Mit dem Morgen war auf dieser Seite des Berges der Nebel aus dem Boden gekrochen und mit dem Nebel Kälte und ein Hauch alles durchdringender, unangenehmer Feuchtigkeit, die durch seine Kleidung kroch und geradewegs in seine Knochen einzudringen schien. Skars Gaumen war so trocken und ausgedörrt, dass er kaum sprechen konnte, und seinen Beinen schien die Kraft zu fehlen das Gewicht seines Körpers zu tragen. Doch immerhin hatte der Schmerz zwischen seinen Beinen nachgelassen und kurz danach waren auch seine Gedanken zur Ruhe gekommen. Das leise innerliche Wispern, das ihn selbst während des Kampfes gegen die Khtaám nicht vollständig in Ruhe gelassen hatte, war einem Gefühl entspannter Erschöpfung gewichen; von der Ausgeglichenheit, in die er früher mit Leichtigkeit hineingeglitten war, war er dennoch meilenweit entfernt. Aber alles war besser als der rastlose, unwirkliche Zustand, den er so oft in den letzten Tagen empfunden hatte und der ihm wie eine gleichermaßen bedrohliche wie penetrante Verbindung mit etwas Gefährlichem und ungemein Fremdem erschien, von der nichts Gutes zu erwarten war.
Der Himmel über ihnen, in dem der Drache vor einer knappen halben Stunde verschwunden war, war innerhalb der diesigen Glocke nicht mehr zu erkennen und je mehr sich das Tal zuzog, umso kälter wurde es. Aber vielleicht war es auch nur die zunehmende Entspannung und das Nachlassen des Schmerzes an seiner empfindlichsten Stelle, die ihn die Kälte deutlicher spüren ließ. Skar rieb sich schaudernd die Hände und drückte sich so tief wie möglich in die windgeschützte Ecke in dem Gewirr herabgefallener morscher Äste und zusammengeklaubter Blätter, das ihm, Esanna und dem Nahrak halbwegs Schutz vor der unangenehmen Witterung bot.
»Das nicht hätte passieren dürfen«, sagte Kama kläglich. Der Nahrak starrte zum wiederholten Mal auf das Ding in seinen Händen, das er Steuerung genannt hatte und das jetzt nur noch wie ein besonders glänzendes Stück Eisen aussah; von einem irisierenden Licht war keine Spur mehr zu erkennen.
»Was?«, fragte Esanna einsilbig. Das Mädchen hatte sich erstaunlich schnell erholt. Sein eingerissenes, besudeltes Gewand war zwar nicht mehr als ein dreckiger Lumpen und es hatte mehr Prellungen, Abschürfungen und Bissverletzungen abbekommen als eine ganze Thekenmannschaft, die in eine Wirtshausschlägerei verwickelt gewesen war - aber dass sie sich nach ihrem gemeinsamen, etwas rauen Sturz von dem Frarr überhaupt wieder so weit aufgerappelt hatte, dass sie jetzt auf Kamas Worte reagieren konnte, war mehr als erstaunlich.
»Dass mir sein der Frarr entwischt«, sagte Kama. »Ohne ihn wir nicht kommen rechtzeitig zu den Satai.«
»Von den Satai habe ich die Schnauze voll«, murmelte Skar.
Über Kamas Züge huschte so etwas wie ein flüchtiges Lächeln. »Da du sein nicht der Einzige«, sagte er. »Viele Menschen und Quorrl empfinden so.«
Skar nickte nur und schlang die Arme enger um die Beine. Die Anstrengungen des vergangenen Tages und der verrückten Nacht forderten ihren Tribut - jetzt, wo er zur Ruhe kam, und seinen gröbsten Hunger und Durst durch die hauptsächlich von Kama zusammengesammelten wasserreichen Roten Beeren, Schmerling-Pilze und Alarcon-Wurzeln gestillt hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben war er das Kämpfen wirklich leid. Hätte sich in diesem Augenblick vor ihm der Nebel gelichtet und ein Dutzend Khtaám ausgespuckt, hätte er sich nicht mehr gewehrt. Es war ein Gefühl, das ihm fremd war, gegen das er aber nicht anzukämpfen versuchte. Vielleicht war es der Einfluss der lebendigen Höhle und dieses abscheulichen Schlunds, der ihn dazu gebracht hatte, zwei Nahrak in die Tiefe zu stoßen; eine Tat, die er nicht einzuordnen vermochte und die er so weit es ging an den Rand seines Bewusstseins drängte.
»Auch viele Digger hassen die Satai«, fügte Esanna hinzu. »Obwohl sie andererseits auf ihren Schutz angewiesen sind.«
Skar sah flüchtig zu ihr hoch. Während sie mit einem wenig begeisterten Gesichtsausdruck auf einem der kleinen braunen Schmerling-Pilze herumkaute, die hier überall wuchsen und die ihnen Kama als besonders nahrhaft angepriesen hatte, erschien sie ihm auf eine schwer zu bestimmende Art gleichzeitig aufgeregt und vollkommen erschöpft, und dabei so angespannt, dass sie sich ganz anders als ein junges Digger-Mädchen verhielt, eher wie eine junge Kriegerin. Vor allem aber wirkte sie wie ein Mensch, der über einer schwerwiegenden Entscheidung brütet und sich noch nicht ganz sicher ist, zu welcher Seite das Pendel für ihn ausschlagen wird.
»Die Satai sein ein sehr zweifelhafter Schutz«, sagte Kama. »Mir sein der Frarr viel lieber.«
»Wo ist er denn jetzt hin, dein famoser Frarr?«, fragte Esanna verächtlich, betrachtete misstrauisch den Pilz, den sie gerade in der Hand hielt, und schnippte ihn dann weg. »Warum beschützt er uns nicht weiterhin?«
Kama zögerte. Dann überzog ein trauriges Lächeln seine Züge. »Er ist entwischt«, gestand er. »Er hat etwas ... etwas in seinem Hals.«
»Er hat etwas in seinem Hals«, echote Esanna fassungslos. »Was meinst du damit? Dass er Halsschmerzen hat - oder was?«
»Keine Halsschmerzen«, sagte Kama unglücklich. »Etwas ... etwas, das mir geben die Macht ihn zu steuern.« Esanna deutete auf das Metallteil in seinen Händen. »Ich denke, dieses Ding da steuert den Frarr.«
»Ja. Schon. Aber es brauchen einen ... einen Widerpart. Der Frarr sein eine sehr wilde Kreatur. Es geben nur noch sehr, sehr wenige seiner Art. Man sie nicht kann zähmen.« Esanna starrte den Nahrak verblüfft an. »Aber ... wie hast du es dann geschafft? Verfügst du über einen mächtigen Zauber?«
»So etwas ... in der Art.« Kama ließ das Metallteil in seinen Händen kreisen, warf dann einen unglücklichen Blick darauf und legte es auf seinem Schoß ab. »Es sein der Bestandteil der spirituellen Kultur der Twuorth. Etwas, was auf die Tradition der großen Alten gehen zurück.«
»Twuorth?«, fragte Esanna. »Was soll das sein?«
»Die Twuorth waren unsere Vorfahren, Digger-Mädchen«, sagte Kama leise. »Wir nicht immer waren die Hüter des Waldes. Unsere Geschichte reichen viel weiter zurück. Die Twuorth waren sehr mächtig, haben gehabt großen Einfluss auf Enwor. Ihre mächtigste Waffen sein gewesen Geschöpfe wie der Frarr.«
»Oh«, machte Esanna, während sie gleichzeitig eine der erstaunlich saftigen Alarcon-Wurzeln in die Hand nahm und damit vor ihrem Gesicht hin und her wedelte. »Dann gibt es also nicht nur diese Drachen, sondern auch noch andere... Geschöpfe. Aber warum hast du sie dann nicht beim Kampf gegen die Khtaám zu Hilfe gerufen?«
Der Nahrak lächelte flüchtig und schenkte ihr ein anerkennendes Nicken. »Das hätten gemacht Sinn«, gab er zu. »Nur, leider: Wir nicht haben die Macht unserer Ahnen.« Ein flüchtiger Schatten glitt über sein Gesicht. »Es kostet... sehr viel Kraft... sehr viel Opfer einen Frarr zu rufen. Und es sein ungewiss, ob wir je wieder bekommen ihn unter Kontrolle - danach.«
Esanna wurde - so weit das möglich war - noch etwas bleicher. »Heißt das etwa, dieses Vieh fliegt hier jetzt unkontrolliert herum und kann uns jederzeit angreifen?«
Kamas Gesichtsausdruck verdüsterte sich. »So ähnlich«, brummte er. »Aber auch nicht ganz richtig.« Er schwieg einen Moment und als er weitersprach, wirkte er wie ein Mensch, der mehr zugab, als er eigentlich wollte. »Es sein für mich sehr schwer, den Frarr zu steuern. Aber es muss getan werden. Ich euch nicht kann begleiten, ich muss suchen den Frarr und ...«
»Und was?«, fragte Esanna, als er nicht weitersprach. »Und ... dann ...« Sein Gesicht war grau vor Schrecken. Allein die Vorstellung, die er mit seinen Gedanken heraufbeschwor, schien beinahe über seine Kräfte zu gehen. »Ich muss sehen, dass ich ihn wieder unter Kontrolle bringen.«
»Hast du solche Angst, dass er uns angreifen könnte?«, fragte Esanna, während sie begann die Wurzel abzulutschen und so das Wasser aus ihr herauszupressen; ganz wie es ihnen der Nahrak gezeigt hatte.
»Nein.« Kama gab sich einen Ruck und widersprach sich dann schon im nächsten Satz: »Nicht nur. Aber wir brauchen seine Hilfe. Unbedingt.«
»Wozu?«
Der Nahrak schwieg wieder eine ganze Weile. »Um uns beizustehen im Kampf gegen den Khtaám«, sagte er dann. »Und wenn wir den Frarr noch hätten, wir könnten bequem Weiterreisen. Aber so wir hängen in dieser Einöde hier fest. Es sein eine Schande.«
»Mir ist nicht ganz klar, was du damit meinst«, sagte Esanna mühsam beherrscht und ein leichtes Zittern lief über ihren Körper, das ihre Hände wie selbstständige Wesen wirken ließ. »Ich hatte nicht vor eine weite Strecke zurückzulegen.«
»Was du hattest vor, ist jetzt nicht mehr wichtig«, sagte Kama. »Es haben sich alles geändert.«
»Ja, es hat sich alles geändert«, sagte Esanna. Sie sprach jetzt ruhig und ihre Hände zitterten nicht mehr. Aber ihre Stimme war kalt wie Eis und selbst die nüchterne Wahl ihrer Worte klang wie eine Herausforderung. »Meine Familie ist tot. Meine Freunde sind tot. Die Quorrl haben alle erschlagen.«
»Ja.« Kama sah kurz auf und wandte dann den Kopf ab, als wäre es ihm unangenehm weiterzureden. »Die Dinge ... haben sich geändert... über Nacht. Nicht nur für dich und Skar. Nicht nur für die Männer, die mit mir sein aufgewachsen und die nun alle tot sind. Zehn gute Männer.«
Zehn gute Männer. Der Satz hämmerte in Skars Kopf, als wollte er ihn um den Verstand bringen. Wieder, wieder und immer wieder hörte er den Schrei der beiden Nahrak, die herabgestürzt waren - nein, die er meuchlings hinabgestoßen hatte - und er spürte, wie eiskalte Verachtung in ihm hochkroch und die Frage nach dem Warum in seinen Schläfen pochte, als wollte sie ihn endgültig um den Verstand bringen, ihm zuflüstern, dass er überall Tod und Vernichtung über die Menschen in seiner Nähe brachte. Und trotz der wispernden Stimme in ihm, trotz der vielen Ahnungen, die ihn mit ihrem düsteren Inhalt übergossen, trotz des wild pochenden Schmerzes, der bei dem Anblick Kiinas aufgerissen war, wusste er immer noch nicht, wohin das alles führen würde - und welche Rolle er in diesem außer Kontrolle geratenen Spiel spielte, bei dem eine erbarmungslose und erschreckend unbegreifliche Macht alle Fäden in der Hand hielt.
»Es tut mir Leid um deine Freunde«, sagte Esanna mitten in seine Verwirrung hinein. »Ich kann ... ich kann ... dich verstehen.« Ihre großen dunklen Pupillen starrten irgendwo ins Nichts.
Skar überlief es eiskalt, als er in den Blick Esannas geriet. Es war eine Leere in ihr, die gewaltiger war als jeder Schmerz, als jedes Entsetzen und die viel schlimmer war, als wenn sie geweint oder geschrien hätte; es war gleichzeitig kein Gefühl in ihr und doch der ganze Abgrund, in den ein Mensch stürzte, wenn er alles verloren hatte.
»Auch ich habe ... sie sind alle ...«
»Sie sind alle tot«, führte Kama den Satz fort, nachdem sie längere Zeit verstummt war.
»Ich kann das einfach nicht... hinnehmen.« Esannas Stimme klang immer noch kalt, aber es schwang etwas anderes mit, eine Entschlossenheit und ein Hass, die alles beiseite wischten, was sonst in ihr vorgehen mochte.
»Ich verstehe«, murmelte Kama. »Rache ist eine Speise, die man am besten kalt genießt.«
»Was?«, fragte Esanna fassungslos.
»Du willst Rache«, sagte Kama. »Du willst, dass die Menschen und Quorrl bestraft werden, die dir das angetan haben. Das ist verständlich. Aber es nicht richtig.«
»Warum sollte es wohl nicht richtig sein?«, fragte Esanna leise. »Warum sollte es nicht richtig sein, die Quorrl auszulöschen, die die meinen wie eine räudige Hundemeute niedergemacht haben?«
Kama starrte auf die Stelle im verhangenen Himmel, in der der Frarr verschwunden war. »Weil es einen größeren Zusammenhang gibt. Weil der Vogel den Wurm frisst.« Esannas Kopf fuhr so abrupt zu dem Nahrak herum, dass Skar schon fürchtete sie wollte sich auf ihn stürzen. »Was haben denn Vögel und Würmer mit diesen Untieren zu tun?«, schrie sie. »Was hat ein Quorrl mit einem Wurm gemeinsam?«
Der Nahrak schwieg ein paar Sekunden, und als er zu einer Antwort ansetzte, klang seine Stimme so leise, dass ihn Skar kaum noch verstehen konnte. »Die Quorrl seien die Vögel. Die Digger...«
»Ja?«, fragte Esanna, nachdem er nicht weitersprach. »Was ist mit uns Diggern?«
Kamas Blick irrte unstet zwischen Skar und Esanna hin und her und Skar hatte das Gefühl, dass er etwas ganz Bestimmtes sagen wollte. Aber stattdessen blickte er plötzlich zu Boden und murmelte: »Die Quorrl sein die wertvollsten Verbündeten der Menschen.«
»Wenn man dich so reden hört, könnte man glauben, die Quorrl sind frommer als eine Schar Heiliger Männer«, schnaubte Esanna. Sie schob den Saum ihres Gewands zurück und Skar wusste, was jetzt kommen würde; trotzdem war er wie gelähmt, unfähig einzugreifen oder Kama eine Warnung zuzuschreien.
»Die Quorrl nicht sein unschuldig. Aber die Digger seien ...«, der Nahrak breitete die Arme aus und das glänzende Stück Eisen in seinen Händen sah in diesem Moment aus wie ein Stein, den er in die Unendlichkeit werfen wollte, »sie seien die Werkzeuge des Todes.«
»Ich habe dich also recht verstanden«, sagte Esanna in einem vor Erregung heiser und gepresst klingenden Tonfall, »du hältst die Quorrl für deine Verbündeten und uns Digger für die Werkzeuge des Todes?«
»So ich haben das nicht gesagt«, behauptete er. »Ich versuchen nur zu erklären...«
»Fahr zur Hölle mit deinen Erklärungen!«, schrie Esanna. Mit einer gleichermaßen fließenden wie schnellen Bewegung riss sie das Messer unter ihrem Gewand hervor, um es dem Nahrak ins Herz zu stoßen, getrieben von einem Zorn, von einer Verwirrung der Sinne, wie sie Skar dazu gebracht hatte, zwei Nahrak in die Tiefen des Schlunds zu stoßen ... Kama ließ seinen Oberkörper im Sitzen vorschnellen, schlug ihre Hand beiseite und schien nachsetzen zu wollen, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern atmete nur hörbar ein, starrte Esanna noch einen Herzschlag lang eisig an und riss dann das glänzende Eisen, die Drachensteuerung, so abrupt hoch, dass Skars Hand automatisch zum Gürtel fuhr und sich um den Griff seines Tschekals legte.
Esanna starrte fassungslos vor sich auf den Boden, wo sich ihr Messer in einen Ast gebohrt hatte, halb verdeckt durch ein paar Blätter, die sich um die im Feuer fleckig gewordene Klinge wie ein Kleidungsstück schmiegten. »Ich ... ich«, stammelte sie.
»Digger seien die Werkzeuge des Todes«, wiederholte Kama leise, während er seine Hände wieder sinken ließ - und mit ihnen das Stück Eisen, das er sicherlich weitaus effizienter als Waffe hätte einsetzen können als Esanna ihr Messer.
Ein paar Sekunden lang herrschte absolutes Schweigen. »Jetzt reicht es«, sagte Esanna dann sehr leise, aber mit so viel Hass in ihrer Stimme, dass Skar in seiner Wachsamkeit nicht nachließ. »Ich halte es deiner Verwirrung zugute, dem Schmerz um den Tod deiner Freunde, der dich so sprechen lässt. Aber ich rate dir eins«, sie schob ihren Oberkörper fast unmerklich nach vorne und in Richtung des Nahrak, »rede nie wieder solch einen Unsinn.«
Obwohl ihre Stimme vor mühsam unterdrückter Wut zitterte, atmete Skar erleichtert auf. Esanna mochte jetzt noch so erregt sein: Die Gefahr, dass sie sich noch einmal auf den Nahrak stürzen würde, war so gut wie gebannt; zumal sie jetzt wissen musste, dass der Nahrak auf der Hut war und keinesfalls bereit sich von ihr überraschen zu lassen.
»Du solltest dein Messer wieder einstecken«, sagte Kama ruhig. »Vielleicht du noch werden es brauchen.«
Das Mädchen funkelte den Nahrak an, streckte dann langsam die Hand vor, nahm die Klinge und ließ sie wieder unter ihrem Gewand verschwinden. »Die Quorrl sind Monster«, stieß sie dann hervor. »Bestien. Sie töten ohne Sinn und Verstand.«
»Sie töten aus ganz ähnlichen Gründen wie Menschen«, sagte Kama fast sanft.
»Ach ja?«, höhnte Esanna. »Und warum ermorden sie dann sogar Kleinkinder und alte Leute? Warum verwüsten sie ganze Landstriche und schrecken vor nichts zurück, um uns zu vertreiben?«
Kama blickte sie offen an. »Ich nicht wissen, warum Quorrl und Menschen diese schrecklichen Dinge immer wieder tun. Aber in diesem einen, in diesem ganz speziellen Fall es gehen um mehr als nur um Barbarei und Kampf zwischen verfeindeten Völkern.«
Esanna beugte sich wieder ein Stück vor und ihre Stimme wurde schärfer; nachdem es ihr misslungen war, Kama ihren Dolch ins Herz zu stoßen, schien sie ihn mit Worten vernichten zu wollen: »Wenn du es nicht weißt, dann beantworte mir doch diese Fragen: Warum richten die Quorrl ein Massaker nach dem anderen unter den Diggern an? Warum brennen sie unsere Hütten nieder und nehmen uns die Luft zum Atmen, bis wir nicht mehr anders können, als uns zu wehren und sogar mit den Satai gemeinsame Sache machen müssen? Warum bringen sie uns dazu, sie auslöschen zu wollen, wenn sie doch angeblich so friedliebend sind?« In Skars gespannte und dennoch halb benommene Aufmerksamkeit mischte sich so etwas wie Entsetzen: Esanna verfügte über eine beachtliche Wortwahl und sie setzte die Worte so aggressiv zusammen wie jemand, der sich eher in der Waffenkunst auskannte als mit einfachem Grabungsgerät und der Routine eines stinklangweiligen Dorflebens. Das war in der augenblicklichen Situation alles andere als ungefährlich, denn jedes erregte und wie ein treffsicherer Pfeil abgeschossene Wort konnte eine übersteigerte Reaktion provozieren. Wenn die beiden nicht aufhörten, einander mit Worten in die Enge treiben zu wollen, würde es früher oder später zu einer Katastrophe kommen; die Anspannung und der Schrecken der Nacht drängten danach, sich in einer Bluttat zu entladen.
Es musste ein Ende haben.
Esanna schien das auch so zu sehen, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen. »Unsere Wege werden sich jetzt trennen«, sagte sie. Ihre Stimme zitterte und ihr Blick war voller Wut. »Ich muss zurück in mein Dorf. Vielleicht haben die Quorrl nicht alle getötet. Vielleicht kann ich heute noch helfen meinen Clan wieder zusammenzuführen.«
Skar konnte ihren Wunsch verstehen - aber das hieß nicht, dass er ihn billigte. Zerstückelte Leichen, klaffende Wunden, blutverschmierte Gewänder, abgerissene Gliedmaßen, niedergestreckte Frauen und Kinder und über allem der Gestank von Blut, Urin, Schweiß und Verwesung: Das alles war wahrlich nichts, was sich Esanna antun sollte; weder jetzt noch zu einem späteren Zeitpunkt. »Es tut mir Leid«, sagte er deshalb. »Aber ich fürchte, du wirst niemanden mehr antreffen.«
»Ach ja?«, fragte Esanna bitter. »Und deswegen soll ich es nicht zumindest probieren? Deswegen soll ich mir irgendwelchen Unsinn anhören, von ihm, der uns Diggern die Schuld gibt, dass wir von den Quorrl gejagt und erschlagen werden, als wären wir ein paar giftige Nattern?«
»Nein«, sagte Skar hilflos. »Niemand gibt dir oder den Diggern die Schuld an irgendetwas.«
»Na wunderbar«, giftete Esanna. »Dann kann ich jetzt also gehen?«
Skar schwieg. Wenn er Esanna laufen ließ, würde er vielleicht nie herausbekommen, was mit ihr nicht stimmte. Aber wenn er ehrlich war, war das nicht der entscheidende Grund, warum er nicht wollte, dass sie ging. Es war etwas an ihr, das ihn auf eine unerklärliche Art anzog. Vielleicht weil sie ein ähnliches Gefühl in ihm auslöste wie Kiina, in diesen letzten Monaten ihres gemeinsamen Kampfes, bevor Del versucht hatte ihn umzubringen.
Dann fiel ihm auf, was er gerade gedacht hatte: Bevor Del versucht hatte ihn umzubringen. War es das, was er die ganze Zeit über hatte wegschieben wollen? Dass er eigentlich tot war? Oder dass er nie tot gewesen war, sondern nur in einer absonderlichen Art von Tiefschlaf Jahrhunderte überdauert hatte, bevor ihn der See ausgespuckt hatte wie einen unverdauten Bissen?
»Es wäre schön, wenn du mich wenigstens mit einer Antwort beehren würdest«, sagte Esanna säuerlich.
»Was?«
Esanna presste die Zähne so fest aufeinander, dass es knirschte. »Du überspannst den Bogen, Skar«, sagte sie schließlich. »Du kannst mich nicht behandeln wie eine dahergelaufene Bauerngöre.«
»Schön«, sagte Skar und presste sich etwas näher an den Baum, an dessen mächtigem, aber modrigem Stamm sich der auffrischende Wind brach. Seine Augen fielen wie von selbst immer wieder zu, aber seine Müdigkeit war in diesem Moment halb gespielt. Esanna war eine dahergelaufene Bauerngöre. Das Mädchen mit der klaffenden Gesichtswunde und den zerrissenen, besudelten Lumpen, die es nur sehr unvollständig vor der Feuchtigkeit und der Kälte schützten, hätte eigentlich vor Erschöpfung längst zusammenbrechen müssen. Die Energie, die es vorantrieb, hatte etwas Übermenschliches an sich. Aber im Grunde genommen passte es nur zum Gesamtbild, zu der durch und durch unpassenden Art, wie sie das Gespräch an sich gerissen hatte, und zu dem herausfordernden Blick, mit dem sie ihn jetzt maß.
»Der Abstieg alleine und bei diesem Wetter - es ist zu gefährlich. Es ist vielleicht besser, wenn ich dich begleite.«
»Nach allem, was wir erlebt haben, kann mich nichts mehr schrecken«, sagte Esanna verächtlich. »Und schließlich habe ich noch mein Messer. Wenn jemand glaubt leichtes Spiel mit mir zu haben, wird er sich wundern.«
Skar atmete tief durch. So, wie sie sich aufführte, war ihm danach, sie anzuschreien; sie zu packen und so lange zu schütteln, bis sie zur Vernunft kam. Aber er wusste, dass er damit nur das Gegenteil von dem erreichen würde, was er wollte - und deshalb ließ er es. »Es dürfte nicht gerade einfach sein, den Weg zurück zu finden«, sagte er so ruhig wie möglich. »Es ist kein Spaß, sich bei diesem Wetter zu verirren. Wenn du nicht bis zur Dunkelheit einen sicheren Unterschlupf gefunden hast, wirst du erfrieren.«
»Bis dahin ist es noch lange hin«, sagte Esanna leichthin. »Das mag sein. Aber denk daran, wie ungemütlich es war, als du heute Nacht die Höhle verlassen hast.«
»Daran denke ich lieber nicht«, sagte Esanna wütend. »Schließlich warst du daran schuld, dass ich mir in der Kälte fast den Tod geholt habe.«
Skar wusste nicht, ob er über diese Bemerkung lachen oder einfach losbrüllen sollte. »In dieser Nacht ist so viel passiert: Lassen wir es im Moment dabei«, sagte er schließlich so leise, dass seine Stimme kaum mehr als ein Flüstern war. »Aber überleg es dir gut, ob du nicht besser mein Angebot annehmen willst.«
»Da gibt es nichts mehr zu überlegen«, sagte Esanna verstimmt. »Ich werde meiner Wege ziehen - und ihr könnt tun, was ihr nicht lassen könnt.«
»Nun gut«, sagte Skar mühsam beherrscht. »Wenn es denn dein Wille ist: Ich werde dich nicht mit Gewalt aufhalten. Aber denke wenigstens daran ...«
»Du wirst sie nicht aufhalten«, unterbrach ihn Kama.
»Aber ich.«
Skar und Esanna blickten ihn verblüfft an.
»Was ihr so schauen?«, fragte Kama ärgerlich. »Seht euch doch mal an. Ein Mann ohne Beinkleider. Aber so schwach, dass er gleich umkippt. Ein Mädchen, das so viel Schock hat, dass es nicht einmal weiß, wie schwer seine vielen kleinen Wunden wiegen.«
»Mir fehlt nichts!«, protestierte Esanna.
»Natürlich dir fehlt nichts«, sagte Kama ohne jeden Spott in seiner Stimme. »Aber du sein mehr als halb tot.« Er klopfte sich gegen die Brust. »Hier drinnen - du sein fast ganz tot. Und dein Körper auch nicht gerade sein in Best-form. Selbst nachdem ich deine Stirnwunde gereinigt habe, du noch brauchen viel Ruhe.«
»Und? Was soll ich deiner Meinung nach tun?« Esanna deutete in das feuchte Grau um sich herum. »Siehst du das hier? Diese Brühe? Ich kann sie nicht mehr ertragen. Nicht nach der Höhle ...« Sie schluckte trocken und fuhr leiser fort: »Nicht nach dem, was uns in der Dunkelheit passiert ist.«
»Du hast Angst, dass die Khtaám hierher kommen«, stellte der Nahrak fest. »Angst nicht schlecht. Macht wachsam. Aber in diesem Fall unbegründet. Die Khtaám können die Höhle nicht verlassen.«
»Und warum nicht?«, fragte Skar.
»Weil die Khtaám die Höhle sind«, sagte Kama ernsthaft. »Es gibt nicht viele Khtaám, sondern nur einen Khtaám.«
»Moment«, protestierte Skar. »Das kann doch nicht so ganz stimmen. Die Khtaám sind die Wiedergeborenen der Hoger. So hat man mir das zumindest erklärt, damals ...«
»Coar hat dir das gesagt«, stellte Kama fest. »Und sie hatte Recht mit den Wiedergängern. Fast.«
»Coar?«, fragte Skar alarmiert. »Woher kennst du sie? Das ist weit mehr als dreihundert Jahre her ...«
»Ich bin ein Nahrak, Hüter des Waldes«, unterbrach ihn Kama. »Wir reichen weiter unser Wissen von Generation zu Generation. Natürlich auch gerade dann, wenn es den Großen Skar betrifft.«
Skar starrte ihn nur sprachlos an. »Das glaube ich einfach nicht«, sagte er dann. »Ich habe mich damals mit Del zu euch gerettet...«
»Vor ein paar Quorrl«, fuhr der Nahrak unbarmherzig fort. »Und ihr nicht wusstet, warum. Aber bald wirst du es verstehen.«
»Bald werde ich es verstehen?« Skar war zwar noch immer müde, aber die unerwartete Wendung des Gesprächs hatte das Gefühl der Entspannung in ihm endgültig vertrieben. »Du meinst allen Ernstes, dass die damalige Verfolgung durch die Quorrl mit den heutigen Zusammenhängen in Verbindung steht?«
»Aber ja«, bestätigte der Nahrak. »Ganz gewiss sogar. Wir nur haben gebraucht viele Jahre, um dahinter zu kommen.«
»Und hinter was seid ihr gekommen?«
»Die Quorrl damals gehörten mit zur Verschwörung«, sagte Kama. »Zu denen, die jetzt die Quorrl vernichten wollen.«
»Moment, Moment.« Skar schüttelte den Kopf. »Das ist doch alles wirres Gerede.«
»Kein wirres Gerede«, protestierte der Nahrak. »Sondern Wahrheit. Ganz einfache Wahrheit, wenn man den Zusammenhang versteht.«
»Also bitte.«
»Bitte was?«
»Erklär uns diesen Zusammenhang.«
»Oh. Natürlich.« Kama seufzte tief und ließ dann das glänzende Eisenrohr in einer Falte seines Gewandes verschwinden. »Das, was du kennst als Khtaám, ist geworden sehr mächtig in den letzten Jahrhunderten. Es ist das, was hinter den Dingen steht.«
»Ich müsste lügen, wenn ich behaupten würde, das zu verstehen«, sagte Skar. »Kannst du dich nicht etwas verständlicher ausdrücken?«
»Ich will es versuchen.« Kama runzelt die Stirn, als müsse er angestrengt nachdenken. »Das Khtaám versucht zu unterwandern alles. Auch das, was alles unterwandert.«
»Oh nein«, protestierte Skar. »So geht das nicht. Du häufst Rätselsprüche aufeinander und erwartest dann, dass ich sie entwirre.«
»Du es nicht verstehen?«, fragte der Nahrak verblüfft. »Du nicht wissen, was hinter den Dingen steht?«
»Nein, das weiß ich nicht«, brummte Skar. »Ich weiß nur, dass ich das Gespräch gleich beende, wenn du nicht endlich anfängst etwas verständlicher zu reden.«
»Es ist die Zeit der Entscheidung«, sagte Kama vorsichtig. »Die Kräfte auf beiden Seiten sind bereit sich zu messen. Doch sie sind sich zu nah, um sich vollends entwirren zu können. Sie sind eins und doch zwei.«
»Du meinst die Quorrl und die Satai«, vermutete Skar. »Die Quorrl und die Satai führen einen Stellvertreterkrieg«, sagte Kama. »Wären nicht sie es, wären es andere. Aber viel gefährlicher sind die Digger.«
»Schon wieder wir Digger«, mischte sich Esanna ein, die es nun offenbar überhaupt nicht mehr eilig hatte, ihr halbwegs komfortables Lager zu verlassen. »Was soll denn dieser Schwachsinn. Wir tun doch niemandem etwas.«
»Oh, ihr tut sehr schlimme Dinge«, sagte der Nahrak. »Ihr grabt nach Kaol. Dadurch ihr schwächt es. Und damit stärkt ihr das Khtaám.«
»Wir haben überhaupt nichts mit diesen Khtaám zu tun«, behauptete Esanna. »Ich habe heute Nacht zum ersten Mal davon gehört.«
»Ein Teil von dir hat heute Nacht zum ersten Mal davon gehört«, gab ihr Kama Recht. »Ein anderer Teil kennt die Wahrheit schon viel länger. Denn du bist bestimmt, Skar zu helfen.«
Esanna zog die Stirn kraus und zuckte zusammen, als würde ihre Stirnwunde dabei schmerzhaft zu pochen anfangen. »Schwachsinn«, sagte sie leise und führte die Hand an die Stirn, um mit dem Handballen gegen die Wunde zu drücken.
»Kein Schwachsinn«, widersprach Kama. »Nur ihr beide zusammen können Enwor retten. Ihr beide wurdet dazu auserwählt - auf eine Weise, die ihr vielleicht erst in vielen Jahren verstehen werdet. Es wird nicht leicht sein für euch zu begreifen, was muss getan werden, und es sein eine Zeit der Prüfung, bis es euch kann gelingen, den unsinnigen Krieg zwischen Quorrl und Satai zu beenden. Ihr müsst diesen Weg gemeinsam beschreiten, Esanna, gegen das Khtaám und für Enwor. Wenn ihr es nicht tut, ist Enwor verdammt.«
»Enwor soll verdammt sein, wenn ich jetzt meiner Wege gehe und nicht mit Skar ziehe?« Esanna schüttelte den Kopf. »Das glaubst du doch selber nicht. Wir kennen uns ja nicht einmal. Im Grunde genommen weiß ich ja nicht einmal, wer Skar ist.«
»Du selbst hast doch das Zeichen erkannt«, sagte Kama sanft. »Du hast doch gesehen, was ist mit seiner Brust verwachsen.«
»Das Zeichen... ja.« Ihre Stimme zitterte und ihr Blick flackerte plötzlich vor Angst. »Und ich habe Skar kämpfen sehen. Anders als alle anderen Männer, die ich je im Kampf sah - anders selbst als die beiden Satai, die letzten Winter für meinen Vater kämpften.«
»Zwei Satai?« Skar sah eine Chance das Gespräch in eine unverfänglichere Richtung zu lenken. »Hat sie dein Vater angeheuert?«
»Angeheuert ist wohl das falsche Wort«, antwortete Esanna leise. »Sie tauchten irgendwann von selbst auf... und sie verhielten sich äußerst merkwürdig.«
»Inwiefern merkwürdig?«
»Nun ... sie ... sie ...« Esanna schüttelte angeekelt den Kopf. »Aber das ist ja auch nicht so wichtig.«
»Wieso ist das nicht wichtig?«, fragte Skar. »Mich interessiert alles, was mit den Satai zu tun hat. Ich muss wissen, was in den letzten dreihundert Jahren mit ihnen geschehen ist.«
»Ich will aber nicht über sie reden!«, schrie Esanna mit erschreckender Heftigkeit. Sie wandte ihren Kopf ab und barg ihr Gesicht in den Händen und ein heftiges Schluchzen erschütterte ihren Körper, das so ganz im Gegensatz zu ihren vorherigen schroffen Worten stand und doch genauso dazu passte wie eine kalte Nacht, die auf einen strahlenden Tag folgte.
Skar wollte sich zu ihr herüberbeugen, aber Kama schüttelte den Kopf. »Lass sie«, sagte er. »Ich kann dir erklären, was du willst wissen.«
»Na schön«, sagte Skar wenig überzeugt. Bislang hatte er noch nicht einmal die Hälfte von dem verstanden, was ihm der Nahrak auf die Nase hatte binden wollen. Vielleicht war ja tatsächlich etwas Wahres daran, vielleicht war aber auch einfach alles ein wirrer Mischmasch alter Überlieferungen und allzu freizügiger Interpretation.
»Die Satai haben sich verändert in den letzten drei Jahrhunderten«, begann der Nahrak. »Sie nicht mehr dieselben sind. Früher sie standen für ...«
»Ich weiß, wofür sie früher gestanden haben«, knurrte Skar. »Falls du es nicht wissen solltest: Ich selber habe viele Jahre den Mantel des Hohen Satai getragen.«
»Ja, ich weiß«, seufzte Kama. »Und wenn du ihn noch heute würdest tragen, vieles wäre anders. Doch jetzt ist alles ... viel schwieriger geworden.«
»Inwiefern?«
»Die alten Ideale - sie wurden abgewaschen durch die Zeit. Darunter es kam zum Vorschein Habgier und Selbstsucht.«
»Die Satai waren noch nie ein Verein hilfsbereiter junger Männer«, sagte Skar schroff. »Wir haben uns verdingt, haben dem gedient, der unseren Lohn hat zahlen können. Wir haben Könige gestürzt und andere auf den Thron gehoben ...«
»Ihr hattet einen Ehrenkodex«, beharrte Kama. »Ihr seid gewesen mehr als ein paar Strauchbanditen, die nur zufällig konnten kämpfen besser als alle anderen. Ihr seid gewesen ein Garant für Stabilität. Ihr habt geschnitten faule Stellen aus dem Fleisch - das war alles.«
»Das ist eine sehr freie Interpretation«, sagte Skar. »Es mag sein, dass es in gewisser Weise sogar zutraf. Aber es hat auch immer Satai gegeben, die gegen den Kodex verstoßen haben - oder schlimmer noch, die die Interessen Enwors verraten haben.«
Kama machte eine wegwerfende Bewegung. »Überall, wo Licht ist, sein auch Schatten. Aber ich nicht das meinen. Jetzt die Schatten haben bei den Satai die Überhand gewonnen und das Licht fast ganz verdrängt. Wenn sie erst haben vollständig die Macht, alles ist zu spät.«
»Das ist ja alles schön und gut«, sagte Skar. »Aber was geht es mich an? Dreihundert Jahre sind eine sehr lange Zeit. Viele Generationen sind mittlerweile vergangen. Selbst, wenn ich noch Nachfahren hätte - sie haben nicht mehr mit mir gemein als ein See mit einer seiner Quellen gemein hat, wenn ihn doch gleichzeitig mehrere hundert Quellen speisen. Nein«, er schüttelte entschieden den Kopf, »dieses Enwor ist nicht mein Enwor. Ich bin ihm zu nichts verpflichtet.«
»Und wenn nun nicht nur die Existenz der Satai auf dem Spiel stehen, sondern auch die ganz Enwors?«
Skar starrte schweigend vor sich auf den matschigen Boden, der unweit ihres Lagers aus morschen Ästen und zusammengehäuften Blättern leicht abschüssig verlief und nur von spärlichem, grün geflecktem Moos und kargen, dünnen Gräsern zusammengehalten wurde. Schon die nur wenige Schritte entfernten nächsten Bäume waren nichts als dunkle Schatten in diesem merkwürdig grauen Nebel, der sich feucht und erstickend auf die Atmungsorgane legte, als wollte er ihn und seine beiden Begleiter mit einem Leichentuch bedecken.
»Was ist denn so erhaltenswert an Enwor?«, fragte er. »Du das fragen im Ernst?« Der Nahrak wirkte nicht empört, sondern eher - betroffen. »Du wirklich fragen, warum tausende von Kindern haben ein Recht auf ein Leben? Warum es ist wichtig, Kulturen zu erhalten ...?«
»Was für Kulturen?«, fragte Skar bitter. »Enwor fällt immer mehr der Zerstörung anheim. Die Errish und Elay - zerstört. Ausgelöscht vom Sternenfeuer. Die reiche Hafenstadt Grandiosa - bis auf die Grundfesten verbrannt. Und mit ihr nicht nur viele tausend Menschen, sondern auch unersetzliche Gemälde, Schriftstücke und Kostbarkeiten. Die Tempel der Ehrwürdigen Frauen, die Städte des Hochlands, die alten Königtümer... soll ich wirklich weitermachen und dir all das aufzählen, was bereits während meiner begrenzten Lebensspanne alles unwiederbringlich verloren ging?«
»Die Geschichte sein ein fortwährendes Auf und Ab«, sagte Kama. »Auf der Asche verbrannter Erde wächst wieder Neues. Nichts sein auf ewig verloren. Der Wandel wird neue Blüten hervorbringen.«
»Nein«, sagte Skar schroff. »Das wird er nicht. Und wenn einer die Zusammenhänge kennt, dann du.« Er wusste nicht, woher er diese plötzliche Sicherheit nahm, er wusste einfach, in diesem einen, unheimlich kostbaren Moment, dass er die Wahrheit sprach, und er konnte es nicht verhindern, dass sie weiter aus ihm heraussprudelte. »Enwor stirbt, Kama. Es geht unter. Was vor dreihundert Jahren in der Vernichtung der Errish gipfelte, hat sich weiter ausgebreitet. Möglich, dass die Digger damit etwas zu tun haben, möglich, dass sich Errish und Digger in so vielem unterscheiden, aber nicht in der fundamentalen Bedeutung, die sie für Enwor haben: Die einen zu seinem Erhalt, die anderen zu seiner Zerstörung.«
Der Nahrak runzelte die Stirn und sagte etwas so leise, dass ihn Skar nicht verstand. Dabei war er sich nicht sicher, ob das wütende Funkeln in seinen Augen ihm oder seinen Worten galt.
»Was hackt ihr beide immer wieder auf uns Diggern herum?«, fuhr Esanna dazwischen. »Wir sind kein kriegerisches Volk. Wir wollen einfach nur in Ruhe unserer Beschäftigung nachgehen...«
Skar reagierte nicht auf ihre Worte, obwohl sie den Kopf drehte und ihn fragend ansah. Er wollte nicht antworten. Er wollte überhaupt nicht reden, sondern einfach nur dasitzen und das vage Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit genießen, das ihm die Müdigkeit vorgaukelte, vielleicht zum letzten Mal für sehr lange Zeit.
»Ihr sein überhaupt kein Volk«, brach Kama endlich das eisige Schweigen. »Ihr sein nur ein Haufen zerlumpter Gestalten im Dienst des Khtaám.«
Esannas Augen wurden schmal. »Was soll denn das heißen? Sind wir dir vielleicht nicht gut genug, du komischer Waldhüter, weil wir keinen Wert auf Prunk und Pomp legen?«
»Darum es nun gehen wirklich nicht«, sagte Kama. »Ihr seid kein Volk, weil ihr euch erst vor drei Jahrhunderten zusammengetan habt. Frag Skar. Der dir können sagen, was ich damit meinen.«
»Also?«
Skar hatte keine Lust, sich auf irgendwelche Spielchen einzulassen. »Macht das bitte untereinander aus«, sagte er. »Aber wenn ihr mich schon fragt: Wir sollten uns so schnell wie möglich auf den Weg machen. Bevor die nächste Nacht hereinbricht, will ich eine gehörige Distanz zwischen mir und der Höhle wissen. Außerdem wäre es nicht schlecht, wenn ich mich unterwegs neu einkleiden könnte. Mir friert nämlich langsam was weg.«
»Ich verstehen«, sagte Kama. »Du auch können gleich aufbrechen mit dem Mädchen - wenn ihr euch fühlen dazu stark genug. Den Hügel hinab, in Richtung des Pojoaque. Ihr müsst sein dort sehr vorsichtig. Dieser Fluss ist... gefährlich.«
»Du scheinst ja schon alles sehr genau geplant zu haben«, brummte Skar.
»Ich nur wissen, was zu tun ist«, fuhr der Nahrak ruhig fort. »Darum ich werden gehen den Frarr suchen. Sobald ich ihn haben gefunden - und wenn ich ihn wieder haben unter Kontrolle -, ich kommen zu euch.«
»Und wenn dir das nicht gelingt?«
»Dann«, der Nahrak brach ab und schluckte hart. »Dann ihr müsst machen alleine weiter. Ohne Kama und ohne Frarr. Du dich einfach müssen halten an Marna ...«
»Den Satai mit der Goldmaske?«, unterbrach ihn Skar überrascht.
»Ja«, nickte Kama. »Du müsst nach ihm suchen - und nach dem Elften Buch. Alles andere werden sich dann schon ergeben von selbst.«
Eine Weile herrschte ein fast bedrohliches Schweigen. Der Nahrak hatte mit solcher Intensität gesprochen, dass seine Worte wie ein gewaltiges Vermächtnis wirkten - ein Vermächtnis allerdings, das Skar nicht bereit war anzunehmen. »Und das ist alles?«, fragte er spöttisch. »Mehr Anweisungen hast du für uns nicht, kleiner Mann?«
»Nicht zurzeit«, antwortete Kama ernsthaft. »Aber später... vielleicht.«
»Und du glaubst wirklich, ich werde das tun, was mir ein dahergelaufener Nahrak sagt?«, fragte Skar ruhig. »Wie kommst du darauf?«
»Ich dich nicht verstehen«, sagte Kama. »Du doch müssen begreifen, was es heißen, Verantwortung zu tragen.« Skar lachte humorlos auf. »Wenn das ein Witz sein soll, ist es ein geschmackloser«, sagte er. »Ich habe keine Verantwortung mehr. Für nichts und niemanden. Mein Enwor existiert sowieso schon seit drei Jahrhunderten nicht mehr. Für wen sollte ich mich also verantwortlich fühlen?«
»Wärst du nicht gewesen, Enwor hätte sich anders entwickelt«, sagte Kama. »Die Quorrl hätten nicht erfolgreich greifen können nach der Freiheit, nicht abschütteln können die Fesseln der alten Überlieferung, wärst nicht du gewesen. Die Satai nicht hätten können das Chaos überstehen, wärst nicht du gewesen. Enwor war auf dem Weg zum Untergang und du haben das Ruder herumgerissen. Und da du mich fragen, Hoher Satai, was für eine Verantwortung du haben? Das sein lächerlich.«
Ob Skar wollte oder nicht - die Worte des Nahrak berührten etwas tief in ihm. Er wusste, dass er ihm damit hatte schmeicheln wollen. Aber das war nicht der entscheidende Punkt; entscheidend war vielmehr, dass Skar tief in seinem Innersten wusste, dass der Nahrak Recht hatte.
Kama schien zu spüren, dass er gewonnen hatte - wenn auch nur teilweise - und dass es klüger war, das Thema zu wechseln. »Esanna wollte etwas wissen von dir«, sagte er. »Sie wollte wissen, was es mit den Diggern auf sich haben.«
»Ja genau«, ging Esanna dem Nahrak auf den Leim. »Was soll dieses blöde Gequatsche, dass wir kein Volk sind? Was sollen diese Vorwürfe, dass wir an allem Übel dieser Welt schuld sind?«
Skar starrte einen Moment lang schweigend Kama an, der seinen Blick ungerührt erwiderte mit der stummen Aufforderung auf Esannas Vorstoß einzugehen.
»Ich bin wohl kaum der richtige Fachmann für die Angelegenheiten der Digger«, sagte er schließlich.
»Oh doch, das du sein«, sagte Kama ungerührt und so schnell, als habe er sich die Antwort schon vorher zurechtgelegt. »Du wissen aus eigener Anschauung mehr über den Werdegang, die Geburt und die Vernichtung ganzer Königreiche und Volksgruppen als irgendein anderer Mensch. Und du wissen, was sie unterscheidet von einer solchen Gruppe wie die der Digger.«
»Was sollte schon mit diesem wirren Haufen los sein?«, fragte Skar gereizt. »Als ich noch in voller Blüte stand, gab es weit und breit keine Digger. Von allen Bewohnern Enwors bin ich wahrscheinlich derjenige, der die Geschichte der Digger am wenigsten kennt.«
»Siehst du«, sagte Kama triumphierend. »Er euch nicht kennen.«
»Und was soll das beweisen?«, fragte Esanna.
»Das beweist, dass nach meinem Abgang irgendjemand auf eine besonders schlaue Idee kam und mit ein paar Getreuen die Gemeinschaft der Digger gegründet hat: mit klar umrissenen Zielen und der Anweisung, wie die Idee weiter verbreitet werden sollte«, sagte Skar in einem Tonfall, der zeigte, wie sehr ihm dieses Gespräch auf die Nerven ging. »Aus dieser Keimzelle entwickelte sich schließlich eine mächtige Bewegung, die immer mehr Einfluss auf Enwor gewann.«
»Woher weißt du das?«, fragte Esanna überrascht.
»Weil das die übliche Art ist, wie Spinner ihre Ideen in die Welt hinaustragen«, murrte Skar. »Und wenn du es genau wissen willst: Auch die Satai sollen sich so in ihrer Gründungsphase verhalten haben - allerdings ist das schon ein paar Jährchen her.«
»Das klingt so, als würdest du neben den Diggern auch die Satai verachten.«
»Und wenn das so wäre?«, fragte Skar. »Würde es dich wundern?«
Esanna starrte ihn mit einer Mischung aus Trauer und Entsetzen an und nickte dann. »Aber ja«, sagte sie. »Du bist die Legende, die Leitfigur, fast ein Gott für die Satai. Wie kannst du es dann wagen ...«
»Schlecht über die zu reden, die in meinem Namen morden und Machtpolitik treiben?«, fauchte Skar. »Ja, wie kann ich nur? Hast du denn nichts begriffen, Esanna?« Aber dann schüttelte er den Kopf und trat wütend ein paar Äste beiseite, die im hohen Bogen wegflogen und irgendwo im Nebel gegen einen Baum klatschten. »Ich tue dir Unrecht, verzeih«, fuhr er gefasster fort. »Du kannst sie nicht kennen, die dunklen Regeln der alles verschlingenden Macht.«
»Was meinst du damit?«, fragte Esanna stockend.
»Es ist wie eine wütende Krankheit, die selbst die Besten befällt«, sagte Skar bitter und dachte an Del. »Und wenn es sie erst einmal gepackt hält und sie Dinge tun lässt, die sie zuvor verachtet haben, werden sie dir noch hohnlachend ins Gesicht schreien, dass sie im Recht gewesen sind.« Esanna schwieg lange. Als sie dann den Kopf zu Skar wandte, waren ihre Augen voller Tränen. »Ist es dir auch so gegangen?«
»Was?«, fragte Skar fassungslos.
»Bist du auch der Macht erlegen, alter Mann? Hast du sie missbraucht, als du den Mantel des Hohen Satais getragen hast?«
Skar starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. »Ich verstehe ... deine Frage nicht.«
»Doch. Du verstehst sie sehr gut.«
»Ich weiß nicht...«
»Ach nein.« Esannas Gesicht verzog sich zu einer höhnischen Grimasse. »Du weißt wirklich nicht, was ich meine? Du hast dich selber noch nie gefragt, ob du deine Tochter nur deshalb verloren hast, weil du zu beschäftigt warst mit deinen ... mit deinen Machtspielchen, statt dich zur Zeit um sie zu kümmern.«
»Ich ... was soll das.« Skar verspürte plötzlich ein Flattern in der Brust. »Das bringt doch alles nichts. Außerdem geht es dich gar nichts an!«
Die letzten Worte hatte er fast geschrien. Der seelische Druck, der auf ihm lastete, seit er nackt an Land gekrochen war, kam wieder, jenes Wühlen im Gedärm und das Kribbeln in Armen und Beinen - und es wurde schlimmer. Er kämpfte dagegen an, wusste jedoch nicht, welches Kampfmittel er einsetzen sollte, da der Feind ihm unbekannt war. Er kämpfte gegen die Verzerrung seines Mundes an und zwang einen möglichst gleichgültigen Ausdruck auf sein Gesicht.
»Mit den Diggern es haben noch eine Besonderheit«, sagte Kama. »Sie sind geschaffen worden als Werkzeug. Sie bauen Kaol ab.«
»Ja - und?«, fragte Esanna. »Was ist verkehrt daran? Kaol ist die Kraft, die alles zusammenhält. Kaol ist die Essenz des Lebens. Kaol ist das Rückgrat unserer Gemeinschaft.« Es klang wie ein vor ewiger Zeit auswendig gelernter Text. Und das war er wahrscheinlich auch - das Glaubensbekenntnis, das die Gemeinschaft der Digger zusammenhielt und sie immer weiter vorantrieb bei ihrem Ziel, so viel Kaol abzubauen wie möglich.
»Kaol befähigen euch zu besonderen Leistungen«, stellte Kama fest. »Es wärmt euch und geben euch Kraft.«
»Ja ... natürlich«, sagte Esanna misstrauisch. »Ohne Kaol könnten wir gar nicht existieren.«
»Es sein das Rückgrat eurer Gemeinschaft«, sagte Kama. »Ich wissen. Es sein aber noch mehr. Es sein euer Verderben. Es verändert jeden Einzelnen von euch wie eine Droge. Es machen euch zu Sklaven ...«
»Verdammt noch mal«, fuhr Skar dazwischen. »Könnt ihr nicht aufhören mit dem Mist!« Seit ihn Esanna an Kiina erinnert hatte, fühlte er sich miserabel, aufgewühlt, und das nicht nur, weil es um seine Tochter ging, sondern auch wegen etwas anderem und dieses andere stand in direktem Zusammenhang mit dem, was Kama gerade versuchte in Esannas Worte zu legen ... Er kämpfte mit aller Kraft dagegen an, aber es gelang ihm nicht, sich zu beherrschen. Der innere Kampf und das mit Kiina und den beiden toten Nahrak und diesem ganzen Blödsinn vom Ende der Welt zusammenhängende Schuldgefühl bereitete ihm Übelkeit.
»Es sein kein Mist«, sagte Kama sanft. »Es sein die Wahrheit. Du können die Augen verschließen. Aber haben du nicht gesehen die Wucherungen, die Kaol bei vielen Diggern auslöst, haben du nicht bemerkt die Veränderung in ihrem Verhalten, die Gleichgültigkeit, ihre Kälte und Grausamkeit?«
»Hör auf!«, schrie Skar. »Ich will davon nichts wissen.«
»Du aber müssen davon wissen«, beharrte Kama und so, wie er es sagte, schien er es fast zu bedauern, ihn weiter zu bedrängen. »Du müssen der Wahrheit ins Gesicht schauen. Die Digger bauen Kaol ab und mit jedem Stück schädigen sie das, was alles zusammenhält. Die Digger können nicht anders; sie immer müssen machen weiter, weil sie sind abhängig von Kaol. Die Satai spielen ihr eigenes Spiel, glauben, die Digger sein nur Werkzeug in ihren Händen. Sie glauben mit diesem Werkzeug die Quorrl ausschalten zu können, glauben Enwor in ihre Gewalt zu bekommen. Aber das sein ein Irrtum.«
Er beugte sich ein Stück vor und sah Skar geradewegs in die Augen. »Es ist das Khtaám, was hinter allem steht. Es sein gut für dich, sehr gut, dass du hast gesehen, wie grausam und mächtig das Khtaám ist. So du wirst verstehen, was es wird bedeuten, wenn diese Kreatur übernehmen die Macht über Enwor.«
Skar hätte bestürzt und verwirrt sein sollen, aber das Gegenteil war der Fall. Ganz langsam wich die Angst von ihm und der innere Aufruhr legte sich, wenn auch nicht vollständig, dann doch so weit, dass er wieder sprechen konnte. »Ich nehme an, das ist noch nicht alles«, sagte er kalt.
»In der Tat«, antwortete der Nahrak und diesmal sah er verwundert aus. »Es sein noch nicht alles. Aber es reichen für den Augenblick.«
»Allerdings reicht es für den Augenblick«, fuhr ihn Esanna an. »Das ist doch alles platt getretene Kuhscheiße, kleiner Mann! Was haben wir mit diesen Viechern zu tun, die uns in der Höhle überfallen haben? Glaubst du etwa, die würden uns Befehle geben? Glaubst du wirklich, die könnten uns beherrschen?«
Kama sah sie sehr lange an und wandte dann den Kopf ab. »Ich wünschen, es wäre anders«, sagte er schließlich fast entschuldigend. »Und es sein auch nicht so einfach, wie du glaubst. Es sein alles sehr schwer zu verstehen.«
»Ach, ja? Das ist doch nur eine billige Entschuldigung dafür, dass du uns Unsinn erzählst, durch den du selbst nicht mehr durchblickst.«
»Nein, nein«, Kama schüttelte den Kopf, »keine Entschuldigung. Aber es sein vielleicht besser ... wenn du auf dich aufpassen. Auf deine innere Stimme. Es könnten sein, dass sich ... dass sich etwas in dir verändert.«
Obwohl ihn Kama gar nicht angesprochen hatte, fühlte sich Skar doch durch seine Worte bloßgestellt... Er schloss die Augen und kämpfte gegen den heftigen Druck hinter seinen Lidern an und gegen die Übelkeit, die sich in seinem Magen zusammenballte und nach seiner Kehle griff.... Es war etwas in ihm, das ihn immer mehr in seine Gewalt zu bekommen versuchte, etwas, das sich ihm immer dann entzog, wenn er es glaubte fassen zu können, um dann, beim nächsten Mal, mit doppelter Macht wieder über ihn herzufallen.
Bislang war er noch nicht einmal auf die Idee gekommen, dass es Esanna ganz ähnlich gehen könnte.