VII Der spanische Lugger

Herrick schob sich ein wenig um den Besan, um im Schatten zu bleiben, den der dicke Mast warf. Wegen des gleißenden Lichtes kniff er ständig die Augen zusammen, und seine Zunge fuhr unaufhörlich über die ausgetrockneten Lippen, während sich die Vormittagswache langsam dem Ende zuschleppte. Die Segel hingen schlaff und leblos, denn nicht die leiseste Brise bewegte die spiegelglatte, leere Weite des Meeres, auf der die Fregatte regungslos in der Flaute lag.

Er zog an seinem verklebten Hemd. Die Nutzlosigkeit der Bewegung reizte ihn. Es war schweißdurchtränkt, doch sein Körper schien nur eins zu verlangen: Feuchtigkeit. Die Decksnähte griffen klebrig nach seinen Schuhen, und als er die Hand unabsichtlich auf einen der Neunpfünder legte, hätte er vor Schmerz beinahe aufgeschrien. Das Rohr war so heiß, als hätte die Kanone pausenlos gefeuert. Bei dem Gedanken verzog er die Lippen. Es hatte keine Feindberührung gegeben, noch würde es unter diesen unmöglichen Bedingungen dazu kommen.

Von Antigua war die Phalarope direkt zu der ihr zugewiesenen Position gesegelt. Bis auf eine andere Patrouille laufende Fregatte und den massigen Rumpf der Cassius hatte man kein anderes Schiff gesichtet.

Und jetzt, wie um allem die Krone aufzusetzen, lag die Phalarope in einer Flaute. Seit vierundzwanzig Stunden trieb sie ziellos über ihrem Spiegelbild, von trägen Strömungen hierhin und dorthin getrieben. Die Männer im Ausguck, die hoffnungsvoll nach einem Windstoß Ausschau hielten, waren matt und müde.

Sieben lange Tage, seit sie Antigua überstürzt verlassen hatten, sieben Tage des Wartens und der Beobachtung des glatten Horizonts.

Herrick blickte nach vorn. Die Männer der Freiwache lagen wie Tote im dunklen Schatten des Schanzkleides. Die halbnackten Leiber waren gebräunt. Mehrere Matrosen, an die gnadenlos glühende Sonne nicht gewöhnt, hatten böse Verbrennungen erlitten.

Fähnrich Maynard lehnte an den Netzen. Sein rundes Gesicht war ausdruckslos. Inaktivität und Hitze hatten ihn ebenfalls zermürbt.

Es war schwer zu glauben, daß außerhalb ihrer eigenen Welt noch etwas existierte. St. Kitts lag etwa fünfzig Meilen südöstlich, und die Anegada Passage, die die Jungferninseln von den umstrittenen Inseln trennte, lag in dem sengenden Glast jenseits des bewegungslosen Bugspriets.

Von Hoods Anstrengungen, St. Kitts zu halten, hatten sie nichts weiter gehört, und nach allem, was Herrick wußte, konnte der Krieg ebensogut schon zu Ende sein. Als das Flaggschiff ihnen begegnete, hatte Bolitho durch ein Signal die neuesten Nachrichten erbeten, aber die Antwort war unbefriedigend gewesen, um es gelinde auszudrücken. Die Phalarope hatte gerade Geschützübungen angesetzt, bei denen mehrere alte und nutzlose Fässer als Ziel dienten. Bolitho hatte das Übungsschießen angeordnet, um die Eintönigkeit zu unterbrechen, nicht weil er hoffte, durch solche Methoden die Treffsicherheit zu erhöhen.

Die Cassius hatte ein Signal gesetzt. Maynard meldete, daß der Admiral sofortige Feuereinstellung forderte.»Pulver und Kugeln sparen!«hatte das Signal kurz befohlen.

Bolitho hatte sich jeder Bemerkung enthalten. Herrick kannte seinen Kapitän jedoch jetzt gut genug, um den Ärger zu begreifen, der in Bolithos grauen Augen aufflackerte. Alles erweckte den Eindruck, als hätte der Admiral vorsätzlich diesen Kurs gesteuert, um die Phalarope zu isolieren, so wie der Arzt einen Aussätzigen von seinen Mitmenschen absondert.

Herrick riß sich aus seinen Gedanken, als Bolithos Kopf und Schultern im Kajütniedergang auftauchten. Wie die anderen Offiziere trug er nur Hemd und weiße Kniehose. Das dunkle Haar klebte ihm schweißnaß auf der Stirn. Er wirkte gereizt. Herrick spürte geradezu seine Ruhelosigkeit.

«Noch immer kein Wind, Sir.»

Bolitho warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Dann nahm er sich zusammen.»Danke, Mr. Herrick. Ich sehe es. «Er trat an den Kompaß. Sein Blick streifte die beiden Rudergänger. Schließlich ging er zur Steuerbordreling. Herrick sah ihn zusammenfahren, als die Sonne mit der Hitze eines Schmelzofens seine Schultern traf.

«Und wie fühlen sich die Männer?»

«Nicht sehr wohl, Sir«, erwiderte Herrick vage.»Auch ohne gekürzte Wasserration ist es schlimm genug hier draußen.»

«Stimmt. «Bolitho nickte, ohne sich umzudrehen.»Aber die Rationierung ist notwendig. Weiß Gott, wie lange uns die Flaute festnagelt.»

Bolithos Hand glitt über die Narbe unter der rebellischen Haarsträhne. Herrick hatte diese unbewußte Bewegung schon mehrmals bemerkt, gewöhnlich, wenn Bolitho völlig in Gedanken verloren schien. Herrick hatte Stockdale wegen der Narbe gefragt und erfahren, daß Bolitho verwundet wurde, als er — damals noch Leutnant — mit einem Häuflein Matrosen an Land geschickt worden war, um auf einer Insel die Wasserfässer zu füllen.

Weder der Kapitän noch sonst jemand hatte gewußt, daß die Insel bewohnt war. Die Barkasse war kaum gelandet, als brüllende Eingeborene die Abteilung aus dem Hinterhalt überfielen. Einer entriß einem sterbenden Matrosen das Entermesser und griff Bolitho an, der seine zahlenmäßig unterlegenen Männer um sich zu scharen versuchte. In seiner holprigen Sprechweise beschrieb Stockdale die Szene, bei der die Hälfte der Matrosen niedergemacht wurde, während die anderen sich verzweifelt auf dem Wasser in Sicherheit zu bringen versuchten. Bolitho, zu Boden gestürzt, wurde von seinen Leuten getrennt. Aus der Wunde, die das Entermesser gerissen hatte, strömte Blut. Ein Wunder, daß ihn der Hieb nicht getötet hatte. Die Matrosen wollten ihren Offizier, den sie sowieso für tot hielten, liegen lassen. Aber in letzter Minute sammelten sie sich doch noch. Andere Boote eilten ihnen zu Hilfe und brachten Bolitho in Sicherheit.

Herrick ahnte, daß noch eine Menge mehr dahintersteckte. Und er vermutete, daß Stockdale die Panik eingedämmt und den Mann gerettet hatte, dem er nun wie ein treuer Hund diente.

Bolitho blickte zum Bugspriet.»Der Dunst erinnert ein wenig an den Nebel im Kanal.»

Herricks trockene Lippen knisterten, als er kläglich lächelte.»Ich hätte nie gedacht, daß ich die Kanalflotte vermissen würde, Sir. Doch nun würde ich gern wieder den Wind hören und das kalte Spritzwasser spüren.»

«Kann sein«, sagte Bolitho gedankenverloren.»Aber ich habe so ein Gefühl, daß wir bald Wind bekommen.»

Herrick sah ihn verdutzt an. Das ist kein leeres Hoffnungsgeschwätz, sondern gehört zum Bild dieses Mannes, zu seiner gelassenen Zuversicht, dachte er.

Schritte näherten sich, und Vibart sagte rauh:»Auf ein Wort, Kapitän.»

«Worum geht es?»

«Um Ihren Schreiber Mathias, Sir. Er ist im Laderaum verunglückt, Sir.«»Schwer?»

Vibart nickte.»Ich glaube, er wird den Tag nicht überleben. «In seiner Stimme klang kein Mitleid mit.

Bolitho biß sich auf die Lippen.»Ich hatte ihn hinuntergeschickt, um einige Vorräte zu prüfen. «Er schaute bekümmert hoch.»Sind Sie sicher, daß ihm nicht geholfen werden kann?»

«Der Arzt verneint es. «Es klang gleichgültig.»Er hat sich nicht nur die Rippen gebrochen, sondern auch den Schädel aufgeschlagen.

Ein Spalt, in den ein Marlspieker passen würde.»

«Ach so. «Bolitho blickte auf die Reling.»Ich kannte den Mann kaum, aber er hat schwer gearbeitet und sich bemüht, sein

Bestes zu geben. «Er schüttelte den Kopf.»Im Kampf zu fallen, ist eins, aber so… »

Herrick sagte schnell:»Ich werde sofort einen anderen Schreiber abkommandieren, Sir. Ich denke an Ferguson, einer von den in Falmouth gepreßten Leuten. Er kann lesen und schreiben und ist an solche Arbeit eher gewöhnt. «Herrick entsann sich an Fergusons ve rzweifeltes Gesicht, als sie Antigua verließen. Er hatte ihm versprochen, für ihn einen Brief an seine Frau zu besorgen. Wenn Ferguson der schweren Matrosenpflichten ledig wurde und der harten Aufsicht der Maate entkam, glich das die Unterlassung vielleicht irgendwie aus.

Bolitho sah ernst aus. Herrick fragte sich, wie der Kapitän die Kraft fand, sich über einen Matrosen Gedanken zu machen, wenn ihm selber eine so schwere Bürde der Verantwortung auf den Schultern lag.

«Gut. Kommandieren Sie Ferguson ab und klären Sie ihn über seine Pflichten auf.»

«An Deck!«erscholl es vom Großtoppausguck.»Bö an Steuerbord voraus!»

Herrick rannte an die Reling und beschattete die Augen. Ungläubig sah er, wie das leichte Gekräusel auf das stilliegende Schiff zulief und hörte, wie sich die Takelage rührte, als die Segel sich langsam füllten.

Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken.»Was soll das Starren? Bringen Sie die Männer in Trab, Mr. Herrick, damit das Schiff Fahrt aufnimmt.»

Herrick nickte. Er hatte die Erregung hinter Bolithos Ausbruch wahrgenommen. Als die Segel knatternd zu ziehen begannen, zeigte Bolithos Gesicht eine fast jungenhafte Freude.

Viel Kraft hatte der Wind nicht, aber er reichte aus, die Phalarope in Fahrt zu bringen. Das Wasser gurgelte um das Ruder, und als die Brassen in den Blöcken quietschten, schwangen die Rahen herum, um auch noch das letzte bißchen Wind einzufangen, voller Gier nach dem Leben, das er ihnen schenkte.

«Gehen Sie auf Nordnordwest, Mr. Herrick«, sagte Bolitho schließlich.»Diesen Kurs werden wir bis Sonnenuntergang beibehalten.»

«Aye, aye, Sir.»

Bolitho trat an die Heckreling und schaute auf das schwache

Kielwasser. Man sieht ihm seine Besorgnis nicht an, überlegte Herrick. Der Wind war zwar erfreulich, aber nichts im Vergleich zu der endlosen, sinnlosen Patrouille, doch Bolitho verhielt sich zumindest nach außen hin, als wäre alles normal.

Nochmals bewies der Ausguck, daß man vor keiner Überraschung sicher war.

«An Deck! Segel an Steuerbord!»

Herrick hob das Fernrohr, aber Bolitho sagte kurz:»Von hier aus werden Sie nichts sehen. Der Dunst versperrt den Blick nach Norden. »

Vibart knurrte:»Mr. Neale, nach oben!»

«Lassen Sie. «Es klang gefährlich ruhig.»Sie gehen, Mr. Herrick. Jetzt brauche ich ein erfahrenes Auge.»

Herrick rannte zu den Wanten des Großmastes und begann hinaufzuklettern. Er merkte schnell, daß seine Kondition zu wünschen übrig ließ. Als er die obere Saling erreichte, schlug sein Herz wie eine Trommel. Der bärtige Ausguck machte ihm Platz und deutete mit teerverschmierter Hand in die Richtung.

«Dort, Sir. Kann es jetzt nicht erkennen.»

Herrick ignorierte es, daß die Fregatte unter ihm wie ein Spielzeug schwang, und zog sein Fernglas auseinander. Zuerst sah er nur das helle Licht auf dem niedrig liegenden Dunst und darunter die Millionen glitzernder Reflexe auf dem Meer. Dann entdeckte er das Segel und war enttäuscht. Der Rumpf war noch vom Dunst verhüllt, doch der sonderbaren Form des Segels nach vermutete er ein kleines Schiff, wahrscheinlich einen Küstenlugger. Nichts wert als Prise, kaum wert zu versenken, entschied er verärgert. Er gab seine Meldung an Deck.

Bolitho schaute zu ihm hinauf.»Ein Lugger, sagen Sie?«Es klang interessiert.»Behalten Sie ihn im Auge.»

«Er hat uns noch nicht gesehen. «Der Ausguck blickte mit zusammengekniffenen Augen auf das ferne Segel.»Schätze, wir sind über ihm, ehe er uns entdeckt.»

Herrick nickte und blickte hinab, als Vibart rief:»Pfeifen Sie alle Mann. Klar zum Halsen.»

Bolitho wollte das Schiff also aufbringen. Herrick beobachtete von oben die plötzliche Aktivität auf den Decks. Seit seinen Fähnrichstagen hatte er einen solchen Anblick nicht mehr erlebt: die scheinbar ziellos hastenden Gestalten, die aus den Zwischendecks quollen und sich dann wie durch Zauber je nach Aufgabe und Zweck zu erkennbaren Mustern ordneten. Er sah die Maate die Wachlisten prüfen, während sie Namen und Befehle herausbellten. Da und dort standen die Offiziere und Unteroffiziere wie kleine isolierte Inseln inmitten der wogenden Flut der Matrosen.

Die Rahen kamen herum, und die Segel schlugen empört, als die Fregatte ihren Kurs um zwei Strich nach Steuerbord änderte. Herrick spürte, wie der Mast zitterte, und gab sich alle Mühe, nicht daran zu denken, wie lange es dauern mochte, bis man unten aufschlug.

Die Brise, die der Phalarope zugute gekommen war, erreichte jetzt auch das fremde Segel. Und wie der Wind den Dunst mitnahm, so gewann auch der Lugger an Fahrt. Ein zweites bräunliches Segel kletterte den kurzen, dicken Großmast hinauf. Der Ausguck kaute auf einem Stück Tabak und sagte ruhig:»Ein Spanier. Die Takelage kenne ich.»

Bolithos Ruf schnitt Herricks Spekulationen ab.»Kommen Sie an Deck, Mr. Herrick. Schnell!»

Herrick langte keuchend und schwitzend unten an. Bolitho wartete bereits auf ihn. Er wirkte äußerst konzentriert.

«Der Lugger ist uns gegenüber im Vorteil, Mr. Herrick. Er kann diese leichte Brise besser nutzen als wir. «Er deutete ungeduldig auf die Back.»Machen Sie die beiden Geschütze klar, und feuern Sie ihm eins vor den Bug.»

«Aye, aye, Sir. «Herrick kam langsam wieder zu Atem.»Eine Kugel würde reichen, um ihn zu zerschmettern.»

In Bolithos grauen Augen blitzte etwas wie Belustigung auf.»Er kann die wertvollste Ladung aller Zeiten an Bord haben, Mr. Herrick. »

Herrick starrte den Kapitän verständnislos an.»Sir?»

Bolitho hatte sich bereits abgewandt, um zu verfolgen, wie die Geschützbedienung nach vorn zu den zwei langen Neunpfündern eilte. »Informationen, Mr. Herrick! Mangel an Informationen kann hier draußen einen verlorenen Krieg bedeuten.»

Ein Schuß genügte. Das von der Kugel hochgeschleuderte Wasser sprühte dem fremden Schiff über den Bug. Erst sank das eine, dann das andere Segel. Traurig dümpelnd, wartete der Lugger ab, was die Phalarope mit ihm vorhatte.

Nach der Gluthitze auf dem Achterdeck kam Bolitho die große Kajüte beinahe kalt vor. Er mußte sich zwingen, still an den Heckfenstern zu stehen, um seine rasenden Gedanken in Zaum zu halten und den nächsten Schritt zu planen. Nur mit Mühe gelang es ihm, sich gegen die gedämpften Schiffsgeräusche und entfernten Rufe abzuschließen, als ein Boot zu Wasser gelassen wurde, um eine Abteilung an Bord des Luggers zu bringen, der in Lee der Fregatte rollte. Bolitho war nichts anderes übrig geblieben, als äußerlich gelassen zu beobachten, wie seine Befehle weitergegeben und ausgeführt wurden, bis er am Ende den prüfenden Blicken seiner Offiziere und den summenden Spekulationen der Müßiggänger auf dem Oberdeck einfach nicht länger standhalten konnte.

Daß seine beiläufige Vermutung, was die Brise anging, Wirklichkeit geworden war, war ihm selbst wie ein Wunder vorgekommen. Und als der Lugger vom Ausguck gemeldet wurde, hatte er das Gefühl gehabt, als brodelten seine lange eingekapselten Empfindungen wild durcheinander. Doch die kleinlichen Gereiztheiten hatte er beiseite geschoben, ja selbst die Haltung des Admirals der Phalarope gegenüber konnte er übersehen, ja sogar vergessen.

Er schnellte überrascht herum, als es klopfte.»Herein!«Er starrte den blassen Matrosen, der unsicher in der Tür stand, einige Sekunden an, zwang sich, nicht an den Lugger zu denken, und deutete mit einer Kopfbewegung auf den Tisch am Schott.»Ferguson? Sie werden dort arbeiten, wenn ich Sie brauche«, sagte er bündig; seine Gedanken folgten noch immer dem Enterkommando.

Ferguson blickte sich blinzelnd um.»Ja, Sir. Ich meine — aye, aye, Sir. «Er war verwirrt und nervös.

Bolitho musterte ihn freundlich.»Ihre Pflichten erläutere ich Ihnen später. Im Augenblick bin ich sehr beschäftigt. «Er blickte zur Tür, wo der kleine Neale keuchend auftauchte.

«Kapitän, Sir!«Er rang nach Luft.»Mr. Okes hat den Lugger genommen!»

«Das dürfte zu erwarten gewesen sein«, sagte Bolitho trocken.»Sein Kapitän sieht sich schließlich einer vollen Breitseite ausgesetzt.»

Neale überdachte den Punkt.»Hm, ja, Sir. «Er starrte Bolitho in das gelassene Gesicht und fragte sich augenscheinlich, wie der Kapitän das Oberdeck verlassen konnte, wenn endlich etwas geschah. Dann sagte er:»Das Boot kommt zurück, Sir.»

«Das war es, was ich hören wollte, Mr. Neale. «Bolitho sah durch die Heckfenster über die leere See, deren Oberfläche eine schwache, doch stetige Brise kräuselte.»Eine Empfehlung an Hauptmann Rennie. Sobald das Boot längsseits ist, soll er die Offiziere des Luggers isoliert halten, bis ich sie befragen kann. Mr. Okes soll die Durchsuchung des Luggers fortsetzen und melden, wenn er etwas findet.»

«Die Offiziere des Luggers, Sir?«Neales Augen glichen Untertassen.

«Sie stecken vielleicht in Lumpen, aber deshalb bleiben sie doch Offiziere. «Bolitho betrachtete den Fähnrich ruhig.»Und begehen Sie keinen Irrtum. Diese Leute kennen die Gewässer hier wie ihre eigene Tasche.»

Der Fähnrich nickte und schoß davon. Bolitho ging ruhelos auf und ab. Dann blieb er vor seinem Tisch stehen, auf dem eine Karte des Karibischen Meeres lag. Die komplexe Masse der Inseln und ausgeloteten Wassertiefen, die vagen Vermessungen und zweifelhaften Beschreibungen glichen einem riesigen Rätsel. Er zog die Stirn in Falten und faßte sich ans Kinn. Irgendwo inmitten dieses Gewirrs verstreuter Inseln lag der Schlüssel zum ganzen Feldzug. Wer ihn fand, würde siegen. Der Verlierer würde für immer aus dem karibischen Gebiet verdrängt werden.

Mit den Spitzen seines Stechzirkels folgte er dem Kurs der Phalarope bis zu einem kleinen Bleistiftkreuz. Hier, auf dieser Position, nutzte er nichts. Das fünfzig Meilen entfernte St. Kitts mochte noch immer der Belagerung standhalten, während jenseits des Horizonts Graf de Grasses große Flotte sich womöglich zum endgültigen Schlag gegen die verstreuten britischen Einheiten vorbereitete. Und waren die Briten erst einmal von diesen Inseln vertrieben, würden die Franzosen und ihre Verbündeten Südamerika aufrollen wie eine Landkarte. Sie würden den Nord- und Südatlantik beherrschen und nach den reichen Schätzen Afrikas greifen, ja darüber hinaus.

Er verdrängte die Vorstellung, denn er hörte das Trampeln von Stiefeln und das Aufsetzen von Gewehren.

Vibart erschien im Türrahmen.»Die Gefangenen sind an Bord, Sir. «Er sah Ferguson durchdringend an, der sich neben dem Tisch zu einem Ball zusammenzurollen schien.»Es stimmt, ein Spanier. Zwanzig Mann an Bord, kein Widerstand. Ich habe den Kapitän und zwei Maate draußen unter Bewachung, Sir.»

«Gut. «Bolitho blickte auf die Karte.»Zwanzig Mann, sagen Sie? Eine starke Mannschaft für ein so kleines Fahrzeug. Gewöhnlich bemannen die Spanier ihre Schiffe sparsamer.»

Vibart zuckte mit den Schultern.»Mr. Farquhar sagt, der Lugger wäre im Küstenhandel eingesetzt. Nützt uns nicht viel.»

«Ich werde mich erst einmal mit dem Kapitän unterhalten. Sie können an Deck gehen und beobachten, welche Fortschritte Mr. Okes macht. Lassen Sie mich bitte wissen, sobald er etwas herausgefunden hat.»

Der Schiffer des Luggers war klein und dunkelhäutig. Er trug ein zerlumptes Hemd und eine weite Leinenhose. Unter seinem glatten Haar schaukelten zwei goldene Ohrringe, und seine schmutzigen, bloßen Füße vollendeten das Bild der Vernachlässigung und Armseligkeit. Neben ihm wirkte Fähnrich Farquhar elegant und unwirklich.

Bolitho hielt die Augen auf die Karte gerichtet. Das unruhige Atmen und Füßescharren des Spaniers entging ihm nicht. Schließlich sagte er:»Spricht er englisch?»

«Nein, Sir«, antwortete Farquhar ungeduldig.»Er schnattert bloß.»

Ohne den Blick von der Karte zu heben, sagte Bolitho wie nebenbei:»Dann nehmen Sie ihn wieder mit an Deck, und lassen Sie den Profoß eine Schlinge am Hauptmast anbringen.»

«Eine Schlinge, Sir?«fragte Farquhar verdutzt.»Wollen Sie ihn hängen?»

«Selbstverständlich«, sagte Bolitho grob.»Er nützt mir nichts.»

Der Spanier schwankte und warf sich Bolitho zu Füßen. Er schluchzte und weinte, während er Bolithos Beine umklammerte. Die Worte strömten ihm wie eine Flut über die Lippen.

«Bitte, Kapitän, nicht hängen. Bitte! Ich bin guter Mann, Sir. Ich haben Frau und viele arme Kinder. «Tränen rannen ihm über die Wangen.»Bitte, Sir, nicht hängen!«Das letzte Wort kreischte er fast.

Bolitho befreite sich aus der Umklammerung und sagte ruhig:»Ich dachte mir schon, daß Ihre Englischkenntnisse wieder aufleben würden. «Und zu Farquhar:»Versuchen Sie den Trick bei den zwei Maaten. Sehen Sie zu, was Sie aus ihnen herausbekommen. «Er wandte sich wieder dem wimmernden Mann zu.»Stehen Sie auf und beantworten Sie meine Fragen, oder ich lasse Sie doch noch aufknüpfen.»

Er ließ einige Minuten verstreichen. Was hätte er angefangen, wenn der Spanier tatsächlich nicht englisch gesprochen hätte? Dann fragte er:»Ihr Bestimmungsort? Ihre Ladung?»

Der Mann schwankte. Seine schmutzigen Hände waren wie zum Gebet gefaltet.»Ich segeln nach Puerto Rico, Kapitän, mit kleiner Ladung Holz und Zucker. «Er rang die Hände.»Aber nehmen Sie alles, Exzellenz, nur lassen Sie mir Leben.»

«Halten Sie den Mund. «Bolitho spähte auf die Karte. Die Geschichte konnte stimmen. Er fragte scharf:»Woher kommen

Sie?»

Der Mann lächelte unterwürfig.»Ich segeln überall, Kapitän. «Er schwenkte unbestimmt die Hand.»Ich haben nur kleine Ladung. Ich nehmen, wo was kriegen. Ein schweres, schweres Leben, Exzellenz.»

«Ich werde meine Frage nur einmal wiederholen!«Bolitho sah ihn durchdringend an.

Der Mann trat von einem Fuß auf den anderen.»Von Martinique, Kapitän. Ich haben kleine Arbeit da. Aber ich hassen Franzosen, versteh'n?»

Bolitho senkte die Augen, um die Erregung, die er spürte, zu verbergen: von Martinique, dem Hauptquartier und der wesentlichsten Operationsbasis der Franzosen, der am stärksten gesicherten Festung Karibiens.

«Sie hassen die Franzosen, Ihre tapferen Verbündeten?«Bolithos Sarkasmus entging dem Spanier nicht.»Nun, lassen wir das. Sagen Sie mir statt dessen, wie viele Schiffe dort auf Reede lagen. «Bolitho sah Angst in den Augen des Schiffers und nahm an, daß der Spanier genau wußte, welche Reede er meinte.

«Viele Schiffe, Exzellenz. «Er rollte mit den Augen.»Viele große Schiffe.»

«Und wer befehligt diese vielen großen Schiffe?»

«Der französische Admiral, Exzellenz. «Der Spanier räusperte sich, als ob er ausspucken wollte, bemerkte jedoch, daß die Wache ihn von der Tür her beobachtete, und schluckte geräuschvoll.»Ein französisches Schwein, dieser Mensch.«»Der Graf de Grasse?»

Der Schiffer nickte heftig.»Aber Sie ja alles wissen, Kapitän. Sie der Allmächtige haben gesegnet.»

Farquhar betrat die Kajüte, und Bolitho schaute hoch.»Nun?»

«Sie sprechen beide nur wenig englisch, Sir. «Er schien auf sich selber wütend zu sein.»Nach dem, was ich mir zusammenreimen kann, wollten sie nach Puerto Rico.»

Bolitho winkte der Wache.»Bringen Sie den Gefangenen hinaus, aber lassen Sie ihn nicht mit den anderen reden. «Dann sagte er abwesend:»Er hat gelogen. Er kam von Martinique. Die Franzosen würden ihm seine Handelsfahrten nie erlauben, wenn sie jederzeit selbst belagert werden könnten. «Er klopfte auf die Karte.»Nein, Mr. Farquhar, mag sein, daß er von Martinique kommt, aber sein Bestimmungsort ist ein anderer.»

Vibart kam herein und zog wegen der Decksbalken den Kopf ein.»Mr. Okes meldet, daß die Ladung mit dem übereinstimmt, was Sie bereits wissen, Sir. Aber unter der Hauptladung sind neue Stengen und Fässer mit Salzfleisch verstaut. Außerdem eine Menge Ersatzsegel und Tauwerk.»

«Genau, wie ich dachte. «Bolitho fühlte sich sonderbar euphorisch.»Der Lugger bringt Vorräte von Martinique nach… «Sein Finger glitt über die auf der Karte eingezeichneten Inseln.»Ja, wohin?«Seine Augen wanderten von Vibarts düsterem zu Farquhars verblüfftem Gesicht.»Bringen Sie den spanischen Schiffer noch mal her.»

Bolitho trat an die Heckfenster und beugte sich über das Wasser, wie um seine Gedanken zu ordnen. Ihm schien, daß der Spanier von den französischen Schiffen in Martinique so offen erzählt hatte, weil er wußte, daß britischen Patrouillenschiffen diese Nachricht bereits bekannt war. Der Spanier bildete sich offenbar ein, daß ihm, Bolitho, der Hauptpunkt entgangen war. Er drehte sich rasch um, als der Mann durch die Tür gestoßen wurde.»Hören Sie gut zu«, sagte er beherrscht, doch so schroff, daß der Spanier zu zittern begann.»Sie haben mich belogen. Ich habe Ihnen gesagt, was mit Ihnen passieren würde, nicht wahr?«Er sprach jetzt gefährlich leise.»Also, noch einmal: Ihr Bestimmungsort?»

Der Mann wankte.»Bitte, Exzellenz. Die mich töten, wenn es herausfinden.»

«Und ich werde Sie töten, wenn Sie mich warten lassen. «Bolitho bemerkte, daß Herrick die Szene von der Tür aus fasziniert verfolgte.

«Wir segeln nach Insel Mola, Kapitän. «Der Mann schien zusammengeschrumpft zu sein.»Die Ladung ist für Schiffe dort.»

Herrick und Farquhar wechselten verständnislose Blicke.

Bolitho beugte sich über seine Karte.»Mola ist holländisch. «Er maß die Entfernung mit dem Zirkel ab.»Dreißig Meilen nordöstlich unserer gegenwärtigen Postition. «Seine Augen bohrten sich mitleidslos in den Spanier.»Wie oft sind Sie schon dorthin gesegelt?»

«Oft, Exzellenz. «Der Spanier sah aus, als müsse er sich übergeben.»Soldaten dort, französische Soldaten. Kommen von Norden. Haben auch Schiffe.»

Bolitho atmete langsam aus.»Natürlich. De Grasse würde nie den Versuch unternehmen, seine Schiffe gegen Jamaika oder eine andere Insel zu schicken, wenn er sich nicht voller Infanterieunterstützung sicher wäre und ein Ablenkungsmanöver an anderem Ort in der Hinterhand hätte. «Er sah die anderen an.»Unsere Flotte beobachtet Martinique im Süden und wartet, daß sich die Franzosen regen, doch die ganze Zeit über sickern sie vom amerikanischen Festland ein und sammeln sich zu einem großen, entscheidenden Schlag.»

Vibart sagte:»Wir müssen die Cassius informieren, Sir.»

«Wir könnten mit dem Lugger das Flaggschiff suchen, Sir«, sagte Herrick lebhaft von der Tür her,»und selber hier in Bereitschaft bleiben.»

Bolitho schien sie nicht zu hören.»Wache, bringen Sie den Gefangenen zu den anderen, und schließen Sie alle ein. Meine Empfehlungen an den Bootsmann, und er soll die Leute von der Luggerbesatzung auswählen, die nach seiner Meinung für uns vereidigt werden können. Ich kann mir vorstellen, daß die Phalarope dem Gefängnis noch immer vorzuziehen ist.»

Der Seesoldat griente.»Aye, aye, Sir. «Er stieß den Spanier mit seinem Gewehr hinaus.

«Es wird zwei Tage dauern, ehe wir der Cassius wieder begegnen«, dachte Bolitho laut.»Dann kann es zu spät sein. Dieser Spanier hat uns viel berichtet, aber die ganze Wahrheit kennt er nicht. Wenn die Franzosen bei dieser kleinen Insel

Truppen und Schiffe zusammengezogen haben, steht zu erwarten, daß sie losschlagen wollen, und zwar bald. Ich halte es für unsere Pflicht, das zu erkunden und unser Äußerstes zu tun, sie daran zu hindern.»

Vibart schluckte schwer.»Beabsichtigen Sie, die Patrouillenzone zu verlassen, Sir?»

«Haben Sie irgendwelche Einwände, Mr. Vibart?«Bolitho sah ihn ruhig an.

«Ich trage nicht die Verantwortung, Sir. «Vibart wich Bolithos kaltem Blick aus.

Herrick sagte schnell:»Es ist ein großes Risiko, wenn ich das bemerken darf, Sir.»

«Wie alles, was sich zu unternehmen lohnt, Mr. Herrick.»

Bolitho richtete sich sehr gerade auf und fügte energisch hinzu:»Meine Empfehlung an Mr. Proby. Er soll wenden und Nordostkurs steuern lassen. Wir werden hart am Wind segeln und bei Einbruch der Nacht die Insel Mola erreichen. Bis dahin gibt es viel zu tun, meine Herren.»

Seine Augen wanderten von einem zum anderen, ehe er fortfuhr:»Schicken Sie ein Prisenkommando an Bord des Luggers. Mr. Okes soll nach den Erkennungssignalen suchen. Wie ich vermute, ist die Insel streng bewacht. Der Lugger ist wichtig für uns. Wir können uns nicht erlauben, ihn auf die Suche nach dem Admiral zu schicken.»

«Der Admiral dürfte über Ihr Vorgehen nicht erfreut sein, Sir«, sagte Vibart widerspenstig.

«Und ich würde mir ewig Vorwürfe machen, wenn ich mein persönliches Ansehen über meine offensichtliche Pflicht stellen würde, Mr. Vibart. «Er sah Herrick und Farquhar an.»Eine gute Gelegenheit für Sie beide. «Sein Blick schweifte durch die Kajüte.»Und für das Schiff auch.»

Als alle die Kajüte verlassen hatten, ging er zum Heckfenster. Eine Minute lang plagten ihn nagende Zweifel. Er hatte ungestüm gehandelt, ohne die möglichen Folgen gründlich zu überlegen. Geschick und Fähigkeit entschieden nur die Hälfte, für die andere brauchte man Glück. Und wenn er sich jetzt geirrt hatte, konnte kein Glück der ganzen Welt das ausgleichen.

Er bemerkte, daß ihn Ferguson vom Tisch her wie ein hypnotisiertes Kaninchen anstarrte. Den hatte er ganz vergessen. Immerhin, die Geschichte, die er im Logis zum besten geben würde, konnte der schwindenden Moral des Schiffes nur gut tun. Wenn die Phalarope diesmal Glück hatte, würde alles anders aussehen. Und wenn nicht? Er zuckte mit den Schultern. Nur wenige würden dann mit dem Leben davonkommen, um die Sache zu diskutieren.

Er hörte die Achterwache an den Brassen. Das Deck legte sich schräg, als die Fregatte durch den Wind ging. Im Heckfenster tauchte für einen Augenblick der kleine Lugger auf. Er vollzog das gleiche Manöver, um neben der Fregatte zu bleiben. Während Bolitho den Lugger betrachtete, fragte er sich, wieviele Männer bereits den scharfäugigen Ausguck verfluchten, der ihn gesichtet hatte.»Jetzt werden Sie Ihrer Frau etwas erzählen können, Ferguson. Vielleicht wird sie stolz auf Sie sein.»

Bolitho erhob sich von der Achterducht des Kutters. Hände packten zu und zogen ihn ohne große Umstände über das niedrige Schanzkleid des Luggers. Einige Sekunden stand er schwankend auf dem unvertrauten Deck und versuchte, seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen.

Der Kutter hatte bereits wieder abgelegt. Bis auf den weißen Schaum, der um seine Riemen quirlte, war er bereits in der Nacht untergetaucht. Bolitho versuchte, die Phalarope auszumachen, aber auch sie war nicht zu erkennen. Kein Lichtpünktchen verriet ihre Anwesenheit. Er rief sich die Karte und die Gestalt der Insel ins Gedächtnis, die irgendwo vor dem stumpfen Bug des Luggers lag. Hauptmann Rennie tauchte aus der Dunkelheit auf.»Ich habe die Seesoldaten unter Deck geschickt, Sir. «Er flüsterte, was gar nicht notwendig gewesen wäre.»Sergeant Garwood wird darauf achten, daß sie sich bis zum Einsatz still verhalten.»

Bolitho nickte. Hatte er auch nichts dem Zufall überlassen? Er ging in Gedanken noch einmal alles durch.»Haben Sie sich vergewissert, daß die Gewehre und Pistolen ungeladen sind?»

Rennie nickte.»Jawohl, Sir. «Es klang, als meinte er: >Natürlich, Sir!< Ein vorzeitiger Schuß im falschen Moment, ein Seesoldat, der aus Nervosität abzog, und ihr Leben war noch weniger wert als schon jetzt.

«Gut. «Bolitho tastete sich nach achtern. Dort stand Stockdale breitbeinig neben der rohen Ruderpinne. Den Kopf hatte er nach hinten gelegt, um auf die schlagenden Segel zu achten. Fähnrich Farquhar wachte neben einem formlosen Bündel, in dem Bolitho den unglücklichen spanischen Schiffer erkannte. Er sollte als Unterpfand und Führer dienen.

«Denken Sie, daß wir unbemerkt unter Land kommen, Sir?«fragte Rennie.

Bolitho blickte zu den hohen, glitzernden Sternen auf. Nur die allerschwächste Andeutung einer Mondsichel schwebte silbern über ihrem Spiegelbild im flachen Wasser. Die Nacht war finster genug, alles zu verbergen. Vielleicht zu finster.

«Wir werden sehen«, sagte er.»Lassen Sie Fahrt aufnehmen, und achten Sie darauf, daß die Kompaßlaterne gut abgeblendet ist. «Er kehrte Rennie und dessen Fragen den Rücken und drängte sich an den hockenden Matrosen vorbei, deren Augen ihm folgten. Gelegentlich hörte er das Schaben eines Entermessers oder ein dumpfes Klirren vom Bug, wo McIntosh, ein Artilleriemaat, in letzter Minute nochmals seine in aller Eile montierte Drehbasse prüfte. Sie war mit Kartätschen geladen, die auf kurze Entfernung tödlich wirkten. Der erste Schuß muß sitzen, überlegte Bolitho grimmig. Für einen zweiten ist unter Umständen keine Zeit.

Er fragte sich, was Vibart denken mochte, der nun die Verantwortung für die Fregatte trug und Stunden warten mußte, bis er seinen Part bei der Aktion spielen konnte. Er dachte an das Gesicht, das Herrick gemacht hatte, als er ihm sagte, daß er Leutnant Okes auf den Lugger mitnehmen würde. Herrick wußte, daß es keine andere Wahl gab. Okes war dienstälter, und es war nur gerecht, daß er die Chance bekam, sich einen Namen zu machen. Oder vor Herrick zu sterben, dachte Bolitho trocken. Vibarts Rang und Dienstalter geboten es, ihm den zeitweiligen Befehl über die Fregatte zu übertragen. Und falls Vibart und er fielen, konnte Herrick noch immer die Sprossen der Rangleiter erklimmen.

Bolitho blickte finster in die Dunkelheit und verfluchte sich wegen seiner morbiden Gedanken. Vielleicht war er durch das Planen und Vorbereiten schon zu erschöpft, um noch denken zu können. Den ganzen Tag über, während die Fregatte auf die Insel Mola zusteuerte, hatte lebhafte Geschäftigkeit geherrscht. Männer und Waffen waren auf den Lugger hinübergeschafft worden, dessen Ladung man über Bord geworfen oder zur Phalarope hinübergepullt hatte. Im Laderaum des Luggers befanden sich jetzt die Seesoldaten. Die Leute hatten zu viel damit zu tun, gegen die Übelkeit anzukämpfen, die ihnen der Gestank von Fischöl und verdorbenem Gemüse bereitete, um daran zu denken, was vor ihnen lag. Mathias, Bolithos Schreiber, war gestorben und mit einem kurzen Gebet dem Meer übergeben worden. Sein Tod und die Beisetzung hatten die hektischen Vorbereitungen nicht unterbrochen, und jetzt konnte man sich kaum noch an sein Gesicht erinnern.

Leutnant Okes stolperte über das Deck heran. Er ging gebückt, als erwarte er, gegen unsichtbare Gegenstände zu stoßen. Er erspähte Bolitho und murmelte:»Alle — alle Leute klar, Sir. «Es klang angespannt und nervös.

Bolitho grunzte. Der Zweite bereitete ihm schon seit einiger Zeit Sorgen. Okes hatte sich sogar erboten, an Herricks Stelle auf der Fregatte zu bleiben, was sehr sonderbar war. Bolitho wußte, daß Okes nicht reich war. Jede Beförderung außerhalb der Reihe und ein lobender Bericht in der Gazette hätten für seine Karriere viel bedeutet. Wahrscheinlich hat er Angst. Nun, bis auf Wahnwitzige mußte jeder Angst haben, dachte Bolitho.

«Wir werden die Landzunge bald sichten«, antwortete er.»Die hohe Brandung muß sie anzeigen. «Er rief sich mit aller Macht das Bild vor Augen, das er sich von der Insel gemacht hatte. Sie glich irgendwie einem Hufeisen, die tiefe Reede lag zwischen zwei geschwungenen Landspitzen verborgen. Die Ortschaft befand sich auf der dem Meer zugekehrten Seite der ihnen zunächst liegenden Landzunge. Dort war der einzige flache Strand der ganzen Insel. Nach der Karte und den Angaben, die er aus dem Spanier herausgequetscht hatte, waren Reede und Ortschaft durch einen unebenen Weg verbunden, der mit Hilfe einer Holzbrücke eine tiefe Schlucht überquerte. Die Spitze der Landzunge war durch diese Schlucht isoliert. Auf dem höchsten Punkt sollte eine starke Batterie postiert sein, wahrscheinlich Vierundzwanzigpfünder. Sie konnten die ganze Reede leicht verteidigen. Eine Sandbank und mehrere Riffe machten außerdem jede Annäherung zu einem Risiko. Im Grunde war es unmöglich, ohne gutes Tageslicht einzulaufen. Kein Wunder, daß die Franzosen diese Insel zu ihrem Stützpunkt gewählt hatten.

«Die Landzunge, Sir!«Ein Matrose wies nach vorn.»Dort,

Sir.»

Bolitho nickte und ging nach achtern.»Gut achtgeben, Stockdale! Etwa eine Viertelmeile voraus liegt das Ufer. Dort soll eine Landungsbrücke aus Holz sein, wenn man den Angaben des Spaniers trauen darf.»

Im Bug warf ein Matrose das Lot aus und meldete heiser:»Etwa Strich zwei, Sir.»

Zwei Faden Wasser unter dem Kiel, und noch waren sie weit vom Land entfernt. Ein Überraschungsangriff konnte in der Tat nur von einem so kleinen Boot wie dem Lugger ausgeführt werden. Und das Überraschungsmoment war ihr einziger Vorteil. Niemand, der bei gesunder Vernunft war, würde erwarten, daß ein einzelnes kleines Boot sich dieser stark befestigten Insel bei völliger Dunkelheit näherte.

Steuermann Belsey sagte heiser:»Ich sehe die Pier, Sir. Dort drüben.»

Bolitho schluckte schwer und spürte ein Prickeln in der Wirbelsäule. Er rückte seinen Degen zurecht und vergewisserte sich, daß seine Pistole griffbereit war.

«Holen Sie den Spanier«, sagte er heiser vor Spannung.

Der Gefangene klapperte vor Furcht mit den Zähnen. Bolitho packte ihn beim Arm. Er roch die Furcht des Mannes. Jetzt war der Augenblick, dem Spanier einen Schrecken ins Gebein zu jagen. Er mußte sich mehr vor ihm als vor dem fürchten, was ihm die Franzosen antun könnten.»Hören Sie gut zu. «Bolitho schüttelte den Mann bei jedem Wort.»Wenn wir angerufen werden, wissen Sie, was Sie zu tun haben, nicht wahr?»

Der Spanier nickte heftig.»Laterne zeigen. Signal geben, Exzellenz. »

«Und wenn man Sie fragt, warum Sie bei Nacht hereinkommen, sagen Sie, daß Sie Nachrichten für den Garnisonskommandanten bringen.»

«Aber Exzellenz, ich bringe nie Nachrichten.»

«Halten Sie den Mund. Sagen Sie es! Wie ich Wachen kenne, geben sie sich damit erst einmal zufrieden.»

Die Pier ragte wie ein schwarzer Finger aus der Finsternis. Die Segel wurden langsam geborgen, und als der Lugger sanft auf die Landungsbrücke zuglitt, leuchtete eine Laterne auf, und jemand rief: «Qui voala?»

Der Spanier öffnete die Blende seiner Laterne. Zwei lange, zwei kurze Blinkzeichen. Mit bebender Stimme stotterte er seine Botschaft heraus. Zwischen jedem Wort mußte er tief Luft holen. Er schlotterte dermaßen vor Angst, daß Farquhar ihn gegen den Mast drücken mußte wie eine Leiche. Die Wache sagte etwas zu einem anderen Mann hinter einer kleinen Hütte in halber Höhe der Pier. Bolitho hörte ihn lachen. Metall klirrte zweimal, als die Wachen ihre Gewehre entspannten.

Der Bug schwang zur Pier herum, und Bolitho sah, wie der Wachsoldat sich vorbeugte, um zu beobachten, wie der Lugger festmachte. Er hatte das Gewehr über die Schulter geworfen. Im Glühen seiner langen Tonpfeife blitzte sein hoher Tschako kurz auf. Bolitho hielt den Atem an. Jetzt würde sich zeigen, ob er die richtigen Männer ausgewählt hatte.

Er verfolgte, wie ein Matrose, den Festmacher in der Hand, mit gespielter Gelassenheit die Leiter erklomm. Der Posten rief ihm etwas zu. Doch es war nicht zu verstehen, weil er sich umdrehte, um zuzusehen, wie der Matrose das Tau über einen Poller warf. Ein zweiter Matrose, der auf dem Vordersteven gekauert hatte, sprang wie eine Katze hinauf. Sekundenlang schwankten die zwei Gestalten in einem makaberen Tanz, aber man vernahm kaum einen Laut. Erst als der Matrose den Griff lockerte und den toten Posten geräuschlos auf die Pier sinken ließ, begriff Bolitho, daß die Zeit zum Handeln gekommen war.

«Der Nächste!«zischte er.

Belsey glitt über den Bug, gefolgt von einem Matrosen, der die Klinge seines Messers an der Hose abwischte. Beide verschwanden hinter der Hütte. Diesmal gab es ein paar Geräusche: das Klappern eines fallenden Gewehrs, etwas wie ein Röcheln, nicht mehr.

Bolitho kletterte zur Pier hinauf. Er bebte vor unterdrückter Erregung.»Mr. Okes, rücken Sie mit Ihrem Kommando im Laufschritt zum Ende der Pier vor. «Er hielt einen Matrosen zurück, der losrasen wollte, und zischte:»Ruhig! Hinten ist ein Wachhaus.»

Rennies Seesoldaten strömten aus dem Laderaum, das weiße Lederzeug stach hell von ihren Uniformen ab. Rennie hatte seine Order nicht vergessen. Innerhalb weniger Minuten hatte er seine Leute in zwei Abteilungen gegliedert. Auf ein einziges Kommando hin stürmten die Gruppen über die Pier auf die schweigende Ortschaft zu.

Stockdale verließ den Lugger als letzter. Das Entermesser baumelte wie ein Spielzeug in seiner Hand.

Bolitho blickte sich noch einmal prüfend um.»Also, Stockdale, sehen wir uns die Geschichte mal an!»

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