15. Kapitel Oliver

Im Alter von sechzehn Jahren habe ich sehr oft an Selbstmord gedacht. Ganz ernsthaft. Es war keine Show, um mich interessant zu machen, kein romantisches Drama eines Heranwachsenden, kein Ausdruck dessen, was Eli eine willig-wollende Persönlichkeit nennen würde. Vielmehr war es eine ursächlich philosophische Position, falls ich hier einen so protzigen Begriff benutzen darf, die ich nach logischer und genauer Überlegung erreichte.

Was mich jedoch vor allem zum Selbstmordvorhaben führte, war der Tod meines Vaters im Alter von sechsunddreißig Jahren. Diese Tragödie blieb unfaßbar für mich. Natürlich war mein Vater keine besondere Spezies Mensch, ausgenommen für mich. Er war eben nur ein Farmer in Kansas. Um fünf Uhr morgens stand er auf, um einundzwanzig Uhr ging er zu Bett. Und über eine besondere Bildung verfügte er auch nicht. Er las lediglich die Lokalpresse und manchmal in der Bibel, obwohl ihm da vieles zu hoch war. Aber sein ganzes kurzes Leben hat er hart gearbeitet. Er war ein guter Mensch, ein Mann mit einer Aufgabe. Sein Vater hatte zuerst auf diesem Stück Land gearbeitet, und mein Vater arbeitete darauf, seit er zehn Jahre alt geworden war, abgesehen von ein paar Jahren, die er bei der Armee verbrachte; er holte die Ernte ein, zahlte die Schulden ab, brachte es mehr oder weniger zu einem gesicherten Auskommen, er schaffte es auch, seinem Besitz weitere vierzig Morgen Land hinzuzufügen, und dachte sogar daran, noch weiter zu expandieren. Zwischenzeitlich heiratete er, war ein guter Ehemann und zeugte Kinder. Er war kein aufgeschlossener Mensch — er hätte nichts von dem verstanden, was sich in diesem Land in den zehn Jahren seit seinem Tod alles getan hat —, aber er war auf seine Weise ehrbar und hat sich sicher das Recht auf einen zufriedenen Lebensabend erworben: auf der Veranda zu sitzen, seine Pfeife zu rauchen, im Herbst auf die Jagd zu gehen und den Söhnen die knochenbrechende Arbeit zu überlassen, während er das Wachstum seiner Enkel verfolgt. Aber er bekam keinen zufriedenen Lebensabend. Er kam noch nicht einmal in die mittleren Jahre. Krebs keimte in seinem Bauch, und er starb schnell; er starb unter Schmerzen, aber er starb schnell.

Das ließ meinen Gedanken keine Ruhe. Wenn es so leicht ist zu sterben, wenn man täglich mit der Befürchtung leben muß, daß der Tod eintritt, und nie genau weiß, wann es soweit sein wird — lohnt sich dann das Leben überhaupt? Warum dem Tod das Vergnügen machen, einen holen zu können, wenn man am wenigsten auf das eigene Sterben gefaßt ist? Am besten verschwindet man von selbst, und zwar so früh wie möglich, um der Ironie zu entgehen, daß man als Strafe dafür hinweggerafft wird, daß man aus seinem Leben etwas gemacht hat.

Das Lebensziel meines Vaters war, so wie ich ihn verstanden habe, ein gottesfürchtiges Leben zu führen und die Pacht auf seinem Land abzubezahlen. Ersteres ist ihm gelungen und dem zweiten kam er ziemlich nahe. Mein Ziel war weitaus ambitiöser: eine gute Ausbildung zu bekommen, raus aus dem Staub der Ackerflächen, Arzt, Wissenschaftler zu werden. Hört sich das nicht großartig an? Den Nobelpreis in Medizin erhält Dr. Oliver Marshall, der der Kautabak-Ignoranz des Kornlands entwachsen und zu einer Inspiration für uns alle geworden ist. Aber worin unterschied sich mein Ziel von dem meines Vaters, außer in der Abstufung? Nüchtern betrachtet, erwartete uns beide ein Leben voll harter Arbeit und Abplackerei.

Es war mir unerträglich: Geld beiseite legen, Prüfungen machen, ein Stipendium beantragen, Latein, Deutsch, Anatomie, Physik, Chemie und Biologie lernen, sich den Kopf mit Problemen zu zerbrechen, die größer waren als alles, was mein Vater kennengelernt hat — und dann einfach sterben? Mit fünfundvierzig Jahren sterben oder mit fünfundfünfzig oder mit fünfundsechzig oder vielleicht wie mein Vater mit sechsunddreißig? Gerade wenn man anfängt, sein Leben zu leben, muß man sich schon wieder daraus verabschieden. Warum soll man überhaupt diese Anstrengung auf sich nehmen? Warum sich dieser Ironie ausliefern? Man denke nur an Präsident Kennedy: All die Energie und Geschicklichkeit, die er aufbrachte, um ins Weiße Haus einzuziehen — und dann eine Kugel in den Kopf. Das Leben ist nur Verschwendung. Je mehr Erfolg man dabei hat, etwas aus sich zu machen, um so bitterer wird dann der Umstand, sterben zu müssen. Ich mit meinen Ambitionen, meinem inneren Drang, ich bereitete mich nur auf einen tieferen Fall vor als die meisten anderen. Im Bewußtsein dessen, daß ich ja sowieso irgendwann sterben mußte, entschloß ich mich, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen und mich selbst umzubringen, bevor ich schon zu tief in diesem miesen, unausweichlichen Scherz steckte, der mich erwartete.

Das redete ich mir mit sechzehn Jahren ein. Ich fertigte Auflistungen von in Frage kommenden Todesarten an. Die Pulsadern aufschneiden? Den Gashahn aufdrehen? Eine Plastiktüte über den Kopf stülpen? Ein Verkehrsunfall mit einem Auto? Dünnes Eis im Januar? Ich hatte fünfzig verschiedene Arten zusammen. Ich ordnete sie in einer Hitparade an. Ich gruppierte sie wieder um. Ich wog den kurzen, schmerzvollen Tod gegen den langsamen, schmerzlosen ab. Ungefähr ein halbes Jahr lang studierte ich den Selbstmord so intensiv, wie Eli unregelmäßige Verben lernt. Zwei von meinen Großeltern starben in diesen sechs Monaten. Mein Hund starb. Mein älterer Bruder fiel im Krieg. Meine Mutter hatte ihren ersten schlimmen Herzanfall, der Arzt erklärte mir vertraulich, daß sie kaum noch ein Jahr vor sich habe, und er behielt recht. Alles dies hätte meine Entscheidung nur noch bestärken sollen: Mach Schluß, Oliver, mach Schluß, und zwar jetzt, bevor der Kreis der Tragödien sich noch enger um dich schließt! Du mußt wie alle anderen sterben, warum dann noch warten, bis es soweit ist. Stirb jetzt. Stirb jetzt. Halse dir nicht noch unnötige Probleme auf. Seltsamerweise jedoch erlosch mein Interesse am Selbstmord schnell, obwohl meine Lebensphilosophie sich eigentlich nicht änderte. Ich stellte die Selbstmord-Hitparaden ein. Ich begann damit, nach vorn zu planen und nicht mehr davon auszugehen, daß ich innerhalb der nächsten Monate sowieso ableben würde. Ich beschloß, lieber den Tod zu bekämpfen, statt mich ihm zu ergeben. Ich würde aufs College gehen, und ich würde Mediziner werden. Ich würde alles lernen, dessen ich habhaft werden könnte, und vielleicht könnte ich die Macht des Todes ein wenig zurückdrängen. Jetzt weiß ich, daß ich nie selbst Hand an mich legen könnte. Ich werde es einfach nicht tun, niemals. Ich werde bis zum Ende kämpfen, und wenn der Tod kommt und mich höhnisch angrinst, dann grinse ich einfach zurück. Und davon abgesehen, ich für meinen Teil halte das Buch der Schädel für authentisch! Man stelle sich nur einmal vor, man könnte dem Tod wirklich von der Schippe springen! Ich hätte mich ja vor fünf Jahren selbst hereingelegt, wenn ich mir wirklich die Pulsadern aufgeschnitten hätte.

Heute bin ich sicher schon vierhundert Meilen gefahren, und es ist noch nicht einmal Mittag. Die Straßen hier sind großartig: breit, gerade und leer. Amarillo liegt jetzt vor uns. Dann Albuquerque. Und dann Phoenix. Und schließlich stehen wir endlich vor des Rätsels Lösung.

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