IX Niederlage

Bolitho erinnerte sich nicht, die Explosion des Magazins gehört zu haben. Es war mehr ein Empfinden gewesen oder das Ende eines Alptraums, aus dem man mit gesteigerter Furcht vor der wartenden Wirklichkeit erwacht. Er sah wieder vor sich, wie er im Heck des überlasteten, halb überspülten Bootes saß und auf das kochende, wirbelnde Wasser zurückblickte, in dem der Transporter versunken war. Seine schmerzenden, von der Feuersglut geblendeten Augen sahen gar nichts mehr, seit das Schiff untergegangen war und die von hohen Wänden eingefaßte Reede wieder eine Dunkelheit einhüllte, die allen Schmerz und Schrecken verbarg.

Seine Leute lachten und schwatzten vor Erleichterung und Erregung, aber als Bolitho sich umdrehte, um nach dem Felssturz am Fuß der Klippen Ausschau zu halten, schien die ganze Welt in ein einziges riesiges Inferno verwandelt. Felsstücke regneten herab, und während sich die Männer verzweifelt in die Riemen legten, krachte ein großer gezackter Steinbrocken wie ein Hammer auf den Steven. Bolitho taumelte hoch, als das Wasser rauschend in das mit Schlagseite treibende Boot strömte.

Es schien, als wollte das Bombardement nie enden. Er sah, daß ein Mann von einem Felsstück ins Wasser gefegt wurde, gerade als er den Fuß der Klippen hinaufklettern wollte. Belsey fiel fluchend ins Wasser, und als Stockdale ihn auf die Felsen hievte, brüllte er:»Mein Arm! O Gott, mein Arm ist gebrochen.»

Bolitho erwachte nach und nach aus der Betäubung. Doch während er seinen Leuten Mut zusprach, empörte sich sein Verstand gegen die rauhe Wirklichkeit. Jemand hatte das Magazin in die Luft gejagt, ohne auf ihn und seine Abteilung zu warten. Die Tatsache, daß sie, wäre ihr Boot ein paar Minuten früher zurückgekehrt, mit dem Magazin in die Luft geflogen wären, schenkte ihm nur wenig Trost.

«Mir nach, Jungs!«rief er.»Wir klettern am Wasser entlang. Die Flut geht zurück. Wir werden also ganz gut zum Aufstieg kommen. «Er tastete sich voran und wußte, daß sie ihm folgen würden. Es blieb keine Wahl. Vom anderen Ende der Reede her hörte er wütende Schreie und das Geschmetter einer Trompete. Die Franzosen hatten zu viel mit sich selber zu tun, um sich um die Angriffsabteilung zu kümmern. Aber das würde nicht so bleiben, und die Rache würde sie schnell und endgültig erreichen.

Er hielt taumelnd an und blinzelte durch den beißenden Rauch. In dem blassen Frühlicht, das in die Schlucht fiel, erkannte er deutlich die Reste der Brücke. Es hatte also keinen Sinn mehr, die Stufen hinaufzuklettern. Es gab keinen Weg zurück zum Strand.

Ein Seemann stolperte benommen hinter ihm her und starrte mit weit aufgerissenem Mund auf die Trümmer der Brücke. Verzweiflung würgte ihn.»Ihr verfluchten feigen Hunde!»

«Ruhe!«Bolitho drängte ihn und die anderen zurück.»Zweifellos gab es einen guten Grund, die Brücke so früh zu sprengen. «Aber er sah den Ausdruck auf Stockdales Gesicht und wußte, daß Stockdale seine Lüge durchschaut hatte.

Belsey stöhnte und stützte sich haltsuchend auf Stockdale.»Sie lassen uns hier verrecken! Sind abgehauen, um ihre kostbare Haut zu retten.»

Bolitho hob die Hand.»Ruhe!«Er reckte den Hals.»Hört mal!»

Ein Matrose stieß hervor:»Da drüben, Sir. Ich habe es auch gehört. »

Sie kletterten über die rauchenden Brückentrümmer. Plötzlich fuhr der vorderste Matrose entsetzt zurück. Fähnrich Farquhar saß aufrecht an der rauhen Wand der Schlucht. Ein dicker Balken klemmte ihn fest, und dicht neben ihm lag ein säuberlich abgetrenntes Bein.

Farquhar öffnete die Augen und krächzte:»Gott sei Dank, Sir. Ich dachte schon, ich müßte hier allein sterben. «Er sah ihre Gesichter und quälte sich ein Grinsen ab.»Mein Bein ist das nicht, Sir. Es gehört unserem spanischen Gefangenen.»

Bolitho schaute sich um und blickte dann zum heller werdenden Himmel hinauf.»Gut. Hebt den Balken an, aber paßt auf. «Er kniete sich neben den Fähnrich und fuhr mit den Händen schnell unter den dicken Balken. Während er den eingeklemmten Körper abtastete, beobachtete er die verzerrten Züge Farquhars scharf.

«Scheint nichts gebrochen, Sir«, preßte Farquhar hervor. Er legte sich zurück und schloß die Augen, als die Männer den Balken anhoben.»Ich habe nach Ihnen Ausschau gehalten, Sir. Dann ging ich zum Magazin zurück und sah, daß die Lunte fast abgebrannt war. «Ihm brach beinahe die Stimme.»Ich griff mir unseren Spanier und rannte zur Brücke, aber gerade, als wir sie erreichten, ging das Ding hoch und stürzte in die Schlucht. «Er zuckte zusammen.»Und wir mit.»

Sie zerrten den Balken weg, und Bolitho biß die Zähne zusammen, als er die zermalmten Überreste des Gefangenen sah. Barsch fragte er:»Wie ist es passiert?»

Sie stellten Farquhar auf die Füße, aber seine Beine gaben sofort nach, und Stockdale sagte:»Na, ich übernehme den jungen Herrn, Sir.»

Farquhar klammerte sich an Stockdales Schulter.»Tut mir leid, Sir«, sagte er.»Es wird mir gleich besser gehen. «Ihm fiel Bolithos Frage ein, und er sagte:»Ich verstehe es auch nicht, Sir. Ich kann immer noch nicht glauben, daß es geschehen ist.»

Bolitho zog den Dolch aus Farquhars Gürtel und gab ihn einem Matrosen.»Hier, mach daraus eine gute Schiene für Mr. Belseys Arm. Das wird reichen, bis wir zur Phalarope kommen.»

Belsey beobachtete die ungelenken Finger der Männer und stöhnte.»Seht euch vor, zum Teufel!»

Bolitho ging langsam über den Steinwall. Vierzehn Mann, er mit eingeschlossen. Einer mit gebrochenem Arm und einer schon halb im Delirium, eine Kugel in der Schulter. Auch Farquhar sah aus, als würde er bald ohnmächtig werden.

Er versuchte, Bitterkeit und Mißtrauen zu verdrängen. Jetzt hatte er erst mal diese Männer in Sicherheit zu bringen.

Zweifellos war der übrige Teil des Landungskommandos schon wieder auf dem Lugger. Er war plötzlich ruhiger. Was auch geschehen würde, die Aufgabe war erfolgreich vollbracht, zwei Transporter und eine wertvolle Korvette waren zerstört. Und ohne Batterie war die Insel Mola für die Franzosen und ihre Verbündeten auf lange Zeit hinaus wertlos.

Stockdale rief heiser:»Das zweite Beiboot, Sir! Es muß doch noch an der Mole liegen!»

Bolitho kletterte über die nassen Steine und sah zu dem Boot hinunter. Viel los war nicht damit. Oft gebraucht und ausgebessert, nur vier Riemen, und um den Mast war nur für alle Fälle ein Fetzen Segeltuch gewickelt. Die Garnison hatte das Boot sicher nur zum Besuch der im Hafen verankerten Schiffe benutzt.

«Bring alle an Bord, Stockdale«, sagte er grimmig.»Wir müssen sehen, was sich machen läßt.»

Ein Sonnenstrahl brach plötzlich über das Vorgebirge und glitzerte auf dem Wasser. Mühelos erkannte Bolitho unter dem schaukelnden Boot ein Kanonenrohr der Batterie. Wäre es ein paar Fuß weiter heruntergestürzt, hätte es keinen Ausweg mehr gegeben.

«Vier Mann an die Riemen. Die übrigen schöpfen Wasser oder halten Ausschau.»

Belsey setzte sich mühsam auf und blickte auf seinen geschienten Arm. Er war mit allerlei Lappen und Hemden, die man in Streifen gerissen hatte, umwickelt und stand vom Körper wie eine Keule ab. Er schüttelte den Kopf.»Himmel! Möchte wissen, ob ich das Ding jemals wieder benutzen kann.»

«Ablegen! Riemen bei!«Bolitho hockte auf dem Dollbord und legte das Ruder hart an. Während das Boot mit der Strömung dahintrieb, starrte er zu dem schwarzen Kamm des Vorgebirges auf und fragte sich, was in jenen Minuten geschehen war, bevor Farquhar in den fast sicheren Tod stürzte.

Farquhar lehnte sich matt an die Bootswand und zischte:»Pull kräftiger, Robinson. Ich zieh dir bei lebendigem Leibe die Haut ab, wenn du nicht deine Pflicht tust.»

Bolitho lächelte, obwohl ihm elend zumute war. Die Erfahrungen hatten Farquhars Pflichtbewußtsein nicht geschwächt.

Die Riemen hoben und senkten sich gleichmäßig, und das

Boot entfernte sich immer weiter von der vorspringenden Landzunge und der darüberhängenden Rauchwolke.

Ein Mann im Bug sprach aus, was Bolitho dachte, und ausnahmsweise tadelte er ihn nicht. Der Matrose schaute über die rudernden Männer und fauchte:»Weg! Seht euch um, Jungs! Das verfluchte Schiff ist ohne uns davon!»

«Es muß um die Insel gesegelt sein, Sir«, sagte Farquhar erbittert.»Jetzt holen wir es nicht mehr ein.»

«Ich weiß. «Bolitho schützte die Augen gegen den blendenden Glast und sah nachdenklich auf den kurzen Mast.»Setzt das Segel, Jungs. Wir segeln zur nächsten befreundeten Insel. «Sein forscher Ton sollte Zweifel und Zorn verbergen.

Stockdale wischte dem verwundeten Matrosen mit einem nassen Lappen die Stirn und murmelte:»Ein Wunder käme uns jetzt zupaß, Sir.»

Bolitho zog seinen zerrissenen Mantel aus und blickte Stockdale ruhig an.»Ich fürchte, das ist nicht mein Gebiet, Stockdale, aber ich werde dran denken. «Er lehnte sich an die Pinne und steuerte der aufgehenden Sonne entgegen.

Leutnant Thomas Herrick hörte, wie die Glocke das Ende der ersten Hundewache schlug, und nahm dann seinen Gang über das Achterdeck wieder auf.

Vor einer warmen, aber frischen achterlichen Brise war die Phalarope in kurzer Zeit auf ihren Patrouillenkurs zurückgekehrt. Die schnelle Fahrt hatte Herrick jedoch nur ein Gefühl der Besorgnis und des Verlustes eingebracht. Er konnte das Geschehene noch nicht akzeptieren. Noch immer empfand er die gleiche innere Qual, die ihn überfallen hatte, als das erschöpfte Landekommando die Fregatte erklomm.

Schon da wollte er sich nicht mit Bolithos Verschwinden abfinden. Doch dann hatte er Rennies grimmiges Gesicht gesehen und die nervöse Unsicherheit der zurückkehrenden Matrosen und Seesoldaten gespürt. Nur Okes schien von der Katastrophe unberührt. Herrick runzelte die Stirn, als er sich den Moment zu vergegenwärtigen suchte, als Okes an Bord kletterte: nein, unberührt war nicht der richtige Ausdruck. Er war von einer Art wachsamer Lebhaftigkeit gewesen, die seinem Charakter total widersprach. Herrick wollte ihn sofort ausfragen, aber Vibart befahl Okes auf das Achterdeck, wo er vor sich hingebrütet hatte, seit das Landekommando fortgesegelt war.

Rennie war ungewöhnlich zurückhaltend gewesen. Als Herrick jedoch in ihn drang, sagte der Hauptmann der Seesoldaten kurz:»Es war eine gefährliche Sache, Thomas. Wir müssen immer damit rechnen, daß so etwas passiert. «Er sah Okes mit dem Ersten sprechen und fügte bitter hinzu:»Ich wurde mit meiner Abteilung auf die Phalarope beordert, um die Disziplin zu schützen. «Seine Augen flammten in plötzlichem Zorn auf.»Aber jetzt kommt es mir vor, als müßten die Offiziere der Phalarope voreinander geschützt werden. «Und er schloß:»Ich muß mich um meine Verwundeten kümmern. Sie zumindest brauchen sich nicht zu schämen.»

Herrick nahm sich dann McIntosh vor, der nervös zum Achterdeck blickte, ehe er antwortete:»Was kann ich Ihnen sagen, Sir? Ich habe nur meine Pflicht getan. Mr. Farquhar ist der einzige, der gesehen haben muß, was geschah. «Er deutete nach achtern.»Und er ist dort hinten, tot wie die übrigen.»

«Aber Sie meinen, etwas ging schief?«fragte Herrick scharf.

«Wie kann ich das beantworten, Mr. Herrick?«Seine Augen glitten über die verwundeten und erschöpften Leute des Luggers.»Es hat viel Mühe und Schweiß gekostet, überhaupt hierher zurückzukommen. Sie wissen, was mit mir geschähe, wenn ich Beschuldigungen aussprechen würde.»

Herrick hatte ihn mit Verachtung in den Augen entlassen und doch im tiefsten Innern gewußt, daß McIntosh die Wahrheit sprach. Er riß sich zusammen, als er Vibarts schweren Schritt hörte.

«Pfeifen Sie alle Mann nach achtern, Mr. Herrick. Ich will ihnen sagen, wie es weitergeht. «Vibart wirkte gemessen und ruhig. Nur ein gewisses Glitzern seiner Augen verriet Erregung oder Triumph.

«Sind Sie sicher, daß wir nichts mehr tun können?«fragte Herrick.

Vibart blickte an Herrick vorbei auf das gekräuselte Wasser.»Meine Ansicht habe ich Ihnen heute morgen mitgeteilt, Mr. Herrick, ebenso wie ich meine Besorgnis dem Kapitän dargelegt habe. Es war ein gefährliches und draufgängerisches Wagestück. Daß es erfolgreich ausging, ist ein Glück für uns alle. Aber Bolitho kannte das Risiko, das er auf sich nahm. Mehr ist da nicht zu sagen.»

«Aber ist sich Leutnant Okes ganz sicher, Sir?«beharrte Herrick.

«Mich hat seine Meldung zufriedengestellt. «In Vibarts Ton lag eine neue Schärfe.»Also genug davon. «Er ging gewichtig zur Luvreling und schnüffelte heftig.»Zumindest sind wir wieder in dem uns zugewiesenen Bereich. Jetzt können wir mit dem Flaggschiff Kontakt aufnehmen.»

Herrick sagte schnell etwas zu Fähnrich Neale und beobachtete, wie er nach vorn eilte. Dann hörte er die Bootsmannsmaaten rufen:»Alle Mann an Deck! Alle Mann nach achtern!»

Während die Männer aus dem Zwischendeck strömten, ging er zu Vibart hinüber und sagte langsam:»Er war ein guter Offizier. Ich bin immer noch der Ansicht, er hätte entkommen können.»

«Dann möchte ich Sie doch bitten, Ihre Meinung für sich zu behalten, Mr. Herrick. «In den tiefliegenden Augen funkelte Wut.»Sie haben sich vielleicht für einen seiner Günstlinge gehalten, aber bei mir gibt es so etwas nicht. «Er wandte sich von Herrick ab, als der Bootsmann Quintal salutierte und polternd meldete:»Alle angetreten, Sir.»

Vibart schritt zur Querreling und starrte in die ihm zugewandten Gesichter. Herrick blieb bei den Rudergängern und beobachtete Vibart genau.

«Wir befinden uns wieder in unserem Patrouillengebiet«, sagte Vibart.»In Kürze werden wir mit dem Admiral Verbindung aufnehmen, und zu gegebener Zeit berichte ich ihm von unserem großen Erfolg.»

Herrick merkte, daß er vor Zorn zitterte. Aha, jetzt war es also ein großer Erfolg. Wenn Bolitho noch am Leben wäre, wäre es tollkühn und gefährlich gewesen. Doch nun, da Vibart die Früchte einheimsen konnte, sah es ganz anders aus.

«Mir mißfällt die Disziplinlosigkeit, die in letzter Zeit an Bord eingerissen ist, und ich beabsichtige, dieses Schiff unverzüglich auf seinen vollen Leistungsstand zurückzubringen. «Vibart starrte mit gerötetem Gesicht auf die versammelte Mannschaft. Herrick fühlte sich angeekelt. Es macht ihm Freude, dachte er. Er ist tatsächlich froh über Bolithos Tod.

Herrick drehte sich um, als Okes aus dem Niedergang trat und unsicher auf ihn zukam. Herrick nahm ihn beim Ärmel und zischte:»Was hast du Vibart gesagt, Matthew? Um Himmels willen, was ist mit dir los?»

Okes zuckte zurück.»Nichts als die Wahrheit habe ich ihm gesagt. Ist Bolithos Unglück meine Schuld?»

«Und wie steht's mit Farquhar? Hast du gesehen, wie er starb?»

Okes blickte beiseite.»Aber natürlich. Was, zum Teufel, willst du damit sagen?«Aber seine Stimme zitterte leicht, und Herrick dachte plötzlich an Okes' Verhalten während des Kampfes mit dem Kaperschiff, an seine Furcht, an seinen panischen Schrecken. Ein Mensch konnte sich nicht über Nacht ändern.

«Ich möchte Gewißheit haben, Matthew. Sag's mir lieber gleich.»

Okes hatte sich offenbar gefangen, und als er Herrick ansah, waren seine Augen undurchsichtig und ausdruckslos.»Ich sage die Wahrheit, verflucht noch mal. «Er versuchte zu lächeln.»Aber mach dir nicht so viele Gedanken. Schließlich wirst du Zweiter Leutnant.»

Herrick trat einen Schritt zurück und sah ihn angewidert an.»Und du wirst Erster, ganz ohne Zweifel. Du und Vibart, ihr seid die Helden der Stunde.»

Okes erblaßte.»Wie kannst du es wagen! Du warst nicht dabei. Bolitho war auch bloß ein Mensch.»

«Und du bist nicht mal wert, seine Schuhe zu putzen. «Herrick fuhr herum, als Vibart zwischen sie trat.

«Ich dulde keinen Streit auf meinem Schiff, Mr. Herrick. Noch ein Wort, und ich mache eine Eintragung ins Logbuch. «Er sah Okes fest an.»Kommen Sie in die Kajüte. Ich habe mit Ihnen zu reden.»

Herrick sah ihnen elend und hilflos nach, und der kleine Neale fragte:»Was bedeutet das alles, Sir?»

Herrick sah ihn ernst an:»Es bedeutet, daß wir in der nächsten Zeit auf jeden unserer Schritte achten müssen, mein Junge. Ohne den Kapitän fühle ich mich hier nicht mehr sicher.»

Er erstarrte, als Zahlmeister Evans, einen bekümmerten Ausdruck im Frettchengesicht, auf das Achterdeck zugeeilt kam. Profoß Thain, der ihm folgte, schob zwei verängstigte Matrosen vor sich her. Sein Gesicht ließ in Herrick keinen Zweifel darüber aufkommen, was als nächstes geschehen würde: Auspeitschungen und nochmals Auspeitschungen. Jetzt würden alle alten Rechnungen beglichen werden.

Er sah Evans fest an und fragte scharf:»Nun? Was ist jetzt schon wieder los?»

Evans lächelte nervös.»Ich habe diese Leute auf frischer Tat ertappt. Sie haben Rum gestohlen.»

Es gab Herrick einen Stich, und er rief die Männer zu sich heran.»Stimmt das?«Er erinnerte sich, daß beide Matrosen der Landeabteilung angehört hatten.

Einer sagte mürrisch:»Aye, Sir. Der Rum war für einen unseren Kameraden. Er ist verwundet. Wir dachten, er würde ihm helfen. «Sein Gefährte nickte bekräftigend.

Herrick nahm Evans beiseite.»Es könnte stimmen.»

«Natürlich stimmt es. «Evans sah ihn verdutzt an.»Aber darum geht es jetzt nicht. Diebstahl bleibt Diebstahl. Es gibt keine Entschuldigung dafür, und Sie wissen das. «Er sah Herrick mit kaum verhohlener Schadenfreude an.»Also melden Sie es lieber Mr. Vibart. «Er blies sich auf.»Oder ich tue es, Mr. Herrick.»

«Kommen Sie mir nicht so, Mr. Evans. «Herricks Gesicht verzerrte sich vor Wut.»Oder ich zahle es Ihnen heim, das können Sie mir glauben. «Doch es war nur ein Wutausbruch. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als Vibart zu informieren. Er übergab die Wache an Neale und ging niedergeschlagen nach unten. Der Posten öffnete die Kajütentür, ehe Herrick sie überhaupt erreicht hatte, und er vermutete, daß der Seesoldat seine Überraschung richtig vorausgesehen hatte, denn Vibart war bereits in Bolithos Quartier umgezogen. Das steigerte nur noch Herricks Gefühl alptraumhafter Unwirklichkeit.

Vibart schaute vom Arbeitstisch hoch und blickte Herrick an.

«Zwei Mann zur Bestrafung. «Herrick sah, daß Okes gedankenverloren am Heckfenster stand.

Vibart lehnte sich im Stuhl zurück.»Sagen Sie >Sir<, wenn Sie mich anreden, Mr. Herrick. «Er zog die Stirn in Falten.»Ich kann mir nicht vorstellen, warum Sie es so darauf anlegen, Ihre Position zu verschlechtern. «Kalt fuhr er fort:»Machen Sie eine Eintragung ins Logbuch, Mr. Herrick. Bestrafung um acht

Glasen morgen früh. Jeder zwei Dutzend Hiebe.»

Herrick schluckte.»Aber ich habe Ihnen doch die Vergehen noch gar nicht mitgeteilt, Sir.»

«Auch nicht notwendig. «Vibart deutete zum offenen Oberlicht.»Ich habe Ihr unsinniges Gespräch mit Mr. Evans gehört. Und lassen Sie sich gesagt sein, daß mir Ihr offensichtlicher Wunsch, sich bei Lügnern und Dieben anzubiedern, mißfällt.»

Herrick hatte das Empfinden, als ob ihn die Kajüte erdrücke.»Ist das alles?«Er schluckte wieder.»Sir?»

«Im Augenblick ja. «Vibart sah fast heiter aus.»Wir nehmen in einer Stunde Kurs nach Süden. Sorgen Sie dafür, daß die Leute während Ihrer Wache nicht nachlässig werden.»

«Aye, aye, Sir. «Herrick mußte mit aller Macht an sich halten. Draußen drehte er sich kurz um und blickte zurück. Die Tür war geschlossen, und der Posten unter der schwingenden Laterne starrte ausdruckslos vor sich hin. Es war geradeso, als sei Pomfret zurückgekehrt und säße wieder in der großen Kajüte. Herrick schüttelte den Kopf und stieg zum Achterdeck hinauf. Alles fügte sich so schnell zu einem Muster, daß Herrick sich unvermittelt fragte, ob Pomfret tatsächlich die kontrollierende Instanz gewesen war, die die Phalarope in eine schwimmende Hölle verwandelt hatte.

Als er an Deck zurückkam, war die Sonne tiefer zur Kimm hinabgesunken. Das Meer war leer, eine weite Wüste aus Silber und purpurnen Schatten, begrenzt durch einen messerscharfen Horizont. Hier draußen ist ein Kapitän tatsächlich Gott, dachte er bitter. Nur unter Bolitho hatte er gespürt, was Zweckmäßigkeit und Verständnis bedeuteten, und nach der Zeit mit Pomfret war ihm das wie der Beginn eines neuen Lebens vorgekommen.

Er blickte zur Heckreling, als erwarte er, die hohe Gestalt Bolithos zu sehen, der das Brassen der Rahen beobachtete oder bloß auf den Sonnenuntergang wartete. Herrick hatte Bolitho in solchen Augenblicken nie gestört, aber sonst jede Gelegenheit genutzt, ihn besser verstehen zu lernen. Vor seinem geistigen Auge standen Bolithos ausgeprägtes Profil und der feste Mund, der gleichzeitig belustigt und traurig wirken konnte. Es schien undenkbar, daß ein solcher Mann wie ein Licht ausgelöscht worden sein sollte.

Mit gesenktem Kopf ging er von neuem langsam auf und ab. In dieser Welt, dachte er, kann man sich auf nichts verlassen.

Den erschöpften Männern in dem kleinen Boot kam die Nacht kalt und trostlos vor, und selbst jenen, die die grelle Sonne verflucht und über brennenden Durst geklagt hatten, brachte die Dunkelheit keine Linderung.

Bolitho kroch nach achtern zurück, wo Farquhar neben der Ruderpinne saß. Mit Stockdales Hilfe hatte er gerade einen toten Matrosen über Bord geworfen, während die anderen schweigend zugeschaut hatten. Dem Matrosen war das Schlimmste an Schmerzen und Durst erspart geblieben, da er seit seiner Verwundung durch die Wache auf der Korvette fast nie aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht war. Unter dem kleinen Segel machte das Boot nur wenig Fahrt, und es schien eine Ewigkeit zu dauern, ehe der Leichnam nach achtern trieb. Sie hatten nicht einmal einen Anker, um den Körper zu beschweren. Sie hatten so gut wie überhaupt nichts. Nur ein Faß brackiges Wasser, die Tagesration pro Kopf betrug nicht mehr als einen Becher.

Bolitho sank auf die Achterducht und blickte nach den Sternen.»Steuern Sie genau Süd, wenn Sie können. «Durst und Müdigkeit setzten ihm zu.»Wenn wir bloß ein bißchen mehr Wind in dieses kümmerliche Segel bekämen.»

«Ich glaube, dann würde das Boot sinken, Sir«, sagte Farquhar.»Es ist rost- und wurmzerfressen.»

Bolitho streckte die Beine aus und dachte darüber nach, wie langsam die Zeit verstrichen war. Wenn das der erste Tag war, grübelte er, was würde morgen werden und was übermorgen? Die Männer verhielten sich ruhig, aber auch das konnte gefährlich sein. Die Erleichterung, daß sie den Franzosen entkommen waren, konnte bald in Mißtrauen und Gegenbeschuldigungen umschlagen. Das Elend, Kriegsgefangener zu sein, konnte ihnen bald als trostreich erscheinen im Vergleich zu der Aussicht, zu verdursten und zu verhungern.

«In Hampshire liegt jetzt Schnee auf den Hügeln, nehme ich an«, sagte Farquhar abwesend.»Die Schafe werden zu Tal getrieben worden sein, und die Knechte trinken am Feuer ihr Bier. «Er leckte sich die Lippen.»Ein paar denken vielleicht an uns.»

Bolitho nickte. Ihm fielen die Augen zu.»Ein paar. «Er dachte an seinen Vater in dem großen Haus und an die Ahnengalerie. Nach diesem Abenteuer hier würde es keinen Erben geben, der den Familiennamen weiterführen konnte. Wenn sein Vater starb, erwarb das Haus vielleicht ein reicher Kaufmann und betrachtete dann verwundert die Porträts und anderen Zeugnisse schnell vergessener Menschen und Taten.»Ich will versuchen, eine Stunde zu schlafen«, sagte er.»Wecken Sie mich, wenn es nötig ist.»

Die Augen fielen ihm zu, er hörte nicht einmal mehr Farquhars Antwort. Dann merkte er, daß ihn jemand am Arm zog. Das Boot schwankte, als die Matrosen sich plötzlich erregt im Bug drängten. Einen Augenblick glaubte er, noch zu träumen. Dann hörte er Farquhar rufen:»Sehen Sie, Sir! Da haben sie uns also doch gesucht.»

Bolitho kam hoch und versuchte, über die Köpfe der Männer hinweg die Dunkelheit zu durchdringen. Dann sah er, was sie meinten. Es war eher eine Lücke im vertrauten Stand der Sterne als ein Umriß. Doch nach und nach erkannte er Konturen: ein

Schiff.

«Zünden Sie etwas an, Stockdale«, stieß Bolitho hervor.»Ein paar Lumpen.»

Die schmale Mondsichel schlug Silber aus den fernen Segeln. Vor dem dunklen Mantel der Nacht zeichnete sich das dunklere Gitterwerk der nach hinten geneigten Masten und der Takelage ab. Es war tatsächlich eine Fregatte.

Der als Signal dienende Lumpen knisterte und loderte dann auf. Die Flamme blendete sie und begrenzte die Sicht auf den Umkreis ihres eigenen Bootes. Einige Matrosen riefen Hurra, andere umarmten sich und grinsten wie Kinder.

«Jetzt wird sich das Geheimnis lüften, Mr. Farquhar. «Bolitho legte Ruder, als sich der Umriß des Schiffes veränderte und die Fregatte auf sie zuhielt. Er hörte das Knarren der Rahen und das Schlagen der Segel, als die Fregatte backbraßte und beidrehte. Er glaubte, einen schwachen Ruf zu vernehmen und das Geräusch laufender Füße.»Nimm das Segel weg, Stockdale«, sagte er.»Und ihr da vorn, gebt auf eine Leine acht. «Aber er brauchte niemanden zu ermuntern.

Der Bugspriet schwang ein paar Fuß entfernt schwindelerregend hoch über ihnen herum. Stockdale zündete noch einen

Lumpen an, und Bolitho spürte, wie ihm eine eisige Hand nach dem Herzen griff. Die Galionsfigur der Fregatte tanzte und flimmerte in dem Licht, als wäre sie lebendig: ein vergoldeter Dämon, der ein Paar Schüreisen wie Waffen schwang.

Stockdale warf das Notsignal ins Wasser und fuhr zu Bolitho herum.»Haben Sie gesehen, Sir? Haben Sie das gesehen?»

«Ja, Stockdale. «Bolithos Arme baumelten leblos herab.»Es ist die Andiron.»

Rufe und Jubel erstarben, und die Männer saßen oder standen geschlagen da, als vom Deck her Laternenschein auf sie fiel und ein Enterhaken sich in das Schanzkleid des Bootes biß.

Die Matrosen traten beiseite, um Bolitho vorbeizulassen. Er ging zum Bug und griff nach der Jakobsleiter, die plötzlich auftauchte. Er war vom Wechsel der Dinge noch zu niedergeschmettert, um die Geschehnisse klar gegeneinander abzugrenzen. Sein Verstand registrierte nur kurze, unwirkliche Bilder, vergrößert und verzerrt durch die Lichtflecken der Laternen, die blitzenden Bajonette und die herandrängenden, neugierigen Gesichter. Während er in den Laternenschein trat, hörte er verwunderte Ausrufe und Bemerkungen. Eine irische Stimme sagte:»Das ist ein englischer Offizier!«Eine andere warf mit näselndem Kolonialakzent dazwischen:»Zum Teufel, das stimmt. Sogar ein Kapitän.»

Die Männer der Phalarope erklommen einer nach dem anderen die Jakobsleiter und mußten sich in einer Reihe aufstellen. Ein Offizier in dunklem Mantel und mit Dreispitz schob sich durch die dichtgedrängte Mannschaft und musterte Bolitho erheitert.

«Willkommen an Bord, Kapitän. Wirklich ein Vergnügen. «Er wandte sich um und rief:»Stellt sie unter Bewachung und versenkt diesen Sarg von einem Boot. «Und zu einem großen Neger:»Sondere die Offiziere aus und bringe sie nach achtern. «Dann verbeugte er sich spöttisch vor Bolitho.»Wenn Sie mir folgen wollen? Ich denke, der Kapitän wird sich freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen.»

Selbst in dem ungewissen Laternenlicht erkannte Bolitho vertraute Einzelheiten. Das letzte Mal war er auf dem Schiff gewesen, um Kapitän Masterman zu besuchen, einen ernsten, aber freundlichen Offizier, der im Gegensatz zu anderen stets bereit gewesen war, sein Wissen und seine Erfahrungen zu teilen, und Bolithos viele Fragen gern beantwortet hatte.

Die klare Erinnerung half ihm, die nagende Verzweiflung zurückzudrängen, so daß er sich automatisch gerade aufrichtete und sogar über die Schrammen und die notdürftig ausgebesserten Schäden, die die Breitseiten der Phalarope angerichtet hatte, bittere Genugtuung zu empfinden vermochte. Der Kapitän der Andiron wollte sicher zur Insel Mola, um dort die Reparaturen zu vollenden, ging es ihm durch den Kopf. Womöglich waren das Segeltuch und die Spieren, die der Lugger geladen hatte, für die Andiron bestimmt gewesen.

Er senkte den Kopf, als ihn der Offizier nach achtern führte. Bei jedem Schritt bemerkte er neugierige Gruppen der Besatzung, die ihn musterten. Eine zusammengewürfelte Mannschaft, dachte er.

Einige zeigten offene Feindseligkeit und riefen ihm Beleidigungen zu. Andere blickten zu Boden oder verbargen ihre Gesichter. Bestimmt englische Deserteure, dachte Bolitho, manche gehörten vielleicht sogar zur ursprünglichen Besatzung der Andiron. Er bemerkte Neger und olivfarbene Mexikaner, wortgewaltige Iren und dunkelhäutige Matrosen, die wahrscheinlich aus dem Mittelmeergebiet stammten. Dennoch offenbar eine eng verknüpfte Gemeinschaft, wenn auch möglicherweise nur durch die gemeinsame Gefahr und die Risiken des von ihnen gewählten Gewerbes verbunden.

Der Offizier stieß eine schwere Tür auf und trat beiseite, um Bolitho in eine kleine, kärglich eingerichtete Kajüte eintreten zu lassen.

«Warten Sie hier. Wir müssen erst wieder Fahrt aufnehmen. Ich nehme aber an, daß der Kapitän Sie bald zu sehen wünscht. «Er streckte die Hand aus.»Ihren Degen. «Er bemerkte Bolithos empörten Blick und setzte hinzu:»Und falls Sie an irgendeine Heldentat denken sollten, möchte ich Ihnen nur sagen, daß die Tür bewacht ist. «Er nahm den Degen entgegen und betrachtete ihn von allen Seiten.»Eine ziemlich alte Klinge für einen englischen Kapitän. «Er grinste.»Aber es wird eben alles ein bißchen knapp in England, wie?»

Bolitho gab keine Antwort. Der Offizier wollte ihn reizen. Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu reden oder Vergünstigungen zu erbitten. Er sah den Degen seines Vaters im Laternenschein aufglänzen und drehte sich ostentativ um. Er war ein

Gefangener. Er mußte alle Kraft für später aufsparen. Die Tür schlug zu, und er hörte die sich entfernenden Schritte.

Bolitho ließ sich müde auf eine Seekiste fallen und stierte vor sich hin. Farquhar und Belsey waren sicher jeder für sich festgesetzt worden. Zweifellos wollte der Kommandant der Andiron jeden einzeln vernehmen. Er hätte es ebenso gemacht. Sonderbar, sich vorzustellen, daß erst zwei Tage vergangen waren, seit er den vor Angst schlotternden Spanier auf seinem Schiff verhört hatte. Seither war so viel geschehen. Es war beinahe unmöglich, sich den Zeitablauf und die Vorfälle der Reihe nach zurückzurufen. Eins war sicher, er hatte sein Schiff verloren, und die Zukunft lag leer und öde vor ihm.

Die stickige Luft und die Erschöpfung wirkten sich schließlich aus. Als sich das Schiff überlegte und Fahrt aufnahm, lehnte sich Bolitho gegen ein Schott und schlief sofort ein.

Jemand rüttelte ihn am Arm, und er erwachte. Einige Sekunden hoffte er, daß alles nur Teil eines furchtbaren Traumes sei und er zu einer ganz anderen Wirklichkeit erwachen würde, und wenn es die der Ungewißheit in dem überladenen Boot wäre. Doch es war der Offizier, der ihn in die Kajüte gebracht hatte. Als Bolitho sich aufrichtete, sagte er:»Ich dachte schon, Sie wachen überhaupt nicht mehr auf.»

Bolitho bemerkte, daß Tageslicht den Gang vor der Tür erhellte, und während er nach und nach sich der tatsächlichen Lage bewußt wurde, hörte er auf dem Oberdeck das Geräusch von Scheuersteinen und Wassergüssen.

«Wie spät ist es?»

«Sieben Glasen. «Der Offizier zuckte mit den Schultern.»Sie haben fast sieben Stunden geschlafen. «Er winkte einem Matrosen.»Hier ist Wasser und Rasierzeug. «Er musterte Bolitho kalt.»Der Mann bleibt bei Ihnen, um aufzupassen, daß Sie sich nicht die Kehle durchschneiden.»

«Sehr aufmerksam von Ihnen. «Bolitho nahm die Schüssel mit heißem Wasser und ignorierte das faszinierte Interesse des Matrosen.»Aber keine Sorge, Leutnant. Bevor ich sterbe, möchte ich noch sehen, wie Sie gehenkt werden.»

Der Offizier grinste.»Sie sind ein Feuerkopf, das muß man Ihnen lassen. «Und zu der Teerjacke:»Paß gut auf, Jorgens. Der geringste Widerstand, und du nimmst dich seiner an, klar?»

Die Tür schloß sich, und der Matrose sagte:»Der Käpt'n will Sie sprechen, wenn Sie fertig sind. «Er leckte sich die Lippen.»Er hält Frühstück für Sie bereit. «Die Behandlung schien ihn zu erstaunen.

Während Bolitho sich rasierte, rasten ihm hundert Gedanken durch den Kopf. Vielleicht sollte er tun, was der Offizier angedeutet hatte. Ein Schnitt in die Halsschlagader, und sie gingen leer aus, hatten weder ein bereitwilliges Opfer noch eine Quelle möglicher Information. Er erinnerte sich an Herricks Gesicht, als er zu ihm gesagt hatte: >Hier draußen kann man durch mangelnde Information den ganzen Krieg verlieren.< Jetzt kehrten sich seine eigenen Worte gegen ihn. Er dachte an Farquhar und die anderen und sah wieder Stockdales zerschlagenes Gesicht vor sich, als die Leute des Kaperschiffs sie trennten. Es hatte einen Ausdruck des Vertrauens und der Zuversicht getragen. In jenem schrecklichen Augenblick hatte Bolitho das mehr geholfen als Worte oder irgendwelche Taten.

Er wischte das Rasiermesser ab und legte es auf die Seekiste. Nein, das Leben war mehr als die persönlichen Hoffnungen eines Einzelnen. Er zog die Uniform zurecht und schob das dunkle Haar aus der Stirn.»Ich bin bereit«, sagte er kühl.»Vielleicht zeigen Sie mir den Weg.»

Er folgte dem Matrosen durch den Gang. Das Tageslicht zeigte ihm noch mehr Zeugen des kurzen Gefechts: geknickte Hölzer, durch Behelfsbalken gestützt, und vielsagende rote Flecken, die selbst wochenlangem Schrubben getrotzt hatten.

Ein bewaffneter Matrose trat beiseite und öffnete die Tür zur Kapitänskajüte. Bolitho betrat den einst vertrauten Raum. Die Morgensonne flutete durch die Heckfenster, und die tanzenden Reflexe blendeten ihn. Der Kapitän der Andiron stand über die Heckbank gebeugt und schaute hinaus. Seine Gestalt hob sich dunkel vor dem glitzernden Wasser ab. Doch Bolithos Blick galt nicht ihm, sondern dem Degen, der mitten auf dem polierten Tisch lag.

Er wartete. Seine Beine paßten sich automatisch dem leichten Stampfen und Rollen des Schiffes an. Die Kugeln der Phalarope hatten selbst hier eingeschlagen, wie Bolitho sah. Lange kann die Andiron nicht im Hafen gelegen haben, überlegte er.

Der Offizier am Fenster drehte sich langsam um. Das Licht huschte über sein Gesicht, ehe es sich wieder in eine dunkle Silhouette verwandelte. Zum zweiten Male innerhalb von vierundzwanzig Stunden hätte Bolitho beinahe die Haltung verloren. Er mußte alle Kraft zusammennehmen, um nicht ungläubig aufzuschreien. Aber als der andere sprach, wußte er, daß ihn auch diesmal keine Einbildung narrte.

«Willkommen an Bord der Andiron, Richard. Als mir mein Zweiter den Säbel brachte, wußte ich, daß du es sein mußtest.»

Bolitho starrte seinen Bruder an, und die Jahre sackten weg, während ihm tausend Erinnerungen durch den Kopf wirbelten: Das war Hugh Bolitho, der Sohn, über den sein Vater so verbittert und doch so besorgt gesprochen hatte. Nun Kommandant eines feindlichen Kaperschiffes. Schlimmer konnte es nicht kommen.

«Es war unvermeidlich«, sagte sein Bruder langsam.»Aber ich hoffte, daß es auf andere Art geschehen würde. Und vielleicht an einem anderen Ort.»

«Weißt du, was du getan hast?«hörte Bolitho sich fragen.»Was das für Vater bedeutet?«Er stockte, war unfähig, die Tatsache hinzunehmen, daß sie Kinder desselben Vaters waren.»Dann hast du also bei dem Gefecht im vorigen Monat die Andiron befehligt?»

Hugh Bolitho schien sich etwas zu entspannen, offenbar meinte er, das Ärgste sei nun vorüber.»Ja. Es war wirklich eine Überraschung.

Wir wollten gerade zum Endstoß ansetzen, da sah ich dich durch mein Glas. «Er verzog das Gesicht, als er sich den Augenblick zurückrief.»So drehte ich ab. Du hast an diesem Tag Glück gehabt, mein Junge.»

Bolitho versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, und sagte kurz:»Willst du andeuten, daß meine Anwesenheit deinen Entschluß bestimmte?»

«Dachtest du, du hättest gesiegt, Richard?«Hugh Bolitho betrachtete seinen Bruder irgendwie belustigt.»Trotz des Kettenbeschusses hätte ich die Phalarope nehmen können, das kannst du mir glauben. «Er zog die Schultern hoch, ging zum Tisch und blickte auf den Degen.»Es brachte mich aus der Fassung. Ich wußte nicht, daß du nach Westindien zurückgekehrt warst.»

Bolitho sah die grauen Strähnen im Haar seines Bruders und die Falten um seinen Mund. Hugh war nur vier Jahre älter, aber es hätten zehn Jahre zwischen ihnen liegen können.»Nun, jetzt bin ich also dein Gefangener«, sagte er.»Was hast du mit mir vor?»

Hugh Bolitho wich einer direkten Antwort aus. Statt dessen griff er nach dem Degen und hielt ihn gegen die Sonne. »Dir hat er ihn also gegeben. «Er schüttelte den Kopf, eine ebenso vertraute wie schmerzliche Geste.»Armer Vater. Ich fürchte, er denkt das Schlechteste von mir.»

«Überrascht dich das?»

Hugh Bolitho legte den Degen auf den Tisch und schob die Hände tief in die Taschen seines einfachen blauen Rocks.»Ich war auf diese Begegnung nicht aus, Richard. Denke, was du willst, aber du weißt so gut wie ich, daß die Dinge hier draußen zu schnell abrollen, um Gefühle walten zu lassen. «Er sah seinen Bruder an.»Als ich dich auf dem Deck stehen sah, während deine armselige Mannschaft auseinanderfiel, konnte ich es einfach nicht über mich bringen, den Kampf zu Ende zu führen. «Er hob unbestimmt die Hand.»Ganz wie früher, Richard. Es ist mir nie leichtgefallen, dir etwas wegzunehmen, was deiner Meinung nach dir gehörte.»

«Trotzdem hast du es immer getan, nicht wahr?«erwiderte Bolitho gelassen.

«Die Zeiten sind vorbei. «Er deutete auf eine Seekarte.»Wir segeln nach St. Kitts. Bis zum Abend werden wir unter Land sein. «Er bemerkte den Zweifel in Bolithos Augen.»Ich lese in dir wie in einem Buch, Richard. Noch immer das alte Mißtrauen. «Er lachte.»St. Kitts ist von unseren Verbündeten genommen worden. Sir Samuel Hood hat sich zurückgezogen, um seine Wunden zu lecken. «Er schwenkte die Hand über die Karte.»Es wird bald vorbei sein. Ob eure Regierung es nun glaubt oder nicht, Amerika wird eine unabhängige Nation werden, vielleicht eher, als man denkt.»

Bolithos Finger krampften sich hinter seinem Rücken ineinander. Während er hier mit der Vergangenheit konfrontiert wurde, ging seine Welt in Stücke. St. Kitts verloren! Vielleicht sammelten sich die Franzosen schon anderswo zum Angriff. Aber wo? Sie konnten fast jede karibische Insel wählen.

«Falls du etwas vorhast, um meine Pläne zu stören, dann spar dir die Mühe, Richard. Für dich ist der Krieg aus. «Hugh

Bolitho klopfte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte.»Es sei denn… «»Es sei denn — was?»

Hugh Bolitho kam um den Tisch herum und sah seinen Bruder fest an.»Es sei denn, du stößt zu uns, Richard. Die Franzosen geben etwas auf mich. Ich glaube bestimmt, daß sie dir ein Schiff anvertrauen würden. Nach deinem Wagestück auf Mola können sie dir Mut und Zielstrebigkeit ganz gewiß nicht absprechen. «Er lächelte bei dem Gedanken, der ihm durch den Kopf ging.»Vielleicht sogar die Phalarope.»

Er beobachtete seinen Bruder, der keine Miene verzog, und ging dann zum Fenster.»Diese Gewässer gehören jetzt uns. Unsere Nachrichten stammen aus vielen Quellen, von Fischern, Handelsbooten, sogar Sklavenschiffen. Da St. Kitts gefallen ist, werden sich eure Schiffe nach Süden auf Antigua zurückziehen, ja noch weiter. Hier gibt es nicht mehr viele Patrouillenschiffe. Zu kostspielig für euren Admiral, nicht wahr?«Er lächelte.»Vielleicht nur noch ein Schiff: ein einziges.»

Bolitho dachte an die Phalarope und versuchte sich vorzustellen, was Vibart tun würde.

«Dein Schiff, Richard, die Phalarope. Wir brauchen jede Fregatte, die wir bekommen können, wie die Seestreitkräfte aller anderen Länder auch. Ich habe dafür gesorgt, daß dein Admiral, dieser bombastische Narr Sir Robert Napier, über unsere Bewegungen informiert wurde. Dein Erfolg auf Mola ist ihm bestimmt so zu Kopf gestiegen, daß er der Phalarope Order geben wird, uns aufzuspüren. Der Admiral wird bestimmt alles daransetzen, den Verlust der Andiron zu rächen, nicht wahr?»

«Du mußt verrückt sein. «Bolitho sah seinen Bruder kalt an.

«Verrückt? Kaum, Richard. Ich habe deine Leute verhört. Sie haben mir berichtet, wie ihr Schiff von Admiral Napier bestraft wurde, weil es die Andiron entkommen ließ. Sie haben auch von der Unruhe gesprochen, die an Bord ausbrach, ehe du das Kommando übernommen hast. «Er hob die Arme.»Ich fürchte, die Mehrzahl deiner Männer wird ihr Schicksal mir anvertrauen. Aber trauere deswegen nicht, es wäre nur klug von ihnen. Hier draußen entsteht eine neue Welt, und sie werden ein Teil von ihr sein. Sobald der Krieg vorüber ist, segle ich nach England und fordere mein Erbe, Richard. Danach werde ich nach Amerika zurückkehren. Ich habe meinen Wert unter Beweis gestellt. Die Vergangenheit bedeutet mir nichts mehr.»

«Dann tut mir eure Nation leid«, sagte Bolitho ruhig.»Wenn ihre Existenz von Verrätern abhängt, wird sie einen schwierigen Kurs steuern müssen.»

Sein Bruder blieb gelassen.»Verräter oder Patrioten, das hängt vom Standpunkt ab. Wie dem auch sei, heute abend wird die Andiron vor St. Kitts ankern. Nicht im Haupthafen, sondern in einer kleinen Bucht, die meines Erachtens der ideale Ort ist, um sie zurückzuerobern. «Er warf den Kopf zurück und lachte.»Nur, daß es die Phalarope sein wird, die in die Falle geht, mein verehrter Herr Bruder. »

Bolitho blickte ihn ausdruckslos an.»Was das anlangt: Ich bin Gefangener. Ich möchte weder meinen Familiennamen noch den meines Landes beschmutzt sehen, indem ich Bruder genannt werde!»

Der Pfeil hatte getroffen, Bolitho spürte es an Hughs Reaktion. Doch sein Bruder fing sich gleich wieder und sagte tonlos:»Dann nach unten mit dir. «Er griff nach dem Säbel.»In Zukunft werde ich ihn tragen. Er gehört von Rechts wegen mir.»

Er schlug auf den Tisch, und ein Posten erschien in der Tür. Dann sagte er:»Ich bin froh, daß du an Bord meines Schiffes bist, Richard. Wenn mir die Phalarope diesmal vor die Kanonen kommt, wird mich nichts aufhalten.»

«Wir werden sehen.»

«In der Tat, das werden wir. «Hugh Bolitho trat an seine Karte.»Wenn ich die Stimmung deiner Leute richtig einschätze, Richard, werden sie bald den Befehlen der Andiron folgen.»

Bolitho machte kehrt und schritt an der Wache vorbei. Der Kapitän der Andiron folgte dem Abgang mit den Augen, seine Hände umspannten den Degen wie einen Talisman.

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