14. Kapitel Timothy

Wir sind schon eine seltene Mischung, wir vier. Wie haben wir bloß zusammengefunden? Welche Knoten in den Lebenslinien haben uns nur in die gleiche Stube gesteckt?

Am Anfang waren da nur Oliver und ich, zwei Erstsemester, die vom Computer dasselbe Doppelzimmer mit Blick auf den Hof zugewiesen bekommen hatten. Ich war direkt von Andover gekommen und ungeheuer von meiner Wichtigkeit überzeugt. Damit meine ich nicht, daß ich mich vom Familienvermögen hatte beeindrucken lassen. Das nahm ich als selbstverständlich hin, hatte es immer so gesehen; jedermann, mit dem ich aufwuchs, war reich.

Daher hatte ich auch keine Vorstellung, wie reich wir waren. Und überhaupt habe ich nie einen Finger krumm machen müssen, um Geld zu verdienen (auch nicht mein Vater, so wenig wie dessen Vater oder wiederum dessen Vater etc. etc.); warum sollte ich mir also darauf etwas einbilden? Was mich eingebildet werden ließ, war meine Abstammung, das Wissen, daß in mir das Blut von Helden des Unabhängigkeitskrieges floß, von Senatoren und Kongreßabgeordneten, von Diplomaten und von den großen Finanzgenies des neunzehnten Jahrhunderts. Ich war eine wandelnde Gedenktafel. Davon abgesehen gefielen mir auch meine Körpergröße, meine Kraft und meine Gesundheit — ein gesunder Geist in einem gesunden Körper, alle Vorteile, die die Natur einem mitgeben kann. Außerhalb des Campus lag eine Welt voller Farbiger und Juden, Spastiker und Neurotiker, Homosexueller und anderer Störenfriede. Aber ich hatte vom Spielautomaten des Lebens eine Goldene Serie bekommen, und ich war stolz auf dieses Glück. Außerdem bekam ich jede Woche einhundert Dollar zugewiesen, was ganz günstig war, und ich bin mir damals nicht bewußt geworden, daß die meisten Achtzehnjährigen mit erheblich weniger auskommen mußten.

Und dann traf ich auf Oliver. Ich stellte fest, daß der Computer mir zu einem neuen Glückslos verholfen hatte, denn er hätte mir ja auch einen seltsamen Vogel, einen Verrückten oder einen mit einer zerschmetterten, neidischen, verbitterten Seele zuweisen können. Aber Oliver wirkte durch und durch normal. Ein gutaussehender, wohlgenährter Medizinstudent aus den wilden Weiten von Kansas. Er hatte meine Größe — vielleicht noch ein paar Zentimeter mehr, und das war sehr gut so; mit kleinen Menschen komme ich nicht zurecht. Oliver war nach außen hin unkompliziert. Über fast alles konnte er lachen. Einer, mit dem man leicht zurechtkommt. Beide Eltern tot, er bekam ein volles Stipendium für diese Anstalt. Ich bemerkte rasch, daß er überhaupt kein Geld besaß, und fürchtete einen Moment lang, das könne Unstimmigkeiten zwischen uns heraufbeschwören. Aber nein, er verstand die Situation sehr gut. Geld schien ihn gar nicht zu interessieren, solange er nur genug hatte, um Nahrung, Unterkunft und Bekleidung zu bezahlen, und dafür hatte er genug — eine kleine Erbschaft, der Erlös aus dem Verkauf der Familienfarm. Das dicke Bündel Geld, das ich immer mit mir führte, erschreckte ihn nicht, es amüsierte ihn nur. Er erzählte mir schon am ersten Tag, daß er plante, in die Basketball-Mannschaft zu gehen, und ich dachte, er hätte sein Stipendium als Sportler bekommen, aber da lag ich falsch: Er mochte Basketball, er nahm ihn sogar sehr ernst, aber er war hierhergekommen, um zu lernen. Und das war auch der eigentliche Unterschied zwischen uns, nicht die Sache mit Kansas oder mein Geld, sondern diese Vorstellung seiner Absichten. Ich ging aufs College, weil alle männlichen Mitglieder meiner Familie nach der Schule und vor dem Erwachsensein das College besuchen. Oliver war hier, um aus sich eine wilde Geistmaschine zu machen. Er hatte damals — und hat ihn immer noch — einen kolossalen, unglaublichen und überwältigenden inneren Antrieb. Hin und wieder erwischte ich ihn in jenen ersten Wochen ohne Maske; die sonnige Miene des Farmjungen verschwand, der Ausdruck wurde hart, die Kiefer waren aufeinandergepreßt, die Augen strahlten in kaltem Glanz. Sein Eifer konnte erschreckend sein. In allem mußte er perfekt sein. Er hatte einen Notendurchschnitt von „sehr gut“ und stand immer mit an der Spitze in unserer Klasse. Er spielte im Erstsemester-Basketball-Team mit und sprengte im ersten Spiel den Korbrekord; täglich blieb er die halbe Nacht auf, um zu studieren, er schien nie zu schlafen. Trotzdem schaffte er es, menschlich zu wirken. Er trank viel Bier, konnte unbegrenzt bumsen (wir gingen immer zusammen auf Tour), und er spielte vorzüglich Gitarre. Zum Maschinenwesen wurde Oliver nur, wenn es um Drogen ging. In der zweiten Woche am College besorgte ich ausgezeichnetes marokkanisches Hasch, aber er wollte absolut nicht. Und erklärte nur, er habe siebzehneinhalb Jahre damit verbracht, seinen Kopf zu eichen, und jetzt habe er nicht vor, das alles wieder durcheinanderzubringen. So weit ich das beurteilen kann, hat er in den vier Jahren, die seitdem vergangen sind, noch nicht an einem Joint gezogen. Er toleriert unseren Drogenkonsum, aber er will nichts davon abhaben.

Im Frühling unseres zweiten Studienjahres erwarben wir Ned. Oliver und ich hatten unser Zimmer in diesem Jahr wieder genommen. Ned besuchte zwei Seminare, in denen auch Oliver saß: Physik, die Ned benötigte, um seinen naturwissenschaftlichen Pflichtveranstaltungen nachzukommen, und Literaturwissenschaft, Olivers geisteswissenschaftliche Pflichtveranstaltung. Oliver hatte einige Schwierigkeiten mit Joyce und Yeats, und Ned hatte etliche Schwierigkeiten mit der Quantentheorie und der Thermodynamik, also entwickelten die beiden eine gegenseitige Nachhilferegelung. Bei den beiden zogen sich wirklich Gegensätze an. Ned war klein, sprach leise, war mager, hatte große, sanfte Augen, und er bewegte sich sanft. Ein Bostoner Ire von streng katholischer Herkunft, erzogen in kirchlichen Schulen. Er trug immer noch ein Kruzifix, als wir schon im dritten Semester waren, manchmal ging er sogar in die Messe. Er beabsichtigte Dichter und Kurzgeschichtenautor zu werden. Nein, beabsichtigen ist nicht das richtige Wort. Wie Ned einmal erklärte, beabsichtigen Leute mit Talent nicht, Autoren zu werden. Entweder man ist es, oder man ist es nicht. Die, die Talent haben, beabsichtigen zu schreiben. Ned schrieb immer. Und tut das immer noch. Er trägt einen Spiralblock mit sich und notiert alles, was er hört. Eigentlich bin ich ja der Meinung, daß seine Kurzgeschichten Scheiße sind und seine Gedichte nutzlos. Aber ich räume ein, daß dafür auch mein Geschmack verantwortlich sein kann und nicht sein Talent, denn die gleiche Meinung hege ich über viele Autoren, von denen die meisten berühmter sind als Ned. Zumindest arbeitet er ja an seiner Begabung.

Er wurde für uns so etwas wie ein Maskottchen. Ned hing immer enger mit Oliver zusammen als mit mir, aber ich hatte nichts gegen seine Gesellschaft einzuwenden; er war etwas ganz anderes, jemand, der zu allem im Leben eine andere Einstellung hatte. Seine heisere Stimme, seine traurigen Hundeaugen, seine verrückten Kleider (er trug oft Roben, ich glaube, weil er damit vorgeben wollte, es hätte ihn schließlich doch zum Priestertum verschlagen), seine Gedichte, seine eigentümliche Form von Sarkasmus, die Kompliziertheit seines Verstands (jede Sache sah er von zwei oder drei Seiten und schaffte es so, gleichzeitig an alles und an nichts zu glauben) — das alles faszinierte mich. Wir müssen ihm genauso fremdartig erschienen sein wie er uns. Er hing so oft bei uns, daß wir ihn einluden, im dritten Jahrgang mit uns zusammenzuwohnen. Ich weiß nicht mehr, wessen Idee das gewesen ist, Olivers oder meine. (Neds?)

Damals wußte ich nicht, daß Ned andersherum ist. Oder besser, daß er schwul ist, um den Ausdruck zu gebrauchen, den er vorzieht. Das Problem daran, ein WASP-Leben zu führen, ist, daß man nur einen kleinen Ausschnitt vom wirklichen Leben mitbekommt, und man erwartet nie im geringsten, daß das Unerwartete eintritt. Ich wußte natürlich, daß es Homos gab. Es gab sie auch bei uns in Andover. Sie bewegten beim Gehen die Ellenbogen, kämmten sich oft die Haare und sprachen einen besonderen Tonfall, diesen universellen Fagott-Tonfall, den man von Maine bis Kalifornien hören kann. Sie lesen andauernd Proust und Gide, und manche von ihnen tragen einen BH unter dem T-Shirt. Aber Ned sah nicht wie eine Tunte aus. Und ich war auch nicht so beschränkt zu glauben, daß jedermann, der Gedichte schrieb (oder las!), ein Schwuler sein müsse. Nun, er hatte eine Beziehung zur Kunst, er war schmal, und er wirkte überhaupt nicht männlich; aber man erwartet von einem, der nur hundertfünfzehn Pfund wiegt, ja auch nicht, daß er Footballer ist. (Er ging fast jeden Tag schwimmen. Wir schwimmen natürlich nackt im Collegebad, und für Ned muß das wohl wie Weihnachten und Geburtstag zusammen gewesen sein, aber damals dachte ich noch nicht an so etwas.) Eines fiel mir auf — er ging nicht mit Mädchen aus. Allerdings ist das ja für sich genommen noch keine Sünde. Eine Woche vor Semesterschluß vor zwei Jahren veranstalteten Oliver und ich und noch ein paar andere Jungen so etwas wie eine Orgie in unserem Zimmer. Ned war auch da, und er schien gar nichts gegen die Sache zu haben. Ich sah, wie er ein Mädchen vögelte, eine picklige Kellnerin aus der Stadt. Und erst viel später fiel mir folgendes auf: Erstens, Ned mochte eine Orgie ganz nützlich als Material für seine Schriftstellerei empfinden, und zweitens, er verschmäht die Mösen eigentlich gar nicht, er hat eben nur Jungen lieber.

Ned bescherte uns Eli. Nein, sie schliefen nicht zusammen, sie waren Freunde. Und das war auch gleich das erste, was Eli mir sagte: „Solltest du da noch Unklarheiten haben, ich bin heterosexuell. Ich bin nicht Neds Typ, und er nicht meiner.“ Das werde ich nie vergessen. Es war der erste Hinweis, den ich bekam, daß Ned so veranlagt war, und ich glaube nicht, daß Oliver davon eine Ahnung hatte, obwohl man nie richtig weiß, was eigentlich in Olivers Kopf vor sich geht. Eli hatte Ned natürlich sofort durchschaut. Er war ein Stadtbewohner, ein Intellektueller aus Manhattan, der jeden mit einem Blick richtig einstufen konnte. Eli mochte seinen Zimmergenossen nicht und wollte raus, und wir hatten eine geräumige Bleibe, so redete er mit Ned, und Ned fragte uns, ob Eli zu uns ziehen könne; das war im November unseres dritten Jahres. Mein erster Jude. Das wußte ich allerdings auch nicht sofort — oh, Timothy Winchester, du dämlicher Arsch, du! Eli Steinfeld aus dem Westen der Dreiundachtzigsten Straße, da kann man einen darauf ablassen, daß er ein Jude ist! Ganz ehrlich, ich dachte, er sei ein Deutscher: Juden heißen Cohen oder Katz oder Goldberg. Es war nicht eigentlich Elis Persönlichkeit, die mich an ihm fesselte, wie man vielleicht meinen mag, aber sobald ich herausgefunden hatte, daß er ein Jude ist, fühlte ich mich gezwungen, ihn bei uns einziehen zu lassen. Ich konnte doch durch diverse Charaktere nur meinen Horizont erweitern, und außerdem war ich dazu erzogen worden, Juden abzulehnen, und ich wollte dagegen ankämpfen. Mein Großvater väterlicherseits hat 1923 einige schlimme Erfahrungen mit cleveren Juden machen müssen: Ein paar jüdische Wall-Street-Haie hatten ihn übers Ohr gehauen und ihn viel Geld in eine Rundfunkgesellschaft stecken lassen, die sie aufbauten. Und sie waren Schlitzohren; und er verlor ungefähr fünf Millionen. Von da an wurde es zur Familientradition, allen Juden zu mißtrauen. Sie seien vulgär, schlitzohrig, verschlagen usw. und ständig darauf bedacht, einem ehrlichen protestantischen Millionär sein hart ererbtes Vermögen abzuluchsen. Tatsächlich hat mein Onkel Clark einmal mir gegenüber zugegeben, daß Großvater sein Geld hätte verdoppeln können, wenn er innerhalb von acht Monaten verkauft hätte, wie es seine jüdischen Partner heimlich getan haben. Aber nein, er wartete ab, um einen noch fetteren Profit herauszuziehen, und fiel auf die Nase. Nun, ich halte nicht alle Familientraditionen aufrecht. Eli zog ein. Klein, irgendwie dunkelhäutig, starke Körperbehaarung, schnelle, nervöse, helle und kleine Augen, eine große Nase. Ein scharfer Verstand. Ein Experte in mittelalterlichen Sprachen; bereits als Kapazität auf diesem Feld anerkannt, obwohl er noch keinen akademischen Grad hatte. Auf der anderen Seite der Medaille war er äußerst quälend schweigsam, neurotisch, überempfindlich und ständig in Sorge um seine Männlichkeit. Andauernd jagte er den Röcken nach, gewöhnlich ohne Erfolg. Das waren zwar auch recht seltsame Mädchen, aber nicht diese besonders häßlichen Figuren, die Ned, Gott weiß warum, bevorzugt: Dieser Eli war hinter einem bestimmten Typ her — scheuen, knochigen, unauffälligen Dingern mit dicken Brillengläsern, flachen Brüsten und so — ich glaube, ich muß nicht mehr fortfahren. Natürlich waren sie genauso neurotisch wie er, hatten Angst vor Sex und kamen mit Eli nicht zurecht, was seine Probleme nur noch vergrößerte. Er schien wirklich Angst davor zu haben, es einmal mit einer normalen, attraktiven und sinnlichen Puppe zu versuchen. Eines Tages im letzten Herbst habe ich als Akt christlicher Barmherzigkeit Margo auf ihn angesetzt, und er hat sich so dämlich angestellt, daß man es nicht für möglich halten sollte.

Wir sind schon eine Viererbande. Ich glaube, ich werde nie das erste (und wahrscheinlich einzige) Mal vergessen, als unsere Eltern im Frühling des dritten Studienjahres am Karnevalswochenende zusammenkamen. Bis dahin haben sich unsere Eltern, so nehme ich an, überhaupt kein klares Bild von den Zimmergenossen ihrer Söhne gemacht. Ich habe Oliver einige Male zu Weihnachten zu meinem Vater nach Hause mitgenommen, aber nie Ned oder Eli, und deren Verwandte hatte ich auch noch nie gesehen. Jedenfalls kamen sie jetzt alle zusammen. Natürlich niemand von Olivers Seite. Und Neds Vater war ebenfalls tot. Seine Mutter war eine hagere, hohläugige, knochige Frau, die fast einen Meter achtzig groß war, schwarze Kleider trug und mit irischem Akzent sprach. Ich konnte überhaupt keine Ähnlichkeit zwischen ihr und Ned erkennen. Elis Mutter war plump, kurz, mit watschelndem Gang und kleidungsmäßig zu sehr herausgeputzt; sein Vater war völlig unscheinbar, ein kleiner Mann mit einem traurigen Gesichtsausdruck, der oft seufzte. Sie sahen beide viel zu alt für Eli aus. Sie müssen ihn erst mit fünfunddreißig oder vierzig bekommen haben. Dann war da mein Vater, der so aussieht wie ich in meiner Vorstellung in fünfundzwanzig Jahren — glatte, rosafarbene Wangen, dichtes Haar, das sich im Übergangsstadium zwischen blond und grau befindet, einen vermögenden Zug um die Augen. Ein großer Mann, ein schöner Mann, der Finanzdirektor-Typ. Mit ihm war Saybrook gekommen, seine Frau, die, glaube ich, achtunddreißig ist, aber zehn Jahre jünger wirkt; sie ist groß, hat gepflegte, lange, glatte blonde Haare, einen athletischen Körper mit großen Knochen, der Typ des weiblichen Fuchsjagdhunds. Man stelle sich nur einmal diese Gesellschaft unter einem Sonnenschirm auf dem Hof vor, wie sie sich bemühen, Konversation zu machen. Mrs. Steinfeld versuchte, Oliver zu bemuttern, den armen, lieben Waisenjungen. Mr. Steinfeld starrte entsetzt auf den 450-Dollar-Samtanzug meines Vaters. Neds Mutter kriegte überhaupt nichts mit, verstand weder ihren Sohn noch seine Freunde, noch deren Eltern, noch irgendeinen anderen Aspekt des zwanzigsten Jahrhunderts. Saybrook gab sich ganz herzlich, wie eine Pferdeliebhaberin, und plauderte fröhlich über Wohltätigkeitsveranstaltungen und das bevorstehende Debüt ihrer Stieftochter. („Ist sie eine Schauspielerin?“ fragte Mrs. Steinfeld verblüfft. „Ich meine ihren großen Debütantinnenball“, sagte Saybrook ebenso verblüfft.) Mein Vater studierte oft intensiv seine Fingernägel und sah verwundert auf die Steinfelds und Eli und wollte es einfach nicht glauben. Mr. Steinfeld wollte Konversation betreiben und sprach mit meinem Vater über die Effektenbörse. Mr. Steinfeld besitzt keine Aktien, aber er liest die Times sehr sorgfältig. Mein Vater hat keine Ahnung von der Börse; solange die Dividenden regelmäßig eintreffen, ist er zufrieden; davon abgesehen gehört es zu seiner Weltanschauung, niemals über Geld zu reden. Er gibt Saybrook ein Signal, die flink das Thema wechselt und uns davon berichtet, daß sie Vorsitzende eines Komitees ist, welches einen Fond für palästinensische Flüchtlinge gegründet hat. Sie wissen doch, sagt sie, das sind die, die von Juden vertrieben wurden, als Israel gegründet wurde. Mrs. Steinfeld keucht. So etwas vor einem Mitglied der Hadassah zu sagen! Mein Vater zeigt jetzt über den Hof auf einen ausgesucht langhaarigen Kommilitonen, der sich gerade umgedreht hat, und sagt: „Ich hätte schwören können, daß dieser Bursche ein Mädchen sei, bis er sich hierhergedreht hat.“ Oliver, der sich das Haar bis auf die Schulter hat wachsen lassen, vermutlich um zu zeigen, was er von Kansas hält, bedenkt meinen Vater mit seinem kältesten Lächeln. Unverzagt, oder vielleicht hat er gar nichts bemerkt, fährt mein Vater fort: „Ich mag mich da ja irren, aber ich kann einfach nicht anders, als bei den meisten dieser jungen Männer mit den wallenden Locken zu vermuten, daß sie, na Sie wissen schon, homosexuell veranlagt sind.“ Ned muß darüber laut lachen. Neds Mutter läuft rot an und hustet nicht etwa, weil sie weiß, daß ihr Sohn schwul ist (sie weiß es nicht — diese Vorstellung wäre unglaublich für sie), sondern weil dieser vornehm aussehende Mr. Winchester so ein anstößiges Wort bei Tisch gebraucht hat. Die Steinfelds, die sehr rasch begreifen, sehen erst Ned an, dann Eli und dann sich selbst — eine ziemlich komplexe Art der Reaktion. Ist ihr Sohn auch sicher mit so einem Zimmergenossen? Mein Vater kann gar nicht begreifen, was seine beiläufige Bemerkung angerichtet hat, und weiß nicht, wie und wofür er sich entschuldigen soll. Er runzelte die Stirn, und Saybrook flüsterte ihm etwas zu — tz, tz, Saybrook! Flüstern in der Öffentlichkeit, was würde Emily Post dazu sagen? Und er antwortet, knallrot wie eine Tomate, der Ton nähert sich dem Infrarot. „Vielleicht sollten wir Wein bestellen“, sagt er laut, um seine Konfusion zu verbergen und winkt gebieterisch einem studentischen Kellner. „Haben Sie Chassagne-Montrachet ’69?“ fragte er. „Bitte?“ antwortet der Kellner bestürzt. Dann wird ein Eiskelch gebracht, der eine Flasche Liebfrauenmilch zu drei Dollar enthält, das Beste, was man anzubieten hat. Mein Vater bezahlt mit einem funkelnagelneuen Fünfziger. Neds Mutter starrt ungläubig auf die Rechnung. Die Steinfelds starren meinen Vater böse an und glauben, er wolle sie heruntermachen. Eine einzige wunderbare Episode, dieser ganze Mittag. Später zieht Saybrook mich beiseite und sagt: „Dein Vater ist sehr verlegen. Hätte er gewußt, daß Eli, nun, äh, sich zu anderen Jungen hingezogen fühlt, hätte er diese Bemerkung nie gemacht.“

„Nicht Eli“, sagte ich. „Eli ist normal. Es ist Ned.“

Saybrook ist aufgeregt. Sie glaubt, ich wolle sie auf den Arm nehmen. Sie möchte sagen, daß sie und mein Vater hoffen, ich ficke nicht mit einem von ihnen herum, egal wer nun der Schwule ist, aber sie ist viel zu gut erzogen, um so etwas zu sagen. Statt dessen wechselt sie in den folgenden drei Minuten auf Small-talk um, eist sich vorsichtig los und geht zu meinem Vater zurück, um ihm von der neuesten Verwicklung zu berichten. Ich beobachte, wie die Steinfelds aufgebracht auf Eli einreden; zweifellos machen sie ihm die Hölle heiß, weil er mit so einem gemeinen Lustmolch zusammenwohnt, und warnen ihn eindringlich, diesem Faigele fernzubleiben, wenn es nicht bereits (oy! weh!) zu spät ist. Nicht weit davon entfernt kommt es auch zwischen Ned und seiner Mutter zum Generationskonflikt. Ich bekomme vereinzelte Satzfetzen mit: „Die Schwestern beten für dich … wende dich dem heiligen Kreuz zu … Novena … Rosenkranz … dein Vater bei den Engeln … Novize … Jesuit … Jesuit … Jesuit …“ Auf der anderen Seite sitzt Oliver allein. Beobachtet. Lächelt sein venusisches Lächeln. Er ist nur zu Besuch auf der Erde, das ist Oliver, der Mann aus der Fliegenden Untertasse.

Ich schätze Oliver als den tiefsinnigsten unserer Gruppe ein. Er weiß zwar nicht so viel wie Eli und macht auch nicht so einen scharfsinnigen Eindruck, aber er besitzt den mächtigeren Intellekt, da bin ich mir ganz sicher. Er ist außerdem der fremdartigste von uns, denn an der Oberfläche wirkt er so gesund und normal, was er aber in Wahrheit gar nicht ist. Eli hat von uns den gewitztesten Verstand, und er ist außerdem jener, der am meisten leidet, ständig in Schwierigkeiten steckt. Ned stellt sich als unser Schwächling dar, unsere zerbrechliche Elfe, aber man darf ihn nicht unterschätzen: Er weiß die ganze Zeit über, was er will, und er sorgt dafür, daß er es auch bekommt. Und ich? Was läßt sich über mich sagen? Gutes altes Joe-College. Die richtigen Familienbeziehungen, die richtigen Verbindungen, die richtigen Clubs. Im Juni werde ich einen Grad erlangen und dann ein glückliches Leben bis ans Ende meiner Tage führen. Zur Air Force gehen, ja, aber kein Kampfkommando annehmen — es ist alles schon arrangiert, unsere Gene sind zu wertvoll, um verschwendet zu werden —, dann finde ich eine passende anglikanische Debütantin mit garantierter Jungfräulichkeit, Angehörige der oberen Zehntausend, und dann werde ich mich niederlassen und den Gentleman spielen. Herr im Himmel! Dem Himmel sei Dank, daß Elis Buch der Schädel nichts anderes als abergläubischer Scheiß ist. Wenn ich ewig leben müßte, hätte ich mich nach zwanzig Jahren zu Tode gelangweilt.

Загрузка...