27. Kapitel Eli

Jetzt fangt also alles an. Die Riten, die Ernährungsbestimmungen, die körperlichen Übungen, die geistigen Exerzitien, und was es sonst noch so gibt. Ganz klar haben wir erst die Spitze des Eisbergs gesehen. Noch vieles bleibt zu entdecken. Zum Beispiel wissen wir noch immer nicht, wann den Bedingungen des Neunten Mysteriums Genüge getan werden muß. Morgen, nächsten Freitag, Weihnachten, wann? Schon belauern wir einander in einer wenig schönen Art, spähen durch das Gesicht auf den darunterliegenden Schädel. Du, Ned, wirst du dich für uns töten? Du, Timothy, hast du vor, mich zu töten, damit du leben darfst? Wir haben über diesen Aspekt noch überhaupt nicht laut nachgedacht, noch nicht einmal; die Sache scheint zu schrecklich und zu absurd, um darüber zu diskutieren oder nur nachzudenken. Vielleicht sind die Forderungen nur symbolisch gemeint, metaphorisch zu verstehen. Vielleicht auch nicht. Ich mache mir darüber Sorgen. Seit Beginn dieses Projekts habe ich darüber nachgegrübelt, bestimmte gedankliche Prämissen gesetzt, wer zu gehen hat, wenn überhaupt jemand von uns gehen muß: Ich werde durch ihre Hände sterben, Ned durch seine eigene Hand. Natürlich werde ich mich dagegen wehren. Ich bin ja hierhergekommen, um das ewige Leben zu erlangen. Ich weiß nicht, ob das bei den anderen genauso ist. Ned, der verrückte Ned, ihm ist zuzutrauen, daß er den Selbstmord als seine wesentliche epische Tal ansieht. Timothy scheint sich eigentlich gar nicht viel aus einer Lebensverlängerung zu machen, obwohl ich glaube, daß er sie annehmen wird, wenn sie ihm ohne große Anstrengung in den Schoß fällt. Oliver beharrt darauf, daß er sich ganz und gar weigert, jemals zu sterben, und er wird bei diesem Thema ziemlich stur; doch ist Oliver nicht so hartnäckig, wie er an der Oberfläche scheint, und in seinen Motiven liegt nichts Zweideutiges. Unter einer anderen philosophischen Voraussetzung könnte er genauso überzeugt sterben, wie er jetzt zu leben verlangt. Somit kann ich nun nicht mit Bestimmtheit sagen, wer dem Neunten Mysterium unterliegen wird. Nur, daß ich jeden meiner Schritte sorgfältig bedenke, und das werde ich so lange tun, wie wir uns hier aufhalten. (Wie lange mag das wohl sein? Darüber haben wir eigentlich noch nie nachgedacht. Ich rechne mir aus, daß die Osterferien in sechs oder sieben Tagen vorüber sein werden. Sicher ist die Prüfung bis dahin noch nicht beendet. Ich habe so das Gefühl, es könnte Monate oder Jahre dauern. Werden wir trotzdem nächste Woche abhauen? Wir haben geschworen, es nicht zu tun, aber natürlich können die Brüder uns nicht viel anhaben, wenn wir uns alle in tiefer Nacht davonschleichen. Aber ich will bleiben. Wochenlang, wenn es sein muß. Wenn nötig, jahrelang. Man wird uns in der Welt draußen für vermißt erklären. Das Einwohnermeldeamt, das Kreiswehrersatzamt, unsere Eltern, sie alle werden uns vermissen. So lange jedenfalls, wie sie nicht hier nach uns suchen. Die Brüder haben unser Gepäck aus dem Wagen geholt. Der Wagen selbst steht noch immer am Rand des Wüstenpfads. Wird die Landespolizei ihn bei Gelegenheit bemerken? Werden sie einen Mann losschicken, um auf dem Pfad nach dem Besitzer des glattpolierten Sedans zu suchen? Das ist für uns natürlich ein Unsicherheitsfaktor. Aber wir werden für die Dauer der Prüfung hier bleiben. Auf jeden Fall werde ich hier bleiben.)

Und wenn alles um den Ritus der Schädel der Wahrheit entspricht?

Ich werde nicht hier bleiben, wie das die Brüder zu tun scheinen, nachdem ich das erlangt habe, wonach ich strebe. Nun, fünf oder zehn Jahre werde ich noch hier verbringen, aus einem Gefühl des Anstands, der Dankbarkeit heraus. Aber dann will ich raus. Die Welt ist groß, warum also die Ewigkeit in einem Wüstenort verleben? Ich habe schon genaue Vorstellungen von meinem zukünftigen Leben. Auf eine gewisse Weise sind sie denen von Oliver ähnlich: Ich werde meinen Hunger nach Wissen stillen. Ich werde hintereinander mehrere Leben leben und versuchen, aus jedem das Beste zu machen. Sagen wir mal, ich verbringe zehn Jahre in der Wall Street und warte dort auf meine Chance. Falls mein Vater recht hat, und da bin ich ganz sicher, kann jeder einigermaßen Vernünftige die ganze Szene schlagen, indem er lediglich das Gegenteil von dem tut, was die vermeintlich gewieften Börsenhaie tun. Sie sind wie Schafe, wie Vieh, ein Haufen von goyische Kops. Plump und gierig folgen sie bald dieser, bald jener Marotte. Also werde ich das Gegenteil ihres Spiels tun und dabei zwei bis drei Millionen verdienen, die ich in sichere Anlagen investiere, mit guten Dividenden, nichts Übertriebenes, aber eine langsame, stetige Einkommensverbesserung. Ich meine, schließlich muß ich von diesen Dividenden die nächsten fünf- bis zehntausend Jahre leben. Somit bin ich finanziell unabhängig. Was als nächstes? Wie wär’s mit zehn Jahren voller Ausschweifungen? Warum nicht? Mit genügend Geld und Selbstvertrauen kann man sich jede Frau auf der Welt anlachen, nicht wahr? Jede Woche werde ich Margo und ein Dutzend von ihrer Sorte um mich haben. Ich habe ein Recht darauf. Ein bißchen der Begierde nachgeben, klar; sicher, es ist nicht intellektuell, und wichtig ist es auch nicht, aber das Bumsen muß auch seinen Platz in einem allseitig abgerundeten Leben haben. Nun gut, Zaster und Weiber. Danach werde ich mich um mein geistiges Wohlergehen bemühen. Fünfzehn Jahre in ein Trappistenkloster. Kein Wort werde ich sprechen; ich werde meditieren und Gedichte schreiben, ich werde versuchen, Gott nahezukommen, ich werde das Wesen des Universums durchdringen. Vielleicht besser zwanzig Jahre. Die Seele läutern, sie reinigen, sie in sphärische Höhen aufsteigen lassen. Dann habe ich etwas aus mir gemacht und werde mich dem Bodybuilding widmen. Acht Jahre lang ständig an mir arbeiten. Eli, der Muskelmann. Nicht mehr der Siebenundneunzig-Pfund-Schwächling. Ich werde surfen, Ski fahren, die East-Village-Indian-Ringer-Meisterschaften gewinnen. Als nächstes? Die Musik. Ich habe mich nie so intensiv mit Musik beschäftigen können, wie ich das immer wollte. Ich werde mich in Juilliard einschreiben, für vier Jahre, der ganze Kram, werde in das Innere der Musikkunst eindringen, Beehovens späte Quartette erfassen, das wohltemperierte Klavier, Berg, Schoenberg, Xenakis, die härteren Sachen, und ich werde die Techniken, die ich im Kloster erlernt habe, dazu benutzen, um in das Herz des Klanguniversums vorzustoßen. Vielleicht werde ich auch komponieren. Vielleicht werde ich kritische Essays schreiben. Oder sogar Aufführungen inszenieren. Eli Steinfeld mit einer Bach-Reihe in der Carnegie Hall. Fünfzehn Jahre Musik, oder? Damit wären die ersten sechzig Jahre der Unsterblichkeit abgedeckt. Und was dann? Mittlerweile werden wir schon ziemlich weit im einundzwanzigsten Jahrhundert stehen. Also werde ich mich in der Welt umsehen. Auf Wanderschaft wie Buddha, zu Fuß von Land zu Land ziehen, das Haar lang wachsen lassen, gelbe Gewänder tragen, einen Betteltopf dabei und einmal im Monat den Scheck beim American Express in Rangun, Katmandu, Djakarta oder Singapur abholen. Die Menschheit anhand ihres Bauches entdecken, jede Speise einnehmen, Ameisen in Curry, gebratene Hoden, und mit Frauen aller Rassen und Bekenntnisse schlafen, in undichten Hütten wohnen, in Iglus, Zelten und auf Hausbooten. Zwanzig Jahre darauf verwenden, und ich habe einen guten Überblick über die Komplexität der menschlichen Kultur. Dann, glaube ich, werde ich mich meiner eigentlichen Vorliebe zuwenden, der Linguistik, der Philologie, und mich der Karriere zuführen, die ich im Moment aufgegeben habe. In dreißig Jahren wird mir vielleicht die endgültige Zusammenstellung der unregelmäßigen Verben in den indoeuropäischen Sprachen gelingen, oder ich werde das Geheimnis des Etruskischen enträtseln oder den kompletten Bestand an ugaritischer Dichtung übersetzen. Kommt drauf an, was mich gerade am meisten interessiert. Danach werde ich ein Homosexueller. Wenn man das ewige Leben zur Verfügung hat, sollte man alles mindestens einmal ausprobiert haben, nicht wahr, und Ned behauptet, das Leben eines Schwulen sei ein gutes Leben. Ich persönlich habe ja bisher immer Mädchen vorgezogen, rein intuitiv und instinktiv — sie sind sanfter, anschmiegsamer und angenehmer zu berühren —, aber irgendwann muß ich auch einmal herausfinden, was das eigene Geschlecht zu bieten hat. Sub specie aetemitatis, was sollte es schon ausmachen, ob ich den Schwanz in dieses oder in jenes Loch stecke? Wenn ich dann zum Heterosexuellen zurückgekehrt bin, werde ich zum Mars fahren. Um diese Zeit dürfte man ungefähr das Jahr 2100 schreiben; wir werden den Mars kolonialisiert haben, da bin ich mir ganz sicher. Zwölf Jahre Mars. Ich werde mit meinen Händen arbeiten, alles, was ein Pionier eben zu tun hat. Die nächsten zwanzig Jahre gehören der Literatur, zehn, um alles zu lesen, was bisher an Lohnenswertem geschrieben wurde, und zehn, um einen Roman zu schreiben, der gleichberechtigt neben dem Besten von Faulkner, Dostojewski, Joyce und Proust stehen kann. Warum sollte ich nicht fähig sein, es ihnen gleichzutun? Zu der Zeit werde ich kein dummer Junge mehr sein: Einhundertfünfzig Jahre ausgefülltes Leben liegen dann hinter mir, mit der tiefsten und breitesten Selbsterziehung, die je ein Mensch genossen hat, und ich werde immer noch über die Kraft der Jugend verfügen. Somit werde ich mich auf diese Aufgabe stürzen, eine Seite pro Tag schreiben, eine Seite pro Woche, fünf Jahre Planung, um das Gerüst des Romans zu erstellen, bevor ich ein Wort niederschreibe. Damit müßte ich eigentlich in der Lage sein, nun, ein unsterbliches Meisterwerk zu schaffen. Natürlich unter einem Pseudonym. Das wird sowieso noch ein ganz besonderes Problem werden, alle achtzig oder neunzig Jahre meine Identität zu wechseln. Sogar in einer leuchtenden futuristischen Zukunft werden die Menschen wahrscheinlich jemandem mit Mißtrauen begegnen, der einfach nicht stirbt. Langlebigkeit ist eine Sache, Unsterblichkeit eine ganz andere. Ich muß versuchen, irgendwie mein Vermögen mir selbst zu überschreiben, meine neue Identität so wählen, daß ich der Erbe meiner vorherigen bin. Ich werde dauernd verschwinden müssen und mein Aussehen verändern. Mein Haar färben, Bärte ankleben und abnehmen, Schnurrbärte, Perücken, Kontaktlinsen. Und darauf achten, nicht in die Verwaltungsmaschinerie zu geraten: Sobald meine Fingerabdrücke einmal in den Zentralcomputer geraten sind, werde ich Schwierigkeiten haben. Welche Geburtsurkunden werde ich vorweisen können, jedesmal, wenn ich erneut auf der Welt erscheine? Darüber muß ich mir Gedanken machen. Wenn man schon schlau genug ist, ewig zu leben, dann wird man auch schlau genug sein, es mit der Bürokratie aufzunehmen. Und wenn ich mich verliebe? Heiraten, Kinder haben, meiner Frau dabei zusehen, wie sie verwelkt und alt wird, meinen Kindern dabei zusehen, wie auch sie alt werden, während ich auf ewig jung und gesund bleibe? Besser, ich heirate nie oder versuche es nur einmal der Erfahrung wegen, zehn, höchstens fünfzehn Jahre lang und dann die Scheidung, auch wenn ich sie noch immer liebe, um späteren Komplikationen zu entgehen. Nun, das bleibt abzuwarten. Wo war ich stehengeblieben? Weiter im zweiundzwanzigsten Jahrhundert, während ich die Jahrzehnte nach eigenem Gusto einteile. Zehn Jahre als Lama in Tibet. Zehn Jahre als irischer Fischer, falls es zu dieser Zeit noch Fische gibt. Zwölf Jahre als ehrenwertes Mitglied des Senats der Vereinigten Staaten. Dann sollte ich mich den Naturwissenschaften zuwenden, dem am meisten vernachlässigten Gebiet meines Lebens. Ich werde in der Lage sein, damit zu Rande zu kommen, nachdem ich die erforderliche Menge an Geduld und Fleiß aufzubringen gelernt habe Physik, Mathematik, was immer mir schwerfällt. Ich widme den Naturwissenschaften vierzig Jahre. Ich habe vor, die gleiche Bedeutung wie Einstein und Newton zu erlangen, eine richtige Karriere, in der ich als ein Mensch von überragendem Intellekt fungiere. Und dann? Ich könnte vielleicht ins Schädelhaus zurückkehren, um zu sehen, was Bruder Antony und der Rest seiner Truppe inzwischen so gemacht haben. Fünf Jahre in der Wüste. Dann wieder hinaus, hinaus in die Welt. Wie mag die Welt dann aussehen? Ganz neue Berufe werden sie anbieten können, Dinge, die heutzutage noch gar nicht erfunden worden sind: Ich könnte zwanzig Jahre damit verbringen, als Dematerialisierungs-Experte zu arbeiten, fünfzehn in der polyvalenten Levitation, zwölf als Symptom-Handlungsreisender. Und dann? Und dann? Immer weiter und weiter und weiter. Die Möglichkeiten werden unbegrenzt sein. Aber ich behalte jetzt besser Timothy und Oliver im Auge, vielleicht auch Ned, wegen dem verwünschten, dreimal verfluchten Neunten Mysterium. Das ist schon ein gewaltiger Grund, um sich Sorgen zu machen. Sollten einige meiner Freunde mich, sagen wir mal, am nächsten Dienstag umbringen, zerstören sie damit einige schrecklich sorgfältig ausgesuchte Langzeitpläne.

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