18

Der beißende Wind riß an ihren Kleidern, als wollte er sie forttragen. Mary zog die dicke Wolljacke fester um sich und schob, nachdem sie geläutet hatte, die Hände in die Ärmel. Sie fühlte sich häßlich, dick und plump, mit angeschwollenen Füßen und zerzaustem Haar, und hoffte, entgegen ihrer Neugier, dieser Frau von Angesicht zu Augesicht gegenüberzutreten, die Tür würde sich nicht öffnen.

Aber sie öffnete sich. Warmes Licht strömte in die Dunkelheit und umriß die Gestalt der Frau an der Tür. Mary blinzelte.

»Mrs. Renfrow?« sagte sie zaghaft.

Die Frau hatte eine tiefe, rauchige Stimme. »Du bist sicher Mary. Komm herein. Mein Gott, ist das ein Sturm!«

Mary trat ein, die Tür schloß sich hinter ihr, das Heulen des Windes wurde leise und gedämpft.

»Woher wissen Sie, wer ich bin?« fragte sie.

»Ted hat mir von neulich abend erzählt. Ich dachte mir, daß du vorbeikommen würdest.«

Mary war enttäuscht von Gloria Renfrow, ja, sie fühlte sich betrogen. Ihre Phantasie hatte ihr ganz andere Bilder vorge-gaukelt. Sie war überhaupt nicht vorbereitet auf diese kleine, rundliche Frau Mitte Vierzig, deren Haarfarbe undefinierbar war und die kein Make-up trug. Die Geliebte ihres Vaters war so unscheinbar und reizlos wie das Haus, in dem sie wohnte.

»Komm mit rein, Kind. Ich mache uns Kaffee.«

Sie führte Mary aus dem kleinen Flur in ihr Wohnzimmer. Auf den ersten Blick war Mary fast entsetzt. Alte, und etwas schäbige Möbel, von denen kein Stück zum anderen paßte. Ein schwarz lackiertes Bücherregal voller Taschenbücher und alter Zeitschriften; ein moderner heller Holztisch skandinavischen Stils vor einer durchgesessenen Couch. Der Fernsehapparat war in einem Walnußschränkchen mit spindeldünnen Füßen untergebracht. Über dem Sofa hing ein Druck mit einer Waldlandschaft in einem Rahmen von Wool worth, und auf dem Tisch stand eine Obstschale mit Plastikfrüchten.

Mary fühlte sich unbehaglich. Das alles entsprach überhaupt nicht ihren Erwartungen. Das aufgedonnerte Flittchen im schwülen Liebesnest, an dem sie ihren Zorn und ihre Wut hatte auslassen wollen, gab es nicht.

»Der Kaffee wird gleich fertig sein«, sagte Gloria, aus der Küche zurückkommend. »Komm, gib mir deine Jacke.«

»Nein danke, ich behalte sie lieber an.« Mary zog die Jacke enger um sich.

»Okay. Willst du dich nicht setzen?«

Nachdem Gloria in dem Sessel neben dem Bücherregal Platz genommen hatte, setzte sich Mary in den Fernsehsessel daneben und fand ihn, beinahe zu ihrem Ärger, sehr bequem.

»Schieb die Armlehnen zurück, Kind.«

Der Sessel kippte ein wenig nach rückwärts, und die gepolsterte Fußstütze hob sich.

»Besser so? Ich weiß, als ich mit meinem ersten Kind schwanger war, waren meine Füße immer so geschwollen, daß sie mir wie Blei am Körper hingen.«

Mary blickte auf ihre Füße, die unförmig über die Ränder ihrer Ballerinas quollen.

»Weißt du, was da guttut? Ein heißes Fußbad mit >Epsomer Bittersalz <. Das weiß ich aus Erfahrung. Und viel Spargel essen, der treibt.«

Mary starrte auf ihre Füße und vermied es beharrlich, Gloria Renfrow anzusehen. Es war sehr still im Zimmer. Einmal machte Gloria eine Bemerkung über das Wetter, meinte, dieser kalte Wind sei ein sicheres Zeichen für einen harten Winter, dann schwieg sie wieder.

Ein schrilles Pfeifen ließ Mary zusammenfahren. Gloria sprang auf. »Das Wasser kocht.« Sie eilte zur Küche. An der Tür blieb sie stehen und drehte sich um. »Oder möchtest du lieber eine Tasse Tee?«

Mary nickte und starrte weiter auf ihre Füße, während sie den Geräuschen lauschte, die aus der Küche zu ihr ins Zimmer drangen.

Nach einigen Minuten kam Gloria mit einem Tablett zurück, auf dem zwei dampfende Tassen, ein Milchkännchen, eine Zuckerdose und ein Teller mit aufgeschnittenem Sandkuchen standen. Sie stellte das Tablett auf einen kleinen Klapptisch, den sie zwischen die beiden Sessel trug, dann hockte sie sich auf die Armlehne ihres Sessels und goß Milch in ihren Tee. »Nimmst du Zucker, Mary? Oder trinkst du ihn auch lieber mit Milch wie die Engländer?«

Mary wandte den Blick von ihren Füßen und richtete ihn auf die Tasse. »Zwei Stück Zucker bitte«, sagte sie, während sie Gloria Renfrows Hände betrachtete, die rot und rauh waren.

Gloria schob die Tasse zu Mary hinüber und legte ein Stück Kuchen auf eine Papierserviette daneben. Dann ließ sie sich in ihren Sessel sinken und trank von ihrem Tee.

Mary wartete einen Moment, dann nahm auch sie ihre Tasse und trank.

»Und wie weit bist du jetzt?« fragte Gloria.

Mary mußte sich räuspern. »Im sechsten Monat.«

Gloria lächelte. »Gratuliere. Da hast du ja gar nicht mehr lang.« Mary beobachtete die Frau mißtrauisch.

»Ich habe selbst vier Kinder zur Welt gebracht«, fuhr Gloria fort. »Der Älteste ist jetzt Rechtsanwalt in Seattle. Der zweite ist in Mississippi bei der Air Force. Der dritte studiert an der Universität von Kalifornien in Santa Barbara. Der vierte ist tot. Er starb mit drei Jahren an Leukämie.«

»Das tut mir leid«, sagte Mary.

»Ja. Es war schlimm damals.« Glorias Lächeln wurde wehmütig. »Hast du schon einen Namen für deine Tochter?«

Mary erstarrte. »Hat - hat mein Vater Ihnen gesagt, daß es ein Mädchen wird?«

»Er hat mir alles erzählt, Kind. Ich verfolge die Geschichte der Mary Ann McFarland seit Juni wie einen Fortsetzungsroman.«

Mary warf ihr einen empörten Blick zu, sah aber nur ein Lächeln freundlicher Erheiterung auf dem Gesicht der Frau. Sie stellte ihre Tasse nieder. »Er hat ihnen alles erzählt?«

Gloria nickte.

»Dazu hatte er kein Recht.«

»Aber natürlich hatte er das.«

Mary sah sie trotzig an. »Es geht Sie aber nichts an.«

Gloria zog die Brauen hoch, die nicht gezupft waren. »Entschuldige mal! Alles, was deinen Vater berührt, geht mich an.«

»Wieso?«

»Weil ich ihn liebe.«

»Ich will das nicht hören!« Mary versuchte, ihren Sessel wieder geradezustellen, aber es gelang ihr nicht.

»Mary«, sagte Gloria ruhig und ohne zu lächeln, »meinst du nicht, es ist Zeit, daß wir miteinander reden? Wir sind es deinem Vater schuldig.«

Mary strampelte mit den Beinen. »Ich schulde ihm nichts.«

»Du tust dir wohl sehr leid, wie?«

Immer noch kämpfte Mary mit dem Sessel. »Ich, ich habe allen Grund dazu.«

»Faß die Armlehnen fest an, und zieh. Lieber Gott, du siehst aus wie eine Schildkröte, die auf den Rücken gefallen ist.«

Mary packte die Armlehnen und riß so fest daran, daß die Fußstütze krachend auf den Boden schlug.

»Ich hoffe nur, daß du mir meinen Fernsehsessel nicht kaputtgemacht hast.«

Wütend funkelte sie Gloria an. »Wie eine Schildkröte«, keuchte sie empört, und ehe sie wußte, wie ihr geschah, stiegen ihr die Tränen in die Augen, und sie fing an zu lachen.

»Kind, wenn du dich hättest sehen können! Weißt du, was mir mal passiert ist? Ich glaube, es war beim dritten Kind. Da war ich im neunten Monat so dick, daß ich im Drehkreuz im Supermarkt steckengeblieben bin. Ich sag dir, es ging nicht vorwärts und nicht rückwärts. Sie mußten die Feuerwehr holen, um mich rauszuholen.«

Mary lachte noch heftiger und wischte sich die Augen mit dem Jackenärmel. Als sie sich wieder beruhigt hatte, sah sie Gloria Renfrow verwirrt an.

»Wenn du nicht reden willst, Mary«, fragte Gloria behutsam, »warum bist du dann hergekommen?«

Mary drückte die Hände auf ihre Augen. »Ich weiß nicht. Weil ich Sie sehen wollte. Ich wollte sehen, was mein Vater -« Sie ließ die Hände sinken. »Es ärgert mich, daß mein Vater allen Leuten von mir erzählt.«

»Erstens hat er nicht allen Leuten von dir erzählt, und zweitens hat dein Vater doch wohl auch gewisse Rechte, meinst du nicht? Schau mal, Mary, du bist nicht der Nabel der Welt.«

»Ach, Sie haben ja überhaupt keine Ahnung«, fuhr Mary sie zornig an. »Sie wissen überhaupt nicht, was ich aushalten muß.«

»Aber Kind.« Gloria brach sich ein Stück Kuchen ab und schob es in den Mund. »Du bist nicht die erste Frau auf der Welt, die schwanger ist, und du bist auch nicht die erste unverheiratete Frau, die ein Kind erwartet.«

»Aber bei mir ist alles ganz anders.«

»Meinst du?« Gloria brach sich noch ein Stück ab. »Nach dem, was dein Arzt gesagt hat, dieser Dr. Wade, scheint es doch so zu sein, daß es immer schon Fälle wie deinen gegeben hat. Vielleicht geschieht jetzt einem anderen Mädchen das gleiche.«

Mary starrte die Frau an, die ihren Kuchen kaute und dann mit einem Schluck Tee nachspülte.

Andere? dachte sie. Andere, denen es genauso geht wie mir? Jetzt, in diesem Moment?

»Ich finde sogar, du kannst von Glück reden, Mary. Du hast Dr. Wade, der für dich eintritt, und einen großartigen Vater, der dir glaubt. Es gibt bestimmt andere Mädchen in deiner Lage, die nicht soviel Glück haben. Ah ja, ich seh schon, der Gedanke ist dir nie gekommen, hm? Trink deinen Tee, Kind. Sonst wird er kalt.«

Mary nahm gehorsam ihre Tasse und trank. Der Tee hatte einen ganz besonderen, köstlichen Geschmack.

»Gut, nicht?«

»Solchen Tee hab ich noch nie getrunken.«

»Ich hab immer welchen da. Für besondere Gelegenheiten.«

Mary lehnte sich in ihrem Sessel zurück und stellte ihn wieder in Schräglage. Ihre Füße kamen in die Höhe.

»Also«, sagte Gloria sanfter, »hast du schon einen Namen

für sie?«

Mary starrte in ihre Teetasse. »Ich möchte sie Jacqueline nennen«, antwortete sie leise.

»Das ist ein schöner Name.«

Mary verstand selbst nicht, was sie getrieben hatte, ihr Geheimnis preiszugeben. Sie hatte es nicht einmal Amy oder Dr. Wade anvertraut, weil man ihr das Kind ja doch nehmen würde und die Adoptiveltern ihm gewiß einen anderen Namen geben würden. Aber tief im Innern wußte Mary, daß das Kind für sie immer Jacqueline sein würde.

»Was ist denn, Kind?«

Mary sah Gloria an. Sie war dem Weinen nah. »Ach, nichts. Ich habe nur ...«

Gloria stellte ihre Tasse weg und legte Mary die Hand auf die Schulter. »Du möchtest sie behalten, nicht wahr?«

Mary schluckte krampfhaft. »Ich weiß nicht. Meine Eltern sagen, wir müssen es zur Adoption freigeben. Und Pater Crispin ist auch der Meinung. Wahrscheinlich haben sie recht. Aber -«

»Aber was?«

»Aber sie ist doch ein besonderes Kind. Sie ist nicht wie andere Kinder entstanden. Und die Adoptiveltern werden sie sicher nicht als etwas Besonderes behandeln. Außerdem möchte ich sie so gern bei mir haben. Sie gehört doch zu mir.« Gedanken, die ihr bisher noch nicht in den Sinn gekommen waren, schossen ihr plötzlich durch den Kopf. »Ich möchte bei ihr sein, wenn sie langsam groß wird.«

Gloria nickte. »Das kann ich verstehen, Mary. Das solltest du auch. Sie ist ja wirklich ein besonderes Kind, und nur du kannst das verstehen.«

»Ich war mir bis jetzt gar nicht bewußt .« Mary kämpfte mit den Worten. Das Kind bin ich, sagte es in ihr. Das Kind bin ich, und ich würde mich selbst wildfremden Menschen überlassen. »Bis jetzt habe ich es nur als irgendein Kind gesehen, das zur Welt kommt und gleich wieder verschwindet. Aber jetzt sehe ich es plötzlich als kleines Mädchen, das laufen und reden lernt und zur Schule geht und - und ich möchte dabei sein, wenn das alles kommt. Ach!« Mary fing an zu weinen und schlug die Hände vor ihr Gesicht. »Entschuldigen Sie«, schluchzte sie.

»Das macht doch nichts, Mary. Laß es ruhig raus.«

»Ich weiß nicht, warum ich hergekommen bin. Ich war so wütend auf meinen Vater. Ich wollte sehen, was - was .«

»Was er hier will?« Gloria nahm ihre Tasse und trank den letzten Rest Kaffee. »Ich beneide dich, Mary«, sagte sie. »Ich habe mir immer eine Tochter gewünscht, aber ich habe nur Söhne bekommen. Nach den ersten beiden war ich richtig wütend. Ich wollte unbedingt ein kleines Mädchen. Und als ich das dritte Mal schwanger war, kaufte ich lauter Mädchensachen, als wäre das eine Garantie dafür, daß es endlich ein Mädchen werden würde. Es heißt, daß das Geschlecht des Kindes durch die Chromosomen des Mannes bestimmt wird. Also war es wohl Sams Schuld.«

Mary sah sich im Zimmer um.

»Ich war mit ihm verheiratet. Jetzt bin ich Witwe. Er starb vor sieben Jahren. Ganz plötzlich, an einem Herzinfarkt. Wir wollten in die Ferien fahren und packten die Sachen ins Auto. Er ging noch einmal ins Haus, um eine Taschenlampe zu holen. Aber er kam nicht wieder heraus. Johnny fand ihn. Sam war einundvierzig Jahre alt.« Gloria richtete die hellen Augen auf Mary. »So habe ich deinen Vater kennengelernt. Ich mußte Sams Aktien verkaufen, um die Begräbniskosten bezahlen zu können. Dein Vater war Sams Anlageberater. - Dein Tee wird ganz kalt, Kind.«

Mary sah auf die Tasse in ihrer Hand, als hätte sie sie eben erst gesehen. Hundert Fragen lagen ihr plötzlich auf der Zunge.

»Wie ist es, wenn man ein Kind bekommt?«

»Oh.« Gloria lachte leise. »Mary, das ist bei jeder Frau anders. Und bei jedem Kind. Bei meiner ersten Schwangerschaft stellte sich heraus, daß der Kopf des Kindes für mein Becken zu groß war. Die Ärzte mußten einen Kaiserschnitt machen. Sie sagten mir, wenn einmal ein Kaiserschnitt gemacht worden ist, muß er auch bei allen nachfolgenden Entbindungen gemacht werden. Aber ich wollte mein zweites Kind auf natürliche Weise zur Welt bringen. Und ich setzte mich durch. Eine ganze Nacht lang haben Johnny und ich geschuftet, wir haben gedrückt und gepreßt, und der Schweiß ist mir in Strömen runtergelaufen. Ich war so fertig, daß ich dachte, einer von uns würde auf der Strecke bleiben. Aber dann flutschte er raus wie nichts, und die nächsten beiden Entbindungen waren ein Kinderspiel.«

Gloria hielt einen Moment inne und hing Erinnerungen nach. Dann sagte sie: »Es kommt auf alles mögliche an, Mary. Auf deinen Zustand, auf den Zustand des Kindes, und auf den Arzt. In manchen Krankenhäusern geben sie einem eine Narkose, und man bekommt überhaupt nichts mit. In anderen machen sie eine Kaudalanästhesie, und man kann wenigstens zuschauen. Jetzt gibt es, soviel ich weiß, Ärzte, die für eine natürliche Geburt ganz ohne Betäubung sind.«

»Ist das denn möglich?« fragte Mary erstaunt.

Gloria lachte erheitert. »Aber natürlich. Tausende von Jahren haben Frauen ihre Kinder auf natürlichem Weg zur Welt gebracht. Oder glaubst du, die alten Griechen haben Äther verwendet?«

Mary runzelte die Stirn. »Darüber hab ich nie nachgedacht.«

»Eine Geburt ist ein wunderbares Erlebnis, Mary. Man kann es nicht beschreiben. Jede Frau muß es selbst erleben.«

Mary stellte ihre Tasse auf den Klapptisch und legte beide Hände auf ihren Bauch. »Ich werde morgen geröntgt«, sagte sie. »Dr. Wade hat gesagt, es wäre alles in Ordnung, er will nur die Entwicklung des Kindes genau überwachen.« Sie hob den Kopf und sah Gloria mit ihren kühlen blauen Augen an. »Ist das normal, daß man geröntgt wird?«

Sie sah den Schatten, der über Glorias Gesicht flog, ehe diese sich abwandte. »Mary, meine letzte Schwangerschaft ist so lange her, daß ich gar nicht weiß, was heutzutage zum normalen Behandlungsablauf gehört.«

»Aber Dr. Wade hat Angst, daß etwas nicht in Ordnung ist, stimmt's?«

Gloria wandte sich ihr wieder zu. »Du hast es doch eben selbst gesagt, Mary. Du bist ein besonderer Fall. Ich denke, dein Arzt möchte lediglich alles Menschenmögliche tun, um sicherzustellen, daß es dir und deinem Kind gutgeht. Ganz gewiß hast du keinen Anlaß, dir Sorgen zu machen.«

Die angenehm rauhe Stimme, die so bestimmt und sicher klang, und das klare Lächeln auf dem unscheinbaren, aber sympathischen Gesicht beruhigte Mary. Sie nahm ihre Tasse und trank den letzten Schluck Tee, und dabei fiel ihr plötzlich auf, daß sie über diesem offenen, warmen Gespräch mit Gloria Renfrow den ursprünglichen Grund ihres Kommens völlig vergessen hatte.

Sie sah die Frau neben sich beinahe herausfordernd an und sagte: »Sind Sie katholisch?«

Die Frage schien sie nicht zu überraschen. »Warum? Würde das für dich etwas ändern? Würde das -« Gloria senkte die Stimme ein wenig - »die Sünde deines Vaters mildern?«

Mary antwortete nicht.

»Ich kann und will nicht für deinen Vater sprechen«, fuhr Gloria ruhig fort. »Was er zu sagen hat, muß er dir selbst sagen. Aber was mich angeht ... Ich war plötzlich allein mit drei halbwüchsigen Jungen und fühlte mich sehr allein gelassen. Und gerade in dieser Zeit, wo mir so sehr jemand fehlte, an den ich mich einmal anlehnen konnte, trat dein Vater in mein Leben. Aber bitte glaub jetzt ja nicht, ich hätte ihn mit List und Tücke zum Ehebruch verführt. Dein Vater war damals auch in einer Situation, wo er dringend jemanden brauchte. So etwas geht immer nur, wenn beide wollen.«

Sie schwieg einen Moment. »Glaub mir«, sagte sie dann, »es ist nicht leicht, die Freundin oder Geliebte eines verheirateten Mannes zu sein.« Ihre Stimme wurde ein wenig brüchig. »Obwohl ich ihn von ganzem Herzen liebe und alles für ihn tun möchte, muß ich immer im Hintergrund bleiben und mich mit einem zweiten Platz in seinem Leben begnügen. Es ist, als lebte man immer im Schatten. Ich kann ihn niemals anrufen, wenn ich traurig bin. Ich kann niemals an den Wochenenden oder im Urlaub mit ihm Zusammensein; ich kann nicht mit ihm ausgehen oder verreisen. Wenn ich ihm ein Geschenk mache, kann er es nicht mit nach Hause nehmen. Ich muß mich damit zufriedengeben, jede Woche ein paar Stunden mit ihm zu verbringen, und mehr nicht. Und wenn du glauben solltest, daß ich mich von ihm aushalten lasse, dann schlag dir das mal ganz schnell aus dem Kopf. Ich bin berufstätig und verdiene mir allein meinen Lebensunterhalt. Dein Vater gibt mir kein Geld. Und ich will auch keines. Ich will nur ihn

selbst.«

Marys Augen brannten. »Aber wenn er meine Mutter so unerträglich findet, warum verläßt er sie dann nicht?«

»Er findet sie nicht unerträglich, Mary. Vielleicht kannst du das jetzt noch nicht verstehen, aber dein Vater liebt sie und er liebt mich. Nur auf unterschiedliche Weise. Du weißt nicht viel von Männern, Kind, und auch wenn du mal so alt bist wie ich, wirst du vieles nicht verstehen.« Sie lachte kurz und bitter. »Und da heißt es immer, die Frauen seien geheimnisvoll!«

»Und - und Sie lieben ihn wirklich?«

»Ja, ich liebe deinen Vater, Mary.«

Mary kämpfte mit den Tränen.

»Sei ihm nicht böse, Mary«, sagte Gloria. »Ich hoffe, wenn du älter bist, wirst du ihn verstehen.«

»Aber wie kann er nur!« stieß sie weinend hervor. »Er ist streng katholisch -«

»Mary, was glaubst du denn, warum dein Vater hierher kommt? Ich weiß, was du denkst, und du täuschst dich, Kind. Natürlich war das Sexuelle am Anfang wichtig, das will ich gar nicht bestreiten. Es hat eine große Rolle gespielt. Ich denke, daß es für viele einsame Menschen der einfachste Weg ist, sich gegenseitig zu trösten. Aber das ist sieben Jahre her. Soll ich dir sagen, was wir hier jeden Mittwochabend tun, Mary? Dein Vater kommt herein, zieht seine Schuhe aus und setzt sich mit mir zusammen vor den Fernseher. Manchmal spielen wir Karten. Oder er richtet mir den Wasserhahn in der Küche. Oder wir setzen uns in den Garten und schauen zu, wie die Sonne untergeht. Und hin und wieder schlafen wir auch zusammen.

Mary, ich weiß, warum du hergekommen bist. Seit dein Vater mir neulich von eurem Gespräch erzählt hat, habe ich dich erwartet. Du hast deinen Vater als Heiligen gesehen. Und jetzt stellst du fest, daß er auch nur ein Mensch ist. Du bist wütend auf ihn - und vermutlich auch auf mich -, daß er dir das antut. Du bist hergekommen, weil du hofftest, du würdest den Heiligen zurückbekommen; du hofftest, ich würde alles bestreiten, und du könntest deinen Vater dann wieder aufs Podest heben. Ich kann es verstehen, ich hatte auch einen Vater ... Aber ich kann dir diesen Gefallen nicht tun, Mary.

Du solltest mich nicht verachten. Das Recht dazu hast du dir noch nicht verdient. Um über mich urteilen zu können, brauchst du selbst erst eine gewisse Lebenserfahrung und Reife. Mein Leben ist einsam, weil ich einen Mann liebe, den ich niemals haben kann. Ich habe mich mit der Zukunft ausgesöhnt. Vielleicht solltest du das auch tun.«

Mary wischte sich die Tränen aus den Augen und sah Gloria an.

»Ich werde deinem Vater nicht sagen, daß du hier warst«, fuhr Gloria fort. »Wenn du es ihm sagen möchtest, gut, das ist deine Entscheidung. Es gibt Dinge im Leben deines Vaters, die er nur mir erzählt hat, Mary. Nicht einmal deine Mutter weiß davon. Und sie alle haben damit zu tun, daß er hierherkommt. Aber es ist seine Sache, dir davon zu erzählen .«

»Ich weiß nicht, was ich denken soll«, sagte Mary. »Es ist, als ob - als ob alles anders geworden wäre.« Sie dachte an Mike und Germaine und ihre Eltern, und an ihr eigenes Leben. »Nichts ist mehr so, wie es war.«

»Das ist richtig, Kind, und nichts im Leben kann für immer so bleiben, wie es ist, so sehr wir uns das auch manchmal wünschen. Als ich damals Sam in der Küche liegen sah, so friedlich, als hätte er sich hingelegt, um ein Nickerchen zu machen, da hatte ich ein Gefühl, als stünde ich am Rand eines schwarzen Abgrunds. Und manchmal, wenn ich es zulasse, kommt dieses Gefühl wieder, und dann kommen mir lauter dumme Gedanken. Ich zerfließe vor Selbstmitleid und sage mir, daß es keinen Sinn hat weiterzumachen. Aber -«

Mary sah erstaunt, daß Gloria die Tränen in die Augen getreten waren. Impulsiv beugte sie sich vor und legte ihre Hand auf Glorias Arm. Die lächelte und drückte ihr die Hand.

»Ich gehöre nicht zu den Frauen, die stumm in sich hineinweinen können, ohne eine Träne zu vergießen. Ich heule und schniefe und kriege ein total verschwollenes Gesicht, wo ich doch von Natur aus schon nicht zu den Schönsten gehöre.« Sie lachte ein wenig. »Ach, du hast schon ausgetrunken. Möchtest du noch eine Tasse?«

Zweieinhalb Stunden später stellte Mary den Chevrolet in der Auffahrt ab, sperrte leise die Haustür auf und trat in den dunklen Flur. Auf Zehenspitzen schlich sie zur offenen Tür des Wohnzimmers, aus dem gedämpftes Licht fiel. Sie war nicht überrascht, ihren Vater dort auf dem Sofa sitzen zu sehen, allein, ein Glas in der Hand. Sein Gesicht war halb im Schatten, die Schultern hingen schlaff nach vorn. Er sah alt und verbraucht aus.

»Daddy!« sagte sie leise.

Er zuckte ein wenig zusammen und sah auf.

Mary trat zaghaft einen Schritt ins Zimmer. Er stellte sein Glas auf den Tisch und sah ihr stumm entgegen. Sie rannte zu ihm, warf sich neben ihn aufs Sofa und schlang die Arme um seinen Hals.

»Ach, Daddy«, murmelte sie. »Es tut mir leid. Es tut mir so leid.«

Sie sprachen bis weit nach Mitternacht miteinander. Er sprach von seiner Beziehung zu Gloria und dann von jenen Dingen in seinem Leben, die er außer dieser Frau bisher keinem Menschen anvertraut hatte.

Ted McFarland glaubte, daß er in einem Zelt am Stadtrand von Tuscaloosa zur Welt gekommen war, aber er war nicht sicher. Seine früheste Erinnerung galt einer stickig heißen Nacht in einem heruntergekommenen Holzschindelhaus, wo es nach Alkohol stank und aus einem Nebenzimmer die gequälten Schreie einer Frau drangen. Er hockte auf dem nackten Holzfußboden, und im milchigen weißen Licht ging ständig ein großgewachsener, hagerer Mann hin und her und murmelte unablässig den Namen des Herrn. Flüsternde Frauen tauchten flüchtig aus den Schatten und verschwanden wieder, und am Ende dieser langen, heißen Nacht traten sie laut klagend mit einem leblosen Bündel auf den Armen aus dem Nebenzimmer. So war Teds Mutter gestorben.

Hoseah McFarland war Wanderprediger. Nach dem Tod seiner Frau hatte er seine wenigen Habseligkeiten zusammengepackt und war mit seinen Söhnen durch die Südstaaten gezogen. Sie lebten in Zelten, und während Hoseah, der Verkünder der frohen Botschaft, den Sündern dieser Welt mit Hölle und Verdammnis drohte, mußten seine Söhne mit dem Hut herumgehen, der unweigerlich bis zum Rand voll wurde. Als Ted dreizehn war, drückte ihm sein Vater ein Paar Krücken in die Hand, zeigte ihm, wie er ins Zelt zu hüpfen hatte und nach der Predigt die Krücken wegwerfen und nach vorn, zum Podium, stürzen mußte, um Gott und Hoseah McFarland für das Wunder zu danken, das an ihm geschehen war.

Ted machte seine Sache ausgezeichnet. Die armen Schwarzen und das >weiße Pack< spendeten, was sie hatten. Hoseah wurde ein wohlhabender Mann. Und wenn Ted nach der

Predigt einmal in den privaten Teil des Zeltes vordrang, um sich ein Wort der Anerkennung von seinem Vater zu holen, wurde er nicht eingelassen, weil Hoseah sich höchstpersönlich um das Seelenheil einer jungen Dame bemühte.

Eines Abends dann war im Zelt Feuer ausgebrochen. Hoseah McFarland konnte sich retten, aber viele Menschen wurden in der allgemeinen Panik getötet, und einer von Teds kleinen Brüdern wurde zu Tode getrampelt. Ted war um sein Leben gelaufen und auf den ersten Güterzug gesprungen, der an den Baumwollfeldern vorbeigerattert war.

Er hatte sich auf diese Weise bis nach Chicago durchgeschlagen und sich dort mit kleinen Diebstählen und Betrügereien über Wasser gehalten. Doch 1932, mitten in der Depression, war er von der Polizei bei einem Überfall auf einen alten Mann geschnappt und in ein katholisches Heim für streunende Jungen gesteckt worden.

Und dort hatte er zum katholischen Glauben gefunden.

»Und dein Vater und deine Brüder?« fragte Mary. »Weißt du, wo sie jetzt sind?«

Ted wußte es nicht, und es interessierte ihn nicht. Die Kirche war sein Zuhause geworden. Lucille hatte er von seinen frühen Jugendjahren nichts erzählt. Er war zweiundzwanzig gewesen, als er sie kennengelernt hatte, zu stolz damals, um über seine beschämende Vergangenheit zu sprechen. Lucille stammte aus einer gutbürgerlichen Familie und war sehr behütet aufgewachsen. Ted hatte sie sehr geliebt und hatte gefürchtet, sie würde nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen, wenn er ihr gestand, aus welchen Verhältnissen er kam. Er hatte ihr statt dessen erzählt, die Erziehungsanstalt sei ein Waisenhaus gewesen, aber er hatte fest vorgehabt, ihr später die Wahrheit zu sagen. Aber die Jahre vergingen, und Ted hatte es immer wieder aufgeschoben, und schließlich hatte er den bequemsten Weg gewählt, und seine Vergangenheit einfach vergessen.

Aber mit Gloria hatte er endlich darüber sprechen können. Es war ihm ein dringendes Bedürfnis gewesen, da gerade in den letzten Jahren die Erinnerungen ihn immer häufiger geplagt hatten.

Mary fragte sich, als sie das von ihrem Vater hörte, was kann Gloria dir geben, das Mutter dir nicht geben kann? Und was, fragte sie sich weiter, kann diese Frau dir geben, das ich dir nicht geben kann? Bei dieser Überlegung begriff sie plötzlich, daß ihr Schmerz, als sie von der Beziehung ihres Vaters zu Gloria Renfrow erfahren hatte, nicht ihrer Mutter gegolten hatte, sondern sich selbst. Sie selbst hatte sich als die Betrogene gefühlt.

»Daddy«, sagte sie, »warum ist Mutter so, wie sie ist? Manchmal glaube ich, daß andere ihr wichtiger sind als wir. Immer kümmert sie sich um andere, geht Krankenbesuche machen, sammelt Kleider für die Armen, und für uns hat sie kaum Zeit.«

Ted legte seiner Tochter den Arm um die Schultern. »Vielleicht ist das ihre Art, gute Werke zu tun, um Erlösung von ihren Sünden zu finden.«

»Mutter? Sie sündigt doch nicht!«

»Vielleicht glaubt sie es aber.«

»Daddy, sie trinkt furchtbar viel. Bin ich daran schuld?«

»Nein, sicher nicht. Sie trinkt schon lange, Mary. Sie braucht es. Du hast es nur vorher nicht bemerkt.«

»Warum läßt du dich von ihr rumkommandieren?«

»Wahrscheinlich, weil das der Weg des geringsten Widerstands ist. Ich weiß es selbst nicht genau. Das ist auch etwas, was deine Mutter braucht, und ich lasse es ihr gern. Schau mal, Mary, ich habe meine Mutter nie gekannt. Sie starb, ehe ich alt genug war, um sie richtig kennenzulernen. Danach hatte ich nur meinen Vater und meine Brüder. Und später, im Heim, war ich nur in Gesellschaft der anderen Jungen, der Priester und der Laienlehrer, die alle Männer waren. In meinem Leben fehlten die Frauen, verstehst du? Vielleicht lasse ich mich gern von Frauen beherrschen.«

Ted stand auf und ging zum Barschrank. Er nahm die Flasche, um sein Glas aufzufüllen, und dann stellte er sie wieder weg. Er drehte sich um und sah seine Tochter an.

»Du möchtest wissen, warum ich mich von ihr herumkommandieren lasse? Vielleicht weil ich meinen Frieden gefunden habe, Mary, und gern möchte, daß auch deine Mutter ihren Frieden findet.«

Ted kam zum Sofa zurück und setzte sich wieder zu ihr. Mary sah ihn an und versuchte sich vorzustellen, wie es für ihn gewesen sein mußte, als er vom Priesterseminar weg zur Armee gegangen war und nach seiner Rückkehr aus einem schrecklichen Krieg alle seine Ideale zerstört gesehen hatte.

»Du liebst Gott wirklich, nicht wahr, Daddy?«

»Sagen wir, ich bewundere ihn.«

Sie sprachen noch eine Weile über Christsein, und Mary gestand, daß sie bis zu diesem Abend ihre Mutter für die bessere Katholikin gehalten hatte. Ted antwortete nur mit einem seltsamen Lächeln.

Dann sagte er: »Es ist spät, Kätzchen, und wir müssen morgen früh ins Labor.«

Mary drückte ihren Kopf an seine Schulter und sagt: »Ich habe Angst vor morgen, Daddy .«

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