Hätten ihn Roun und seine Kumpane nicht so erbarmungslos angegriffen, dann hätte Skar wohl ganz automatisch Partei für die Digger ergriffen und den Kampf gegen die Quorrl aufgenommen, ob er nun eine Chance gehabt hätte oder nicht. Doch so fühlte er sich keiner Seite verpflichtet: weder den Schuppenkriegern, die mit dem Angriff auf das Dorf wohl nichts weiter taten, als ihr Territorium zu verteidigen, und schon gar nicht den Diggern, die hier auf der Grenze zum Niemandsland nach etwas suchten, dass für sie wichtiger als das eigene Leben zu sein schien. Es war nicht sein Kampf, aber es war auch nichts, was ihn unberührt ließ, nicht das Schreien und Toben und Sterben, dass noch viele ewig lang dauernde Minuten anhalten würde, bis auch der letzte Digger niedergemacht worden war, und nicht die Verzweiflung von Müttern und Kindern, die unschuldig in den Strudel der Gewalt mit hineingezogen wurden.
Es war sinnlos, in dem Chaos nach Esanna suchen zu wollen, und es war Schwachsinn, nicht sofort das Weite zu suchen und anderenorts nach der Antwort auf die bohrende Frage zu suchen, warum er wieder geboren war und: wer zum Teufel dahinter steckte. Und trotzdem ... er hatte kaum die Grenze des Dorfes erreicht, als er auch schon wieder kehrtmachte, so als ob das Schlachten und Töten eine magische Anziehungskraft auf ihn ausüben würde, der er sich nicht entziehen konnte. Schon von weitem wehte der charakteristische Geruch des Todes mit dem Wind zu ihm heran: das süßliche, schwere Aroma von Blut und Vernichtung, das er schon so oft aufgenommen hatte; in dieser anderen Welt, die ihn ausgespuckt hatte in die Schwärze allumfassenden Vergessens, die ihnen allen zuteil wurde, wenn die Zeit gekommen war - oder war dort, jenseits dessen, was Menschen als ihr Leben zu betrachten pflegten, noch etwas anderes gewesen, etwas gänzlich Anderes und doch nur allzu Vertrautes?
Dieser Gedanke versetzte ihm einen scharfen, schmerzhaften Stich. Obwohl er absolut nichts erkennen konnte, als er mit schnellen Schritten den feuchten Pfad zurück ins Dorf trabte, gaukelten ihm seine Erinnerungen die Bilder von Toten und Erschlagenen vor, aufgerissene Augen, gebrochen und blind und mit einem Ausdruck tiefsten Entsetzens, der sich noch über den Tod hinaus in seinen Blick gebrannt hatte. Nun näherte er sich wieder einem Ort der Gewalt, einem Ort, der ein sinnloses Morden und Schlachten erlebte, und es waren die Schreie Sterbender und Verwundeter, deren Wehklagen er hörte, von Menschen, die bald da sein würden, wo er eine unermessliche Ewigkeit gewesen war - wenn er überhaupt irgendwo gewesen war, hieß es, wenn da nicht bloß eine riesige große Lücke klaffte zwischen seinem früheren Leben und seinem jetzigen Zustand, der mit Leben wohl kaum richtig umschrieben war. Als er den Dorfplatz erreichte, wallte der Nebel in tiefen, dunklen Fetzen über einer gespenstischen Szene, zerrissen von einem plötzlich aufgekommenen Wind, der sich in Sekundenschnelle zum Sturm steigerte, so als hätte ihn jemand geschickt, um dem grässlichen Treiben zumindest teilweise den Schleier vom Gesicht zu reißen. Es war ein gnadenloser, durch und durch unwirklicher Kampf. Wie üblich griffen die Quorrl mit der Wut reißender Ungeheuer an und der Dorfplatz hallte wider vom Krachen und Bersten aufeinander prallender Menschen und geschuppter Reptilienmänner, von Wut- und Schmerzensschreien und dem Klirren von Stahl - aber der Nebel, obwohl bereits gelichtet, tauchte noch immer alles in sein graues, erstickendes Kleid. Selbst die Männer und Frauen, die nur wenige Schritte von ihm entfernt waren, wurden zu flachen Silhouetten; das feuchte Grau verschlang nicht nur die in unscheinbare Lumpen gekleideten Digger, sondern auch die unheimlichen Schemen der mit schier übermenschlicher Kraft ausgestatteten Kolosse.
Der Anblick jagte ihm einen Stich durchs Herz. Die Quorrl machten wahllos alles nieder, was ihnen vor die Schwerter kam, Männer, Frauen und Kinder, wahllos wie sinnlos wütende Ungeheuer, für die sie die Menschen hier ja auch hielten und zu denen sie vielleicht erst dann wurden, wenn man ihnen entsprechend begegnete. Die Schreie Sterbender vermischten sich mit dem Klirren von Waffen, mit dem Wiehern von Pferden, dem Trampeln von Füßen, den stumpfen Schlägen, mit denen einige Quorrl mit bloßer Faust ihre Gegner zerschmetterten, und mit dem Geräusch zusammenstürzender Hütten, durch die die Reptilienmänner in blinder Angriffslust stürzten, als seien sie aus Papier. Obwohl es mehr als nur ein Gemetzel war und sich einige Digger geradezu draufgängerisch und mit erstaunlichem Erfolg den wütenden Kolossen entgegenstellten, konnte am Ausgang des Kampfes kein Zweifel bestehen. Selbst wenn die Dorfbewohner ausgebildete Kämpfer gewesen wären, wären sie kaum in der Lage gewesen dem wütenden Ansturm Einhalt zu gebieten, geschweige denn ihn zurückzuschlagen. Doch so war es nicht viel mehr als ein sinnloses Aufbegehren gegen eine besondere Form der Naturgewalt, die unerbittlich über sie hinwegbrandete und dabei alles ins Verderben riss, was sich ihr entgegenstellte. Er sah kaum etwas von dem Schrecklichen, das vor ihm auf dem Dorfplatz geschah, nicht mehr als dunkle, hässliche Flecken, hier und da ein paar Tote oder Verwundete, vom Nebel zu formlosen dunklen Klumpen verschmolzen, aber vielleicht war gerade das das Schlimme, weil seine Phantasie Bilder schuf, Bilder, die tausendmal entsetzlicher waren, als es die Wirklichkeit jemals sein konnte: Bilder aus seiner Vergangenheit, von Menschen, die er geliebt hatte, als er noch zur Liebe fähig gewesen war, und die vor seinen Augen gestorben waren, zugrunde gegangen nicht zuletzt an dieser verdammten Rastlosigkeit, zu der ihn sein dunkler Bruder getrieben hatte. Mit ein paar Schritten war er unter den Kämpfenden. Der Nebel war gerade weit genug zurückgewichen, um ihn mehrere Quorrl erkennen zu lassen, die mit Schwertschlägen von grausamer Wucht eine kleine Menschenmenge vor sich hertrieben, wie Hirten ein paar Schafe absondern mochten, die sie zu schlachten gedachten. Es war kein Kampf, es war nicht einmal ein Gemetzel, es war eine Verhöhnung der Digger, die nicht begriffen hatten, dass Quorrl mehr waren als nur ein paar stumpfsinnige, monströse Tiere, viel mehr, und dass es der Verhöhnung eines höheren Gleichgewichts gleichkam, wenn sie die Geschuppten wie räudige Hunde jagten.
Selbst wenn Skar gewollt hätte, hätte er die geschuppten Kolosse nicht aufhalten können. Und doch riss er sein Schwert aus der Scheide und stürmte auf sie zu, automatisch und ohne nachzudenken und vielleicht nur deshalb, weil eines der in Bedrängnis geratenen Kinder Esanna zu sein schien, aber vielleicht auch, weil er das Abschlachten menschlicher Wesen nicht so einfach hinnehmen konnte. Die Quorrl bemerkten ihn zuerst gar nicht oder nahmen nicht weiter Notiz von ihm, hielten ihn wahrscheinlich nur für einen einzelnen Dorfbewohner, der in seiner Verwirrung so vermessen war einer Gruppe Reptilienkrieger zu nahe zu kommen.
Keinesfalls rechneten sie damit, dass er sie angreifen würde. Kein Wunder, denn ein einzelner Mensch gegen fünf Quorrl - das war eine Rechnung, die nicht aufgehen konnte. Und doch war Skar ein, zwei Sekunden lang versucht, mit seinem Tschekal unter den Geschuppten so lange Verwirrung zu stiften, bis die Digger fliehen konnten. Irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm jedoch, dass sie die Chance selbst dann nicht nutzen würden, wenn er sie ihnen auf einem Silbertablett präsentierte.
Er nahm kurz Anlauf und sprang mit einem Satz mitten in die Gruppe hinein, zwischen Quorrl und Menschen, und im gleichen Sekundenbruchteil wirbelte er auch schon herum. Sein Tschekal durchschnitt mit einem pfeifenden Laut die Luft, pfeilschnell, machte eine komplizierte Bewegung und schnellte dann zurück in die klassische Kampfposition der Satai, während er mit festem und doch gleichzeitig elastischem Stand wie unverrückbar stehen blieb. »Stopp.« Seine Stimme klang so eiskalt schneidend wie der Wind, der sich in seinem Körper festzubeißen begann. Die zwei Quorrl, die ihm am nächsten standen, blieben überrascht stehen; ihre Schwerter fuhren drohend hoch, bereit zuzuschlagen, und doch schien sie etwas zögern zu lassen, vielleicht der ungewohnt befehlende Klang seiner Stimme, vielleicht seine Kampfhaltung oder auch sein entschlossener Gesichtsausdruck, der so gar nichts gemein hatte mit den selbst in höchster Not stumpfen und teilnahmslosen Gesichtern der Digger.
Doch ob all das wirklich mit verantwortlich war für ihr Zögern, war mehr als fraglich. Eher schienen sie auf ein Machtwort des größten Quorrls in der Gruppe zu warten, eines angeschlagen wirkenden Reptilienkriegers, der sich an den beiden anderen mit mühsamen, steifen und doch sehr bestimmten Bewegungen vorbeischob. Seine Schwertklinge glitt fast ohne spürbaren Widerstand durch die schuppige Haut des Quorrl, durchdrang seinen Körper einen oder zwei Fingerbreit unterhalb des Herzens und trat zwischen seinen Schulterblättern wieder hervor...
Er war es, daran konnte kein Zweifel bestehen, der Quorrl, dem er sein Tschekal durch den Körper gejagt hatte, so entschlossen, dass er fast, aber eben auch nur fast sein Herz durchbohrt hatte. Bei dem Gedanken daran spürte er noch jetzt die tiefen, blutigen und kaum verheilten Schrammen auf seinen Armen; der Schuppenkrieger hatte ihm in seinem halb gespielten, halb echt empfundenen Todeskampf so glaubhafte Wundmale versetzt, dass keiner seiner menschlichen Angreifer misstrauisch geworden war und auch nur im Entferntesten daran gedacht hatte, der Tod des Quorrls könnte mehr sein als nur ein grandios inszeniertes Schauspiel.
Es war unglaublich, wie schnell das Wesen wieder zu Kräften gekommen war, viel schneller, als es einem Mensch möglich gewesen wäre. Und nun standen sie sich hier gegenüber, in endlos schweigenden Sekunden, in denen sie sich beide erkannten, nur zu bewusst, wie nah sie sich gekommen waren, fast so etwas wie heimliche Verbündete und doch so unfassbar fremd und nicht zu fassen, wie es zwei Wesen auf diesem verfluchten Planeten nur sein konnten. Wenn Skar bei ihrer letzten Begegnung sein Tschekal nur ein klein wenig weiter gedreht hätte, wenn nicht Verschonung sein Ziel gewesen wäre, sondern Vernichtung ... wer weiß, vielleicht hätten die Quorrl dann nie dieses Dorf angegriffen mit dem Ziel, hier alles menschliche Leben erbarmungslos auszulöschen.
Es war schließlich der Schuppenkrieger, der als Erster das Wort ergriff. »Du ... du bist zurückgekehrt... aber warum an diesen unheiligen Ort?«
Skar spürte in seinem Rücken eine unruhige, verräterische Bewegung. Trotz der bei weitem immer noch nicht perfekten Sicht bemerkte er aus den Augenwinkeln den Unwillen der Digger, unmerkliche, aber eindeutige kleine Bewegungen der Menschen, die sein Auftauchen erst einmal überrascht hatte, aber die jetzt offensichtlich nicht länger stillzuhalten bereit waren. Vielleicht war jemand unter ihnen, der mit an der Hetzjagd auf die Quorrl oben an den Klippen beteiligt war und der den damals schwer verletzten und für Tod gehaltenen Schuppenkrieger erkannte; nicht sehr wahrscheinlich, da gewöhnlich Menschen die Fischgesichter, wie sie sie verächtlich nannten, kaum auseinander zu halten vermochten, aber nicht undenkbar.
»Was macht deine Wunde?«, fragte Skar so leise, dass seine Stimme fast im Schlachtgetümmel unterging.
Die Digger reagierten schlimmer, als er erwartet hatte. Statt sein Eingreifen als eine glückliche Fügung des Schicksals zu begreifen und ihr Heil in der Flucht zu suchen, griffen sie an: nicht die Quorrl, sondern ihn. Skar bekam einen kräftigen Stoß in den Rücken und musste sein Gewicht weit nach vorne verlagern, um nicht mit dem Schwert in der Hand auf die Quorrl zuzustolpern. Im gleichen Moment glitt er auch schon in einer fließenden Bewegung herum, sich nur zu bewusst, damit den Schuppenkriegern den Rücken zuzukehren und ihnen die Gelegenheit zur schnellen und tödlichen Attacke zu geben.
Aber es waren nicht die grün geschuppten Kolosse, die er fürchtete, sondern diese völlig unkontrollierbare Meute verblendeter Menschen, die er nicht töten wollte und doch erbarmungslos bekämpfen musste, wollte er ihnen nicht leichtfertig einen Vorteil einräumen. Es waren gleich mehrere Digger, die ihn angriffen, zwei Männer und eine Frau, die mit hasserfüllten Gesichtern auf ihn eindrangen, unter ihnen der Missgestaltete mit dem bis zur Kopfmitte wuchernden Fladen aus grauem, nässendem Fleisch. Skar schlug die vor ihm stehende Frau, eine mittelgroße Person mit kurz geschnitten Haaren und fast männlichen Gesichtszügen, beiseite und stieß das Tschekal in den dicklichen Leib eines weiteren Angreifers, mit einem wahrscheinlich nicht tödlichen, aber dennoch kompromisslosen Stoß. Die anderen wurden von seiner blitzschnell vorgetragenen Attacke überrascht, nur der missgestaltete Mann wirbelte in einer grotesk schnellen Drehung zu ihm herum. Seine nach unten gerutschten, stark vergrößerten Augen suchten Skar und brannten sich geradezu in seinen Blick ein. »Verfluchter«, schrie er. »Du hast uns verraten!«
Es wäre müßig gewesen, darüber zu streiten, ob der Mann Recht hatte oder nicht. Die Quorrl sorgten dafür, dass er sowieso nicht zu einer Antwort kam. Die beiden hinter ihm stehenden Schuppenkrieger stürmten wie auf ein Kommando vor und trieben die Digger-Gruppe erbarmungslos vor sich her, während ihre Scharten-Schwerter gleichzeitig reiche Ernte unter ihnen hielten. Einer der Männer, die sich ihnen mit dem Mut der Verzweiflung entgegenstellten, brach wie vom Blitz getroffen zusammen und blieb liegen, während ein Zweiter noch einen schwerfälligen Schritt tat, zuerst auf die Knie und dann ganz nach vorne fiel. Ein paar der anderen wurden von den kraftvollen Schwerthieben ihre Waffen aus den Händen geprellt; sie taumelten zurück in dem vergeblichen Versuch dem wütenden Angriff durch schnelle Ausweichbewegungen zu entgehen, und es konnte nur noch Sekunden dauern, bis auch sie Opfer der Quorrl-Waffen wurden.
Skar war sich nur zu bewusst, dass er jetzt eigentlich gar nichts unternehmen konnte; die Situation war ihm viel schneller entglitten, als er geglaubt hatte. Sich auf die Seite der Digger zu schlagen, die ihn eben noch mit erbarmungslosem Fanatismus angegriffen hatten, verbot sich von selbst, und den Quorrl zu helfen war weder sinnvoll noch notwendig - einmal abgesehen davon, dass es undenkbar für ihn war, Quorrl auf einem ihrer Vernichtungsfeldzüge gegen eine Menschensiedlung zu unterstützen.
In diesem Moment schrie Esanna. Er hatte keine Ahnung, warum er sich so verdammt sicher war, dass sie es war, und noch weniger Ahnung hatte er, warum ihm das Schicksal dieses einen Digger-Mädchens so wichtig war, während ihm der Rest der Dorfbevölkerung gestohlen bleiben konnte. Aber es war wohl kaum der rechte Augenblick, sich wegen ein paar Haarspaltereien Gedanken zu machen; wenn er Esanna retten wollte, dann musste er schnell und konsequent handeln.
Seine Augen entdeckten das Mädchen beinahe wie von selbst. Es war halb unter einem Sterbenden begraben worden, zusätzlich eingeklemmt von einem Speer, der sich dicht neben ihr in den Boden gebohrt hatte. Skar sprang ansatzlos auf sie zu. Ein Armbrustbolzen sauste haarscharf an ihm vorbei und bohrte sich in den Arm eines Quorrl, der gerade an ihm vorbei auf den Sterbenden und damit wahrscheinlich auch auf Esanna zustürmen wollte; Skar stattete dem Schützen in Gedanken einen kurzen Dank ab, denn der Bolzen brachte den Quorrl ins Stolpern und damit von seinem Vorhaben ab. Mit wütendem Gebrüll stürzte sich der Geschuppte in die Richtung, in der er den Schützen vermutete.
Das verschaffte Skar genau die Atempause, die er für sein Vorhaben brauchte. Kaum hatte er sein Ziel erreicht, riss er auch schon den halb toten Digger zur Seite, packte Esanna an den Armen und warf sie sich in der gleichen Bewegung über die Schulter. Seine Augen suchten derweil in dem von Nebelfetzen und übel riechendem Rauch nur verschwommen erkennbarem Kampftumult nach dem Schlupfloch, durch das er mit seiner leichten, kaum spürbaren Last entkommen konnte.
Er entdeckte es genau zwischen dem von ihm zu seiner eigenen Rettung schwer verletzten Quorrl, der ganz offensichtlich innerhalb der Hierarchie der Geschuppten eine wichtige Funktion erfüllte, und Roun, dem es mit ein paar anderen Diggern gelungen war, dem ersten Ansturm auszuweichen. Vielleicht hatte er Roun abermals unterschätzt: Wenn der Mann begriffen hatte, dass der durch Skar verletzte Reptilienkrieger so etwas wie der Kommandant der ganzen Quorrl-Truppe war, dann lag es nahe, dass er ihn zuallererst angreifen würde - zumal auch er erkannt haben musste, dass dieser geschuppte Gigant sich kaum auf den Beinen halten konnte, geschweige denn sich energisch verteidigen würde.
Ein Fehler, den nur jemand begehen konnte, der die Mentalität der Quorrl nicht kannte. Skar hatte schon miterleben müssen, wie Reptilienkrieger ihre eigenen Verwundeten getötet hatten, nur um eines winzigen strategischen Vorteils willen, und er war fest überzeugt, dass es den Diggern keinen Vorteil bringen würde, den Kommandanten dieser Kriegerschar umzubringen: Statt Verwirrung zu stiften, würden sie noch mehr Wut, Zorn aber auch Entschlossenheit ernten.
Ihm konnte es in diesem Moment egal sein. Mit Esanna auf den Schultern hechtete er auf die Lücke zu, die wie gemacht für ihn aufklaffte, und wäre mit zwei weiteren raschen Schritten hindurch gewesen, wenn ihm die Quorrl nicht einen Strich durch die Rechnung gemacht hätten. Wie hingezaubert tauchten sie plötzlich aus dem Nebel vor ihm auf, in so dichter Formation, dass an ein Durchkommen nicht mehr zu denken war.
Skar bremste seinen Lauf mit einer abrupten Bewegung ab, suchte nach einem neuen Ausweg, nach einer winzigen Lücke in den im Kampf miteinander verschränkten Leibern und sah sich stattdessen schneller als ihm lieb war einem halben Dutzend geschuppter Giganten gegenüber, die sich mit gezogenen Zackenschwertern zwischen ihm, den Diggern auf der einen Seite und ihrem Anführer auf der anderen Seite aufbauten.
Jetzt konnte gar kein Zweifel mehr daran bestehen, dass er einem ganz ungewöhnlichen Quorrl das Leben gerettet hatte. Das Verhalten der Schuppenkrieger entsprach in nichts dem, was er von dieser Rasse gewohnt war. Statt einfach wild draufloszuschlagen, wie es bei einem Angriff normalerweise ihre Art war, verhielten sie sich wie eine wohl disziplinierte Leibwache, deren oberstes Ziel darin bestand, Leib und Leben ihres Führers zu beschützten. Doch wenn das so war - wo war diese Leibwache dann gestern gewesen? Hatte sich der Quorrl-Führer Zeit für einen kleinen Rundgang mit ein paar Quorrl-Frauen und wenigen Vertrauten genommen und war zufällig von einem Trupp Digger überrascht worden oder war es ein gezielter Hinterhalt gewesen, den Marna, der Satai mit der Wolfsmaske, sorgfältig inszeniert hatte? Die Gedanken purzelten blitzschnell durch Skars Kopf, während sein Instinkt vollauf damit beschäftigt war, die für die ungewöhnliche Situation passende Strategie zu entwickeln. Die Lösung war gleichermaßen einfach wie unbefriedigend: Er blieb stehen und senkte die Spitze seines Tschekals, um zu signalisieren, dass er keinesfalls beabsichtigte die Reptilienkrieger anzugreifen. Selbst Roun und seine Kumpane schienen einzusehen, dass ein Angriff Selbstmord war; sie rückten näher zusammen und zwei, drei Männer streckten ihre Lanzen vor in einer grotesken Parodie einer geordneten Abwehrhaltung, wie sie die Soldaten der großen Städte wie Ikne und Wolan praktizierten.
Zu behaupten, dass sich Skar in diesem Moment unwohl gefühlt hätte, wäre die Untertreibung des Tages gewesen. Es waren nicht nur die Digger, die ihn offensichtlich abgrundtief hassten und von denen trotz ihrer generell hoffnungslosen Lage eine große Gefahr ausging - jetzt, wo er ruhig stand, um die Quorrl nicht zu provozieren, war er eine leichte Beute für einen Armbrust- oder Bogenschützen; es waren auch die unberechenbaren Schuppenkrieger selber, die ihn jederzeit niedermachen konnten und gegen die er in seiner augenblicklichen Lage wohl kaum den Hauch einer Chance hatte. Zu allem Übel randalierte auch noch Esanna auf seinem Rücken, die wohl nicht begriff, dass er sich zu ihrer Rettung in dieses Abenteuer gestürzt hatte.
»Es wäre freundlich, wenn ihr mich durchlassen würdet«, sagte Skar. »Euer Konflikt ist nicht der meine.«
Er wusste, dass Quorrl eine solche Bitte als höchst ungewöhnlich, um nicht zu sagen als unverschämt betrachten mussten, aber was er nicht wusste, war: Warum er Esanna nicht einfach vom Rücken ließ, sein Schwert einsteckte und sich damit ein klein bisschen unterwürfiger zeigte, so wie es seiner augenblicklichen Situation wohl eher angemessen war - schließlich waren die Quorrl nicht gerade für ihr Zartgefühl bekannt, sondern eher dafür, ungebetene Einmischung auf sehr direktem Wege mit dem Schwert zu ahnden.
Ein paar Sekunden lang schien die Zeit stehen zu bleiben. Noch immer tobte hinter ihnen ein erbitterter Kampf; ein paar Hütten weiter hatten sich ein paar züngelnde Flammen zu einem regelrechten Brand ausgebreitet, der sicherlich schnell weiter um sich greifen würde - die schlichten, eng zusammenstehenden Hütten würden einer wütenden Feuerwalze nicht lange standhalten - und der um den Dorfplatz konzentrierte Widerstand der Digger schien sich noch einmal zu steigern, dem letzten Aufbäumen eines Todkranken gleich, der nicht bereit ist in sein Schicksal einzuwilligen.
Als die Quorrl nicht reagierten, setzte Skar noch einmal nach: »Bitte, lasst mich durch.«
Erst dann begriff er, warum die Reptilienkrieger nichts unternommen hatten. Wie schon einmal kurz zuvor warteten sie auf die Entscheidung ihres Kommandeurs, der sich vor sie schob und Skar mit einem undefinierbaren Blick musterte. »Was verlangst du, Mensch!«
»Ich verlange nicht, ich bitte dich«, sagte Skar rasch, »und zwar um freies Geleit für mich und meine Begleiterin.« Der Quorrl erstarrte mitten in der Bewegung. In seinem ausdruckslosen Reptiliengesicht zuckte es; für einen Quorrl ein Zeichen äußerster Erregung.
»Lasst das Menschenkind los«, sagte der Schuppenkrieger. Es war keine Bitte, nicht einmal eine halbwegs höfliche Aufforderung, sondern ein Befehl und genauso gut hätte er auch sein Schwert ziehen können, um seine Worte mit einem kraftvollen Hieb zu unterstreichen.
»Das halte ich für keine gute Idee«, sagte Skar leise. »Ihr habt doch, was ihr wolltet: eure Rache.« Er war sich dabei bewusst, dass ein einziges falsches Wort reichen würde, ein winziger Funke, ein missgedeuteter Blick oder eine zu hastige Bewegung und die Quorrl würden sich auf ihn stürzen: oder aber die Digger.
Die Augen des Quorrl schienen zu brennen, als er ihn anstarrte. Sein Gesicht war verzerrt und sein rechter Arm zitterte, als böte er all seine Kraft auf, das Schwert nicht aus der Scheide zu reißen und sich damit auf Skar zu stürzen. Dann entspannte er sich, nickte kurz. »Ich habe, was ich wollte, Mensch, auch wenn es etwas anderes ist, als du und deinesgleichen je verstehen werdet.«
»Lass mein Kind runter«, schrillte in diesem Moment eine Stimme. Es war Roun, ein von den Ereignissen der letzten Stunde vollkommen verwirrter und innerlich gebrochener Mann, den einzig und allein sein Hass vorantrieb, ein Vernichtungswille, wie ihn Skar schon bei vielen Menschen in Extremsituationen beobachtet hatte und der sich doch bei dem Digger in einer unbegreiflichen Nuance von dem ansonsten Üblichen unterschied. Es war verständlich, dass er seine mittlerweile heftig strampelnde Tochter nicht dem Mann anvertrauen wollte, dem er die Vernichtung seines Dorfes zuschrieb, aber eigentlich hätte auch er begreifen müssen, dass einzig und allein Skar für ihr mögliches Überleben garantieren konnte.
Als sich Roun auf ihn stürzte, tat Skar das Einzige, was ihm als Möglichkeit blieb, um das Leben des Diggers zu schützen: Er wirbelte mitsamt Esanna auf dem Rücken herum und trat mit aller Kraft zu. Der wuchtig geführte Tritt schleuderte den Mann zurück, als wäre er ein hilfloses Kind, aber das war er nicht, denn als er sich mühevoll wieder aufrappelte, blitzte in seiner Faust etwas auf, ein Messer wahrscheinlich, mit dem er einen neuen Angriff starten wollte.
Skar ließ ihm nicht den Hauch einer Chance. Sein Fuß traf die Rippen des Mannes und hob ihn damit ein Stück hoch, bevor er ihn wieder auf den Boden krachen ließ. Roun stöhnte auf und krümmte sich wie ein Säugling. »Hund«, wimmerte er. »Du verdammter Verräter. Du ... du stehst auf ihrer Seite. Du...«
»Ich stehe auf niemandes Seite«, unterbrach ihn Skar kalt. »Es war ein Fehler von dir zu glauben, du könntest mich kaufen, um auf Quorrl-Jagd zu gehen.«
Einen winzigen Augenblick lang fürchtete Skar, damit zu weit gegangen zu sein; und das war er wohl in der Tat. Einer der Quorrl griff ihn ohne Vorwarnung an, stieß sein Schwert nach vorne, als wollte er den Satai wie eine lästige Fliege aufspießen. Skars Schwert beschrieb einen präzisen Halbkreis und blockte mit der stumpfen Seite die Waffe des Quorrls ab. Der Schlag war mit Kraft geführt und doch nicht stark genug, um den tödlichen Schlag des geschuppten Giganten vollkommen blocken zu können; um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, musste der Satai einen Schritt zurücksteppen.
Das war genau die Situation, die er befürchtet hatte: die Eskalation, die dazu führen würde, dass ihn im Zweifelsfall Digger und Quorrl, wenn auch nicht gemeinsam, so doch gleichzeitig angreifen würden. Doch er hatte die Rechnung ohne den Anführer der Reptilienmänner gemacht.
»Genug«, donnerte der Quorrl und in seinen Augen blitzte es, als er mit diesem einen Wort der Attacke seiner Artgenossen ein Ende bereiten wollte.
Der Quorrl, der ihn angegriffen hatte, ließ seine Waffe mit einem murrenden Geräusch sinken, doch seine Reaktion auf den Befehl war so halbherzig, dass Skar fürchtete, er würde ihn einfach ignorieren und den Angriff weiter fortführen - bis ihm plötzlich bewusst wurde, dass er eine solche Reaktion geradezu provozierte: Er hielt noch immer sein Tschekal drohend in der Hand. Angesichts des halben Dutzend Giganten, die ihn mit gezogenen Waffen umringten und nur durch den Befehl ihres Anführers davon abgehalten wurden, ihn schlicht und einfach zu überrennen, musste das reichlich lächerlich wirken: Was hatte er geglaubt zu sein? Ein Einzelkämpfer für Freiheit und Gerechtigkeit?
»Ich bitte dich im Namen der Menschlichkeit«, hörte er sich selbst sagen, während er sein Tschekal in den Schwertgurt gleiten ließ, »lass mich und das Mädchen in Frieden ziehen.«
»Im Namen der Menschlichkeit?« Der Anführer der Quorrl schüttelte traurig den Kopf, als hätte er von dem Satai etwas anderes erwartet als gerade eine solch abstruse Bitte.
»Nenn es, wie du willst.« Skars Stimme klang flach, nur ein heiseres, fast ausdrucksloses Flüstern, und so fühlte er sich auch: leer, kalt, erstarrt durch den Anblick der geschuppten Giganten und betäubt von der Woge finsterer, zerstörerischer Macht, die die Quorrl ausstrahlten.
»Das Mädchen gehört nicht zu dir«, stellte der Quorrl fest. »Sie gehört zu den Diggern.«
»Das kann sein«, gab Skar zu. »Zumindest war es bislang so.«
Der Schuppenkrieger schüttelte fast angewidert den Kopf. Skar kannte die Gemütsregung der Reptilienmänner gut genug, um zu wissen, dass er aufs Äußerste gereizt war. »Du verlangst viel«, sagte der Geschuppte schließlich. »Dein Leben gegen mein Leben? Ist das die Menschlichkeit, von der du sprichst?«
»Es ist zumindest ein für Menschen nicht ganz unüblicher Handel.«
»Ein Handel?« Die Stimme des Quorrls klang jetzt eindeutig verächtlich und der Satai begriff, dass er ein vollkommen unpassendes Wort gewählt hatte. Was war bloß los mit ihm? Es war schließlich nicht gerade das erste Mal, dass er es mit Quorrl zu tun hatte.
Vielleicht war es ganz gut, dass der Quorrl nicht mehr zu der Antwort kam, zu der er angesetzt hatte: Roun stemmte sich mit einer erstaunlich schnellen Bewegung hoch. »Du Schwein!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Das wirst du mir büßen!«
Bevor Skar etwas zu seiner Verteidigung unternehmen konnte, riss der dem Digger am nächsten stehende Quorrl den Mann hoch, zog ihn zu sich heran, wie eine Mutter ihren Säugling zum Stillen an sich ziehen würde, und schleuderte ihn, ehe es Skar verhindern konnte, mit aller Kraft zu Boden. Roun schrie gellend auf und versuchte abermals auf die Füße zu kommen, aber seine Kraft reichte nicht mehr; er stürzte erneut und blieb wimmernd liegen. Dann erschlaffte der Mann so abrupt, als wäre er nicht mehr als eine Marionette gewesen, deren Fäden urplötzlich durchschnitten wurden.
Esannas Vater war tot.