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Im Lampenschein saß Pater Crispin an seinem Schreibtisch im Pfarrhaus und arbeitete an der Predigt für den nächsten Morgen. Sie bereitete ihm Schwierigkeiten.

Viele seiner Gemeindemitglieder hatten in letzter Zeit ihrer Besorgnis und ihrem Unverständnis über die ökumenischen Bestrebungen des neuen Papstes Ausdruck gegeben. Die ultrakonservative Diözese Los Angeles nahm das Zusammentreten des zweiten Vatikanischen Konzils mit Mißtrauen zur Kenntnis und befürchtete umwälzende Veränderungen. Pater Crispin hatte beschlossen, seiner Gemeinde mit der Sonntagspredigt die anstehenden Fragen zu erläutern, und bemühte sich jetzt beim Schreiben um eine sachliche und objektive Darstellung.

Aber er konnte sich nicht konzentrieren.

Er nahm das Glas mit dem Whisky, das neben seinem Schreibblock stand, und ging zum Fenster. Er zog den Vorhang auf und sah geistesabwesend auf den dunkel und verlassen liegenden Parkplatz hinaus.

Zum erstenmal seit vielen Jahren dachte Pater Crispin an seinen alten Traum, der ihn vor dreißig Jahren, als er noch auf dem Seminar gewesen war, so beflügelt hatte. Jung und idealistisch damals, war er fest entschlossen gewesen, in den Orden der Franziskaner einzutreten. Die Einfachheit, die Armut, die Brüderlichkeit mit allen Wesen Gottes, die dieser

Orden praktizierte, hatten ihn so sehr angezogen, daß er kurzentschlossen um Aufnahme ersucht hatte. Aber da hatte sich seine Familie eingemischt, wohlhabender, alter Bostoner Adel. Seine Eltern waren entsetzt gewesen, daß ihr Sohn bereit war, sich mit einem solchen Leben in Bescheidenheit zu begnügen, anstatt nach dem Glanz der Bischofswürde zu streben. Als Lionel erkannte, was er seinen Eltern, die ihn schon in vollem Ornat vor sich gesehen hatten, damit antun würde, wenn er an seinem Plan festhielt, hatte er seinen Traum aufgegeben.

Er wandte sich vom Fenster ab und trat wieder an seinen Schreibtisch.

Von dem jugendlichen Idealismus, dem heißen Wunsch, den Armen und Leidenden dieser Welt zu helfen, war nichts geblieben. Er saß hier als ein behäbiger, dickbäuchiger alternder Priester, der die Werte, die ihm ehemals etwas gegolten hatten, aus den Augen verloren hatte.

Warum, Herr, dachte er mit Bitterkeit, muß ich gerade jetzt an diese Dinge denken?

Er wußte, warum. Mary Ann McFarland war schuld daran.

Pater Crispin ging müde zu einem der Ledersessel und ließ sich hineinfallen. Er starrte in den großen gemauerten Kamin, der nur Attrappe war, und dachte: Ich hätte das heute abend nicht tun sollen. Ich hätte nicht einfach aus dem Beichtstuhl gehen dürfen. Ich habe das Mädchen im Stich gelassen.

Den ganzen Abend schon war ihm die Begegnung im Kopf herumgegangen. Mary war zur Beichte zu ihm gekommen und hatte eine Liste harmloser kleiner Sünden vorgetragen -daß sie am Freitag Fleisch gegessen, daß sie Gottes Namen mißbraucht, ihr Abendgebet vergessen hatte -, doch die eine große Sünde, auf deren Geständnis Pater Crispin wartete, die hatte sie nicht erwähnt. Als er sie gedrängt hatte, hatte sie ihm widersprochen - in seinem Beichtstuhl! -, und er hatte schließlich das Fenster zugeschlagen und sich dem nächsten Beichtkind zugewandt. Als er danach zur anderen Seite zurückgekehrt war, hatte er wieder Marys beteuerndes Flüstern vernommen. Zum zweitenmal hatte er sich von ihr abgewandt, nachdem er sie ermahnt hatte, ihre Seele zu erforschen und erst dann in den Beichtstuhl zurückzukehren, wenn sie bereit war, sich zu ihrer Sünde zu bekennen. Wieder hatte sie ihm widersprochen, und eigensinnig hatte sie ihre Unschuld beteuert. Und er, ihr Beichtvater, hatte sich von seinem Zorn zur Unbeherrschtheit hinreißen lassen, war aufgestanden und davongegangen, ohne sich weiter um sie zu kümmern.

Er trank einen Schluck von seinem Whisky, aber er schmeckte ihm nicht.

Warum? Warum macht sie es mir so schwer? Er schlug mit der Faust auf die Armlehne des Sessels. Wenn sie nur nicht so klar und vernünftig gewirkt hätte. Wenn er nur hätte glauben können, daß sie wahrhaftig seelisch labil war - ein Fall für den Psychiater - und nicht schlicht und einfach log. Aber er konnte es nicht riskieren, sich damit zu beschwichtigen. Es ging um ihre Seele.

Jonas Wades wahnwitzige Theorie konnte er nicht glauben, durfte er nicht glauben. Um seiner Religion willen. Wenn diese sogenannte >spontane Parthenogenese< einem Teenager aus Tarzana widerfahren konnte, was war dann mit der Jungfrau Maria, die vor zweitausend Jahren Jesus Christus geboren hatte? Sollte die katholische Kirche, der Glaube von Millionen auf einer Laune der Natur gegründet sein?

Pater Crispin ließ sich neben seinem Sessel auf die Knie fallen, stellte das leere Glas weg und senkte den Kopf, um zu beten.

Pater Crispin war tief in Gedanken, während die Ministranten ihm in der Sakristei beim Ankleiden halfen. Die Jungen glaubten, der Priester ginge in Gedanken noch einmal seine Predigt durch, während er sich schweigend zuerst die Hände wusch, dann das Humerale von ihnen entgegennahm, es küßte und sich um die Schultern legte. Er scherzte nicht mit ihnen, wie er das sonst zu tun pflegte.

Pater Crispin hatte in der vergangenen Nacht kaum geschlafen. Seine Stimmung war gedrückt. Wie sollte er mit Mary Ann McFarland umgehen? Ihre Eltern waren absolut überzeugt von diesem wissenschaftlichen Blödsinn. Und wie leicht sie zu überzeugen gewesen waren; wie schnell bereit, sich beschwichtigen und beruhigen zu lassen. Warum glaubten sie Wade und nicht Crispin? Warum waren sie so eifrig darauf bedacht, das Mädchen freizusprechen?

Pater Crispin nahm die Albe und zog sie sich über den Kopf.

Entweder das Mädchen log, oder es war geistig nicht gesund. Doch wie sollte man das herausfinden! Geistige Verwirrung konnte toleriert werden, aber bewußte Unterschlagung einer Todsünde nicht. Um Marys Seele willen mußte Pater Crispin die Wahrheit herausfinden.

Mary hob den Kopf und sah sich in der Kirche um. Sie war so voll, daß die Leute stehen mußten. Die meisten hatten sich schon ins Gebet versenkt.

Als Pater Crispin und die Ministranten aus der Sakristei kamen, stand die ganze Gemeinde auf. Er wandte sich ihnen zu und segnete sie. Alle bekreuzigten sich.

Während des ganzen Gottesdienstes versuchte Mary, sich auf das Wunder der Messe zu konzentrieren. Sie hatte früher nie darüber nachgedacht, sich nie klargemacht, daß in dieser einen Stunde Jesus Christus inmitten der Gläubigen noch einmal den ganzen Zyklus seines Lebens und Sterbens von der Fleischwerdung bis zur Himmelfahrt durchlief.

Pater Crispin hatte Mühe, sich zu konzentrieren. Immer wieder mußte er sich bewußt daran erinnern, was er tat, daß er in seinen Händen den Leib und das Blut Jesu Christi hielt. Seine Stimme hatte eine ungewöhnliche Schärfe.

»Kyrie eleison.«

Er wußte, daß seine Zerstreutheit an diesem Morgen nicht allein auf Mary Ann McFarland zurückzuführen war. Es waren die quälenden Erinnerungen, die aus den Tiefen seines Geistes aufgestiegen waren, ihm den Schlaf geraubt und ihn die ganze Nacht lang mit Bildern und Visionen aus längst vergangenen Tagen gepeinigt hatten. Im Morgengrauen war er erschöpft und voller Bitterkeit auf gestanden. Und jetzt, während er das Introitus beinahe herausschrie, um so an der Realität der Messe festzuhalten, überfiel ihn immer wieder der Gedanke, daß die große Gemeinde hinter ihm, diese Menge satter und selbstgerechter Bürger, der Grund dafür war, daß er seinen Idealismus verloren hatte.

»Credo in unum deum patrem omnipotentem, factorem ...«

Viele Jahre, viel zuviel Zeit, hatte er damit zugebracht, die Reichen zu verhätscheln, Bingo-Abende und Wohltätigkeitsbasare zu organisieren, Hans Dampf in allen Gassen zu sein.

Er wandte sich ihnen zu. »Dominus vobiscum.« Weiße Wohlstandsbürger, nicht einer unter ihnen, der einer ethnischen Minderheit angehörte. »Sanctus, sanctus, sanctus .«

Mary paßte nicht mehr auf. Ihr Blick war auf den nackten, geschundenen Leib des heiligen Sebastian gerichtet.

»Agnus Dei, qui tollis peccata mundi, miserere nobis.«

Die Glocken begannen zu läuten, und Mary schlug sich an die Brust.

»Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa .«

Es war Zeit für die Kommunion. Schweigend standen die Leute auf und bewegten sich in einem langen Zug durch den Mittelgang zum Altar. Mary schloß sich ihnen an. Sie kniete an der Kommunionbank vor den Chorschranken nieder, bekreuzigte sich und begann zu beten. Unter ihren gesenkten Lidern hervor sah sie Pater Crispin, der langsam die Reihe abschritt und in jede ausgestreckte Hand eine Hostie legte.

Als er sich in Begleitung eines Ministranten, der die goldene Patene trug, ihr näherte, neigte Mary den Kopf. Sie spürte einen leichten Luftzug, als der Pater vor der Person neben ihr stehenblieb, und hörte sein Flüstern, als er die Formel sprach. Dann spürte sie, wie die Person neben ihr aufstand.

Das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie wahrnahm, daß Pater Crispin vor ihr anhielt. Ihr Mund war wie ausgetrocknet, und sie hatte das heftige Verlangen zu schlucken, aber sie tat es nicht. Sie hielt den Kopf geneigt, die Augen geschlossen.

Pater Crispin ging, ohne ihr die Hostie gegeben zu haben, weiter zu ihrem Nachbarn.

Zornig und beschämt blieb Mary, den Kopf nach vorn geneigt, knien, und krampfte ihre Hände so fest ineinander, daß sie schmerzten. Nein! sagte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen. Nein, du läufst jetzt nicht davon.

Als Pater Crispin das Ende der Reihe erreicht hatte, drehte er sich um, um von neuem zu beginnen. Unwillig blickte er auf das Mädchen, das eigensinnig an der Schranke knien blieb. Der Ministrant, der sich seine Verwunderung und Neugier nicht anmerken lassen wollte, hielt den Blick starr auf den

Hostienteller gerichtet und stolperte prompt über sein langes Gewand. Er fiel taumelnd gegen den Priester und murmelte verlegen: »Entschuldigen Sie, Pater.«

Sie spürte wieder den Luftzug, als er an ihr vorüberging und weiter die Reihe entlangschritt bis zum anderen Ende. Aber sie blieb knien. Sie hielt die Chorschranke umklammert, als säße sie in der Achterbahn, und schluckte die aufsteigende Übelkeit hinunter.

Wieder kam Pater Crispin die Reihe entlang, gab jedem Gemeindemitglied die Hostie und seinen Segen. Seine Finger, die den Stil des Ziboriums hielten, waren blutleer. Seine Lippen waren schmal zusammengepreßt; seine Stimme schwoll ein wenig an, so daß sie beinahe über das Füßescharren hinweg zu hören war.

Wieder senkte Mary den Kopf, und sie streckte beide Hände aus, die Ellbogen eng an ihren Körper gedrückt.

Bei einem Blinzeln sah sie das Weiß von Pater Crispins Albe. Er war vor ihr stehengeblieben. Lieber Gott, hilf mir, flehte sie im stillen. Hilf mir, Gott ...

Dann die Berührung, das leichte Kitzeln, die Hostie lag in ihren Händen.

Mary warf sich nach vorn, neigte sich tief über die Schranke und schluchzte vor Glück und Erleichterung. Die tiefen Töne der Orgel umbrausten sie. Der Chor sang, und die letzten Gemeindemitglieder standen von der Kommunionbank auf und gingen davon.

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