Der Wind tobte durch die Collins Street, daß die Telefonmasten wackelten. Das kleine Haus der Familie Massey war dunkel, Fenster und Türen waren fest geschlossen. In der Einfahrt stand Lucille McFarlands Chevrolet.
Die beiden Mädchen waren allein im Wohnzimmer. Nur eine dicke Kerze brannte auf dem niedrigen Tisch. Mary lag mit geschlossenen Augen auf dem Sofa und hörte Germaine zu, die ihr vorlas.
»... Das läßt mein Herz im Innern mutlos zusammenkauern.«
Das Taschenbuch lag aufgeschlagen auf ihren Knien. Sie las leise, mit singender Stimme, während Mary sich hin und wieder aufrichtete und ihre Gläser wieder mit Rotwein füllte.
»Blick ich dich ganz flüchtig nur an«, las Germaine weiter. »Die Stimme stirbt, eh sie laut wird, ja, die Zunge liegt wie gelähmt, auf einmal läuft mir Fieber unter der Haut entlang.« Sie machte eine kleine Pause, warf einen kurzen Blick auf Mary und fuhr dann in weichem Singsang zu lesen fort. »Und meine Augen weigern die Sicht, es überrauscht meine Ohren, mir bricht Schweiß aus, rinnt mir herab, es beben alle Glieder, fahler als trockne Gräser bin ich, einer Toten beinahe gleicht mein Aussehn .«
»Das ist sehr schön«, murmelte Mary. »Was ist das?«
Germaine hob den Kopf nicht, sondern ließ ihn über das Buch geneigt, so daß das herabströmende dunkle Haar ihr Gesicht verdeckte.
»Das ist ein Gedicht von Sappho.«
»Von wem?«
»Das war eine Dichterin im alten Griechenland. Sie schrieb Liebesgedichte.«
»Und wer war der glückliche Auserwählte?«
Germaine nahm ihr Glas, trank einen tiefen Schluck und antwortete dann: »Sie schrieb die Gedichte für eine Frau namens Atthis.«
Mary öffnete die Augen und sah die Freundin erstaunt an. »Ehrlich? Sie hat Liebesgedichte für eine Frau geschrieben?«
Germaine gab keine Antwort. Statt dessen klappte sie plötzlich das Buch zu und warf den Kopf zurück. Ihr Gesicht leuchtete in einem Lächeln. »Schenk mir noch was ein, Mary.«
Mary nahm die Flasche, zog den Korken heraus und goß Wein in beide Gläser. Sie war Alkohol nicht gewöhnt und fühlte sich von dem dunklen Rotwein in euphorische Stimmung versetzt.
»Also, wann wirst du jetzt geröntgt?« fragte Germaine.
»Nächste Woche.«
»Und was kann man dann sehen?«
»Vor allem das Skelett des Kindes.«
»Hast du Angst davor, Mary?«
»Nein - ich glaube nicht. Oh!« Sie drückte die Hand auf den Bauch. »Sie ist heute abend ganz schön wild. Das ist wahrscheinlich der Wein. Hier, fühl mal.« Sie nahm Germaines Hand und legte sie auf ihren Bauch. »Spürst du, wie sie strampelt?«
»Ja.« Germaine zog ihre Hand rasch wieder weg.
»Wir haben überhaupt noch keine Babysachen gekauft. Meine Eltern wollen das Kind zur Adoption freigeben, aber ich weiß noch nicht. Es muß doch möglich sein, daß ich es versorge und trotzdem zur Schule gehe.« Sie nahm Ihr Glas und trank. Es schien ihr immer wärmer zu werden. »Du könntest mir doch helfen, Germaine. Was meinst du?« Germaine blickte auf das Buch in ihren Händen. Sie schien fasziniert vom Gesicht der Frau, die auf dem Umschlag abgebildet war. »Ich hab keine Ahnung, wie man mit kleinen Kindern umgeht, Mary«, antwortete sie abwehrend. »Ich bin kein mütterlicher Typ. Ich glaube nicht, daß ich jemals Kinder haben werde.«
Mary drehte sich etwas mühsam auf die Seite, stützte die Ellbogen auf und betrachtete Germaine aufmerksam. Es gab vieles an der Freundin, worüber sie sich Gedanken machte, aber sie hatte es nie ausgesprochen. Es war, als bestünde ein stillschweigendes Einverständnis zwischen ihnen, daß gewisse Dinge unbesprochen zu bleiben hatten. Aber jetzt war sie neugierig, und der Wein hatte ihre Zurückhaltung gelockert.
»Du und Rudy, ihr schlaft oft miteinander, nicht?«
»Ja.«
»Und wie schaffst du's, daß du nicht schwanger wirst?«
Germaines Augen blitzten im Widerschein des Kerzenlichts. »Ich nehme ein Diaphragma.«
»Was ist denn das?«
»Man muß schon katholisch sein, um das nicht zu wissen. Es ist eine Form der Verhütung.«
»Oh!«
»Ja, ich weiß, daß du von Verhütung nichts hältst.«
»Es ist doch auch unnatürlich, oder? Sex ist zur Fortpflanzung da.«
»Sex soll Spaß machen, Mary, und Verhütungsmittel geben der Frau Freiheit. Warum sollen wir Frauen am Sex nicht den gleichen Spaß haben wie die Männer? Welches Gesetz schreibt uns vor, daß wir es ablehnen und ständig Angst haben müssen, schwanger zu werden?«
»Macht es dir Spaß?« fragte Mary leise.
Germaine trank erst einen Schluck Wein, dann sagte sie: »Ja.«
Mary ließ sich wieder auf den Rücken fallen und beobachtete die tanzenden Schatten an der Zimmerdecke. »Ich beneide dich. Deine Eltern sind so liberal, und du hast soviel Freiheit. Ich wette, du hast nie ein schlechtes Gewissen. Das muß herrlich sein. Ich wollte, ich wüßte, wie es ist.« Sie lachte kurz auf. »Es gibt einen Haufen Sachen, von denen ich gern wüßte, wie sie sind.«
Sie schloß die Augen und dachte an die umwerfende Entdeckung, die sie allein in ihrem Bett gemacht hatte. Sie konnte das Wunder des Orgasmus ganz allein herbeiführen und praktisch so oft sie wollte. Die Tatsache, daß sie es dem alten Pater Ignatius beichten mußte, minderte den Genuß nicht im geringsten.
Sie hätte gern gewußt, ob Germaine es auch tat; wie oft sie mit Rudy schlief; wie es war. Sie beneidete sie darum, daß sie es genießen konnte, ohne brav jeden Samstag einem Priester davon erzählen zu müssen. Mary beneidete Germaine um ihre liberale Mutter, die ihr erlaubte, Tampons zu benutzen. Lucille hatte es verboten; die Tampons würden das Jungfernhäutchen verletzen, hatte sie behauptet. Sie beneidete Germaine um ihren Rudy und die Tatsache, daß sie mit einem Mann schlafen konnte, so oft sie wollte.
Sie richtete sich wieder auf, nahm ihr Glas und trank. Germaine starrte wie hypnotisiert auf die Kerzenflamme und summte leise vor sich hin.
Nachdem Mary ihre eigene Sexualität entdeckt hatte, hatte sie angefangen, sich über die Einstellung anderer dazu Gedanken zu machen. Warum sagte ihre Mutter immer: >Kein anständiges Mädchen will das.< Warum hatten die Nonnen ihnen beigebracht, daß Sex für Frauen Pflichterfüllung sei, während der Trieb beim Mann etwas Natürliches sei.
Die Mädchen schwiegen beide, jede in ihre Gedanken vertieft. Es war ein wunderbarer Moment der Nähe und der Intimität, den beide als wohltuend empfanden.
»Mary?« sagte Germaine nach einer Weile leise.
»Ja?«
»Bist du wirklich überzeugt, daß es ein Mädchen wird?«
»Aber ja.«
»Ich habe Schwierigkeiten, an diese Theorie zu glauben.«
»Das kann ich verstehen. Aber du solltest mal hören, wenn Dr. Wade es erklärt. Dann wärst du auch überzeugt.«
Germaine warf einen verstohlenen Blick auf Marys dicken Bauch. »Ich würde gern wissen, wie es ist, wenn man ein Kind kriegt.«
»Wenn du's wirklich wissen willst, dann hör auf, dieses Ding zu nehmen, das Diaphragma, oder wie es heißt.«
Germaine senkte den Kopf. Ihr Gesicht war verdeckt, als sie gedämpft sagte: »Mary - ich muß dir was sagen.«
»Was denn?«
»Es ist ziemlich schwierig für mich.«
Mary drehte den Kopf und streckte den Arm aus, um mit den Fingerspitzen Germaines Schulter zu berühren. »Worum geht's denn?«
Germaine lachte kurz. Dann hob sie den Kopf und sah Mary direkt in die Augen. Ihr Gesicht schimmerte weiß im Kerzenlicht. »Ich wollte es dir schon lange sagen, weißt du, aber ich hab's nie fertiggebracht.«
»Germaine, du kannst mir alles sagen.«
»Ja, es ist wahrscheinlich der Wein ... Es handelt sich um Rudy, Mary.«
Mary sah die Freundin fragend an.
»Er existiert nicht«, sagte Germaine.
Mary fuhr hoch. »Was?«
»Ich hab gesagt, er existiert nicht. Es gibt keinen Rudy. Ich hab keinen Freund.«
»Das versteh ich nicht.«
»Ich hab ihn erfunden, Mary. Es gibt keinen Studenten namens Rudy, und ich habe keinen Freund, und ich schlafe auch nicht dauernd mit jemandem, wie du glaubst.«
»Aber - ich versteh dich nicht.«
»Ich hab ihn erfunden, Herrgott noch mal!«
»Warum denn?«
Germaine konnte das erstaunte Gesicht der Freundin nicht länger ertragen. Sie senkte den Blick wieder zur Kerze und trank noch einen Schluck Wein. »Zuerst waren's nur wir beide, du und ich, und das war echt gut. Dann tauchte Mike auf der Bildfläche auf, und ich hatte dich nicht mehr für mich allein. Ich weiß nicht, vielleicht war ich gekränkt oder eifersüchtig oder so was.« Sie machte eine Pause und sah flüchtig auf. »Dann wart ihr beide fest zusammen, und ich - ach, ich weiß auch nicht, vielleicht wollte ich dir nur zeigen, daß ich es auch kann -, ich mein, einen festen Freund haben.«
Germaine schwieg. Mary schwamm der Kopf vom vielen Wein. Sie sah die Freundin aufmerksam an. »Das tut mir leid«, sagte sie leise.
Germaine warf den Kopf zurück, vermied es aber immer noch, Mary anzusehen. Das ist noch nicht alles, dachte sie, während sie die Flasche nahm und sich nochmals einschenkte. Aber das andere würdest du nicht verstehen.
Germaine verstand es ja selbst nicht. Darum konnte sie es auch nicht der Freundin klarmachen. Sie hatte entdeckt, daß ihr an Jungen überhaupt nichts lag. Aber sie wünschte verzweifelt, es wäre anders. Sie wünschte, sie könnte sich endlich einmal richtig verlieben. Aber irgendwie hatte sie Angst, und die Träume, die sie in letzter Zeit gehabt hatte - oder waren es Phantasien? -, hatten sie sehr erschreckt.
Germaine schüttelte den Kopf und starrte niedergeschlagen in die kleine Flamme der Kerze. Sie wünschte sich, Mary würde sie in die Arme nehmen und sie an ihrer Schulter weinen lassen. Sie wünschte sich, sie wäre ihr wichtig und könnte ihr sagen, wie gern sie sie hatte ...
»Du hättest doch gar nichts zu erfinden brauchen«, hörte sie Mary sagen. »Mir ist es gleich, ob du einen Freund hast oder nicht.«
Du verstehst mich nicht, dachte Germaine hoffnungslos und bemühte sich, den Gedanken klar zu bekommen, dem sie schon seit Monaten nachjagte und den sie nie zu fassen bekam. Ich wollte nicht, daß du denkst, an mir wäre was komisch; daß ich vielleicht nicht so bin wie andere Mädchen ...
Aber auch jetzt ließ sich der nebelhafte Gedanke nicht greifen. Voller Angst vor sich selbst und abgestoßen von dem, was sie argwöhnte, sagte Germaine unglücklich: »In Wirklichkeit, Mary, hab ich - hab ich überhaupt noch nie irgendwas mit einem Jungen getan .«
Mary fühlte sich erhitzt und ein wenig schwindlig. Wäre sie nüchtern gewesen, so hätte sie vielleicht den Sinn hinter den Worten der Freundin erfaßt und hätte es Germaine ersparen können, etwas erklären zu müssen, was sie selbst nicht verstand. Aber Mary trank Wein und fühlte sich leicht und durchsichtig und hörte nur das, was ausgesprochen wurde.
Sie betrachtete Germaines langes schwarzes Haar, auf dem das Kerzenlicht glänzte. Sie hätte es gern berührt, die seidige Weichheit gefühlt ...
»Na ja«, sagte Germaine mit einem tiefen Seufzer, »jetzt weißt du's. Jetzt weißt du mein tiefstes finsterstes Geheimnis.«
Mary lachte ein wenig. »Ich bin froh, daß du's mir gesagt hast.«
Germaine lächelte, aber ihre Augen waren traurig. »Es ist wirklich albern, wenn wir beide Geheimnisse voreinander haben, findest du nicht? Wo wir uns doch so nah sind.« Sie sah Mary an. »Mary -«
»Hm?«
»Warum erzählst du's mir nicht? Du weißt schon.«
Mit geschlossenen Augen fragte Mary: »Wovon redest du?«
»Ach, du weißt doch. Wie war's? Ich mein, wie du's getan hast?«
Mary riß die Augen auf und hob mit einem Ruck den Kopf. »Ich versteh nicht, was du meinst?«
»Ich möchte wissen, ob's dir Spaß gemacht hat, Mary - mit einem Jungen zu schlafen.«
Eine Verzweiflung überkam Mary wie an jenem Abend, als sie die Rasierklingen ihres Vaters aus dem Badeschränkchen genommen hatte. Alle Weinseligkeit verflog. »Germaine, ich hab dir gesagt, wie ich zu der Schwangerschaft gekommen bin.«
Die Stimme der Freundin war hart. »Ja, ja, ich weiß schon. Aber mir kannst du doch die Wahrheit sagen. Lieber Gott, Jungfernzeugung! Du hast's mit Mike getan, stimmt's? Du hast es mit ihm getan. Wie war's?«
Mary krallte die Finger in das Polster und sagte mühsam beherrscht: »Germaine, ich habe dir die Wahrheit gesagt. Das
Kind hat sich ganz von selbst entwickelt. Darum wird es ja auch ein Mädchen. Ich hab dir doch alles erklärt. Und du hast gesagt, daß du mir glaubst. Ich hab nie was mit einem Jungen getan. Schon gar nicht mit Mike.«
Die Stimme der Freundin erreichte sie wie aus weiter Ferne. »Mary, sei mir nicht böse, aber ich hab dir doch auch die Wahrheit über Rudy gesagt, und die weiß sonst kein Mensch. Sogar meine Mutter glaubt, daß es ihn gibt. Du bist die einzige, die die Wahrheit weiß.« Germaine sprach hastig und atemlos. »Ich weiß, was du Dr. Wade erzählt hast, und ich bin sicher, er glaubt dir. Und dein Priester und deine Eltern - die glauben dir auch. Aber Mary, mir kannst du doch die Wahrheit sagen. Du weißt doch, daß ich's nie weitererzählen würde. Du kannst dich drauf verlassen, daß es unter uns bleiben würde. Genau wie das mit Rudy. Hey, Mary!« Germaine faßte Mary beim Arm. »Komm, sei ehrlich. Du hast's mit Mike getan.«
Schreckliche Enttäuschung stieg in Mary auf. »O Gott«, stieß sie hervor.
»Mary!«
Sie schüttelte Germaines Hand ab und setzte sich auf, schwang die Beine vom Sofa und stand auf.
»Mary, warte doch! Es tut mir leid. Ich wollte nicht -«
Aber sie ließ sich nicht aufhalten. Sie rannte durch den dunklen Flur zur Haustür und hinaus ins Freie.
Sie hatte nur einen Wunsch - mit ihrem Vater zu sprechen, ihm alles zu erzählen, sich von ihm trösten zu lassen. Aber sie konnte nicht warten, bis er nach Hause kam; sie mußte sofort zu ihm. Und es war Mittwoch.
Sie wußte, wo sie ihn finden konnte.
Mary stellte den Wagen auf dem Parkplatz des Fitneßklubs ab und ging ohne Zögern in das Gebäude, um ihren Vater herausholen zu lassen. Sie war überzeugt, er würde auf der Stelle alles stehen und liegen lassen, sich anziehen und zu ihr kommen.
Mit dem, was sie von dem Mann am Empfang zu hören bekam, hatte sie überhaupt nicht gerechnet.
»Mr. McFarland war nicht mehr hier, seit seine Mitgliedschaft abgelaufen ist. Das muß jetzt so zwei, drei Jahre her sein.«
Sie war wie vor den Kopf geschlagen. »Sind Sie sicher?«
»Vollkommen, Miss.«
»Wissen Sie vielleicht, ob er in ein anderes Fitneßstudio geht?«
»Keine Ahnung, leider.«
Fünf Minuten später saß sie wieder im Wagen. Ziellos fuhr sie durch die Straßen. Die Neonlichter auf dem Ventura Boulevard und den nächtlichen Verkehr um sich herum nahm sie nur am Rande wahr. Ihre Gedanken wanderten, während sie mechanisch wie ein Roboter das Auto lenkte, vor roten Ampeln auf die Bremse trat, ordnungsgemäß den Blinker setzte, wenn sie um eine Ecke bog. Sie hatte kein Ziel, sie wollte nur fahren.
In einem Zickzackmuster fuhr sie durch die Straßen von Tarzana, diese hinauf, die nächste hinunter, bis sie schließlich die holprige, ungeteerte Etiwanda Avenue erreichte. Nach der öffentlichen Bibliothek war sie rechts abgebogen und folgte nun der dunklen, ländlichen Straße, die auf einer Seite von einem breiten bemoosten Graben begrenzt wurde. Viele Straßen im San Fernando Tal waren noch ungeteert; das Rumpeln des Wagens durch Schlaglöcher vermochte nicht, sie aus ihrer
Betäubung zu wecken.
Bis sie den grünen Lincoln Continental sah. Da trat sie viel zu hart auf die Bremse und hielt den Wagen vor dem nächsten Haus an. Sie stellte den Motor ab und drehte sich mühsam nach rückwärts um.
Der Wagen ihres Vaters stand in der Einfahrt eines bescheidenen kleinen Hauses, das sie an das von Germaine erinnerte, unter einer ausladenden Sykomore. Sie starrte das Auto an und fragte sich verwundert, was ihr Vater hier zu tun hatte.
Es kam hin und wieder vor, daß er abends einen seiner Klienten zu Hause aufsuchte. Vielleicht war dies so ein Fall.
Aber ... Mary kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. Was hatte der Muskelmann im Fitneßklub gesagt? Ihr Vater kam schon seit zwei, drei Jahren nicht mehr zum Training.
Wo war er aber dann jeden Mittwochabend?
Mary musterte aufmerksam das kleine Haus, den verblichenen Anstrich der Mauer und der Türen und Fenster. Der Rasen des kleinen Vorgartens war gelb und dürr. Hinter den Fenstern, deren Vorhänge zugezogen waren, schimmerte blasses Licht. Es war ein altes Haus, aber es war sauber und gut instandgehalten.
Auf dem Briefkasten stand ein Name, schwarze Klebebuchstaben, die phosphoreszierten: Renfro.
Einen Moment noch blieb Mary nachdenklich sitzen, dann ließ sie den Motor an und fuhr weg.
Ihre Mutter und Amy schliefen längst, als sie seinen Wagen in der Auffahrt hörte. Mary saß im Wohnzimmer unter der Stehlampe. Seit zwei Stunden saß sie schon dort, reglos wartend.
Gleich nach ihrer Heimkehr hatte sie sich das Telefonbuch geholt. Es gab nur einen Renfro, und der war in der Lindley Avenue. Aber darunter hatte sie >Renfrow, G. 5531 Etiwanda Av.< entdeckt. Ohne zu überlegen, wählte Mary die angegebene Nummer. Eine Frauenstimme meldete sich.
»Entschuldigen Sie, ich hätte gern Mr. Renfrow gesprochen.«
»Tut mir leid«, sagte die Frau. »Hier gibt es keinen Mr. Renfrow.«
Mary hatte ruhig und erwachsen gesprochen. »Kann ich dann bitte mit Miss G. Renfrow sprechen?«
»Hier spricht Gloria Renfrow. Wer ist denn am Apparat?«
»Ich - äh - es handelt sich um Zeitschriftenabonnements. Ich wollte fragen -«
»Tut mir leid. Ich brauche keine Zeitschriften.« Damit hatte die Frau aufgelegt.
Nach diesem wenig ergiebigen Gespräch war Mary ins Wohnzimmer gegangen und hatte sich hingesetzt, um zu warten. Worauf, wußte sie selbst nicht.
»Hallo«, sagte Ted gedämpft, als er ins Wohnzimmer trat. »Wieso bist du so spät noch auf, Kätzchen?«
»Ich hab auf dich gewartet, Daddy.« Sie hob den Blick nicht.
»Du hast auf mich gewartet?« Er kam näher und setzte sich ihr gegenüber aufs Sofa. Mary sah, wie er die Tasche, in der seine Sportsachen waren, neben sich auf den Boden stellte. »Was ist denn, Mary? Geht es dir nicht gut?«
Mary war selbst erstaunt, daß sie es fertigbrachte, ihm direkt in die Augen zu sehen. »Nein«, antwortete sie leise, »es geht mir nicht gut. Ich bin schrecklich deprimiert und wollte mit dir reden.«
»Worum geht's denn?«
»Ich bin so enttäuscht über Germaine. Sie hat die ganze Zeit geglaubt, daß ich lüge. Ich dachte, sie wäre die einzige, auf die ich mich wirklich verlassen kann, aber heute abend hab ich gemerkt, daß ich mich getäuscht habe.«
»Ach, Kätzchen, das tut mir leid.«
»Ja. Eigentlich kann man sich auf keinen Menschen mehr verlassen.«
»Ach was!« Er neigte sich zu ihr und klopfte ihr leicht aufs Knie. »Möchtest du auch noch einen Kakao?«
Sie sah ihn mit klaren Augen an. »Daddy -«
»Ja?«
»Ich wollte heute abend nach der Sache mit Germaine mit dir reden. Ich bin zum Fitneßklub gefahren.«
Er ließ die Hand einen Moment auf ihrem Knie liegen, dann zog er sie zurück.
»Der Mann dort hat gesagt, du seist schon seit Jahren nicht mehr dort gewesen.«
Ted holte einmal tief Atem. »Das stimmt.«
»Ich war so durcheinander«, fuhr sie fort, »und da bin ich einfach rumgefahren. Ich war in der Etiwanda Avenue -«
»Ach Gott«, flüsterte er.
»Es war nur Zufall. Ich hab dich nicht gesucht. Ich war so deprimiert und hatte niemanden, mit dem ich reden konnte, und da bin ich einfach rumgefahren. Daddy, wer ist Gloria Renfrow?«
Er ließ sich in die Sofapolster fallen und neigte den Kopf nach rückwärts. »Was soll ich dir sagen, Kätzchen?« fragte er, den Blick zur Decke gerichtet.
»Sag mir, daß sie eine Klientin ist, Daddy, und daß du nur heute abend ausnahmsweise dort warst. Daß du sonst jeden Mittwoch zum Sport gehst, nur eben in einen anderen Klub, und daß du vergessen hast, uns das zu sagen. Sag's mir, Daddy, dann glaube ich es.«
Er hob langsam den Kopf in die Höhe und sah Mary tieftraurig an. »Ich werde dich nicht belügen, Kätzchen. Dazu achte ich dich zu sehr.«
»Daddy, bitte!« Die Tränen schossen ihr in die Augen. »Bitte sag, daß sie nur eine Klientin ist.«
»Aber du weißt doch schon, daß das nicht stimmt«, entgeg-nete er.
»Wie konntest du, Daddy?« Die Tränen rannen ihr über das Gesicht.
»Mary, können wir ruhig miteinander sprechen?« fragte er leise.
»Was gibt's denn da noch zu sprechen?«
»Du willst nicht mit mir reden?«
»Daddy, wie konntest du Mutter das antun?«
»Was genau«, sagte er müde, »tue ich deiner Mutter denn an?« Er fühlte sich plötzlich sehr alt.
»Es ist gemein, Daddy. Und so schmutzig. Von dir hätte ich so was nie erwartet.«
»Von mir?« Er lachte kurz auf. »Wofür hältst du mich denn, Mary? Für den heiligen Franz von Assisi? Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, Mary.«
»Aber warum, Daddy? Warum tust du so was?«
»Warum?« Er breitete hilflos die Hände aus und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das kann ich dir nicht erklären. Ich glaube, ich weiß es selbst nicht.«
»Was ist das für eine Frau?«
»Eine Freundin.«
»Kennst du sie schon lange?«
»Seit fast sieben Jahren.«
Mary starrte ihren Vater mit aufgerissenen Augen an. »Du
gehst seit sieben Jahren zu ihr?«
Er nickte.
»Daddy!« Sie drückte beide Hände auf den Mund.
Er streckte die Arme nach ihr aus, aber sie war schon aufgesprungen.
»Mir ist schlecht«, keuchte sie. »Ich muß mich übergeben!«
»Mary -« Ted sprang ebenfalls auf. »Mary, bitte, verachte mich nicht.«
Aber sie war schon hinausgelaufen.
Sie behauptete, sie müsse unbedingt in die Bibliothek, darum lieh ihr Lucille ihren Wagen.
Mary wußte nicht, warum, aber es war ihr ungeheuer wichtig, gut auszusehen. Sie zog ihr hübschestes Umstandskleid an und bürstete ihr Haar, bis es glänzte. Sie hätte nicht sagen können, warum sie diese Frau aufsuchen mußte; sie wußte nur, daß sie irgend etwas unternehmen mußte. Sie und ihr Vater hatten seit zwei Tagen kein Wort mehr miteinander gewechselt. Sie konnte nichts essen, sie fühlte sich einsam und im Stich gelassen. Es war Zeit, daß sie etwas unternahm.
Eine ganze Weile blieb sie im Wagen sitzen und betrachtete das häßliche kleine Haus, während sie sich vorzustellen versuchte, wie er sieben Jahre lang jeden Mittwoch hierher gekommen war. Sie wünschte, es wäre ein Palast gewesen, damit sie ihren Vater hätte besser verstehen können.
Dann stieg sie doch aus dem Wagen, ging am Briefkasten vorbei, stieg die kurze Treppe zur Haustür hinauf und läutete.