3.10

Esanna hatte ihn weitergeführt, durch ein verwirrendes Labyrinth von Gängen, kleineren und größeren Räumen, geheimnisvollen Schreinen und reich ausgestatteten Reliquienkammern, und er hatte es widerspruchslos hingenommen, dass sie die Führung übernommen hatte, denn in ihm war nichts als eine unglaublich tief gehende Erregung und das Bedürfnis, nun endlich das zu studieren, was die Flammen von dem Elften Buch übrig gelassen hatten. Es war eine Art Schwelbrand, der Einband und Seiten ergriffen hatte, und den sie auch mit vereinten Kräften kaum hatten stoppen können in ihrem Bemühen dieses wichtige Buch zu retten, kaum dass sie selbst der Flammenhölle entkommen waren.

Jetzt waren sie angekommen, an ein Ziel, das Esanna für sie ausgesucht hatte: ein Raum, der ganz ähnlich war wie der, in dem das Elfte Buch wie eine kostbare Reliquie aufbewahrt gewesen war. Esanna hatte sich neben ihn auf den Boden gehockt, erschöpft und mit halb geschossenen Augen und rasselndem, hektischem Atem; womöglich hatte sie eine Rauchvergiftung davongetragen und er konnte nur hoffen, dass ihr Lebensfunke nach all den Anstrengungen und Strapazen nicht vollends erlosch.

Doch wenn er ganz ehrlich war: Im Moment interessierte ihn das nur wenig. Ein merkwürdiges Gefühl von Ehrfurcht ergriff ihn, als er den schwelenden Überrest des Buches in die Hand nahm und darin blätterte. Viele der Seiten waren zerstört, für immer ein Opfer der Flammen geworden, andere waren angekokelt und kaum noch zu entziffern. Und doch wuchs seine Erregung, während er den Band durchblätterte und sich festlas und es gab nichts in seiner Umgebung, was noch irgendwie eine Bedeutung für ihn hatte - nicht einmal die Tatsache, dass der gigantische, aus Holz gebaute Tempelkomplex dem Feuertod geweiht war und es nicht mehr lange dauern konnte, bis die Flammen auch hier Einzug hielten.

Die Zeilen schienen wie eigenständige Lebewesen vor seinen Augen zu schwirren, während er ihre Bedeutung gleichsam in sich aufsog. Und doch dauerte es eine Weile, bis er die Zusammenhänge begriff. Aber dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Fausthieb und mit einem Mal schien ihm jeder Quadratzentimeter seiner Umgebung die Wahrheit entgegenzuschreien. Er war wie gelähmt, nicht nur körperlich, sondern auch geistig. Seine Gedanken drehten sich im Kreise, immer und immer und immer wieder, ohne dass er in der Lage war ihren Ablauf zu ändern und ohne dass er wirklich in der Lage war zu fassen, was da eigentlich in ihm vorging.

Er war entsetzt, so entsetzt wie noch nie zuvor in seinem Leben.

Seine Existenz war mit dem Kaol aufs Engste verknüpft, enger, als er es sich je hätte vorstellen können, und mit der Erkenntnis kamen die Bilder ohne sein Zutun, schlugen mit der Wucht von Hämmern in seinen Geist, als könne er die Tür zu einer anderen, verbotenen Welt nun nicht mehr schließen, Bilder, die ihn aufsaugen wollten und ihn doch gleichzeitig hinausstießen in diese Welt, um das zu schützen, was von ihm Besitz ergriffen hatte ...

Die Zeit blieb stehen. Skar hatte geglaubt das höchstmögliche Maß an Entsetzen und Furcht kennen gelernt zu haben, aber das stimmte nicht und er begriff plötzlich, dass es immer eine Steigerung gab, dass das Unfassbare unendlich und die Furcht zu gewaltig war, um sie jemals zur Gänze erfahren zu können. Er verstand, dass er den falschen Weg eingeschlagen hatte, um hinter das Geheimnis seiner Existenz zu kommen, dass das Elfte Buch ihm nicht darüber Aufschluss geben konnte. Wenn es ihm überhaupt weiterhalf, dann mit der Erkenntnis, dass Enwor tatsächlich auf den Abgrund der endgültigen Vernichtung zutrieb - und dass ihm eine Schlüsselrolle bei dem Versuch zukam genau das zu verhindern.

Nicht nur die Welt, in der er - widerstrebend - lebte, hatte sich verändert, sondern auch er selbst. Irgendwie ernüchterte ihn dieser Gedanke. Der Schmerz in seinem Inneren sank zu einem dumpfen Druck herab und mit einem Mal wurde er sich seiner Umgebung wieder bewusst; er spürte den warmen Lufthauch auf seiner Haut und den Rauch, der nun wieder in seinen Augen biss und sie tränen ließ und in seiner Kehle wie ein frischer Wundschmerz brannte: Die Flammen hatten sie gefunden und es konnte nicht mehr lange dauern, bis auch hier ein offener Brand ausbrach. Es hatte keinen Sinn mehr. Es hatte vielleicht nie einen gehabt. Aber... da war etwas. Ein vollkommen absurdes Gefühl. Eine Ahnung, nein, schon fast so etwas wie eine Gewissheit. Wenn das stimmte, was das Buch andeutete, wenn die Zeilen stimmten, die sich auf seinen Werdegang bezogen und sein Abenteuer im Wandernden Wald, wenn es mehr war als nur eine Finte, mehr als nur ein Puzzleteil in dem Ränkespiel, das gedacht war zu täuschen und in die Irre zu führen ...

DANN HATTE DER KAMPF GEGEN DAS KHTAÁM BEREITS BEGONNEN, NACHDEM ER DEL KENNEN GELERNT HATTE UND ALS EINFACHER SATAI MIT IHM DURCH DIE WELT GEZOGEN WAR!

Er hatte begonnen, als sie vollkommen unerwartet von Quorrl in der Nonakesh-Wüste angegriffen worden waren und nur mit viel Glück in den Wandernden Wald hatten fliehen können. Er hatte mit dem Angriff der gefährlichen Hoger seinen nächsten Höhepunkt gefunden - kaum dass sie den Wald erreicht hatten - und dann mit dem allerersten Angriff der Khtaám einen Wendepunkt bekommen, der ihn schließlich, nach vielen Irrungen und Wirrungen, hierher geführt hatte.

Das bedeutete, dass ihn das Khtaám schon von Anbeginn bekämpft hatte. Vielleicht war dieser Kampf nicht mehr als der Reflex einer Kreatur, die seit einer Ewigkeit auf ihr Ziel hingearbeitet hatte ...

Seit Jahrtausenden??? Seit Äonen??

... Getrieben von dem bohrenden Verlangen zu zerstören - wie Maden, die sich in einen Wirtskörper einnisteten und so lange ihr Vernichtungswerk trieben, bis sie ihren Wirt vernichtet hatten - verstümmeltes Fleisch, ein blutrünstiger Wahnsinn, der ihn verspottete und ihn in Stücke zerriss, eine schreckliche und erschreckende Wahrheit, der er nie entkommen konnte, weil sie auch in ihm war und ihn nie in Ruhe lassen würde, ihm keine Erlösung gewähren würde, so lange bis er nicht vollkommen eins geworden war mit der tödlichen Vernichtung ...

Der Kreis hatte sich auf perfide Art und Weise geschlossen!

Es war vollkommen unmöglich. Er fühlte eine innere Qual, die die Grenzen des Vorstellbaren überstieg. Niederlage. Vollkommene, kompromisslose Niederlage, ein Geschlagensein schlimmer als der Tod. Der Gedanke einen Fehler begangen zu haben, weil er sich nicht zuständig gefühlt hatte für diese Welt, weil er nicht alles getan hatte, was getan werden musste, um die Wirklichkeit in die Richtung zu verbiegen, die Enwor noch eine Chance lassen würde - dieser Gedanke wurde übermächtig.

In diesem Moment holte ihn die Wirklichkeit wieder ein: das Stampfen schwerer Säulenbeine, das Klirren von Waffen, leise gemurmelte Befehle, deren Wortlaut im Knistern und Knacken schwelenden Holzes unterging. Er wusste sofort, was das bedeutete: Sie hatten ihn gesucht und gefunden, sie waren seinen Spuren gefolgt und hatten vielleicht nicht nur ihn aufspüren wollen, sondern auch das Buch. Aber sie kamen zu spät. Er hätte sich nochmals zum Kampf stellen können, versuchen können gegen die Übermacht aus wütenden Quorrl und zu allem entschlossenen Satai anzutreten, die hier gleich auftauchen würde. Aber wozu? Mit welchem Ziel?

Er hatte mehr erfahren, als er hatte wissen wollen. Und außerdem war schon genug Blut geflossen.

»Skar«, flüsterte Esanna, die durch die Geräusche aus ihrem tiefen Erschöpfungszustand hochgeschreckt war. »Es kommt... jemand.« Sie sah sich gehetzt um. »Wir müssen verschwinden.«

»Zu spät«, murmelte Skar, der sehr genau wusste, was all die Laute zu bedeuten hatten, die sich wie ein erstickendes Netz um sie zogen. »Sie haben das Gebäude umstellt. Sie halten das Tal besetzt. Wir haben keine Chance.«

Die Stimmen und Schritte kamen näher, brachen plötzlich ab - und dann vernahm Skar das hinter sich, was er die ganze Zeit über befürchtet hatte: das helle Sirren, mit denen Schwerter aus der Scheide glitten, das Spannen von Armbrustsehnen, das Geräusch von aneinander reibendem Leder, das leise Klirren von Kettenhemden.

»Ich habe Euch erwartet, Skarissa Marna«, sagte Skar, ohne aufzusehen.

»Woher weißt du ...?«, erklang Marnas Stimme überrascht hinter ihm.

»Ich habe Euch an Eurem Schritt erkannt«, sagte Skar. »Doch seid versichert...«, er wandte den Kopf und das Erste, was er sah, war eine Schwertspitze, die genau auf sein Gesicht deutete, dann eine zweite, die sich seiner Brust bis auf eine Handspanne genähert hatte und jetzt dicht über seinem Herzen verharrte. Hinter den beiden Satai, die ihn mit ihren Schwertern bedrohten, ragten die massigen Gestalten mehrerer Quorrl auf; sie hatten Marna wie ein Kind in ihre Mitte genommen und schienen bereit zu sein sie notfalls mit ihrem Leben zu verteidigen - und welch bessere Leibwächter konnte man sich wünschen als diese Reptilienmonster? Als wäre das noch nicht genug, hatten sich neben dem halb zerschlagenen Türrahmen zwei Armbrustschützen aufgebaut, die so finster blickten, als würden sie ihn am liebsten gleich mit mehreren Bolzen zu Boden schicken.

»Ich habe nicht vor gegen Euch zu kämpfen«, fuhr Skar fort, »sondern vielmehr mit Euch: an Eurer Seite.«

Marna stieß ein hartes, krampfhaftes Geräusch hervor, das wohl ein Lachen sein sollte, aber eher wie ein abfälliger Laut klang. »Was hast du mit dem Buch angestellt, du Bastard?«, fragte sie, ohne auf seine Worte einzugehen. Irgendwie hatte sie es geschafft, inmitten des Chaos ihren Helm wieder aufzusetzen; aber er saß seltsam schief auf ihren Schultern und zerstörte damit den imposanten Eindruck, den er wohl hervorrufen sollte.

»Das Buch ist nicht mehr wichtig«, sagte Skar. »Wichtig ist nur das, was ich aus ihm erfahren habe.«

»Dass du nach deiner Wiederkunft der Retter der Quorrl sein wirst?«, fragte Marna. Ihre Stimme hatte einen fast freundlichen Klang, aber es war eine Freundlichkeit, hinter der sich unbarmherzige Härte und bitterer Hohn verbargen. »Es täte mir Leid, wenn du mit dem Gedanken an eine plumpe Erfindung irgendwelcher Schmierfinke in den Tod gehen würdest.«

»Ihr täuscht Euch«, sagte Skar. »Die Quorrl betrifft es nur am Rande. Es geht um ganz Enwor: Wenn wir nicht...«

»Halt den Mund«, unterbrach ihn Marna grob. »Dein dummes Geschwätz gleicht dem Gewinsel eines Köters, der um Gnade fleht. Und was das Schlimmste ist: Du redest den gleichen Unsinn wie dieser verfluchte Nahrak, den wir bereits in unserem Gewahrsam haben. Aber du hast mich falsch eingeschätzt: Ich werde dich und das Mädchen hier und jetzt töten lassen.«

Skar starrte schweigend in die Sehschlitze der goldenen Maske. »Es könnte sein, dass du diese Tat irgendwann bereuen würdest...«

»Das werde ich nicht«, stieß Marna hasserfüllt hervor. »Und selbst wenn ich es täte: Es wird mir ein Vergnügen sein, mich dabei an deinen Tod zu erinnern.«

Skars Gedanken überschlugen sich. Er war sich bewusst, dass seine nächsten Worte nicht nur über sein und Esannas Leben entscheiden würden, sondern auch das Schicksal Enwors besiegeln konnten. »Gebt mir fünf Minuten, Marna«, sagte er, »fünf Minuten Eurer Zeit - für Enwor und für Euch selbst.«

Marnas Hand glitt zu ihrem Schwert, einem rubinbesetzten Tschekal mit einem ungewöhnlich reich verzierten Griff, und einen Herzschlag lang fürchtete Skar, sie würde es ziehen, um ihn eigenhändig zu erschlagen. Doch nach sich ins Endlose dehnenden Sekunden wanderte ihre Hand fast zögernd zurück und sie nickte. »So sprich denn«, sagte sie. »Ich will mir nicht nachsagen lassen nicht alles zum Nutzen und Schutz Enwors unternommen zu haben.«

Skar wusste, dass sie die unpersönlich klingende Formulierung gewählt hatte, um vor den Satai und Quorrl ihrer Rolle als Skarissa gerecht zu werden - aus dem gleichen Grund, aus dem er für dieses Gespräch eine formelle Anrede statt des vertrauten Du gewählt hatte. Hätte er ihr nicht geholfen ihr Gesicht zu wahren, hätte sie sich nie in ein längeres Gespräch verwickeln lassen.

»Wir haben einen gemeinsamen Feind, der schrecklicher ist als alles, was Ihr Euch vorstellen könnt«, sagte Skar. Mama winkte ungeduldig ab. »Geschwafel«, sagte sie verächtlich. »Komm auf den Punkt.«

»Die Digger glauben, dass das Kaol ihr Leben verlängert und ihre Leistungen um ein Vielfaches steigern kann«, sagte Skar rasch. »Zweifelsohne hat es bei ganz wenigen Menschen tatsächlich eine Leben verlängernde Wirkung und zweifelsohne steigert sich bei vielen von ihnen ihr Leistungsvermögen - kurzfristig.«

»Auch ich habe das Elfte Buch gelesen«, unterbrach ihn Marna kalt. »Doch wenn das alles ist, was du mir anzubieten hast, werde ich wohl kaum fünf Minuten überstehen. Oder sollte ich vielleicht besser sagen: Du wirst sie nicht überstehen!«

»Es ist das Kaol, Marna«, sagte Skar eindringlich. »Es nimmt den Menschen auf Dauer die Würde, höhlt sie aus, verwandelt viele von ihnen in unansehnliche Missgestalten - ähnlich wie eine auf Dauer tödlich wirkende Droge. Aber das ist noch nicht alles. Ihr wart doch auch dort draußen, hinter dem Pojoaque. Habt Ihr dort nicht die gigantischen Senken bemerkt, die Einbrüche im Berg? Das alles ist erst der Anfang. Je mehr Kaol abgebaut wird, umso schwerer wird das geschädigt, was hinter allem steht und alles durchzieht.«

»Von was redest du?«, fragte Marna ungeduldig. »Ich kenne zwar die Senken, aber ich sehe keinen Zusammenhang.«

»Von etwas, das aus Enwor nicht mehr wegzudenken ist«, sagte Skar ruhig, »und das im wahrsten Sinne des Wortes. Enwor und Es sind eins, miteinander verwoben ... es ist wie ein Geflecht, das sich in alles hineingegraben hat, alles durchzieht und alles durchdringt.«

»Nicht alles«, sagte Marna und plötzlich glaubte Skar eine Nervosität an ihr zu bemerken, die er zuvor noch nicht festgestellt hatte. »Wir haben es schon längst zurückgedrängt, alter Mann. Es ist für uns keine Gefahr mehr.«

»Möglicherweise ist es im Moment keine Gefahr«, bestätigte Skar, »denn auch dieses ... Geflecht hat dazugelernt. Es bekämpft uns nicht, zumindest nicht direkt - es lebt mit uns und wir mit ihm.«

»Das mag alles sein«, sagte Marna angespannt, »vielleicht ist es aber auch ganz anders - und wir verschwenden nur unsere Zeit mit nutzlosen Worten.«

»Es ist nicht anders«, widersprach Skar und dachte an die Vision, die ihn in der Höhle überfallen hatte und den Kern der Dinge, umgeben vom Feuerwerk netzförmiger Strukturen, die sich durch alles zogen, alles unterwanderten, nichts unberührt ließen, um, von einem unbekannten Trieb getrieben, immer weiter hinauszuwachsen in die Welt, bis sie auch den letzten Gegenstand, jeden Menschen und jedes beliebige andere Lebewesen in Besitz genommen hatten ...

»Und es ist nicht allein«, fügte er schroff hinzu. »Es gibt da noch etwas... Anderes. Etwas, das ganz ähnlich ist und ...«, er versuchte verzweifelt die Botschaft, die er nur annähernd verstanden hatte, in Worte zu kleiden, »das versucht das Geflecht zu unterwandern und in den Griff zu bekommen ... das Khtaám ...«

»Hör auf«, unterbrach ihn Marna zornig. »Es ist nicht gut, über diese Dinge zu sprechen. Es ist nicht gut, überhaupt etwas darüber zu wissen.«

Skar starrte sie wortlos an und einen Herzschlag lang war so etwas wie Verständnis zwischen ihnen; auch er empfand es als nicht richtig, darüber zu sprechen, ja, nicht einmal den Namen Khtaám in den Mund zu nehmen. Aber es ging nicht um Empfindungen, sondern um das, was getan werden musste, um Enwor aus der Umklammerung einer tödlichen Gefahr zu befreien - einer Gefahr, die möglicherweise größer war als alles andere, was jemals zuvor die Welt bedroht hatte.

»Das Kaol spielt die Schlüsselrolle in diesem unwirklichen Kampf, den wir vielleicht nie verstehen werden«, fuhr Skar deshalb fort. »Das, was die Digger für Kaol-Vorkommen halten, sind in Wirklichkeit die... geschwürartigen Knotenpunkte des Geflechts. Es mag sein, dass das Geflecht selbst mit daran Schuld trägt, dass sich die Digger überhaupt formieren konnten. Sein Impuls immer weiter zu wachsen, brachte es dazu, Menschen direkt durch die Einnahme von Kaol kontrollieren zu wollen. Doch jetzt ist ihm dieser Prozess entglitten. Wenn zu viel Kaol abgebaut wird, sterben Verästelungen. Wenn Verästlungen sterben, wird der Zusammenhalt von allem, was das Geflecht durchzieht, beeinträchtigt - und irgendwann, nach vielen Jahren oder auch erst nach Jahrzehnten, bilden sich plötzlich Erdspalten, rutschen Felsen und Gestein nach, beginnt ein Zerstörungsprozess, der jetzt in dem Gebiet hinter dem Pojoaque begonnen hat und sich schließlich in ganz Enwor fortsetzen wird, bis selbst die großen Städte davon betroffen sein werden ...«

»Das ist...«

»Das ist die Wahrheit«, sagte Skar rasch. »Wenn Ihr die Quorrl schlagt und zu spät merkt, dass Ihr mit den Diggern die falschen Verbündeten gesucht habt, dann wird es zu spät sein. Die Digger werden immer mehr und mehr Kaol abbauen, sie werden damit das Geflecht schädigen, dieses gigantische, unbegreifliche Lebewesen, das ganz Enwor durchzieht - das Geflecht ist Enwor!«

»Du übertreibst...«

»Ich übertreibe keinesfalls.« Skars Stimme zitterte. Ein Gefühl eisigen, ungläubigen Entsetzens hatte von ihm Besitz ergriffen, dem sich offenbar auch Marna nicht vollständig entziehen konnte. »Es hat sich in unüberschaubaren Verästlungen in alles eingegraben, ob wir das nun wahrhaben wollen oder nicht - es ist mit Pflanzen, Gestein, dem Boden, auf dem wir stehen und den Gebäuden, in denen wir leben, eine Einheit eingegangen und hat in Einzelfällen sogar vor Menschen nicht Halt gemacht! Doch wenn es früher plump war in dem Versuch sich Menschen gefügig zu machen, wenn es dicke schwarze Fäden waren, die sich in sie gewühlt haben - und meist sehr schnell töteten -, dann hat es vor etwa dreihundert Jahren eine weitaus elegantere Methode entdeckt, um Menschen in seinen Bann zu ziehen: über Kaol. Das Kaol sind die Zentren dieses gewaltigen, Enwor umspannenden Netzes. Wenn es in Maßen abgebaut wird, wächst es nach. Doch jetzt hat das Khtaám den Prozess angeheizt und die Digger breiten sich wie eine Seuche über Enwor aus: Sie bauen so viel Kaol ab, dass sie das Geflecht schädigen und auf Dauer vernichten werden. Stirbt das Geflecht, verenden seine Abermillionen Verästelungen - und das, was mit ihm verbunden ist, bricht in sich zusammen, zerbröselt im wahrsten Sinne des Wortes, bis Enwor schließlich vollkommen in sich zusammenfällt - und schließlich sterben auch wir ...«

»Du interpretierst das Elfte Buch in einer Art und Weise, die ich nicht billigen kann«, unterbrach ihn Marna schroff. »Ich verbiete dir diese Freiheit!«

»Nein, Skarissa.« Skars Stimme klang kalt wie Eis und selbst die höfliche Wahl seiner Worte klang wie eine Herausforderung. »Ich nehme mir nicht die Freiheit zu interpretieren: Ich habe die Wahrheit gespürt, ich habe sie in meinem Innersten die ganze Zeit über gewusst - spätestens seitdem ich an dem Fall von Ninga an Land gespült wurde, vielleicht sogar schon früher. In den letzten Tagen habe ich sie die ganze Zeit über vor Augen gehabt. Aber ich habe sie gleich dir nicht sehen wollen. Erst das Elfte Buch hat mir die Augen geöffnet.«

»Du redest irre.« Marnas Stimme war scharf wie ein Peitschenhieb - und doch klang darin auch etwas anderes mit, Angst, Entsetzen und Wut, die jederzeit wie eine flammende Eruption aufbrechen konnten. »Es sind die Quorrl, die das Gefüge gefährden. Es sind die Quorrl, die Vernichtung über Enwor bringen - und nicht die Digger!«

»Ihr täuscht Euch, Skarissa Marna«, sagte Skar dumpf. Er spürte ihren Widerstand, die Wahrheit - auch nur ansatzweise - begreifen zu wollen. Konnte sie denn immer noch nicht spüren, wie Enwor starb, Stück für Stück und unaufhaltsam? War sie denn nicht willens zumindest in Erwägung zu ziehen, dass sie und die Satai aufs falsche Pferd gesetzt hatten? »Ganz gleich, wie Euer Kampf endet«, fügte er bitter hinzu, »Enwor wird hinterher nicht mehr sein, was es vorher war. Wenn ihr die Quorrl vernichtet, wird es der letzte Kampf sein, der je von Menschen ausgefochten wurde. Wenn aber die Quorrl gewinnen - dann werden nicht nur die Digger und unzählige unschuldige Menschen getötet, sondern auch die Satai vernichtend geschlagen. Wollt Ihr das eine oder das andere?«

»Dazu wird es nicht kommen«, sagte Marna scharf. »Wir werden die Quorrl zurückschlagen - und SIEGEN! Wir werden die heilige Ordnung wieder aufbauen ...«

»Wann?«, preschte Skar voller Gewalt dazwischen.

»Wenn die Natur aus dem Gleichgewicht gekommen ist, wenn die Vegetation verendet, wenn unsere Städte einstürzen, wenn Sturmfluten gegen die Küsten anbranden?«

»Nemesis«, flüsterte Marna und einen Moment lang wirkte sie wie von einem Dutzend widerstrebender Gefühle überrannt. Doch dann schüttelte sie wütend den Kopf. »Es ergibt keinen Sinn. Überhaupt keinen. Du willst mich wissentlich täuschen - oder bist verblendet von Dingen, die über dich Macht gewonnen haben, um nicht nur dich, sondern auch uns zu verderben.«

Skar zuckte zusammen. Das Schlimme war, dass Marna in gewisser Weise sogar Recht hatte. Das Khtaám hatte versucht von ihm Besitz zu ergreifen, ihn Dinge tun zu lassen, die wider seine Natur waren; es hatte ihn dazu gebracht, die beiden Nahrak in den Schlund zu stürzen - als er dem Grauen ganz nah gewesen war, hatte es kurzfristig, vielleicht bloß für ein paar Sekundenbruchteile, von ihm Besitz ergriffen. Aber irgendetwas war schief und verkehrt und stimmte nicht an diesem Gedanken und er glaubte sogar jetzt seinen Einfluss in sich einsickern zu fühlen. Wie lange konnte er noch dagegen ankämpfen, was immer es auch war? Wie viel war schon von dem Gift in ihn eingedrungen, das ihn selber zum Werkzeug der Vernichtung Enwors machen wollte?

»Ist die Quelle deiner unsinnig sprudelnden Worte versiegt, Skar?«, höhnte Marna. »Hast du eingesehen, dass du mich mit deiner Verblendung nicht täuschen kannst?« Sie machte eine rasche Handbewegung. »Gleichwohl. Bringen wir es hinter uns.«

Skar schüttelte verzweifelt den Kopf. Ein entsetzlicher Verdacht begann in ihm Gestalt anzunehmen - und gleichzeitig die Furcht ihn Marna nicht mehr rechtzeitig mitteilen zu können. »Das Khtaám hat sich viel Zeit gelassen, um seinen Angriff zu planen«, sagte er voller Hast und tief empfundenem Entsetzen. »Und es hat sich überall Verbündete geschaffen. Ich gebe Euch den Rat: Schaut Euch genau an, mit wem Ihr in die Schlacht gegen die Quorrl zu ziehen gedenkt. Nehmt Euch einen Augenblick Zeit zu überlegen, warum Eure Verbündeten sich Euch angediehen haben - und unter welchen Bedingungen. Und überzeugt Euch davon, dass sie nicht das Zeichen der gleichen Kriegerkaste tragen wie die Quorrl, die mich und meinen Begleiter Del vor unendlichen Zeiten in der Nonakesh-Wüste angriffen und verfolgt haben.«

»Deine alten Heldentaten sollen etwas mit mir zu tun haben?«, spuckte ihm Marna voller Abscheu entgegen. »Das ist - grotesk!«

»Das Khtaám ist das, was hinter den Dingen steht«, stieß Skar erregt hervor. »Es ist der Schlund, es ist die Finsternis, es ist die Sturmflut, die das Land auszulöschen und unter sich zu begraben sucht. Aber gleichzeitig ist es wie das Geflecht - und vielleicht ist es ja Bestandteil von ihm, vielleicht ist es ja ein Bruderkampf, vielleicht ist es in Wirklichkeit nur ein anderer Bestandteil von ihm, der die endgültige Kontrolle zu erlangen versucht.«

Marna schnaubte. »Was soll das alles? Was hat das mit meinen Verbündeten zu tun?«

Ein Zittern durchlief Skar. »Die Quorrl, die mich und Del durch die Wüste hetzten und uns zu töten suchten, ohne dass wir einen Grund dazu gegeben hatten - sie haben das Zeichen der blauen Kriegerkaste getragen.« Seine Stimme sank zu einem Flüstern herab, das so leise war, dass ihn Marna kaum noch verstehen konnte. »Sie waren schon damals von dem Khtaám ausersehen mich zu töten - um einen potenziell gefährlichen Gegner aus dem Weg zu räumen. Quorrl der blauen Kriegerkaste.«

»Schweig!«, donnerte Marna mit unerwarteter Energie, aber auch mit einem Entsetzen, das vielleicht - HOFFENTLICH! - bedeutete, dass sie begriffen hatte: Ihre Quorrl-Leibwache trug das Zeichen der blauen Kriegerkaste! »Deine Zeit ist um.«

Skar wollte aus dem ersten Impuls heraus widersprechen, Marna entgegenschleudern, dass es ihr nicht helfen würde, wenn sie die Wahrheit verleugnete, dass sie würde begreifen müssen, dass Wegschauen und Leugnen keine Strategie war, um das Unbegreifliche zu besiegen, das sich unter dem Namen Khtaám verbarg. Er wollte ihr begreiflich machen, dass sie sich dem Kampf stellen musste, solange sie noch konnte, dass es die Digger aufzuhalten galt und dass es verkehrt war, ausgerechnet die Quorrl, die nicht wie ihre eigenen Verbündeten vom Vernichtungswillen des Khtaám besessen waren, auszulöschen oder in ein Reservat zu stecken - all das und noch viel mehr wollte er ihr entgegenschreien ...

Aber dann begriff er. Es war irgendetwas an ihrer Haltung, das ihn an eine andere Zeit erinnerte. Als Hoher Satai hatte er sich im Angesicht unvorstellbarer Neuigkeiten nicht anders verhalten als sie jetzt. Er hatte versucht das Grauen zu begrenzen, die Zahl der Eingeweihten zu minimieren und Gespräche, die über die Grenzen des Vorstellbaren gingen, nicht vor zu vielen Augen und Ohren zu führen - und er hätte gar nicht anders handeln können, wenn er von Quorrl umgeben gewesen wäre, denen er von einem Schlag auf den anderen hätte misstrauen müssen.

»Es ist alles erstunken und erlogen«, fuhr Marna voller Abscheu fort, die teilweise echt und teilweise gespielt sein mochte. »Es ist beschämend zu sehen, wie ein Mann in Satai-Kleidung mir Lügen ins Gesicht schleudert, nur um sein Leben und das seiner jungen Gefährtin zu retten.« Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Skar die schreckliche Vorstellung, dass ihn Marna ohne weiteres Federlesen umbringen lassen würde, obwohl - oder vielleicht gerade weil - sie ihm glaubte. Aber dann gab Marna einen befehlenden Wink mit der Hand.

»Führt die beiden ab«, sagte sie. »Der Verräter soll nicht im Kleid eines Satais sterben. Gebt ihm andere Kleidung und bringt ihn dann zum Verhör in meine Gemächer in der Siedlung vor den Hügeln - aber in Ketten.«

Skar erhob sich langsam und vorsichtig, kam aus der Hocke hoch und stand schließlich vor Marna, während die beiden Klingen der Satai nach wie vor auf seine Kehle und sein Herz zielten. Er hätte alles darum gegeben, einen Blick hinter die goldene Wolfsmaske zu werfen, um festzustellen, was hinter Marnas Stirn vorging. Ihre Art gleichzeitig impulsiv und überlegen zu handeln, verwirrte ihn und er wäre nicht in der Lage gewesen zu sagen, was Schauspiel war und was Ernst.

Vielleicht hatte er in Marna eine Verbündete gefunden. Vielleicht war sie aber auch der Todesengel Enwors.

Die Zukunft würde es erweisen.


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