Der Dezember war ungewöhnlich kalt. Beißende Winde fegten durch das Tal, und über den Santa-Monica-Bergen standen drohende schwarze Wolken. Ein schweres Winter ge witter schien sich zusammenzubrauen.
Es war Mittwoch abend, und bis Weihnachten nur noch eine Woche hin. Das Haus der McFarlands war schon geschmückt und bunt erleuchtet. Ted war außer Haus. Amy war beim Pfadfindertreffen, Lucille machte sich für die Weihnachtsfeier ihres Frauenvereins fertig, und Mary saß in ihrem Zimmer und packte Weihnachtspäckchen. Sie spürte eine
Bewegung in ihrem Bauch - ein Wirbeln, als drehe sich etwas in ihr und fiele abwärts -, und als sie mit den Händen nachfühlte, merkte sie, daß das Kind sich nach unten verlagert hatte. Mary legte das Band aus der Hand und spürte im selben Moment, wie ein Schwall warmer Flüssigkeit sich aus ihr ergoß.
Langsam und schwerfällig stand sie von ihrem Stuhl auf und blieb einen Moment stehen, als ein Krampf ihren Bauch durchzuckte und dann verging. Ganz ruhig ging sie zum Schlafzimmer ihrer Eltern und öffnete die Tür. Lucille zog gerade den Reißverschluß ihres Kleides zu.
»Mutter«, sagte Mary. »Ich glaube, es ist soweit.«
Lucille fragte, ohne aufzublicken: »Was meinst du?«
»Das Baby kommt.«
Lucille erstarrte mit nach rückwärts verrenkten Armen. Dann ließ sie den Reißverschluß los und drehte sich um. »Woher weißt du das?«
»Die Fruchtblase ist geplatzt, und ich hatte eben eine Wehe.«
»Aber es ist doch viel zu früh.«
»Ich weiß, aber ich kann's nicht ändern.« Sie schlang plötzlich die Arme um ihre Mitte und sagte: »Jetzt kommt wieder eine.«
»Bist du sicher? Vielleicht sind es falsche Wehen.«
Mary schüttelte den Kopf. »Dr. Wade hat mir erklärt, wie es sein würde. Und meine Hose ist ganz naß.«
»Wie hat sich die erste Wehe angefühlt?«
»Wie ein Krampf.«
»Setz dich, Mary Ann«, sagte Lucille. »Ich rufe Dr. Wade an.«
Mary ließ sich auf den Hocker vor dem Toilettentisch fallen, während ihre Mutter zum Telefon ging, das auf dem Nachttisch stand. Mary starrte ihr Bild im Toilettenspiegel an, während ihre Mutter aus ihrem kleinen Buch die Nummer heraussuchte und wählte.
Es ist zu früh, dachte Mary. Irgend etwas ist nicht in Ordnung ...
»Mary Ann?«
Sie drehte sich um. Lucille saß mit nackten Füßen und dem halb geschlossenen Kleid auf dem breiten Bett.
»Alles in Ordnung?«
»Ja, Mutter.«
»Sein Auftragsdienst sagte, er wäre im Moment nicht zu erreichen. Aber da es sich um einen Notfall handelt, werden sie sehen, ob sie ihn finden können. Wir fahren jetzt am besten gleich ins Krankenhaus, Mary Ann.«
Mary schloß die Augen und dachte, jetzt ist der Moment da, auf den wir gewartet haben. Der Grund für alles ...
»Mary Ann?« Ihre Mutter stand plötzlich neben ihr und sah sie besorgt an. »Wie fühlst du dich? Hattest du wieder eine Wehe?«
»Nein.«
»Also gut. Erst müssen wir dir einen kleinen Koffer packen und dich ins Krankenhaus bringen. Ich rufe an, damit sie wissen, daß wir kommen.« Sie ging wieder zum Telefon, während sie sprach. »Die Wehen kommen anfangs im allgemeinen in einem Abstand von zehn bis fünfzehn Minuten, und beim ersten Kind dauert es meistens eine ganze Weile, ehe es richtig losgeht. Wir haben also Zeit.«
Mary starrte immer noch das Mädchen im Spiegel an, als wäre sie eine Fremde. »Ich habe gespürt, wie sie sich umgedreht hat, Mutter. Ihr Kopf ist nicht mehr hier oben, er ist jetzt
da unten. Dr. Wade hat mir gesagt, daß das passieren würde.«
Lucille rief die Auskunft an. »Ich hätte gern die Nummer des Encino Krankenhauses.« Sie notierte sie auf einen kleinen Block. Dann wählte sie von neuem.
»Ruf nicht an, Mutter«, sagte Mary plötzlich. »Ich geh nicht ins Krankenhaus.«
Lucille wählte ruhig weiter. »Was redest du da?«
»Ich geh nicht ins Krankenhaus, Mutter. Bitte ruf nicht an.«
Lucille sah ihre Tochter einen Moment verblüfft an, dann legte sie auf.
»Ich will das Kind nicht im Krankenhaus auf die Welt bringen. Ich will nicht narkotisiert werden, während fremde Leute meine Arbeit machen. Ich will es selber tun. Ich hab's angefangen, ich will es auch zu Ende bringen.«
»Aber Mary, was soll das?«
»Ich will mein Kind hier zur Welt bringen.«
Lucille sprang auf. »Das kann nicht dein Ernst sein.«
Auch Mary stand auf. »Ich geh nicht ins Krankenhaus, und du kannst mich nicht zwingen. Jetzt kommt wieder eine -Wehe. Ist das richtig, daß sie so schnell hintereinander kommen?«
»Aber Kind, verstehst du denn nicht? Das Kind kommt zu früh! Du mußt ins Krankenhaus. Es kann alles mögliche schiefgehen. Ich ruf einen Krankenwagen -«
»Nein!«
Lucille begann zu wählen. Die Hände fest auf ihren Bauch gedrückt, ging Mary zu ihr, so schnell sie konnte, und riß ihr den Hörer aus der Hand.
»Das ist doch unmöglich!« rief Lucille entsetzt.
»Sie muß hier auf die Welt kommen. Begreifst du denn nicht, Mutter -«
»Mary Ann, hör mir zu.« Lucille nahm ihre Tochter bei den Schultern. »Du kannst das Kind nicht hier gebären. Das wäre gefährlich. Für dich und das Kind. Du brauchst einen richtigen Kreißsaal. Du brauchst einen Arzt und Narkose und die Sterilität des Krankenhauses.«
»Wieso? Jahrhunderte haben Frauen ihre Kinder ohne das alles geboren.«
»Ja, und weißt du, wie viele von den Frauen und den Kindern gestorben sind? Hör mir endlich zu, Mary Ann. Eine Geburt ist nicht so einfach. Es kann immer Komplikationen geben. Und du bist zu früh dran.« Sie schüttelte Mary. »Das heißt, daß etwas nicht in Ordnung ist.«
»Nein. Es ist einfach Zeit für sie, geboren zu werden. Mein Rücken tut mir weh. Da sitzt der ganze Schmerz. Ich möchte mich hinlegen.«
»Ich rufe einen Krankenwagen -«
»Nein.« Mary sank auf die Bettkante. »Zwischen den Wehen geht's mir ganz gut. Mutter, du kannst mich nicht zwingen, ins Krankenhaus zu gehen. Und wenn du es versuchen solltest, brülle und tobe ich die ganze Fahrt.«
»Ach, Mary Ann ...« Lucille setzte sich neben sie. »Warum denn nur? Es ist so gefährlich, Kind.«
»Weil ich es erleben möchte. Ich möchte es ganz bewußt erleben.«
Lucille strich Mary über das Haar und legte ihr dann den Arm um die Schultern. Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Mary fühlte sich geborgen und getröstet im Arm ihrer Mutter und genoß es. Sie lehnte den Kopf an Lucilles Schulter und sagte: »Ich möchte das Kind behalten.«
»Ich weiß.« Lucille beugte sich ein wenig vor und drehte den Kopf, um Mary auf die Stirn zu küssen. »Komm jetzt,
Schatz, ich bring dich ins Bett.«
Sogar mit Lucilles Hilfe fiel Mary das Gehen schwer. An der Tür mußten sie Rast machen.
»Wie weit auseinander sind sie jetzt?« fragte Lucille.
»Ich weiß nicht«, antwortete Mary keuchend. »Ungefähr fünf Minuten, denk ich.«
»Kommen sie regelmäßig?«
»Ja.«
»Und werden sie stärker?«
»Ja ...«
Sie wankten durch den Flur, Mary schwer auf ihre Mutter gestützt, und erreichten endlich Marys Zimmer. Mary ließ sich aufs Bett fallen, während ihre Mutter in der Kommode nach einem Nachthemd suchte.
»Wenn doch Dr. Wade endlich käme«, sagte Mary, als sie unter der Decke lag.
Lucille tätschelte ihr die Hand. »Mary Ann, bitte laß mich den Krankenwagen rufen.«
Mary lächelte. »Müßtest du jetzt nicht was tun, Mutter? Wasser heiß machen, Laken in Fetzen reißen oder so was?«
Lucille drängte die Tränen zurück und zwang sich zu einem Lachen. »Ich habe keine Ahnung, was ich tun müßte.«
»Ruf noch mal bei Dr. Wade an.«
»Gut.«
Aber als sie aufstehen wollte, hielt Mary ihre Hand fest. »Mutter -«
Lucille wandte sich ab. Sie konnte nicht zusehen, wie das Gesicht ihrer Tochter sich bei den Wehen verzerrte. Als die Schmerzen nachließen, sah Lucille auf ihre Uhr und sagte: »Alle vier Minuten.«
»Es geht zu schnell, nicht wahr, Mutter?« Mary war außer
Atem. »Ich - ich möchte Daddy hier haben. Er soll dabeisein.«
»Schön.« Lucille entzog Mary ihre Hand. »Ich rufe ihn an.«
Als ihre Mutter aufstand, fiel es Mary plötzlich ein, und sie sagte hastig: »Nein, warte, laß nur. Es hat ja Zeit. Er wird schon noch rechtzeitig kommen. Vielleicht ist er heute abend gar nicht im Klub -«
»Schon gut, Schatz, reg dich nicht auf. Ich mach das schon alles.«
Mary richtete sich im Bett auf und hielt den Atem an, um besser hören zu können. Aus dem Elternschlafzimmer kam das schwache Geräusch der sich drehenden Wählscheibe des Telefons. Dann konnte sie Lucilles gedämpfte Stimme hören. Sie fragte nach Ted, sprach einen Moment, legte dann auf.
Als sie wieder in Marys Zimmer trat, war ihr Gesicht grau. »Er kommt.«
Mary fiel in ihr Kissen zurück. »Ach, Mutter .«
»Ich hätte nie geglaubt, daß ich das einmal tun würde.« Als Lucille sich wieder aufs Bett setzte, sah Mary die Tränen in ihren Augen.
»Du weißt von Gloria«, flüsterte sie.
»Ich weiß es schon seit fünf Jahren.«
Mary fing an zu weinen.
»Nicht weinen, Schatz.«
»Wie konntest du das aushalten?« rief Mary schluchzend. »Warum hast du nichts dagegen getan?«
Ohne sich die Tränen vom Gesicht zu wischen, nahm Lucille Mary bei den Unterarmen und zog ihre Hände in ihren Schoß. Mit einem mühsamen Lächeln antwortete sie: »Weil ich ihn liebe und mit ihm zusammenbleiben möchte, und wenn das die einzige Möglichkeit ist, dann akzeptiere ich sie.«
Mary warf den Kopf hin und her. »Ich hasse ihn -«
»Nein, das tust du nicht. Es ist nicht allein seine Schuld. Und bitte, Mary Ann, wir sagen ihm nicht, daß ich es weiß, okay?«
»Wie willst du das denn machen?« fragte Mary. »Du hast ihn doch eben angerufen.«
»Wir sagen, du hättest gewußt, daß er heute abend nicht im Sportklub ist, sondern bei einem Klienten, du hättest zufällig den Namen gehört, und ich hätte dann im Telefonbuch nachgeschlagen. Schaffst du das, Mary Ann?«
»Er verdient es nicht.«
»Es ist nicht für ihn, Kind, es ist für mich. Versprich mir, daß du mir hilfst.«
Mary hob wieder den Kopf und sah ihre Mutter mit großen Augen an. »Es tut mir so leid«, sagte sie leise.
»Es ist schon gut. Es ist unser Geheimnis. Wir -«
»Oh!« Mary zog ihre Hände weg und drückte sie auf ihren Bauch. »Sie sind jetzt stärker«, flüsterte sie. »Wie lange noch, Mutter?«
»Ein paar Stunden, glaube ich.«
»Mutter -«
»Ja.«
»Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte abgetrieben?«
Lucille hob mit einem Ruck den Kopf. »Mary Ann! Wie kommst du denn auf den Gedanken?«
»Ich hab dich und Dad damals im Juni miteinander streiten hören. Ich hab gehört, wie du zu Daddy gesagt hast, er soll jemanden suchen, der eine Abtreibung machen -«
»Ach Gott, Mary Ann! Das war doch nicht mein Ernst. Das mußt du doch wissen.«
»Aber darum hab ich mir die Pulsadern aufgeschnitten. Weil ich Angst hatte, du und Daddy, ihr würdet mich dazu zwingen, und dann -«
»Ach Kind! Du Armes!« Lucille streichelte Mary über die Stirn. »Ich war betrunken, als ich das sagte. Was Betrunkene reden, darf man nicht ernst nehmen.«
»Mutter, ich hab solche Angst, daß dem Kind was fehlt, daß irgend was nicht normal ist. Glaubst du, daß das sein kann?«
Lucille schüttelte hastig den Kopf. »Aber nein, ganz bestimmt nicht. Paß mal auf, sie wird sicher ein niedliches kleines Mädchen.«
»Obwohl sie zu früh kommt?«
»Aber ja. Mach dir jetzt keine Sorgen, Schatz. Hör zu, ich geh jetzt mal in die Küche und setze Wasser auf. Ich weiß nicht, wozu, aber das tun sie in Büchern und in Filmen immer.«
Als Lucille aufstand, schloß Mary die Augen. Sie fühlte sich sehr leicht, fast wie berauscht, und ließ sich in diese euphorische Welt hineinsinken.
Als einige Minuten später ihre Mutter zurückkam und sich wieder zu ihr aufs Bett setzte, sagte sie mit träger Stimme: »Mutter, ich hatte eben eine Erinnerung - oder war es ein Traum? Ich weiß nicht.« Sie hielt die Augen geschlossen. »Ich bin in einem Kinderbett, und es ist dunkel im Zimmer. Von nebenan höre ich Stimmen. Ich höre eine Frau weinen. Sie schreit: >Ich will nicht sterben.< Und dann spricht ein Mann, aber ich kann nicht verstehen, was er sagt. Mutter - warst du das?«
»Du warst damals vier«, sagte Lucille leise. »Und wir wohnten noch im anderen Haus.«
»Was war denn da los?«
Lucille sah ihre Tochter an, während sie sprach. »Ich hätte nie Kinder bekommen sollen, Mary Ann. Das sagten mir die Ärzte schon, als ich dich erwartete. Du warst eine sehr schwere Geburt. Ich lag achtundvierzig Stunden lang in den Wehen, und dann mußten sie doch einen Kaiserschnitt machen. Danach hatte ich Angst. Dein Vater und ich hielten nichts von Verhütung. Wir waren dagegen. Als ich dann wieder schwanger wurde, hatte ich schreckliche Angst.«
»Und was passierte?«
»Gott hat meine Gebete erhört. Nach Amys Geburt wurde meine Gebärmutter entfernt. Das war meine Rettung.« Lucille sah ihrer Tochter in die klaren blauen Augen und wurde innerlich ruhig, während sie sprach. »Weißt du, Mary Ann, ich konnte den Geschlechtsakt nie genießen. Ich nehme an, es lag an meiner strengen Erziehung. Die Kirche hat mich gelehrt, daß es sündig ist, im Zusammensein mit einem Mann Lust zu empfinden, auch wenn man verheiratet ist, und meine Mutter sagte immer, die Schwangerschaft sei Gottes Strafe für die Lust. Für mich bedeutete Enthaltsamkeit Freiheit von Leiden. Ach, ich weiß selbst nicht recht. Ich hatte Angst vor der Sexualität. Ich liebte deinen Vater, Mary Ann, und ich glaube, ich begehrte ihn auch, aber .«
Lucille senkte den Kopf. »Als ich die Totaloperation hatte, war ich froh. Ich war unglaublich erleichtert. Nicht nur daß ich nun keine Kinder mehr bekommen konnte, sondern ich fühlte mich auch von der Pflicht des Geschlechtsverkehrs befreit. Pater Crispin erklärte uns nach meiner Operation, daß wir, dein Vater und ich, von nun an wie Bruder und Schwester zusammenleben müßten, und ich war froh darüber. Ich brauchte keine richtige Ehefrau mehr zu sein. Aber ich hatte auch Schuldgefühle, Mary Ann. Ich liebte ja deinen Vater. Ich liebte ihn sehr. Aber ich wollte nicht mit ihm schlafen. Ich denke, das ist der Grund, weshalb er sich von mir abgewandt hat. Männer haben nun einmal diese Bedürfnisse .«
Sie schnüffelte und wischte sich mit der Hand die Augen. »Ich glaube, ich sehe jetzt lieber mal nach, ob das Wasser schon kocht.«
Das Haus strahlte im warmen Glanz der Weihnachtskerzen, und der würzige Duft von Lebkuchen zog durch die Räume. Den Erker schmückte ein hoher, wunderschöner bunt behängter Christbaum, aber auf dem Kaminsims stand auch eine alte Messingmenora zur Feier des Chanukka-Festes im Haus der Familie Schwartz bereit.
Die beiden Männer saßen im Wohnzimmer und tranken Punsch, während Esther Schwartz in der Küche ein Blech mit Plätzchen nach dem anderen in den Herd schob.
»Nun mach doch nicht so ein Gesicht«, sagte Bernie aufmunternd. »Seid fröhlich, und freuet euch .«
»Tut mir leid, Bernie. Mich bedrückt das.«
»Natürlich, das verstehe ich. Aber es wird schon wieder werden. Sie macht bestimmt nur eine Phase durch.«
Jason starrte auf den Watteschnee rund um den Christbaumständer. Gestern abend hatte Cortney angerufen und ihnen mitgeteilt, daß sie Weihnachten nicht nach Hause kommen würde. Sie wollte nach San Francisco ziehen, zu Freunden, die in Haight-Ashbury lebten. Sie wolle endlich das Leben kennenlernen, hatte sie erklärt. Penny hatte gewütet und getobt. Jonas war erst wie betäubt gewesen, dann hatte ihn eine tiefe Niedergeschlagenheit erfaßt. Er wußte, daß es ihm nicht gelingen würde, Cortney zu überreden, daß sie ihre Pläne noch einmal überdenkt. Ach, wenn er nur vor zwei Jahren eingegriffen hätte! Aber nun war es zu spät; er hatte die
Anzeichen nicht erkannt.
»Du bist zu hart gegen dich selbst«, sagte Bernie. »Teenager sind unberechenbare Wesen. Da weiß man vorher nie, was ihnen plötzlich einfällt.«
»Ich habe mich ja nur für meinen Bericht interessiert.« Jonas trank einen Schluck von seinem Punsch. »Wahrscheinlich hat Penny recht. Ich hätte es ihr einfach verbieten sollen, als sie ausziehen wollte.«
»Ach, weißt du, Jonas«, begann Bernie, und da kam Esther ins Zimmer.
»Jonas«, rief sie, sich die Hände an der Schürze abwischend, »Penny ist am Telefon. Sie sagt, du hast einen Notfall.«
Er stellte sein Glas nieder und folgte ihr hinaus. Eine Minute später kam er, seinen Regenmantel schon in der Hand, wieder ins Wohnzimmer. »Es ist soweit, Bernie. Mary Ann McFarland bekommt ihr Kind.«
In der Auffahrt hielt ein Auto. Die Haustür wurde geöffnet und wieder zugeschlagen. Schwere Schritte näherten sich durch den Flur. Dann stand Ted an der Tür zu Marys Zimmer, den feuchten Regenmantel noch halb über einer Schulter.
»Daddy!«
»Hallo, Kätzchen.« Er lief zur ihr ans Bett und nahm ihre Hände. »Ist es wirklich schon soweit?«
»Ja. Ich weiß es.«
»Warum willst du nicht ins Krankenhaus? Wo ist Dr. Wade? Wo ist deine Mutter?«
»Ich bin hier, Ted.«
Er fuhr herum. Lucille stand mit einer Ladung Laken und Handtüchern im Arm an der Tür. Statt des eleganten Kleides, das sie für die Weihnachtsfeier hatte anziehen wollen, trug sie jetzt Rock und Pullover. Sie trat ins Zimmer und legte den Packen Tücher auf die Kommode.
»Wie wär's, wenn du erst mal deinen Mantel ausziehst«, sagte sie zu ihrem Mann.
»Lucille -«
Sie sah ihn nicht an. »Dr. Wade ist schon unterwegs. Er hat gerade angerufen. Er fährt noch im Krankenhaus vorbei, um seine Instrumente zu holen, dann kommt er sofort her.« Sie drängte sich an ihm vorbei ans Bett. »Würdest du mal ein bißchen zur Seite gehen, damit ich Mary Ann helfen kann?«
Er stand auf. Sein Gesicht war grau, und er wirkte unsicher. »Als du angerufen hast -«
»Ja«, sagte sie, während sie ein Handtuch ausbreitete und ihm dabei den Rücken zuwandte, »es war ein Glück, daß Mary wußte, daß du bei diesem Klienten warst. Komm, gehe mal einen Moment, damit ich Mary Ann das Handtuch unterlegen kann. - Kannst du mal kurz deinen Po heben, Schatz, damit ich das Tuch unterschieben kann?«
Mary verzog schmerzhaft das Gesicht, als erneut eine Wehe einsetzte. Sie holte tief Atem und ließ mit geschlossenen Augen die Luft langsam wieder heraus. Als sie die Augen öffnete, sagte sie leise: »Ich glaub, jetzt kommt ein Auto .«
Ted war schon auf dem Weg zur Tür, als es läutete. Er ließ Jonas Wade ein, nahm ihm den nassen Regenmantel ab und führte ihn in Marys Zimmer, wo Lucille ruhig in einem Sessel saß und ihrer Tochter die Hand hielt.
Mary strahlte. »Ich wußte, daß Sie rechtzeitig kommen würden.«
Lucille stand auf, um Jonas Wade Platz zu machen. »Es fing gegen sechs Uhr an, Doktor«, sagte sie. »Die Wehen kommen regelmäßig in einem Abstand von ungefähr vier Minuten.«
Jonas stellte seinen schwarzen Koffer auf den Sessel und legte ein grün eingepacktes Bündel daneben. Dann trat er zu Mary ans Bett. »Ich höre, du willst nicht ins Krankenhaus.«
»Auf keinen Fall.«
Er zwang sich zu einem Lächeln, aber sein Ton war ernst. »Es wäre aber besser, Mary. Auch für das Kind -«
»Nein, Dr. Wade.«
Einen Moment lang sah er sie schweigend an und spürte, wie ein Klumpen der Angst sich in seinem Magen zusammenballte. Dann sagte er: »Na schön. Dann wollen wir mal sehen.«
Lucille blieb im Zimmer, Ted zog sich mit einer Entschuldigung zurück. Jonas Wade nahm sich Zeit zu einer gründlichen Untersuchung.
»Soweit ist alles in Ordnung«, stellte er fest. Seine Stimme klang spröde. »Gute Herztöne. Der Kopf des Kindes ist in der richtigen Lage, der Muttermund ist ungefähr acht Zentimeter erweitert.« Er deckte Mary wieder zu. »Jetzt können wir nur warten.«
»Wie lange wird es dauern?«
Eine Sturmbö rüttelte am Fenster und peitschte den Regen prasselnd gegen die Scheiben. Jonas Wade schauderte unwillkürlich. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Für eine Erstgeburt scheint es ziemlich schnell zu gehen. Zwei Stunden vielleicht. Mary, laß mich dich ins Krankenhaus fahren.«
Sie schüttelte nur den Kopf.
»Kann ich Ihnen etwas anbieten, Dr. Wade? Einen Kaffee vielleicht?«
»Nein danke, Mrs. McFarland.« Er nahm das grüne Bündel vom Sessel und legte es ans Fußende des Bettes. »Ich habe einen Kollegen gebeten herzukommen. Dr. Forrest. Er ist Kinderarzt. Er bringt einen Inkubator mit. Gibt es hier einen
Platz, wo wir ihn hinstellen können? Und ich habe vom Krankenhaus aus auch gleich die Krankenschwestervermittlung angerufen und eine Pflegerin bestellt .«
Wenig später läutete wieder die Türglocke, dann klopfte es recht zaghaft an Marys Zimmertür.
»Herein«, sagte Jonas Wade.
Mary war erstaunt, als sie Pater Crispin eintreten sah. Er trug eine lange schwarze Soutane und sein Birett. Seine Wangen waren rot vor Kälte, und auf dem schwarzen Stoff der Soutane glänzten Regentropfen.
»Pater!« sagte sie. »Woher wissen Sie Bescheid?«
»Ich habe ihn angerufen«, bemerkte Jonas Wade, während er das grüne Bündel öffnete.
Marys Blick fiel auf die schwarze Tasche, die der Priester trug, und sie erschrak. Pater Crispin sah es an ihrem Gesicht und kam sofort an ihr Bett. Er kniete neben ihr nieder und sah sie mit einem freundlichen Lächeln an. »Ich bin nicht gekommen, um dir angst zu machen, mein Kind, sondern um dir Trost zu spenden.«
Ihr Gesicht lief rot an, als eine schmerzhafte Wehe einsetzte. Mit zusammengebissenen Zähnen sagte Mary: »Es wird keine letzte Ölung geben, Pater -«
»Ich bin nur gekommen, um dich zu segnen und das Kind zu taufen.«
Seine Stimme klang dünn und zaghaft. Mary sah ihm aufmerksam in die kleinen dunklen Augen und war erschreckt, als sie Angst darin erkannte. Hastig stand er wieder auf und setzte sich auf einen Stuhl bei der Tür. Während er die Tasche auf seinen Schoß hob, um sie zu öffnen, warf er einen Blick zu Jonas Wade hinüber, und flüchtig sahen sich die beiden Männer mit tiefer Besorgnis an.
Die Schmerzen der Wehe ebbten ab. Mary öffnete ihre Augen. »Es dauert nicht mehr lange, Pater Crispin. Bald werden Sie Ihre Antwort haben.«
Er zog die buschigen Brauen hoch.
»Es geht los, Dr. Wade.« Mary drückte den Kopf ins Kissen. Ihr Gesicht war weiß. Die Augen waren nur noch schmale Schlitze, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepreßt. »O Gott!« schrie sie laut.
Zwei Stunden sollte es noch dauern.
Lucille saß neben ihrer Tochter am Bett, hielt Marys Hände und wischte ihr immer wieder das Gesicht mit einem kühlen feuchten Tuch, während Jonas Wade das Vordringen des Kindes beobachtete.
Auch er schwitzte heftig und war dankbar für die beruhigende Anwesenheit der Mutter. Nie in seinem ganzen Leben hatte er sich so unzulänglich gefühlt; nie zuvor hatte er außerhalb des sicheren Raums eines Krankenhauses Geburtshilfe geleistet. Jonas Wade fühlte sich wie der letzte Mensch auf einer leeren Erde. Ein Gefühl tiefer Einsamkeit überfiel ihn, ein Gefühl des Alleinseins, in dem er sich nackt und preisgegeben vorkam. Er beneidete den Priester, der unablässig betete, um seinen Trost. Er selbst hatte keinen. Er hatte nur seine Instrumente, die Zange, die Spritze, das Skalpell. Sonst half ihm niemand. Keine Schwester, kein Anästhesist. Er mußte sich einzig auf seine Hände und sein Wissen verlassen.
Einmal, während Mary stöhnend, mit zusammengebissenen Zähnen sich in Wehenschmerzen aufbäumte, blickte er zu Lucille auf und sah die Frage in ihren Augen: Wird es ein gesundes und normales Kind werden? Wird es leben?
Und in der Ecke auf seinem Stuhl saß Pater Crispin und flehte Gott in verzweifeltem Gebet an, ihm die grauenvolle Entscheidung zu ersparen. Asperges me Domine hysopo, et mundabor; lavabis me, et super nivem dealbabor.
»Pressen, Mary! Pressen!«
Sie biß die Zähne aufeinander, die Adern an ihrem Hals schwollen zu blauen Strängen.
Jonas sah den Kopf des Ungeborenen, vom feuchten Haar bedeckt. Dann entspannte sich Mary, und das Köpfchen wich wieder zurück.
»Sie -« keuchte Mary, »sie kann es gar nicht erwarten, auf die Welt zu kommen.«
»Ja, Mary.«
»Sie will zu leben anfangen .«
Sancta Maria, Sancta Dei Genitrix, Sancta Virgo Virginum
»Okay, Mary. Presse noch einmal. Fest!«
Sie reckte den Hals, um zu ihrer Mutter hinaufzusehen. »Mutter ... das ist unser Wunder .«
Mater Christi ...
»Komm«, sagte Jonas Wade. »Komm Mary, gib es mir.«
Mater divinae gratiae ...
Ihr Gesicht verfärbte sich bläulich. Mit zusammengebissenen Zähnen stieß sie Laute aus, die wie das Knurren eines Tieres klangen.
»Noch mal!«
»Und ich behalte sie ...« schrie sie stöhnend und grub die Fingernägel in den Arm ihrer Mutter.
»Nicht reden - pressen, Mary! Fest! Mit aller Kraft!«
Die Öffnung erweiterte sich einen Moment lang, der weiche kleine Schädel stieß hervor und glitt wieder zurück.
Pater Crispin stand von seinem Stuhl auf und kniete nieder.
Seine Gebete wurden lauter. Mater purissima ...
Mary keuchte. Der Schweiß lief ihr in Strömen über den Körper. Sie warf den Kopf auf dem feuchten Kissen wild hin und her. »Ich kann nicht mehr!« schrie sie. »O Gott, hilf mir doch!«
»Mary, Mary, pressen!«
Mater castissima ...
Der kleine Kopf stieß durch. In Windeseile tastete Jonas Wade den Hals des Kindes ab, um sich zu vergewissern, daß die Nabelschnur sich nicht um ihn gewickelt hatte. Dann drehte er vorsichtig das Kind.
Mater inviolata!
Seine Stimme war heiser. Seine Hände zitterten heftig. »Noch einmal, Mary! Nur noch einmal, Mary, dann ist es da!« Und Gott gib, daß es sie nicht umbringt.
In einem Schwall dunkelroten Bluts glitt das Kind in Jonas Wades wartende Hände.