie nun das Produkt irgend eines Aktivators wäre und nicht einer liebenden Umarmung? Hatte Pater Crispin wirklich recht? Hätte sie dann eine Seele?

Der Schrecken verging, Schuldgefühle und Reue traten an seine Stelle. Jonas Wade hatte mit großen Worten dafür plädiert, daß man Mary Ann McFarlands Kind als normales kleines menschliches Wesen annehmen solle; und in diesem Moment hatte er selbst seine eigene Tochter als seelenloses Geschöpf gesehen und verabscheut.

Heuchler, dachte er.

»Daddy?«

Er kniff die Augen zusammen und bemühte sich, ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit zu geben. Viel zu oft geschah es in letzter Zeit, daß die innere Beschäftigung mit Mary Ann McFarland ihn von seinen täglichen Pflichten, die er der Familie und seiner Arbeit gegenüber hatte, ablenkte. Penny hatte mehrmals Bemerkungen darüber gemacht; jetzt merkte auch Cortney die Zerstreutheit ihres Vaters.

Schuldgefühle schienen ihm zur zweiten Natur geworden zu sein: Schuldgefühle wegen des Artikels, wegen der Versuchung, über den eigenen Interessen das Wohl Marys aus den

Augen zu lassen, wegen der Vernachlässigung seiner Familie. Doch sie hinderten ihn nicht daran, zielstrebig seinen Weg zu gehen: Der Artikel war fast fertig; später, nach der Geburt des Kindes, wenn er die zusätzlichen Beweise hatte, würde er den Bericht dem Journal of the American Medical Association vorlegen.

»Cortney, deine Mutter und ich wollen doch nur dein Bestes. Wir glauben, daß deine Leistungen in der Schule leiden würden, wenn du ausziehst.«

Mit einem gereizten Seufzer warf sie den Kopf in den Nacken - auch eine von Pennys typischen Bewegungen. »Daddy, man lernt doch nicht nur aus Büchern. Es gibt auch noch was anderes im Leben. Ich möchte das Leben kennenlernen, wie es wirklich ist. Ihr schützt und behütet mich hier, aber ich will nicht behütet werden. Ihr müßt mich gehen lassen.«

Jonas wollte jetzt keinen Kampf; nicht jetzt, wo er soviel anderes im Kopf hatte. Er wußte zu gut, wohin Widerstand führen würde; zu dem, was stets dabei herauskam, wenn er seinen Willen gegen Pennys eiserne Entschlossenheit setzte: zum toten Punkt. Cortney würde mürrisch und mißmutig durchs Haus schleichen und irgendwann doch ausziehen ...

Jonas neigte sich zu ihr hinüber und tätschelte ihre Hand. »Also gut, Cortney, versuchen wir's. Wenn es nicht klappen sollte, kannst du ja jederzeit hierher zurückkommen.«

»Danke, Daddy!« Sie sprang auf und umarmte ihn. Dann rannte sie ins Haus und rief ihre Mutter, während Jonas auf der Terrasse sitzenblieb und auf das Schwimmbecken starrte, dessen blaues Wasser sich im Wind kräuselte.

Lionel Crispin stand am Fenster und sah zu, wie der wilde Oktoberwind durch die Straße fegte, die Blätter von den

Bäumen riß, Papiere den Bürgersteig entlangtrieb, Mülleimer umstürzte. Der Herbst kam dieses Jahr ungewöhnlich früh. Im allgemeinen war der Herbst in Südkalifornien mild und warm; diese unzeitgemäße Kälte, diese Rauheit der Witterung ließen Pater Crispin ahnen, daß ein schwerer Winter bevorstand.

»Lionel«, sagte der Mann in seinem Rücken mit leiser Mahnung. Pater Crispin wandte sich vom Fenster ab. »Verzeihen Sie, Exzellenz.«

Der Mann in dem brokatbezogenen Sessel sah den Pater forschend an. »Ist das alles? Ist das die ganze Geschichte?«

»Ja, Exzellenz.« Pater Crispin fing wieder an, im Zimmer hin und her zu laufen.

»Und Sie haben das Mädchen seither nicht mehr gesehen?«

»Nein, Exzellenz.«

»Haben Sie das Mädchen zu Hause aufgesucht oder sonst irgendwie versucht, mit ihr Kontakt aufzunehmen?«

Pater Crispin blieb mitten im eleganten Salon stehen und bemühte sich, seine Stimme zu beherrschen, als er sagte: »Ich konnte nicht. Ich konnte ihr nicht wieder gegenübertreten.«

»Warum nicht?«

»Weil sie mich besiegt hat.«

»Lionel«, sagte der Bischof ruhig. »Kommen Sie. Setzen Sie sich.«

Pater Crispin setzte sich dem Bischof gegenüber. Der Feuerschein aus dem großen offenen Kamin tauchte jeweils eine Hälfte der beiden Gesichter in rote Glut, während die andere im Schatten blieb. Die Profile waren scharf umrissen: Das von Lionel Crispin war rund und voll, mit schwammigen Wangen und einer fleischigen Nase; das des sechzigjährigen Bischofs Michael Maloney scharf und kantig, wie von einem Kubisten entworfen.

»Wir beide kennen uns seit langem, Lionel«, sagte der Bischof mit nasaler Stimme. »Ich erinnere mich an den Tag, als Sie in diese Diözese kamen. Ich war damals Gemeindegeistlicher. Erinnern Sie sich noch an die Zeit, Lionel?«

»Exzellenz, ich habe dieses Mädchen im Stich gelassen. Ich habe versagt. Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes vor meiner Pflicht als ihr Seelsorger davongelaufen.«

Bischof Maloney legte die schmalen Hände giebelförmig aneinander und schob sie unter sein Kinn. »Gut, sprechen wir darüber. Warum haben Sie dem Mädchen die Kommunion gegeben, wenn Sie der Meinung waren, sie verdiente es nicht?«

»Weil mir die Situation so peinlich war«, antwortete Pater Crispin kleinlaut.

»Wie meinen Sie das?«

Lionel mied den Blick seines alten Freundes und starrte in die tanzenden Flammen. »Ich hatte das Gefühl, daß die ganze Gemeinde mich beobachtete.«

»Und war es so?«

»Ich weiß es nicht, aber ich hatte das Gefühl. Alle starrten mich an, sogar meine Ministranten. Ich fühlte mich völlig hilflos«, Lionel Crispin befeuchtete die spröden Lippen, »als ich mich umdrehte und sie immer noch dort knien sah. Und ich sah ihr an, daß sie nicht wanken und nicht weichen würde, auch wenn die anderen längst wieder an ihre Plätze gegangen waren und ich mit dem Postcommunio beginnen würde. Ich wußte, sie würde hartnäckig knien bleiben. Ich habe ihr die Hostie gegeben -« er drehte den Kopf und sah den Bischof an - »ich habe sie ihr gegeben, um sie loszuwerden, Exzellenz.«

Der Bischof nahm Pater Crispins Worte mit unergründlicher Miene auf. Er hatte das Gefühl, daß der Priester ihm das, weswegen er an diesem Abend wirklich zu ihm gekommen war, noch nicht gesagt hatte.

»Ihrer Meinung nach also befand sich das Mädchen im Zustand der Todsünde«, sagte er, »und dennoch haben Sie ihr die Hostie gegeben. Haben Sie das gebeichtet?«

»Ja, Pater Ignatius.«

»Dann ist Ihre Sünde vergeben. Wenden wir uns also nun dem Problem mit diesem Mädchen zu.«

Pater Crispin senkte den Kopf und blickte auf seine Hände. Er war immer noch nicht im Frieden mit sich selbst. Er war zu Pater Ignatius gegangen, weil der Mann halbtaub war und milde bei der Auferlegung von Bußen. Lionel Crispin war nicht besser als seine Gemeindemitglieder.

»Kommen wir also zu dem Mädchen, Lionel. Mir scheint, sie glaubt wahrhaftig an ihre eigene Unschuld. Wenn das so ist, hat sie keine Sünde begangen. Ich meine, wenn sie sich der sündigen Handlung nicht erinnern kann oder wenn sonst ein psychologischer Grund gegeben ist.«

»Ich glaube nicht, daß ein psychologischer Grund vorliegt, Exzellenz. Und ihr Arzt ist der gleichen Meinung wie ich.«

»Ach ja, der Arzt. Wie, sagten Sie gleich, heißt der Mann?«

»Jonas Wade.«

»Dieser Dr. Wade behauptet also, daß Mary McFarland seelisch gesund und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte ist. Dann scheint sie doch zu lügen. Aber der Arzt spricht von Parthenogenese. Was Sie mir darüber berichtet haben, ist sehr interessant. Ich würde darüber von Dr. Wade gern Genaueres hören.«

Pater Crispin hob mit einem Ruck den Kopf. »Sie können das doch nicht billigen, Exzellenz.«

»Das weiß ich noch nicht, Lionel. Mir sind noch nicht alle

Fakten bekannt, aber nach alledem, was Sie mir darüber berichtet haben -«

»Verzeihen Sie, Exzellenz -« Pater Crispin machte Anstalten aufzustehen -, »aber diese wahnwitzige Theorie über die Parthenogenese untergräbt doch alles, woran wir glauben.«

»Lionel, bitte bleiben Sie sitzen, und erklären Sie mir, inwiefern sie alles untergräbt, woran wir glauben. Ich finde ganz im Gegenteil, daß sie mit unserem Glauben durchaus in Einklang ist. Gründet denn unsere Religion nicht auf einer ebensolchen Lehre? Wurde nicht Eva auf ähnliche Weise erschaffen, ohne daß Geschlechtsverkehr stattfand, und die Heilige Jungfrau selbst ebenso?«

»Exzellenz, ich traue meinen Ohren nicht! Was heißt denn das, wenn ein unberührtes Mädchen infolge einer schlichten körperlicher Erschütterung schwanger werden kann? Was sagt das über die Mutter Gottes aus?«

»Ach, Lionel, sind Sie in Ihrem Glauben so leicht zu erschüttern? Kann es sich hier nicht um zwei getrennte Phänomene handeln? Vor zweitausend Jahren sprach Gott zu einer Jungfrau namens Maria und sagte, sie sei gesegnet. Als Katholiken müssen wir das glauben. Heute nun, im Jahr neunzehnhundertdreiundsechzig, erhält ein unberührtes junges Mädchen namens Mary einen Stromschlag und ist plötzlich schwanger. Ich frage Sie, Lionel, was hat das eine mit dem anderen zu tun? Maria wurde von Gott auserwählt; bei Mary McFarland handelt es sich um einen rein biologischen Vorgang. Wie kann diese Tatsache Ihren Glauben bedrohen? Sind Sie denn so schwach im Glauben?«

Pater Crispin zitterte. »Ganz im Gegenteil, Exzellenz. Mein Glaube ist stärker denn je. Ich bin unerschütterlich.«

Bischof Maloney kniff die Augen zusammen. Er sah deut-lich die Risse in der Fassade der Stärke, und er war beunruhigt. »Wenn ihr Glaube so stark und unerschütterlich ist, Lionel«, sagte er langsam, »wieso macht Ihnen dann dieser Fall angst? Der Mann in der eisernen Rüstung hat von Holzpfeilen nichts zu fürchten.«

Lionel Crispin schwieg. Er konnte den Aufruhr seines Herzens nicht in Worte fassen; die schleichende Angst, daß Wade recht hatte. Wenn das Mädchen nun wirklich unberührt war? Und wenn sie einen Sohn zur Welt brachte .?

»Lionel, was bedrückt Sie noch?«

Pater Crispin rang um Ruhe. Während draußen der Oktoberwind ums Haus pfiff, starrte er in die Flammen des Kamins und bemühte sich, seine Ruhe zu finden. »Dr. Wade sagte, das Kind könne eventuell geschädigt sein. Deformiert.«

Der Bischof runzelte die Stirn. »Wie deformiert?«

Pater Crispin konnte dem Freund nicht in die Augen sehen. »Schlimm. Eine Mißgeburt vielleicht.«

»Ich verstehe .«

Das Heulen des Windes in den leeren Straßen schien stärker zu werden. Der Sommer war vorbei. Lionel Crispin griff nach dem Glas Sherry, das auf dem Tisch neben seinem Sessel stand. Der Bischof hatte es ihm bei seiner Ankunft vor mehr als einer Stunde eingeschenkt; erst jetzt hob Lionel Crispin es an seine Lippen und trank einen Schluck. Während er dem Wind lauschte und den Sherry auf der Zunge zergehen ließ, dachte er: Bald ist Allerheiligen, dann kommt Weihnachten, dann Neujahr, und dann ist der Januar da ...

Er fand es widersinnig, daß das höchste christliche Fest, Weihnachten, an dem neues Leben und neue Hoffnung gefeiert wurden, ausgerechnet in die kälteste Jahreszeit fiel, in der alles tot war und nirgends Hoffnung grünte. Nein, das war nicht richtig. Ostern war das höchste christliche Fest, die Feier der Wiederauferstehung. Zumindest sollte es so sein. Aber bei den Leuten hatte das Osterfest keine so hohe Bedeutung wie Weihnachten; aus irgendeinem Grund richteten sie ihr Augenmerk lieber auf die Geburt Christi als auf seine Überwindung des Todes ...

»Lionel?«

Pater Crispin schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie, Exzellenz, ich war in Gedanken.«

»Was belastet Sie so?«

Pater Crispin suchte nach den rechten Worten. Wie sollte er die eisige Furcht in Worten ausdrücken, die ihn einschnürte. Sie werden vielleicht eine Entscheidung über Leben und Tod treffen müssen, hatte Jonas Wade gesagt. Lionel Crispin erinnerte sich eines grauenvollen Erlebnisses, das noch gar nicht so lange zurücklag. Er war in das Haus eines seiner Gemeindemitglieder gerufen worden. Die Ehefrau hatte eine Frühgeburt und starke Blutungen. Pater Crispin war gerade noch rechtzeitig gekommen, um der Frau die letzte Ölung zu geben und das Neugeborene zu taufen - eine schreckliche Mißgeburt, die keinen Kopf gehabt hatte, nur einen dicken Halsstummel mit zwei hervorquellenden Augen und einem Mund, der wie ein blutiger Schlitz aussah. Es hatte gelebt, hatte sich in der Schale geregt, in die der Arzt es gelegt hatte, während die Mutter in ihrem Bett verblutet war. Pater Crispin hatte sich beinahe übergeben. Selbst jetzt noch schauderte ihn bei der Erinnerung.

»Ich fürchte mich«, sagte er leise.

»Wovor?«

»Vor der Entscheidung.« Er sah dem Bischof direkt in die Augen, und Michael Maloney erschrak beim Anblick der unverhüllten Furcht. »Dr. Wade sagte, die Entbindung könnte mit Komplikationen verbunden sein, und ich würde vielleicht zwischen Mutter und Kind entscheiden müssen.«

»Aber das kann doch für Sie kein Problem sein, Lionel. Sie kennen Ihre Pflicht.«

Ja, ich kenne sie, schrie es gequält in ihm. Aber ich will diese Verantwortung nicht auf mich nehmen. Wie kann ich dieses schöne junge Mädchen sterben lassen, nur um ein Wesen taufen zu können, das vielleicht keine Minute lang am Leben bleibt, das der Gestalt nach überhaupt kein Mensch ist und nicht einmal auf natürliche Weise gezeugt wurde? Wie vor ihm Lucille McFarland fragte er: »Exzellenz, kann es eine Seele haben?«

Der Bischof, der spürte, daß Pater Crispins Ängste sich auf ihn zu übertragen drohten, stand auf. Groß und schlank blieb er am Kamin stehen und drehte den schweren Ring an seiner rechten Hand.

»Das Kind hat eine Seele, Lionel, ganz gleich, welchen körperlichen Ursprungs es ist. Und Ihre Pflicht ist es, diese Seele zu retten, Lionel. Der körperliche Aspekt des Kindes, so grotesk er sein mag, darf Sie nicht beeinflussen.«

Der Bischof schwieg einen Moment. Sein langer Schatten lag dunkel auf dem wertvollen Orientteppich.

»Lionel«, sagte er behutsam. »Niemand hat Ihnen versprochen, daß das Amt des Priesters leicht sein würde. Die Verantwortung für das Seelenheil der Menschen zu tragen ist keine leichte Aufgabe. Es bedarf großen Mutes, Entscheidungen wie dieser ins Auge zu sehen. Auch ich mußte während meiner Zeit als Priester solche Entscheidungen auf mich nehmen, und sie belasten mich heute noch. Lionel -« Michael Maloney trat zu dem Freund und legte ihm die Hand auf die

Schulter - »ich weiß, was Sie durchmachen, und ich bin überzeugt, daß dies eine Prüfung ist, die Ihnen von Gott auferlegt wurde. Beten Sie zum Herrn und seiner heiligen Mutter. Sie werden Ihnen beistehen. Vertrauen Sie mir.«

Lionel Crispin stand auf und ging wieder zum Fenster. Er legte die Stirn an das kalte Glas und dachte: Bitte, Herr, laß es ein normales Kind sein. Gib ihm Augen, Nase und Mund und einen richtigen Kopf ...

Er spürte, wie sein Herz zitterte. Es war eine Vorahnung. Mary Ann McFarlands Kind würde grauenhaft entstellt zur Welt kommen, und er, Lionel Crispin, würde aufgerufen sein, es zu taufen, um diese Seele zu retten, die die ewige Gnade nicht verdiente ...

Das Haus war Mary nicht dunkel genug. Sie hatte die Vorhänge zugezogen, so daß das Mondlicht nicht in ihr Zimmer eindringen konnte. Dennoch wünschte sie, während sie bis zum Hals zugedeckt auf ihrem Bett lag, es wäre noch dunkler.

Wie tief muß man sich verstecken, fragte sie sich, wie finster muß es sein, bis man nicht mehr das Gefühl hat, daß die ganze Welt dich sehen kann und beobachtet?

Sie war nackt. Ihr Nachthemd lag unordentlich auf dem Boden. Sie hatte die Tagesdecke, die sie normalerweise abzog, wenn sie zu Bett ging, über der Bettdecke gelassen und bis zum Kinn hochgezogen.

Wie tief muß die Dunkelheit sein, wie viele Decken braucht man, wieviel Stille und Einsamkeit, ehe man sich seinem eigenen Körper zuwenden kann? Um die Nacktheit ging es nicht; es ging um das, was sie tun wollte.

Vergib mir, flüsterte sie vor sich hin und kam sich albern vor. Ich werde später um Vergebung bitten, nicht jetzt.

Ich kann meinen Arm oder meine Beine berühren, ohne mich schuldig fühlen zu müssen. Warum muß ich ein schlechtes Gewissen haben, wenn ich meinen Körper entdecken möchte? Er gehört doch mir, oder nicht? Er gehört mir, damit ich ihn berühre, erforsche und mich an ihm freue.

»Eine gute kleine Katholikin sorgt dafür, daß ihre Gedanken und Hände stets beschäftigt sind.« Schwester Michael, sechste Klasse.

»Wenn ihr die Versuchung spürt, euch selbst zu berühren, dann denkt an die Heilige Jungfrau.« Schwester Joan, achte Klasse.

»Der Gedanke an eine unkeusche Handlung ist ebenso sündhaft wie die Durchführung dieser Handlung.« Pater Crispin.

»Wenn man sich selbst berührt, muß der Herr Jesus weinen.« Schwester Joan.

Aber ich muß die Wahrheit wissen, dachte Mary verzweifelt. Ich dachte, der heilige Sebastian hätte es getan; aber Dr. Wade sagt, ich selbst habe es getan.

Ich muß es wissen ...

Sie schloß die Augen und stellte sich den heiligen Sebastian vor. Sie stellte sich vor, daß er dicht vor ihr stand, der Lendenschurz auf dem Boden zu seinen Füßen. Sie sah das Spiel des Mondlichts auf den Erhebungen und Mulden seines schönen Körpers. Die Blutstropfen, die aus seinen vielen Wunden rannen. Die dunklen, grüblerischen Augen, die sie traurig und liebevoll anblickten.

Zögernd und unsicher schob sie ihre Hand über die Wölbung ihres Schenkels.

Vergib mir, dachte sie wieder.

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