36. Kapitel Oliver

Timothy erschien, als ich gerade ins Bett steigen wollte. Schlurfend kam er herein, machte einen säuerlichen und mürrischen Eindruck, und einen Moment lang wußte ich nicht, warum er überhaupt gekommen war. „Okay“, sagte er, als er sich schwerfällig an der Wand niederplumpsen ließ. „Dann laß es uns mal schnell hinter uns bringen, was?“

„Du siehst verärgert aus.“

„Das stimmt. Ich bin auf diesen ganzen verdammten Scheißhaufen sauer, in dem ich mich wälzen muß.“

„Das kannst du mir nicht zum Vorwurf machen“, sagte ich.

„Tu’ ich das denn?“

„Du hast nicht gerade eine freundliche Miene aufgesetzt.“

„Ich hege im Moment auch keine freundlichen Gefühle, Oliver. Ich würde, verdammt noch mal, am liebsten nach dem Frühstück von hier abhauen. Überhaupt, wie lange sind wir eigentlich schon hier? Zwei Wochen, drei Wochen? Verdammt zu lange, wie lange es auch sein mag. Verdammt zu lange.“

„Du wußtest, daß es seine Zeit brauchen würde, als du dich der Sache angeschlossen hast“, sagte ich. „Es war doch ganz klar, daß die Prüfung kein Schnellschuß sein würde, vier Tage lang, rein und raus. Wenn du jetzt aussteigst, machst du uns anderen alles kaputt. Und vergiß nicht, daß wir geschworen haben …“

„Wir haben geschworen, geschworen, geschworen, geschworen! Lieber Himmel, Oliver, du hörst dich jetzt genau wie Eli an! Machst mich an. Nörgelst an mir herum. Erinnerst mich, daß ich irgend etwas geschworen habe. Mein Gott, wie ich diese ganze tägliche Scheiße hier hasse! Ich komme mir vor, als würdet ihr drei mich wie in einer Zelle gefangenhalten.“

„Also bist du doch sauer auf mich.“

Er zuckte die Achseln. „Ich bin auf alles und jeden sauer. Wahrscheinlich bin ich auf mich selbst am meisten sauer. Darum, daß ich mich überhaupt darauf eingelassen habe. Weil ich nicht den Mut hatte, euch von Anfang an zu sagen, ihr bräuchtet nicht mit mir zu rechnen. Ich dachte, es würde spaßig, deshalb bin ich mitgekommen. Spaßig! Ha!“

„Du glaubst also immer noch, es sei die reine Zeitverschwendung?“

„Du nicht?“

„Ich habe eine andere Haltung“, erklärte ich ihm. „Ich spüre, wie ich mich von Tag zu Tag mehr verändere. Ich vertiefe die Kontrolle über meinen Körper. Weite meinen Sinneshorizont aus. In mir geht etwas Großartiges vor, Timothy, und das geht Ned und Eli genauso. Und es gibt keinen Grund, warum dir das nicht möglich sein sollte.“

„Wahnsinnige. Drei Wahnsinnige.“

„Wenn du mal versuchen würdest, weniger überheblich an die Sache heranzugehen, und mal wirklich an den Meditationen und Exerzitien teilnimmst …“

„Da haben wir es ja wieder. Schon wieder machst du mich an.“

„Tut mir leid, vergiß es, Timothy. Vergiß alles.“ Ich atmete tief durch. Timothy war vielleicht mein bester Freund, vielleicht auch mein einziger Freund, und jetzt plötzlich kotzte er mich an, kotzte mich sein großes, fleischiges Gesicht an, sein allzu kurz geschnittenes Haar, seine Arroganz, sein Geld, seine Vorfahren und seine Zweifel an allem, was über seinen Horizont ging. Ich war darum bemüht, meine Stimme unverbindlich und frostig klingen zu lassen, als ich sagte: „Hör mal, wenn es dir hier nicht paßt, dann zisch ab. Zisch einfach ab. Ich möchte nicht, daß du glaubst, jemand wolle dich hier festhalten. Geh einfach, wenn es das ist, was du willst. Und mach dir keine Gedanken über mich, über den Schwur und über den ganzen anderen Kram. Ich kann schon auf mich selbst aufpassen.“

„Ich weiß ja selbst nicht, was ich will“, murrte er, und einen Moment lang verließ der finstere Blick sein Gesicht. Die Miene, die er jetzt aufzog, hätte ich am wenigsten von Timothy erwartet: ein Ausdruck von Verwirrtheit, von Verletzlichkeit. Die Miene verschwand wieder und machte wieder dem finsteren Blick Platz.

„Und noch etwas“, sagte er und hörte sich wieder arrogant an, „warum, verdammt noch mal, muß ich jemandem meine Geheimnisse erzählen?“

„Das mußt du nicht.“

„Bruder Javier hat es angeordnet.“

„Was kümmert es dich? Wenn du schon keinen Ärger haben willst, dann fang doch gar nicht erst damit an.“

„Es ist ein Teil des Rituals“, sagte Timothy.

„Aber du glaubst ja gar nicht an das Ritual. Überhaupt, Timothy, wenn du sowieso morgen von hier abhauen willst, brauchst du dich doch an nichts zu halten, was Bruder Javier sagt.“

„Hab’ ich gesagt, daß ich gehe?“

„Du hast gesagt, daß du das willst.“

„Ich sagte, ich hätte große Lust dazu. Ich habe nicht gesagt, ich werde gehen. Und das ist nicht dasselbe. Ich bin mir darüber eben noch nicht im klaren.“

„Bleib oder geh, wie es dir beliebt. Beichte oder laß es, wie es dir beliebt. Aber wenn du das nicht tun willst, wozu Bruder Javier dich hergeschickt hat, dann hätte ich es lieber, du würdest gehen und mich schlafen lassen.“

„Hetz mich nicht, Oliver. Drängle mich nicht. Ich kann mich nicht so schnell entscheiden, wie du das willst.“

„Du hast den ganzen Tag Zeit gehabt, dir zu überlegen, ob du mir etwas erzählen willst oder nicht.“

Er nickte. Er beugte sich vor, bis sein Kopf zwischen den Knien hing, und blieb so eine sehr lange Zeit sitzen. Mein Ärger verpuffte. Ich konnte ja deutlich sehen, daß er in Schwierigkeiten steckte. Diesen Timothy hatte ich noch nie kennengelernt. Er wollte sich befreien, er wollte an dieser Schädelhaussache wirklich teilnehmen, aber auf der anderen Seite verachtete er hier alles so sehr, daß es ihm nicht gelingen wollte. Also ließ ich ihn in Ruhe und drängelte nicht. Ich ließ ihn nur dasitzen, und schließlich hob er den Kopf und sagte: „Wenn ich dir erzähle, was ich erzählen muß, welche Sicherheit habe ich dann, daß du es nicht weitererzählst?“

„Bruder Javier hat angeordnet, daß wir nichts vom Gehörten weitergeben dürfen.“

„Klar, aber wirst du auch den Mund halten können?“

„Hast du kein Vertrauen zu mir, Timothy?“

„In dieser Sache habe ich zu niemandem Vertrauen. Sie könnte mich zugrunde richten. Der Bruder hat nicht übertrieben, als er sagte, jeder von uns trüge etwas mit sich herum, daß er unter keinen Umständen herauslassen wolle. Ich hab’ viel Scheiß gebaut, natürlich, aber da gibt es eine derart beschissene Sache, daß sie mir fast heilig ist, eine Todsünde, so monströs ist die Sache. Jedermann würde mich verachten, wüßte er davon. Du wirst mich wahrscheinlich auch verachten.“

Sein Gesicht war angespannt und grau geworden. „Ich weiß nicht, ob ich wirklich darüber reden kann.“

„Dann tu es auch nicht.“

„Man erwartet von mir, daß ich damit herausrücke.“

„Nur, wenn du dich den Regeln des Buches der Schädel unterwirfst. Und das tust du ja nicht.“

„Wenn ich es aber wollte, müßte ich das tun, was Bruder Javier verlangt. Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht. Würdest du es wirklich nicht Eli oder Ned weitererzählen? Oder sonst jemandem?“

„Das werde ich wirklich nicht“, sagte ich.

„Ich wünschte, ich könnte das wirklich glauben.“

„Da kann ich dir nicht weiterhelfen, Timothy. Wie Eli sagt: Es gibt Dinge, an die mußt du einfach glauben.“

„Vielleicht können wir einen Handel machen“, sagte er schwitzend und mit verzweifelter Miene. „Ich werde dir meine Geschichte erzählen, und dann erzählst du mir deine. Damit stehen wir beide auf dem gleichen Stand. Wir haben beide etwas als Garantie in der Hand, damit es keinen Klatsch gibt.“

„Die Person, von der man erwartet, daß ich ihr beichte“, sagte ich, „heißt Eli. Nicht du, sondern Eli.“

„Also keinen Handel?“

„Nein.“

Timothy verfiel wieder in Schweigen, diesmal sogar noch länger. Endlich blickte er auf. Seine Augen erschreckten mich. Er befeuchtete die Lippen, seine Kiefer mahlten, aber kein Wort kam heraus. Er schien am Rande einer Panik zu stehen, und etwas von dieser Angst färbte auch auf mich ab; ich fühlte mich unbequem und war unruhig, überall schien es mich zu jucken und auf ungemütliche Weise kam es mir so vor, als hätte sich ein eng anhaftender Schleier der Erregung über mich gelegt.

Schließlich zwang er ein paar Worte heraus. „Du kennst doch meine Schwester“, sagte er.

Ja, ich kannte seine Schwester, hatte sie schon ein paarmal gesehen, als Timothy mich in den Weihnachtsferien mit zu sich nach Hause genommen hatte. Sie war drei oder vier Jahre jünger als er, eine langbeinige Blondine, die recht gut aussah, aber nicht allzu gescheit war: eine Margo ohne Margos Persönlichkeit. Timothys Schwester war ein typisches Wellesley-Mädchen, die stereotype Junior-League-Wohltätigkeitsveranstaltung-Debütantin, die obligate Tennis-, Golf- und Reitpartnerin. Sie hatte eine tolle Figur, aber andererseits wirkte sie auf mich kein bißchen attraktiv, denn ich wurde von ihrer Geschniegeltheit, ihrem Bewußtsein des Reichtums und ihrer Ausstrahlung von Rühr-mich-nicht-an-Jungfräulichkeit abgestoßen. Ich glaube nicht, daß Jungfrauen wahnsinnig aufregend sind. Diese hier vermittelte einem deutlich den Eindruck, sie stehe meilenweit über solch niedrigen und vulgären Dingen wie Sex. Ich konnte mir genau vorstellen, wie sie sich mit affektiertem Tonfall an ihren Verlobten wenden würde, wenn der arme Tropf gerade versuchte, seine Hand unter ihre Bluse zu bekommen: „Ach, Darling, sei doch bitte nicht so ungehobelt!“ Ich bezweifle, daß sie sich sonderlich viel mehr aus mir machte als ich mir aus ihr. Meine Kansas-Herkunft gab mir das Image eines Holzfällers, und mein Vater war nicht in den richtigen Clubs gewesen und ich nicht in der richtigen Kirche. Mein totaler Mangel an allen Ausweisen der Oberklasse ließ mich in die sehr große Klasse von männlichen Wesen plumpsen, die von Mädchen ihrer Sorte einfach nicht als mögliche Begleiter, Liebhaber oder Ehemänner in Betracht gezogen werden. Für sie war ich nur ein Teil des Inventars, wie der Gärtner oder ein Stallbursche. „Ja“, sagte ich, „ich kenne deine Schwester.“

Timothy starrte mich eine halbe Ewigkeit lang an.

„In meinen letzten Jahren auf der Schule“, sagte er mit einer Stimme, die so hohl und rauh wie ein verlassenes Grab klang, „habe ich sie vergewaltigt, Oliver. Ich habe sie vergewaltigt!“

Wahrscheinlich erwartete er nach diesem Bekenntnis, daß der Himmel sich öffnen und Blitze hinunterschleudern würde. Zumindest schien er von mir zu erwarten, daß ich zurückprallen, meine Augen bedecken und ausrufen würde, diese schockierenden Worte würden mich vernichten. Aber eigentlich war ich doch etwas überrascht, zum einen von der Tatsache, daß Timothy sich überhaupt mit einer solch unwürdigen Sache beschäftigt hatte, und zum anderen, daß ihm, als er es ihr besorgt hatte, überhaupt keine Konsequenzen daraus erwachsen waren — wie zum Beispiel, daß man ihn mit der Peitsche geschlagen hätte, als die ganze Familie aufgeschreckt von ihren Schreien, herbeigestürzt war. Und ich mußte mein Bild von ihr überdenken, jetzt, da ich wußte, daß der Schwanz ihres Bruders zwischen ihre hochmütigen Schenkel gestoßen war. Aber ansonsten war ich keineswegs überrascht. Da, wo ich herstamme, treibt die allgegenwärtige, übermächtige Langeweile die Jugendlichen oft in den Inzest oder in noch schlimmere Sachen; und obwohl ich meine Schwester nie gebumst habe, kannte ich jede Menge junger Burschen, die mit ihren Schwestern geschlafen haben. Es war lediglich ein Mangel an Neigung, kein örtliches Tabu, der mich dazu brachte, meine schmutzigen Finger von meiner Schwester zu lassen. Klar, für Timothy war das eine ziemlich ernste Sache, und so hüllte ich mich weiter in respektvolles Schweigen und setzte eine besorgte und bekümmerte Miene auf, als er mir seine Geschichte erzählte.

Zuerst sprach er nur zögernd, offensichtlich stark erregt, schwitzend, stockend und stammelnd, wie Lyndon B. Johnson, der damit beginnt, seine Vietnampolitik vor einem Kriegsgericht zu rechtfertigen. Aber schon wenig später flossen die Worte frei heraus, so als ob Timothy sich diese Geschichte schon oft in Gedanken erzählt und sie so oft überarbeitet hatte, daß er sie mittlerweile ganz automatisch abrollen lassen konnte, nachdem die Widerstände erst einmal abgebaut waren. Dieser Vorfall ereignete sich, sagte er, vor genau vier Jahren in jenem Monat, als er in den Osterferien aus Andover nach Hause gekommen war und seine Schwester ebenfalls vom Lyceum in Pennsylvania, das sie besuchte. (Zu dieser Zeit lag meine erste Begegnung mit Timothy noch fünf Monate in der Zukunft.) Er war achtzehn und sie ungefähr fünfzehneinhalb Jahre alt. Sie kamen nicht sonderlich gut miteinander aus, noch nie. Sie war ein Mädchen von der Sorte, deren Beziehung zu ihrem älteren Bruder sich immer auf dem Grad des Ungezogenseins von Katze und Hund bewegt hatte. Er hielt sie für außergewöhnlich ungehörig und aufgeblasen, sie ihn für außerordentlich rüde und tierisch. In den vergangenen Weihnachtsferien hatte er ihre beste Freundin und Klassenkameradin gebumst, was seine Schwester herausbekommen hatte, und dieser Vorfall belastete beider Beziehung nur noch mehr.

Timothy machte gerade eine schwere Zeit durch. In Andover war er der mächtige und allgemein bewunderte Anführer, ein Football-Star, Klassensprecher, ein bekanntes Symbol von Kraft und savoir faire; aber in wenigen Monaten schon würde er sein Abitur machen und all sein angehäuftes Prestige wäre keinen Pfennig mehr wert, wenn er als Erstsemester unter vielen auf eine große, weltbekannte Universität ginge. Das war ein richtiges Trauma für ihn. Außerdem hatte er eine anstrengende und aufwendige Liebesaffäre mit einem Mädchen aus Radcliffe geführt, die ein oder zwei Jahre älter war als er. Er liebte sie nicht, sie war für ihn nur ein Statussymbol, das ihn in die Lage versetzte zu sagen, er bumse mit einer Studentin; aber er glaubte fest daran, daß sie ihn liebte. Kurz vor Ostern hatte er von dritter Seite erfahren müssen, daß sie ihn in Wirklichkeit für ein amüsantes Schoßtier hielt, eine Art Oberschüler-Trophäe, die sie unter der immensen Anzahl ihrer Harvard-Bekanntschaften zur Schau stellen konnte; ihr Verhältnis zu ihm war kurz gesagt noch zynischer als seines zu ihr. So kam er in diesem Frühling ziemlich niedergeschmettert in die heimatlichen Gefilde; ein Gefühl, das für ihn neu war. Doch plötzlich schwamm er wieder in einer neuen Quelle des Hochgefühls. In seiner Heimatstadt lebte ein Mädchen, das er liebte, das er wirklich liebte. Ich weiß nicht, was Timothy unter „Liebe“ versteht, aber ich glaube, er wendet diesen Begriff auf jedes Mädchen an, das seinen Kriterien von Aussehen, Reichtum und Geburt entspricht und ihn nicht mit ins Bett nimmt. Das macht sie unerreichbar, das stellt sie auf ein hohes Podest, und deshalb redet er sich selbst ein, er „liebe“ sie. Auf eine gewisse Weise eine donquichottische Vorstellung. Dieses Mädchen war siebzehn und gerade in Barnington aufgenommen worden; sie entstammte einer Familie, die eine beinahe so erlesene Herkunft aufweisen konnte wie die von Timothy. Sie war eine olympiareife Pferdesportlerin, und, wie Timothy sagte, hatte den Körper eines Playmate-of-the-Year. Er und sie gehörten demselben Club an, und er hatte mit ihr schon seit der Kindheit getanzt und Tennis gespielt; aber seine gelegentlichen Versuche, ihre Bekanntschaft zu intensivieren, waren immer geschickt abgebogen worden. Er war derart besessen von ihr, daß er sogar daran dachte, sie eines Tages zu heiraten, und er gab sich der Illusion hin, daß sie ihn bereits zum zukünftigen Gatten erkoren habe; deshalb, so schloß er, ließ sie ihn auch nicht an sich heran, da sie wußte, daß er der Doppelmoral frönte, und sie befürchtete, er würde sie nicht mehr als heiratsfähig ansehen, wenn er zu früh auf sie hinaufklettern dürfte.

Die ersten Tage zu Hause rief er sie jeden Nachmittag an. Höfliche, freundliche, unverbindliche Konversation. Sie schien zu einem Rendezvous nicht bereit zu sein — solche Treffen waren in ihrer Clique ohnehin nicht gebräuchlich —, aber sie sagte ihm, sie werde ihn beim Tanz im Club am Samstagabend sehen. Timothy machte sich große Hoffnungen. Der Tanzabend war eine ganze formelle Sache, wo die Partner ständig gewechselt werden mußten, und die nur durch Fummel-Zwischenspiele in den diversen bewährten Nischen des Clubgebäudes unterbrochen wurde. Es gelang Timothy, sie gegen Mitte des Abends in eine dieser Nischen zu bewegen, und obwohl er es auch nicht annähernd schaffte, in ihre Nische zu gelangen, kam er doch weiter als je zuvor: Zungenkuß und die Hände unter ihrem BH. Und er meinte, einen bestimmten Glanz in ihren Augen zu entdecken. Beim nächsten Tanz mit ihr lud er sie ein, mit ihm einen Bummel zu machen — das gehörte ebenfalls zum festen Ritual des Clubs. Sie liefen durch die Gegend, und er schlug vor, ins Bootshaus zu gehen. In ihrer Clique war der Gang zum Bootshaus gleichbedeutend mit dem Bumsen. Seine Finger glitten emsig über ihre kühlen Schenkel. Ihr bebender Körper pulsierte unter seinen Liebkosungen. Ihre leidenschaftliche Hand rieb an der angeschwollenen Vorderseite seiner Hose. Wie ein wild gewordener Bulle packte er sie mit dem Vorhaben, sie gleich hier an Ort und Stelle zu ficken. Und mit der Gewandtheit einer Olympiasiegerin in Jungfräulichkeit stieß sie ihm mit ihrem mädchenhaften Knie in die Eier und entkam so in letzter Sekunde der drohenden Vergewaltigung. Nachdem sie ihn mit einigen ausgesuchten Bemerkungen über seine tierischen Manieren bedacht hatte, stürmte sie davon und ließ ihn betäubt und verwirrt im kühlen Bootshaus zurück. Ein schlimmer Schmerz tobte in seiner Leistengegend, und sein Verstand war blind vor Wut. Was konnte ein heißblütiger amerikanischer Jugendlicher in einer solchen Situation tun? Timothy jedenfalls stakste ins Clubhaus zurück, schnappte sich eine halbvolle Flasche Bourbon von der Bar und taumelte wieder in die Nacht hinaus. Er war sehr erregt und tat sich selbst unendlich leid. Nachdem er die Hälfte des Bourbons hinuntergekippt hatte, sprang er in seinen tollen kleinen Mercedes-Sportwagen und raste mit achtzig Meilen in der Stunde nach Hause. Zunächst genehmigte er sich in der Garage den Rest des Bourbons; dann stieg er sturzbesoffen und blind vor Zorn die Treppe hoch, stürmte in das Schlafzimmer seiner jungfräulichen jüngeren Schwester und warf sich auf sie. Sie kämpfte gegen ihn an, sie flehte und wimmerte. Aber in seiner Wut hatte Timothy die Kraft von zehn Männern, und nichts konnte ihn von seinem einmal festgelegten Kurs abbringen, nicht mit diesem großen Harten, der alle anderen Gedanken verdrängte. Sie war eine Frau; sie war eine Hure; er würde es ihr besorgen. In diesem Moment sah er keinen Unterschied zwischen dem aufregenden Hosenspanner im Bootshaus und seiner bedauernswerten Schwester. Beide waren sie Huren, alle waren sie Huren, und er würde es jetzt dem ganzen weiblichen Geschlecht zeigen. Mit Knien und Ellenbogen hielt er sie ans Bett gefesselt. „Wenn du schreist“, erklärte er ihr, „breche ich dir das Genick.“ Und es war ihm ernst damit, denn zu diesem Zeitpunkt war er nicht mehr zurechnungsfähig, und das wußte sie auch. Rasch lag seine sich windende Schwester ohne Pyjamahose da. Gnadenlos hämmerte ihr Bruder wie ein schnaubender Hengst in ihr zartes Tor. „Ich glaube nicht, daß sie noch Jungfrau war“, erklärte er mir verdrießlich. „Ich kam ohne Schwierigkeiten rein.“ Nach zwei Minuten war alles vorbei. Er rollte von ihr runter, und beide zitterten: sie vom Schock und er vor Befriedigung. Er erklärte ihr, daß es ihr nichts nützen würde, sich darüber bei den Eltern zu beschweren; denn sie würden ihr wahrscheinlich nicht glauben, und wenn sie einen Arzt kommen ließen, der sie untersuchen sollte, würde es mit Sicherheit einen Skandal geben. Geflüster und heimliche Verdächtigungen. Und sobald es einmal die Runde durch die Stadt gemacht habe, seien ihre Chancen, jemals von irgend jemandem geheiratet zu werden, zerstört, und zwar auf ewig. Sie starrte ihn an. Timothy hatte noch nie zuvor soviel Haß in den Augen eines anderen gesehen.

Er machte sich auf den Weg in sein eigenes Zimmer und fiel dabei mehrmals hin. Als er nüchtern und bestürzt wieder erwachte, war es schon später Nachmittag, und er machte sich darauf gefaßt, daß unten bereits die Polizei auf ihn wartete. Aber unten befand sich niemand, außer seinem Vater, seiner Stiefmutter und dem Personal. Und keiner benahm sich so, als ob irgend etwas vorgefallen wäre. Sein Vater lächelte und fragte Timothy, wie es beim Tanzabend gewesen sei. Seine Schwester war außer Haus mit ihren Freunden unterwegs. Sie kehrte erst zum Abendessen zurück, und als sie da war, verhielt sie sich so, als wenn alles in Ordnung sei. Sie grüßte Timothy mit einem kühlen, distanzierten und üblichen Kopfnicken. An diesem Abend nahm sie ihn beiseite und sagte mit bedrohlicher, furchteinflößender Stimme: „Solltest du so etwas noch mal versuchen, bekommst du ein Messer in die Eier, das schwöre ich dir.“ Das war auch schon das letzte Mal, daß sie auf dieses Thema einging. In den ganzen vier Jahren hatte sie nicht einmal mehr davon gesprochen, zumindest nicht ihm gegenüber, aber wahrscheinlich auch zu keinem anderen. Offensichtlich hatte sie diese Episode in irgendeiner versiegelten Abteilung ihres Herzens verschlossen, verdrängte sie wie eine unruhige Nacht, wie schlechte Träume. Ich konnte jederzeit bezeugen, daß es ihr gelungen ist, eine perfekte, eisige Oberfläche aufzusetzen und ihre Rolle als ewige Jungfrau zu spielen, ohne darauf Rücksicht zu nehmen, wer oder was schon alles in ihr war.

Das war’s. Das war auch schon alles. Als Timothy fertig war, sah er auf, ausgelaugt, leer, grau im Gesicht, als wäre er anderthalb Millionen Jahre alt. „Ich kann dir gar nicht begreiflich machen, wie beschissen ich mich deshalb immer gefühlt habe“, sagte er.

„Fühlst du dich jetzt besser?“

„Nein.“

Das überraschte mich nicht. Ich habe nie daran geglaubt, daß das Öffnen der Seele einem das Leid lindern hilft. So etwas verteilt das Leid nur. Was Timothy mir erzählt hatte, war eine trübe Geschichte, eine erniedrigende Story, niederschmetternd und entmutigend. Ein Mädchen aus der Oberschicht, das sich mit solchen Geschichtchen gegenseitig in Besorgnis versetzt, sich um Jungfräulichkeit und Wohlstand sorgt und kleine, melodramatische Operetten erfindet, in denen sie selbst und ihre Freunde die Hauptrolle spielen, Geschichten, die hauptsächlich von Snobismus und Frustration leben. Mir tat Timothy wirklich etwas leid, der große, massige, nette Timothy aus der Oberschicht, halb Opfer und halb Krimineller, der bloß etwas Zerstreuung im Club gesucht hatte und statt dessen in die Eier getreten worden war. Also hatte er sich betrunken und seine Schwester vergewaltigt, weil er glaubte, das würde seine Laune verbessern, oder vielleicht hatte er sich auch gar nichts dabei gedacht. Und das war sein großes Geheimnis, seine schlimmste Sünde. Die Geschichte machte mich betroffen. Sie war so niederträchtig, so traurig; und von nun an mußte ich sie ständig im Kopf mit mir herumtragen. Ich war nicht fähig, auch nur ein Wort zu ihm zu sagen. Nach ungefähr zehn Minuten des Schweigens stand Timothy schwerfällig auf und schlurfte zur Tür.

„Also, bitte sehr“, sagte er, „ich habe getan, was Bruder Javier von mir verlangte. Jetzt fühle ich mich wie ein Stück Scheiße. Wie fühlst du dich, Oliver?“ Er lachte. „Morgen bist du dran.“

Ja, morgen bin ich dran.

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