1.3

Der Pfad zog sich am Fuße der Felswand entlang, so weit sein Blick reichte - was in diesem Fall nicht besonders weit war. Schon in dreißig oder vierzig Schritten Entfernung begann das Felsband hinter hochsprühender staubfeiner Gischt zu verschwimmen, und zudem war die Klippe leicht gekrümmt, sodass er ohnehin nicht hätte sehen können, was vor ihm lag.

Trotzdem wusste er, dass er sich in der richtigen Richtung bewegte. Irgendwo vor ihm, vielleicht noch hundert, vielleicht auch zweitausend Schritte entfernt, lag sein Ziel. Er hatte zwei- oder dreimal begonnen seine Schritte zu zählen, war aber jedes Mal schon nach kurzem durcheinander gekommen und hatte es schließlich aufgegeben. Es spielte keine Rolle, wie viele Schritte noch vor ihm lagen. Außerhalb des Sturzes von Ninga führte kein Weg die Klippe hinauf. Sein Ziel lag irgendwo vor ihm.

Er ging weitere hundert Schritte, dann noch einmal und noch einmal. Die Gischt wurde immer dichter, sodass sie ihm fast den Atem nahm und seine Kleider vor Nässe triefend an seinem Körper herabhingen, und auf dem letzten Stück kam er der brüllenden Wasserwand so nahe, dass er nur die Hand hätte auszustrecken brauchen, um sie zu berühren; ein Experiment, das wahrscheinlich tödlich verlaufen wäre. Die Wand, die unmittelbar neben ihm in die Tiefe stürzte, war wie Glas. Er konnte sich selbst darin spiegeln, als wäre sie aus fester Materie. Weniger als eine Armeslänge entfernt und unter ihm jedoch explodierte sie in einem Chaos aus weißem Schaum und wütender Bewegung.

Nach einer Ewigkeit begann die Wand und damit auch der herausgemeißelte Pfad an ihrem Fuß wieder von der Wassermauer zurückzuweichen; zuerst nur sacht, sodass er es kaum bemerkte, aber dann immer rascher und rascher, bis er aus Dunst und stiebender Gischt hervortrat und sich urplötzlich in einer gewaltigen halbrunden Höhle wieder fand, deren Boden, Decke und vordere gerade Wand aus Wasser bestanden. Genau im Scheitelpunkt des Halbrundes, dort, wo sich der Pfad mit seinem aus der anderen Richtung kommenden Spiegelbild vereinigte, begannen die Stufen einer gewaltigen, immer breiter werdenden Treppe, die zu einem Torbogen von wahrhaft zyklopischen Abmessungen emporführte. Sowohl die Treppenstufen als auch der Torbogen selbst - er musste zwanzig Manneslängen, wenn nicht mehr, messen - bestanden aus schimmerndem Sternenstahl, dem gleichen Metall, aus dem das Schwert an seiner Seite gefertigt war.

Für die Dauer vieler, schwerer Herzschläge stand er einfach da und starrte das phantastische Gebilde an, erfüllt von einem Gefühl zwischen Ehrfurcht und Staunen, aber auch ein wenig Furcht. Es war fast unheimlich: Er wusste, dass dies sein Ziel war, der Weg, der ihn nach oben auf die Klippe bringen würde, aber gleichzeitig wusste er auch, dass er noch nie zuvor hier gewesen war. Und wenn er zehn Leben statt nur einem hinter sich gebracht hätte, diesen Anblick hätte er doch niemals vergessen.

Es war nicht die Größe des Tors, die ihn erschütterte. Er hatte Bauwerke gesehen, die zehnmal größer und hundertmal prachtvoller waren. Es war das Material, aus dem es erbaut worden war. Sternenstahl war die härteste Materie, die es auf dieser Welt gab. Selbst die heiligen Tschekals zu schmieden hatte Jahrzehnte gedauert und der Anstrengung nicht nur der klügsten Alchimisten, sondern auch der mächtigsten Zauberer der Errish bedurft, und nur zu oft waren diese Anstrengungen nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Keine Macht dieser Welt, nicht einmal die eines Gottes, konnte ausreichen, so etwas zu erschaffen.

Nachdem er eine ganze Weile dagestanden und den zyklopischen Torbogen angestarrt hatte, gewann der logische Teil seines Denkens wieder Oberhand. Unmöglich oder nicht, jemand hatte dieses Gebilde erschaffen und er musste es nun einmal als gegeben akzeptieren, ob er es nun erklären konnte oder nicht. Er war nicht hierher geschickt worden, um diesen Torbogen anzustarren.

Er löste sich mit einem Ruck von seinem Platz und ging schneller als nötig weiter; vermutlich sogar schneller, als auf dem unsicheren Grund aus nassem Stein gut war. Der Pfad war an dieser Stelle so schmal, dass er mit der Schulter an der Wand entlangstreifte und ein paarmal fast Gefahr lief seinen Mantel zu verlieren, sodass er immer wieder zugreifen und die Fibel wieder schließen musste. Bei einer dieser Gelegenheiten fiel sein Blick zufällig nach unten ins Wasser, und er sah etwas, was ihm schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: Der See unter ihm war nicht leer. Vielleicht eine Handbreit unter der Wasseroberfläche, aber überall, so weit sein Blick reichte, bewegten sich dunkle Schatten, schwarze, armdicke Tentakel, die wie die Fangarme gewaltiger Kraken peitschten, zuckende Schlangen, dick wie sein Finger, scheinbar ohne Ende, aber auch dünne Büschel, die sich wie Haare im Wind bewegten. Er war dem Seeungeheuer keinesfalls entronnen, sondern befand sich noch immer in seiner unmittelbaren Reichweite. Vielleicht war es nicht einmal die gleiche Kreatur wie die, der er um ein Haar zum Opfer gefallen wäre, sondern ein zweites, gleichartiges Geschöpf, aber der Anblick brachte ihn auf jeden Fall dazu, seine Schritte noch mehr zu beschleunigen. Trotzdem war es irgendwie... seltsam. Ganz tief in sich spürte er, dass ihm von der Kreatur keine Gefahr drohte, so schrecklich sie auch war.

Er folgte dem Pfad bis zum Ende, lief mit raschen Schritten die Treppe hinauf und trat nach einem letzten, fast unmerklichen Zögern durch den gewaltigen Torbogen. Aus irgendeinem Grund hatte er erwartet sich in vollkommener Dunkelheit wieder zu finden, aber das war nicht der Fall. Vor ihm lag eine halbrunde, hohe Kammer von vielleicht zwanzig Schritt Durchmesser, deren Wände und Decke aus dem gleichen Material wie der Torbogen und das Schwert an seiner Seite bestanden. Ein Muster aus komplizierten Runen und Hieroglyphen bedeckte die Wände, vielleicht zeremonieller Bestimmung, vielleicht auch eine Schrift, die er nicht entziffern konnte. Ein blasses, ganz leicht grün gefärbtes Licht erhellte die Kammer. Seltsamerweise konnte er seine Quelle nicht ausmachen. Es schien aus dem Nichts zu kommen, so als leuchte die Luft aus sich selbst heraus. Es gab vier Türen, die vermutlich tiefer ins Innere des Berges hineinführten. Drei von ihnen waren verschlossen, die Vierte führte in einen schmalen, von dem gleichen sonderbaren Licht erfüllten Gang, der sich weiter in den Berg hineinwand, als sein Blick ihm folgen konnte.

Dieser Gang war nicht leer. Hier und da bedeckte ein schwarzes Geflecht Wände und Boden, Fetzen eines Netzes oder auch einzelne, schlangengleiche Stränge. Es mochten Wurzeln sein, die sich mit der unaufdringlichen Beharrlichkeit von Pflanzen einen Weg durch die stählernen Wände und Decken gegraben hatten, aber der Anblick erinnerte ihn zugleich zu sehr an den, den das Geschöpf draußen im Wasser geboten hatte, als dass er es wagte, ihm näher als unbedingt nötig zu kommen.

Er folgte dem Gang bis zu seinem Ende und gelangte in eine Art Treppenschacht, der mindestens so weit nach oben wie tiefer hinab in den Leib der Erde führte: Er war kreisrund und hatte einen Durchmesser von gut fünfzig Metern, und vermutlich diente er noch einem anderen Zweck als bloß dem, die schmale, geländerlose Treppe aufzunehmen, deren Stufen sich in einer schier endlosen Folge nach oben und unten wanden. Dem Krieger war es gleich. Er spürte, dass diese unterirdische Welt voller düsterer Geheimnisse, uralter Rätsel und unvorstellbarer Gefahren war. Er wollte nichts davon in diesem Moment ergründen. Wichtig war allein, dass er einen Weg nach oben gefunden hatte.

Auch hier war die Luft von jenem unheimlichen, graugrünen Glanz erfüllt, der aus dem Nichts zu kommen schien und eigentlich mehr ihre Illusion als wirkliche Helligkeit erzeugte. Trotzdem gewöhnten sich seine Augen allmählich daran, sodass er mehr Einzelheiten erkannte, während er der schneckengleich um den gewaltigen Schacht gewundenen Treppe nach oben folgte. Der Schacht hatte wahrhaft gigantische Ausmaße. Er musste eine Meile oder mehr in die Erde hinabführen. Boden und ein Teil der Wände waren vom Feuer geschwärzt und auch die Treppe war hier und da in Mitleidenschaft gezogen worden. Dieser Schacht war nicht immer leer gewesen und er war lange nicht der Einzige seiner Art. Im Gegenteil. Es gab unzählige: bodenlose, schwarze Gruben, in denen der Tod in gewaltigen schwarzen Pfeilen aus Stahl eingefangen war und darauf wartete, aus der Erde hervorzubrechen und ganze Städte mit Feuer und Glut vom Antlitz dieses Planeten zu tilgen.

Diese Erinnerung verscheuchte er. Es gab Dinge, die wollte er gar nicht mehr wissen.

Die Treppe endete vielleicht hundert Meter unter der Decke vor einer halbrunden Tür, die waagerecht weiter in den Berg hineinführte. Von dem Gang, in den er gelangte, zweigten zahlreiche weitere Türen ab. Er warf neugierige Blicke durch die meisten und blieb hier und da sogar stehen, hütete sich aber den Gang zu verlassen. Die meisten Türen führten ohnehin nur in weitere, endlose Gänge, von denen weitere Türen abzweigten - dieser ganze Berg musste ausgehöhlt sein wie ein Bienenstock! -, manche in große, saalähnliche Räume voller unverständlicher Dinge, einige aber auch in weitere Schächte, gleich dem, durch den er diese unterirdische Anlage betreten hatte. Er beachtete nichts davon, sondern ging mit ruhigen Schritten weiter. Seine Aufgabe wartete nicht hier auf ihn, in dieser unterirdischen Anlage hinter dem Wasserfall. Hier hatte es geendet und hier würde es wieder beginnen.

Er passierte eine weitere Tür, blieb stehen und ging wieder zurück, von einem sonderbaren, kaum in Worte zu fassenden Gefühl erfüllt. Die Kammer war nicht besonders groß und vollkommen leer. Der Boden war mit einer zentimeterdicken Staubschicht bedeckt, so als wäre dieser Raum seit mindestens einem Jahrhundert nicht mehr betreten worden. Der schwarze Sternenstahl der Wände wirkte irgendwie ... verzerrt, als wäre er geschmolzen und wieder erstarrt, ganz kurz, bevor er wirklich seine Form verlieren konnte. Er wagte es nicht, den Raum zu betreten - eine sonderbare Mischung aus Ehrfurcht und Unbehagen hatte ihn ergriffen, so als stünde er am Eingang eines Grabes -, aber er streckte die Hand aus und berührte das Metall unter der Staubschicht.

Aus der Vermutung wurde - fast - Gewissheit. Es war ein Grab. Und er war nicht zufällig hier, sondern weil jemand - etwas - ihn hierher geführt hatte. Um sich zu erinnern. Er senkte die Hand, drehte sich fast hilflos einmal im Kreis und wollte weitergehen, tat aber dann das Gegenteil: Er wich in die Kammer zurück, ließ sich zu Boden sinken und lehnte Kopf und Schultern gegen den verbogenen Stahl der Wände. Dieser Ort hatte Erinnerungen gespeichert. Es musste ihm nur gelingen, sie sich zugänglich zu machen, und er würde endlich alles wissen. Er schloss die Augen und wartete darauf, dass die Erinnerungen kamen.

Nichts geschah. Er schlief ein.

Und erwachte, als jemand die Kammer betrat. Geräusche und Bewegung hatten ihn direkt aus einer Tiefschlafphase gerissen, sodass er im ersten Moment noch benommen war; optische und akustische Eindrücke wirbelten hinter seiner Stirn durcheinander, vermengten sich mit sinnlos aufblitzenden Bildern und Fetzen von Gefühlen - zum größten Teil negativen Gefühlen, die zu schnell aufflackerten und wieder erloschen, um sie zu identifizieren, aber ein allgemeines, unangenehmes Gefühl in ihm hinterließen. Es vergingen einige Sekunden, ehe aus den tanzenden Schatten vor ihm zwei Gestalten wurden. Einer der beiden Männer war ein wahrer Riese, ein Gigant von mehr als sieben Fuß Größe und Ehrfurcht gebietend breiten Schultern. Er war verletzt. Die Hälfte seines Gesichtes war verheert, das Auge ausgelöscht. Er schien kaum noch genügend Kraft zu haben, um sich auf den Beinen zu halten, denn er lehnte schwer an der Wand, seine Knie zitterten. Er trug ein schlankes, schmuckloses Schwert in der Rechten, von dessen Klinge hellrotes Blut tropfte.

Die zweite Gestalt lag verkrümmt und inmitten einer allmählich größer werdenden Blutlache vor dem Riesen auf dem Boden. Beide trugen Mantel, Harnisch und Stirnband eines Satai, und trotzdem wusste der Krieger, dass sie keine Freunde waren, sondern der eine das Opfer des anderen. Sie hatten sich die tödlichen Wunden gegenseitig zugefügt. Dann wurde ihm klar, dass er Zeuge seines eigenen Todes wurde.

Der Mann am Boden war er. Es war der Mann, der er gewesen war, vor langer, sehr langer Zeit. Er war hier gestorben, in dieser Kammer, und das, dessen Zeuge er wurde, war kein wirkliches Geschehen, sondern die Vergangenheit, trotzdem aber keine bloße Illusion und auch nicht nur seine Erinnerungen, die endlich zurückkamen, sondern weit mehr: Bilder, die geschickt worden waren, damit er sah, was geschehen war, und vielleicht begriff, was geschehen musste.

Er wandte den Kopf und sah die dritte, schattenhafte Gestalt, die in der gegenüberliegenden Ecke des Raumes stand und aus kalten Insektenaugen auf ihn herabstarrte. Nicht nur die Bilder waren gekommen, sondern auch der, der sie geschickt hatte, der Daij-Djan, dürr, spinnengliedrig und grausam, die Sternenbestie, die ebenso Teil seines früheren Selbst wie Faust und Auge der gigantischen Netzkreatur gewesen war, die einst ganz Enwor bedroht hatte. Nun war sie es, die Hilfe brauchte.

Er sah wieder zu den beiden Satai hin. Der Riese - Del - begann langsam in die Knie zu sinken. Irgendwoher nahm er die Kraft, sich noch einmal in die Höhe zu stemmen, aber es war nur ein letztes Aufbäumen. Die Wunde, die ihm der sterbende Mann am Boden zugefügt hatte, war so tödlich wie die, die er selbst erlitten hatte, nur dass sie vielleicht nicht ganz so schnell wirkte. Der Schwertstich, mit dem Del seinen alten Lehrmeister niedergestreckt hatte, war barmherziger gewesen.

Das Bild wechselte. Del und der tote Satai waren nun nicht mehr allein. Zwei weitere Gestalten hatten den Raum betreten, die eine davon eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, die trotzdem die Kleider eines Satai trug, ihr Begleiter ein schuppiger Gigant mit einem brutalen Schildkrötengesicht. Beide starrten Del an, aber der schwer verwundete Satai schien sie nicht einmal zu bemerken. Er hatte sich in die Hocke sinken lassen und stützte sich mit der linken Hand schwer auf dem Boden auf. Die andere hatte er nach der Hand des Toten ausgestreckt, um einen schmalen, schmucklosen Ring von seinem Finger zu ziehen.

Als er versuchte ihn sich selbst überzustreifen, stürzte sich der geschuppte Quorrl auf ihn, riss ihn wie ein Kind in die Höhe und brach ihm ohne die geringste Anstrengung beide Handgelenke. Del brüllte vor Schmerz, dann wurde sein Schrei zu einem erstickten Keuchen, als der Quorrl ihn gegen die Wand warf.

»Halt!«

Der Quorrl erstarrte. Sein Gesicht loderte vor Hass, aber er gehorchte dem Befehl des Mädchens.

»Töte ihn nicht, Titch«, sagte sie. »Noch nicht.«

Del schob sich wimmernd vor Schmerz weit genug an der Wand in die Höhe, bis er halbwegs aufrecht dasaß. Sein Gesicht war grau vor Pein und trotzdem war in seinen Augen keine Furcht, als er zu dem Quorrl und seiner kaum halb so großen Begleitung hochsah. Nur Trotz.

»Weißt du, Del«, sagte Kiina und deutete auf den Leichnam des Toten hinab, »er hatte Recht. Ihr habt verloren.«

»Ich habe ihn besiegt, oder?«, fragte Del trotzig.

»Besiegt?« Kiina schüttelte den Kopf. »Oh nein, Del. Das hast du nicht. Niemand konnte ihn besiegen. Du hast ihn getötet, aber selbst das nur, weil er es wollte.«

»Was für ein Unsinn«, murmelte Del. »Sieh mich an. Er hat gekämpft wie niemals zuvor, aber ich war besser.«

»Er hat jemanden gesucht, der ihn tötet«, sagte Kiina, als hätte sie seine Worte gar nicht gehört. »Und du warst der Einzige, dem er es gestattet hätte.«

»Dann war er ein Narr!«, sagte Del. »Wir werden gewinnen, du dummes Kind. Es gibt keinen Wächter mehr.« Kiina lächelte erneut. Sie nahm den Ring an sich, den Del vom Finger des Toten gezogen hatte, dann stand sie auf und hob etwas Kleines, Silberglänzendes, das sie auf Del richtete.

Der junge Satai beachtete die Scannerwaffe gar nicht. Er starrte entsetzt in Kiinas Augen und ein neuer, unendlich tiefer Schrecken begann sich auf seinem Gesicht auszubreiten; der Blick eines Mannes, der am Ende seines Lebens begriff, wie unendlich tief und vollkommen seine Niederlage war.

»Oh doch, Del«, sagte sie. »Es hat ihn immer gegeben und es wird ihn immer geben.« Sie hob die Scannerwaffe. Ein dunkelrotes, pulsierendes Licht begann in dem Rubinauge an ihrer Vorderseite aufzuglühen. »Ich bin seine Tochter.« Del starrte sie an. Und Kiina ließ noch genügend Zeit verstreichen, um ihn ihre Worte wirklich verstehen zu lassen, ehe sie den Auslöser drückte. Ein greller Lichtblitz löschte den Körper des Satai und in der nächsten Sekunde die gesamte Szene aus.

Als er wieder sehen konnte, hatte sich die Szenerie abermals geändert. Sie waren nicht mehr in der kleinen Kammer, sondern in einem anderen Teil der unterirdischen Tempelfestung, einem langen, düsteren Gang aus Sternenstahl, dessen Ende zum Wasserfall hin offen war, sodass das Dröhnen des Wassers Eingang in den Berg fand. Das Wasser des Sturzes rauschte so unbeteiligt und kraftvoll nieder, wie er dies seit Millionen Jahren tat, und wie er es vermutlich auch noch in Millionen Jahren tun würde; eine gewaltige, schweigende Macht, die in ihrer ruhigen Majestät selbst die bizarre unterirdische Welt der Alten zu einem Nichts degradierte. Zu Kiina und Titch hatte sich ein weiterer Quorrl gesellt. Sie hatten den Leichnam des älteren Mannes in den golddurchwirkten schwarzen Mantel eines Satai gewickelt und hierher gebracht. Wortlos und sehr ernst gab Kiina den beiden Quorrl-Kriegern einen Wink und die geschuppten Giganten warfen den toten Körper mit aller Macht in den Sturz hinein. Die gläserne Wand teilte sich, schien ihn für den Bruchteil einer Sekunde schwerelos zu halten - und schloss sich wie ein Vorhang aus kristallklarer Schwärze.

»Eine Minute«, murmelte einer der Quorrl. »Wären wir nur eine Minute früher gekommen ...«

»Es hätte nichts geändert«, sagte Kiina. »Ich glaube, er hat es so gewollt.« Sie stand eine Weile still, dann hob sie die Hand und zog den Ring ab, den sie von Del genommen hatte. Bevor Titch oder der andere Quorrl sie daran hindern konnten, warf sie ihn so weit in den Sturz hinein, wie sie nur konnte.

»Was ... was tust du?«, keuchte Titch. »Du hast soeben ein Königreich verschenkt! Wer diesen Ring besitzt, ist der Herrscher der Errish!«

»Wenn es sie noch gibt, dann brauchen sie keinen Herrscher«, antwortete Kiina leise. »Niemand braucht einen Herrscher, Titch. Vielleicht war es das, wofür Skar wirklich gekämpft hat, Titch. Wir sollten aufhören zu herrschen.« Skar.

Sein Name war also Skar. Er wusste es im gleichen Moment, in dem er das Wort hörte. Sein Klang war so vertraut, dass es fast wehtat.

»Und wo willst du jetzt hin, Menschenjunges?«, fragte Titch nach einer Weile.

Kiina zuckte mit den Schultern. »Enwor ist groß, Fischgesicht.« Sie hob abermals die Schultern, lächelte traurig und machte eine vage Bewegung mit beiden Händen. »Irgendwohin.«

»Das trifft sich gut«, antwortete Titch und trat neben sie. »Dann haben wir denselben Weg.« Die beiden lachten, drehten sich um und gingen nebeneinander davon, und mit jedem Schritt, den sie taten, entfernten sie sich nicht nur räumlich, sondern verloren auch mehr und mehr an Substanz; gleichzeitig wurde die Wirklichkeit realer, als glitte er unendlich langsam über die Grenze zwischen Traum und Wachsein.

Als die Vision endete, befand er sich noch immer am gleichen Ort. Er konnte sich nicht erinnern, sich bewegt zu haben, musste es aber wohl. Er saß noch immer auf dem Boden, aber die Wand in seinem Rücken, gegen die er sich gelehnt hatte, gehörte nicht mehr zu der Kammer, in der er eingeschlafen war. Das Dröhnen des Wasserfalles erfüllte die Luft. Etwas Schmales, Silbernes blitzte neben ihm auf dem Boden.

Es war der Ring. Der heilige Ring der Errish, den Kiina in den Wasserfall geworfen hatte. Er war zurückgekommen, so, wie auch Skar zurückgekommen war.

Warum?

Er hob den Ring auf, schob ihn jedoch nicht auf den Finger, sondern verbarg ihn in einer der zahlreichen Taschen, die in den Gürtel des toten Satai eingearbeitet waren. Dann stand er auf und ging mit langsamen Bewegungen zum Ende des Stollens.

Skar stand lange, endlos lange so da und starrte in die dröhnende Tiefe hinab. Er stand vor seinem Grab; einem Grab, in dem er für alle Zeiten hätte bleiben sollen und aus dem er zurückgekommen war; und er wusste nicht einmal, warum. Seine Erinnerungen kehrten nun immer schneller und schneller zurück. Aus dem Tröpfeln einzelner Gedanken war längst ein reißender Strom geworden, als wäre die Szene, die er mit angesehen hatte, vielleicht auch nur der bloße Klang seines eigenen Namens, der Schlüssel gewesen, der das Tor endgültig öffnete. Er erinnerte sich nun an alles. Sein Leben. Die entsetzliche Erkenntnis, wer er in Wirklichkeit war, was er war, der furchtbare Schmerz, als er begriff, dass der einzige Freund, den er jemals gehabt hatte, in Wirklichkeit sein schlimmster Feind gewesen war ...

Er war gestorben. Es war so, wie Kiina gesagt hatte: Er hatte es gewollt und Del war trotz allem der einzige Mensch auf der Welt, dem er gestattete, ihn zu töten. Doch nun war er wieder hier.

Und er wusste nicht einmal, warum.

Er hatte dieses neue, geschenkte Leben nicht gewollt. Und er war nicht freiwillig hier. Jemand hatte ihn geschickt. Doch welches Wesen - gleich ob Mensch oder Gott - hatte die Macht, dem Tod zu trotzen?

Skar zog den Heiligen Ring der Errish aus dem Gürtel, schob ihn sich nun doch auf den Finger - den einzigen, auf den er passte: den kleinen Finger der linken Hand - und betrachtete dann sehr nachdenklich genau diese Hand. Etwas stimmte nicht damit. Sie sollte nicht da sein. Er selbst hatte sie sich abgeschnitten, um sich des Sklavenarmbands zu entledigen, das ihn gefangen hielt. Er sah jedoch nicht einmal die winzigste Narbe. Seine Hand war unversehrt. Er bewegte die Finger und stellte keinen Unterschied zu seiner rechten Hand fest. Wer immer ihn hierher geschickt hatte, hatte ihm nicht nur das Leben zurückgegeben, sondern auch die Unversehrtheit seines Körpers.

Er ließ die Hand wieder sinken, drehte sich um und ging mit langsamen Schritten zurück in die Tempelfestung. Nun, wo er sich wieder an alles erinnerte, wusste er auch, wie er hier heraus und an die Oberfläche kam. Dort würde er die Antworten auf alle Fragen finden.

Er war nicht sicher, ob sie ihm gefallen würden.

Skar hatte die Kälte schon gespürt, lange bevor er das Tageslicht sah, das sich in die mattgrüne Helligkeit mischte, die die unterirdische Tempelfestung erfüllte: ein am Anfang sachter, aber unangenehmer Hauch, der rasch zu einem Prickeln und bald darauf zu wirklicher Kälte wurde, deren Intensität genau auf den schmalen Grat zwischen unangenehm und wirklich schmerzhaft pendelte. Als er endlich ins Freie trat, blinzelte er in die unerwartete Helligkeit hinaus und er war - gelinde gesagt - irritiert. Am Morgen war seine größte Sorge die gewesen, nicht in der Sonnenhitze zu verbrennen.

Hier oben lag Schnee.

Nicht besonders viel und längst nicht überall - die zerborstende Landschaft aus Mauerresten, Trümmern und kümmerlichem blassem Buschwerk, die sich vor ihm ausbreitete, war mit unregelmäßigen schmutzig weißen Flecken gesprenkelt, die zu einem Großteil bereits zu schmelzen begonnen hatten -, aber es hatte geschneit und in der Luft lag noch ein Hauch der beißenden Kälte, die diesen Schnee hervorgebracht hatte. Eigentlich, dachte Skar, war das unmöglich.

Aber das galt schließlich nicht nur für die Temperaturen hier.

Was er sah, war im Grunde noch viel unwahrscheinlicher.

Die Tempelfestung der Quorrl lag in Trümmern. Rowl und seine Bastard-Krieger hatten Wort gehalten und buchstäblich keinen Stein auf dem anderen gelassen. Die stolzen Mauern und Kuppeln waren geschleift, die dem Himmel trotzenden Türme eingestürzt, Wehrgänge und Dächer zertrümmert. So weit sein Blick reichte, sah er nur Ruinen und Chaos. Aber wie war das möglich? So wie das unterirdische Labyrinth war auch die Tempelfestung der Quorrl eine Hinterlassenschaft der Alten, die diese Welt erschaffen hatten, und so wie sie bestanden ihre Mauern aus Sternenstahl, einem Metall, das zu Recht als unzerstörbar galt. Nicht einmal das Sternenfeuer, das Elay verbrannt hatte, hätte diesen Mauern etwas anhaben können. Aber etwas hatte sie zerstört.

Skars Phantasie kapitulierte vor der Aufgabe sich die Gewalten vorzustellen, die notwendig wären, um eine solche Verheerung anzurichten. Magie, zweifellos. Dass er nicht an Magie glaubte, bedeutete nicht unbedingt, dass er ihre Existenz vollkommen ausschloss. Es war alles eine Frage des Standpunkts.

Außerdem gab es Dinge, die wollte er gar nicht so genau wissen...

Er machte einen vorsichtigen Schritt hinaus aus der halb zerschmolzenen Türöffnung, in der der Treppenschacht geendet hatte, und sah sich aufmerksam um. Er befand sich im vorderen Teil dessen, was von der Tempelfestung übrig geblieben war. Kaum ein Dutzend Schritte neben ihm zerbarst das Wasser des Flusses an einer Riffbarriere, um dann brüllend in die Tiefe zu stürzen. Diese Riffe waren neu. Das Wasser hatte Millionen und Abermillionen Jahre Zeit gehabt jedes Hindernis abzuschleifen und zu polieren, doch irgendeine unvorstellbare Gewalt - zweifellos die gleiche, die die Tempelfestung zerstört hatte - hatte den Flussgrund aufgebrochen und diese neue Barriere aufgetürmt. Das Wasser würde vielleicht wieder eine Million Jahre brauchen, um sie niederzureißen, vielleicht auch hundert; den Unterschied zwischen einem und hundert Lidschlägen in der geduldigen Zeitrechnung der Natur.

Er drehte sich weiter und mit jeder Sekunde, die verging, wuchs seine Anspannung. Dabei deutete nichts von dem, was er sah, auf irgendeine Gefahr hin. Er sah nur Ruinen, Schnee und halb erfrorenes Gebüsch. Aber etwas in ihm - der Krieger, der er trotz allem immer noch war - spürte die Gefahr, die sich hinter diesem Bild scheinbarer Normalität verbarg. Er hatte die beiden Toten nicht vergessen. Es mochte sein, dass sie der Kante zu nahe gekommen und einfach vom Wasser ergriffen oder von einer unerwarteten Windböe getroffen und in die Tiefe geschleudert worden waren, ebenso gut konnten sie auch gegeneinander gekämpft und sich so gegenseitig in den Tod gerissen haben. Ein Satai und ein Quorrl. Untrennbare Kampfgefährten oder unversöhnliche Feinde - das eine war so denkbar wie das andere. Und er war vermutlich gut beraten, von der schlimmeren der beiden Möglichkeiten auszugehen.

Wie sich zeigte, vermutlich mit Recht. Während er sich langsam dem Ufer der künstlichen Insel näherte, die inmitten des Flusses errichtet war, fand er deutliche Spuren eines Kampfes. Einem weniger geübten Auge als seinem wären sie vermutlich entgangen, aber für Skar waren sie so deutlich, wie es nur ging: Ein Stück zerrissener Stoff hier, eine zerbrochene Waffe da, Blut, das an einem Mauerrest einzutrocknen begann, eine Handvoll zerborstener, metallischgrüner Schuppen ... er konnte nicht sagen, wer wen angegriffen oder gar, wer den Sieg davongetragen hatte, aber ihm wurde doch bald klar, was hier passiert sein musste. Eine der beiden Gruppen - Mensch oder Quorrl - hatte im Schutze der Ruinen ihr Nachtlager, aufgeschlagen und war von der anderen - Satai oder Ungeheuer - überfallen worden. Der Kampf musste erbittert gewesen sein, aber das wunderte Skar nicht: Ein Zusammenprall zwischen den bestausgebildetsten Kriegern Enwors und den gefürchteten Reptilienmännern konnte nur erbittert sein.

Der Gedanke stimmte ihn traurig. Die neuen Herrscher der Quorrl hatten ihr Wort gehalten und diese Tempelfestung ausgelöscht. Möglicherweise hatten sie die Gefahr für eine ganze Welt, die von ihr ausgegangen war, damit gebannt, aber ihr allergrößtes und ehrgeizigstes Ziel, nämlich den Frieden, schienen sie verfehlt zu haben. Satai kämpften weiter gegen Quorrl. Die Menschen führten weiter Krieg gegen die Wesen, die ihre Vorfahren eigentlich erschaffen hatten, um den Krieg ein für alle Mal abzuschaffen.

Dann fiel Skar der Fehler in diesem Gedankengang auf. Er ging von Voraussetzungen aus, die er gar nicht kannte. Er wusste weder, worum es bei diesem Kampf gegangen war, noch, wer hier eigentlich gegen wen gekämpft hatte. Es war genauso gut möglich, dass Satai und Quorrl Schulter an Schulter gegen einen dritten Feind gekämpft hatten - auch wenn sich Skar beim besten Willen keinen Gegner vorzustellen vermochte, der verrückt genug wäre sich mit Satai und Quorrl zugleich anzulegen.

Aber er wusste nichts über diese Welt. Er wusste nicht einmal etwas über die Zeit, in der er sich befand. Es konnte Tage her sein, seit Kiina und Titch ihn im Sturz von Ninga beerdigt hatten, ebenso gut aber auch Wochen oder Monate. Vielleicht Jahre. Vielleicht war seine Tochter jetzt eine erwachsene Frau und vielleicht sogar - Daran wollte er nicht denken.

Er beendete seine Musterung der Umgebung und betrat die halb zusammengestürzte Brücke, die zum eigentlichen Ufer hinführte. Seine Schritte wurden langsamer und nach einem Moment blieb er stehen. Die Brücke war nicht vollends eingestürzt, und den reißenden Strom auf dem schmalen verbliebenen Band zu überqueren stellte im Grunde keine besondere Gefahr dar, zumal für einen einigermaßen geschickten Mann, wie er es war. Aber er hatte mit Wasser bisher eigentlich nur schlechte Erfahrungen gemacht, und viel schwerer wog: Wenn an diesem Ort ein Kampf stattgefunden hatte und wenn es noch jemanden gab, der ihn beobachtete und ihm vielleicht auflauern wollte, konnte er sich keinen besseren Ort dafür aussuchen. Auf dem letzten Stück zum Ufer hin bestand die Brücke im Grunde nur noch aus einem ausgeglühten Stahlskelett, das auf eine kaum in Worte zu fassende Weise verzerrt und in sich verdreht war. Er würde sein ganzes Geschick brauchen, um dort hinüberzugelangen, und infolgedessen so gut wie hilflos sein. Aber es gab keinen anderen Weg.

Skars Befürchtungen erwiesen sich als übertrieben. Er erreichte unbehelligt das Ufer und fand weitere Spuren eines Kampfes, aber keine Überlebenden; und schon gar keinen Hinterhalt. Dafür umso mehr Spuren, die nun allmählich eine Geschichte zu erzählen begannen. Er war jetzt sicher, dass es die Quorrl gewesen waren, die auf der Insel Zuflucht gesucht hatten, wo sie von ihren Gegnern überrascht worden waren. Satai, die gegen Quorrl kämpften. Immer noch. Nichts hatte sich geändert.

Er entfernte sich weit genug vom Ufer, um aus dem eisigen Sprühregen heraus zu sein, zu dem das reißende Wasser an den Felsen zerspellte, und zog fröstelnd den Mantel enger um die Schultern zusammen. Seine Kleider waren durchnässt. Er fror, wenn auch nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Trotzdem musste er in Bewegung bleiben. Die Situation war schon fast grotesk: Noch vor wenigen Stunden hatte er Angst gehabt zu verbrennen. Jetzt musste er eine Feuerstelle finden, um seine nassen Kleider zu trocknen, wollte er nicht in Gefahr laufen zu erfrieren.

Es gab nur zwei Richtungen, in die er sich wenden konnte: weiter nach Norden und dem Fluss folgend oder in östlicher Richtung an der Klippe entlang. Im Norden lagen die endlosen Wälder, die Heimat der Quorrl, im Osten das Meer, die Toten Länder und schließlich Combat. Keine der beiden Richtungen erschien ihm wirklich verlockend; nicht nach dem, was er gerade gefunden hatte.

Skar gestand sich ein, dass er im Moment vollkommen hilflos war. Ein Gefühl, das er hasste. Er war in seinem Leben stets bestrebt gewesen die Initiative zu behalten, gleich, was geschah. Er tat Dinge, statt sie mit sich tun zu lassen.

Er ging wieder ein kleines Stück den Weg zurück, den er gekommen war, und folgte dann - in respektvollem Abstand - dem Ufer, bis er unmittelbar am Ende der Klippe stand. Der Wind schlug ihm eisig ins Gesicht, zerrte an seinen Kleidern und ließ ihn noch mehr frieren, aber er wurde auch mit einer Aussicht belohnt, die der Mühe wert gewesen war: Neben ihm, scheinbar zum Greifen nahe, ergoss sich eine tosende Wasserflut in die Tiefe, um am Fuße der Klippe einen gewaltigen, unregelmäßig oval geformten See zu bilden. Der Fluss, der daraus entsprang, verlief so schnurgerade nach Süden, als wäre er mit einem gewaltigen Lineal gezogen. Die Berge, die er von unten aus gesehen hatte, waren auch jetzt nur verschwommene Schatten, aber irgendwo auf der Ebene dazwischen ... bewegte sich etwas. Etwas Großes.

Skar versuchte sich auf die Bewegung zu konzentrieren, um mehr Einzelheiten zu erkennen, erreichte damit aber nur, dass seine Augen zu schmerzen begannen. Er konnte nicht mehr als reine, nebelhafte Bewegung erkennen, als wäre ein Teil der Ebene selbst zum Leben erwacht. Das Land hatte sich erhoben, um auf die Klippe zuzukriechen. Skar lächelte dünn über seine eigenen Gedanken. Natürlich war es Unsinn. Was immer dort unten war, es war gigantisch, aber es würde auch eine ganz natürliche Erklärung dafür geben. Vielleicht war es wirklich Nebel. Vielleicht ein Spiel von Licht und Schatten, das seine Sinne narrte. Es spielte keine Rolle. Es war weit weg und es war ganz gewiss nicht der Grund, aus dem er hier war.

Er trat wieder einen Schritt von der Klippe zurück, drehte sich herum - und alle seine Sinne signalisierten Gefahr. Er duckte sich, war mit einer einzigen, fließenden Bewegung im Schutz eines niedrigen Felsens und spähte mit klopfendem Herzen über den Rand seiner natürlichen Deckung hinweg.

Im ersten Moment sah er nichts Außergewöhnliches und das Dröhnen des Wasserfalls machte es auch unmöglich, irgend etwas zu hören. Aber er hatte etwas registriert; ein Detail, das er noch nicht zu erkennen vermochte, das aber den Gesamteindruck veränderte, sodass - Das Unterholz hundert Schritte entfernt brach auseinander und zuerst zwei, dann zwei weitere und schließlich ein einzelner und fünfter Quorrl stürmten heraus. Zwei von ihnen waren bewaffnet, ein dritter so schwer verletzt, dass er sich auf die Schultern eines seiner Kameraden stützen musste, um überhaupt zu gehen. Trotzdem bewegten sie sich sehr schnell und warfen immer wieder rasche, gehetzte Blicke über die Schultern zurück. Sie waren auf der Flucht. Skar duckte sich noch tiefer in seine Deckung und senkte die Hand auf den Schwertgriff, ohne die Waffe allerdings zu ziehen. In einem Kampf gegen gleich fünf Quorrl hätte er keine Chance. Niemand hatte das. Aber diese Quorrl waren auch nicht gekommen, um ihn anzugreifen. Vermutlich wussten sie nicht einmal, dass er hier war.

Skar sah die Verfolger, als die Quorrl ungefähr die halbe Distanz zwischen dem Waldrand und seinem Versteck überwunden hatten. Es waren Reiter, ein gutes Dutzend ausgesucht großer, barbarisch gekleideter Gestalten, die auf roh gepanzerten Pferden herangesprengt kamen und mit Speeren, Schwertern und vor allem Armbrüsten und Bögen bewaffnet waren, mit denen sie aus vollem Galopp auf die flüchtenden Schuppenkrieger schossen. Nicht ein einziger Pfeil oder Armbrustbolzen traf sein Ziel, aber der mörderische Geschosshagel trieb die Quorrl zu noch größerer Hast an. Skar verlängerte den Kurs in Gedanken, den die flüchtenden Quorrl nahmen. Das Ergebnis gefiel ihm nicht. Die Schuppenkrieger stürmten nicht direkt auf ihn zu, aber sie würden seiner Deckung doch gefährlich nahe kommen, und dasselbe galt für ihre Verfolger. Skars Hand schloss sich fester um den ziselierten Griff des Tschekal, aber er zog die Waffe immer noch nicht. Die Quorrl versuchten schneller zu laufen, aber nun, als die Verfolger aus dem Wald heraus waren, machte sich die überlegene Schnelligkeit ihrer Pferde deutlich bemerkbar. Der Pfeilhagel verfehlte sein Ziel noch immer, aber Skar war mittlerweile nicht einmal mehr sicher, ob die Männer die Quorrl überhaupt treffen wollten. Sie jagten die Schuppenkrieger auf die Klippe zu - und damit auch auf ihn.

Selbst Skar fiel es schwer, das Geschlecht eines bekleideten Quorrl zu erkennen, aber er war mittlerweile fast sicher, dass nur die beiden bewaffneten Quorrl männlich und damit Krieger waren. Das machte die anderen kaum weniger gefährlich - selbst ein trächtiges Quorrl-Weibchen vermochte einen gut ausgebildeten Satai in Stücke zu reißen, ohne sich dabei sonderlich anzustrengen -, aber es verriet ihm eine Menge über das, was hier geschehen sein musste. Quorrl nahmen ihre Familien niemals mit auf ihre Raubzüge. Sie mussten sich in der Nähe einer Siedlung der Schuppenkrieger befinden. Er hatte jetzt eine ungefähre Ahnung, wer hier Angreifer und wer der Angegriffene war. Die Reiter hatten die Quorrl mittlerweile eingekreist. Keiner von ihnen beging den Fehler, den gezackten Schwertern der beiden riesigen Krieger zu nahe zu kommen; sie umkreisten das knappe halbe Dutzend geschuppter Giganten in respektvollem Abstand und stocherten dann und wann mit ihren Speeren nach ihnen, griffen aber nicht wirklich an, und auch die Quorrl auf der anderen Seite begnügten sich damit, ihre Schwerter drohend durch die Luft pfeifen zu lassen. Der Anblick war ... irritierend. Skar hatte oft genug selbst gegen Quorrl gekämpft, um zu wissen, dass das Kräfteverhältnis mehr als ausgeglichen war. Fünf Quorrl gegen ein Dutzend Menschen wäre nicht einmal dann fair gewesen, wenn es sich bei den Reitern um Satai gehandelt hätte. Die Angreifer waren jedoch keine Satai, sondern wahrscheinlich Bauern, die mit einem Sammelsurium vermutlich zusammengestohlener oder gefundener Waffen ausgerüstet waren. Schon die Art, mit der sie ihre Speere und Schwerter hielten, machte Skar klar, dass sie nicht besonders gut damit umzugehen wussten. Sie taten gut daran, sich nicht auf ihre zahlenmäßige Überlegenheit zu verlassen und einen Frontalangriff zu wagen. Vermutlich warteten sie auf Verstärkung.

Skar bewegte sich geduckt zwischen den Felsen weiter. Er hatte nicht vor sich in diesen ungleichen Kampf einzumischen. Er wusste zu wenig über seine Hintergründe, um sich ein Urteil erlauben zu können, und er hatte auch nicht die Zeit sich in einen Krieg einzumischen, der nicht der seine war.

Hinter ihm erklang ein gellender Schrei. Skar fuhr herum und sah genau das, was er erwartet hatte: Ein weiteres Dutzend Reiter war aus dem Unterholz hervorgebrochen und sprengte auf die Quorrl zu. Einer von ihnen trug den schwarzen Mantel eines Satai, dazu aber - völlig untypisch - einen Helm mit einem goldenen Gesichtsschutz in der Form eines Wolfsschädels.

Skar zögerte. Ihm war noch immer nicht wohl dabei, sich in diesen Kampf einzumischen, aber der Mann dort drüben war ein Satai, ein Krieger wie er. Wenn ihm jemand erklären konnte, was hier vorging, dann er. Ohne selbst genau zu wissen, warum, blieb er jedoch im Schutz der Felsen, während er sich an den Kampfplatz anschlich.

Mit der Ankunft des zweiten Dutzends Reiter änderten die Angreifer ihre Taktik: Sie zogen sich ein kleines Stück von den Quorrl zurück, wechselten Speere und Schwerter gegen ihre Bögen und eröffneten dann ohne Vorwarnung und gezielt das Feuer. Einer der beiden Quorrl-Kämpfer taumelte zurück, von gleich drei Pfeilen getroffen, verletzt, aber keineswegs kampfunfähig oder auch nur ungefährlich, während der andere seinerseits zum Angriff überging. Mit einer Schnelligkeit, die die Angreifer einem Wesen seiner Größe augenscheinlich nicht zugetraut hätten, sprang er vor, stieß einen der Männer samt seinem Pferd zu Boden und schleuderte einen zweiten aus dem Sattel. Sein Ziel war der Satai mit dem goldenen Visier. Skar fragte sich, wie sich der Satai verteidigen würde. Er an seiner Stelle hätte sich beeilt, aus dem Sattel zu kommen. Die einzige Chance, dem Angriff eines Quorrl zu entgegnen, war Schnelligkeit.

Der Satai tat jedoch nichts dergleichen. Er zog nicht einmal sein Schwert, sondern ließ sein Pferd nur ein kleines Stück zur Seite tänzeln und gab seinen Begleitern einen Wink, und die Reiter warfen sich dem Quorrl entgegen. Der Kampf war hart, aber nur sehr kurz: Der tobende Gigant schmetterte zwei, drei Reiter aus den Sätteln und tötete ein Pferd durch einen Hieb mit der bloßen Faust, aber am Ende wurde er überwältigt und getötet.

Skar war verwirrt, gelinde ausgedrückt. Ein Verhalten wie das, das er gerade beobachtet hatte, war eines Satai nicht nur nicht würdig, es war im Grunde genommen undenkbar. Nicht in der Welt, die er kannte. Vielleicht hatte sich hier doch mehr verändert, als er auf den ersten Blick geglaubt hatte.

Auch der Kampf gegen die übrigen Quorrl war so gut wie vorüber. Die Reiter begingen nach wie vor nicht den Fehler, den Nahkampf mit den Giganten zu suchen, sondern hielten sie mit ihren Speeren auf Distanz, während ihre Kameraden aus sicherer Entfernung Pfeile und Armbrustbolzen auf sie herabregnen ließen. Der Anblick erfüllte Skar mit einem Zorn, der ihn im ersten Moment fast selbst erstaunte. Er war Krieger. Kampf und Tod gehörten so sehr zu seinem Leben wie der Wechsel zwischen Tag und Nacht. Aber das, was er hier beobachtete, war kein Kampf, sondern ein feiges Gemetzel. Es fiel ihm schwer, nicht aufzuspringen und dem unwürdigen Schauspiel ein Ende zu bereiten.

Es war jedoch ohnehin fast zu spät. Nur zwei Quorrl waren noch am Leben - ein Weibchen und der geschuppte Riese, der schon verletzt aus dem Wald gekommen war. Der Kreis aus Lanzenspitzen und Speeren hatte sich eng um sie geschlossen und auch der weibliche Quorrl blutete bereits aus zahlreichen, tiefen Wunden. Trotzdem hätten die Männer die beiden Quorrl längst niederschlagen können, wenn sie gewollt hätten. Sie spielten mit ihnen; ein grausames, durch und durch unwürdiges Spiel, das Skar die Zornesröte ins Gesicht trieb.

Er würde ihm ein Ende bereiten.

Als er sich hinter seiner Deckung aufrichtete, durchbohrte einer der Reiter den Hals des Quorrl-Weibchens mit seinem Speer. Der geschuppte Koloss brach zusammen, schlug die Hände gegen den Hals und begann schaumiges, hellrotes Blut hervorzuwürgen, und der zweite Quorrl warf sich mit einem schrillen Kreischen auf ihn. Seine Pranken fuhren mit sinnlosen, hektischen Bewegungen über Hals und Gesicht des Quorrl, als versuchte er die schreckliche Wunde irgendwie zu verschließen, aus der das Leben seiner Gefährtin heraussprudelte.

Der Anblick erfüllte Skar mit einer schwer in Worte zu fassenden Mischung aus Verwirrung und Mitleid. Er kannte Quorrl und wusste, dass sie mehr als die stumpfsinnigen, aggressiven Tiermenschen waren, die die meisten in ihnen sahen - aber er hatte sie niemals so erlebt.

Und es machte ihn wütend. Die Männer mochten ihre Gründe haben die Quorrl zu töten, aber niemand hatte das Recht ein anderes Lebewesen so zu quälen. Er trat mit einem entschlossenen Schritt hinter dem Felsen hervor und rechnete fest damit, spätestens jetzt die Aufmerksamkeit der Reiter zu erregen, aber keiner von ihnen nahm auch nur Notiz von ihm. Die Männer sprangen einer nach dem anderen aus den Sätteln und begannen die beiden Quorrl einzukreisen. Nicht einmal der Satai mit der Wolfsmaske bemerkte etwas von Skars Erscheinen, was Skar mit einem leisen Gefühl der Verwirrung erfüllte. Er an seiner Stelle hätte es gemerkt. Er hätte es gespürt.

Noch immer, ohne bemerkt zu werden, näherte er sich dem Kreis aus mittlerweile fast zwei Dutzend Bewaffneten, der sich um die beiden Quorrl gebildet hatte. Er machte sich nicht die Mühe irgendetwas zu sagen - dazu war er zu zornig -, sondern stieß den ersten Mann, der vor ihm stand, einfach zur Seite - gröber, als er selbst gewollt hatte, denn der Bursche stolperte zwei Schritte rückwärts und stürzte dann ungeschickt zu Boden. Zwei weitere Männer fuhren wütend herum und einer hob sogar seine Waffe. Dann aber teilte sich der Kreis vor ihm und an die Stelle von Ärger und Zorn auf den Gesichtern der Männer traten Überraschung und Schrecken, als sie erkannten, wen sie vor sich hatten. Offensichtlich verbreitete die Kleidung eines Satai noch immer einen gewissen Respekt.

Skar verschwendete nicht einmal einen Gedanken daran, sondern näherte sich mit schnellen Schritten den beiden Quorrl. Auch der zweite Schuppenkrieger war mittlerweile zu Boden gestürzt und blutete aus neuen, tiefen Wunden, von denen allerdings keine tödlich war. Die Angreifer hatten ohnehin Wert darauf gelegt, das Wesen nur zu verwunden, um seine Qual möglichst lange hinauszuzögern.

Er wandte sich dem zweiten Quorrl zu und stellte mit einem Blick fest, dass dieser nicht mehr zu retten war. Aus dem Schnitt in seiner Kehle lief noch immer hellrotes Blut, an dem er qualvoll erstickte. Aber Skar wusste auch, wie unglaublich zäh diese Geschöpfe waren. Sein Todeskampf konnte noch Stunden dauern. Skar zog sein Schwert, beugte sich vor und stieß dem sterbenden Quorrl die Klinge tief ins Herz. Es war ein Akt der Barmherzigkeit, das Einzige und Letzte, was er noch für dieses Geschöpf tun konnte. Trotzdem kam er sich vor wie ein Mörder.

Er trat zurück, schob das Tschekal mit einer ruhigen Bewegung wieder in die Hülle an seinem Gürtel und drehte sich ohne Hast herum. Der Ausdruck auf den Gesichtern der Männer war überall der gleiche: Verwirrung, Schrecken, hier und da vielleicht sogar eine Spur von Furcht. Vielleicht war etwas auf seinem Gesicht, was ihnen Angst machte. Skar war sich darüber im Klaren, welches gewaltige Risiko er einging. Aus der Nähe betrachtet, erwies sich seine erste Einschätzung als richtig: Sie waren nicht mehr als Bauern, schlecht bewaffnet und vermutlich noch schlechter ausgebildet, wenn überhaupt, aber sie waren immerhin mehr als zwanzig. Selbst für ihn eindeutig zu viele. Wenn diese Männer ihn angriffen, hatte er kaum eine Chance. Er konnte nur darauf bauen, dass ihnen klar sein musste, dass er im Falle eines Kampfes noch etliche von ihnen töten würde, bevor es ihnen gelang, ihn zu überwältigen, und dass keiner von ihnen Lust hatte zu diesen Etlichen zu gehören.

»Was ... warum habt Ihr das getan, Herr?«, fragte einer der Männer. Skar identifizierte ihn ohne Mühe als Anführer der Reiter: Er war groß, ausgesprochen muskulös und hatte ein brutales Gesicht, das allerdings von einem Paar erstaunlich intelligenter Augen beherrscht wurde. Die Art, auf die er das Wort Herr betont hatte, machte die Wahl des Begriffs zu purem Hohn.

Skar ignorierte sowohl die Frage als auch den Mann und wandte sich stattdessen direkt an den Satai mit der Wolfsmaske. Er war als Einziger nicht aus dem Sattel gestiegen, sondern beobachtete die Szene aus einiger Entfernung. Skar versuchte die Augen hinter den schmalen Schlitzen der goldenen Maske zu erkennen, aber sonderbarerweise gelang es ihm nicht. Hinter dem schimmernden Visier schien nichts als Dunkelheit zu herrschen.

»Was geht hier vor?«, fragte er. »Was haben euch diese Quorrl getan?«

Der Satai legte den Kopf auf die Seite und sah ihn weiter aus seinen unheimlichen, scheinbar pupillenlosen Augen an, und an seiner Stelle antwortete auch wieder der Reiter, der zuerst gesprochen hatte.

»Es sind nur Quorrl, Herr.«

»Und ihr wollt sie töten«, vermutete Skar. »Dann tötet sie. Aber quält sie nicht.«

Er konnte sehen, dass die Männer nicht einmal verstanden, wovon er überhaupt sprach. Und irgendetwas an der Haltung des Satai... änderte sich. Skar konnte nicht sagen, was, aber er spürte, wie sehr seine Worte den Reiter mit dem goldenen Visier überrascht hatten. Vielleicht hatte er einen Fehler gemacht. Skar mahnte sich in Gedanken selbst zur Vorsicht.

»Ich ... verstehe nicht.« Der Mann zwang sich zu einem unsicheren, nervösen Lächeln, senkte hastig sein Schwert und deutete dann mit der freien Hand auf den zweiten Quorrl. »Wenn ... wenn Ihr ihn töten wollt, Herr ...«

»Nein, das will ich nicht«, antwortete Skar. Ein weiterer Fehler. Er spürte es, noch bevor er die Worte ganz ausgesprochen hatte. Aber es war zu spät, um noch einen Rückzieher zu machen, und so fuhr er fort: »Ich komme von weit her. In meiner Heimat tötet man keine Quorrl, nur weil sie Quorrl sind.«

»Von weit her?« Die Stimme des Satai drang nur verzerrt hinter seinem Visier hervor, aber Skar entging der lauernde Ton darin trotzdem nicht. »Wie weit genau ist weit her? Wie ist dein Name?«

»Skar«, antwortete Skar. »Ich komme aus dem Süden. Ich war...«

Einer der Männer neben ihm stieß einen überraschten Laut aus. Skar bemerkte eine Bewegung aus den Augenwinkeln und fuhr herum, aber seine Reaktion kam zu spät. Sie alle waren für einen Moment abgelenkt und der Quorrl nutzte die verzweifelte Chance, die sich ihm bot. Mit einer Schnelligkeit, die selbst Skar überraschte, sprang er in die Höhe, stieß zwei, drei Männer gleichzeitig zur Seite und riss einen vierten als lebenden Schutzschild an sich. Mit einem gewaltigen Brüllen durchbrach er den Kreis der Belagerer, schleuderte seine zappelnde Last von sich und raste im Zickzack davon.

Mindestens ein halbes Dutzend Männer hoben ihre Bögen und Armbrüste und legten auf den flüchtenden Quorrl an, aber Skar kam ihnen zuvor: Er schlug einem der Männer die Waffe aus der Hand, stieß einen zweiten zu Boden und rannte hinter dem fliehenden Quorrl her.

Der Fluchtversuch des Schuppenkriegers war ebenso verzweifelt wie aussichtslos. Er bewegte sich schnell, für einen Quorrl, aber er war verletzt, und selbst wenn er es nicht gewesen wäre, hätte er keine Chance gehabt - es gab einfach nichts, wohin er fliehen konnte. Skar holte ihn ohne große Mühe ein, zog im Laufen das Tschekal aus dem Gürtel und schlug nach seinen Kniekehlen. Im letzten Moment drehte er die Klinge, sodass sie den Quorrl mit der stumpfen Seite traf. Der Hieb brachte den Quorrl aus dem Gleichgewicht und ließ ihn nach einem letzten, ungeschickten Stolperschritt zu Boden fallen, durchdrang die zähen Hornschuppen allerdings nicht. Der Quorrl fiel, rollte wimmernd auf die Seite und riss die Arme vor das Gesicht, und Skar war mit einem Satz über ihm, schleuderte seine Hände mit einem Fußtritt zur Seite und senkte die Schwertspitze auf sein Herz.

»Das wird jetzt wehtun«, zischte er. »Aber wenn du leben willst, dann spiel jetzt den Toten.«

Er stieß zu. Die Schwertklinge glitt fast ohne spürbaren Widerstand durch die schuppige Haut des Quorrl, durchdrang seinen Körper einen oder zwei Fingerbreit unterhalb des Herzens und trat zwischen seinen Schulterblättern wieder hervor. Das Wesen brüllte vor Schmerz, bäumte sich auf und griff im verzweifelten Todeskampf nach Skars Schultern. Seine Krallen hinterließen tiefe, blutige Schrammen auf Skars Armen. Selbst jetzt noch hätte er ihm ohne Mühe jeden Knochen im Leib brechen können. Das Geschöpf war doppelt so schwer wie ein Mensch und mindestens fünfmal so stark. Skar ging ein entsetzliches Risiko ein, dem Quorrl eine Chance zu lassen, und er wusste nicht einmal, warum. Aber seine Rechnung ging auf. Statt ihn zu zermalmen, lockerte der Quorrl seinen Griff wieder. Seinen Hände fielen kraftlos herab und die schrecklichen Krallen, härter als Stahl, gruben sich knirschend in den Boden. Ein fassungsloser, durch und durch ungläubiger Ausdruck erschien in seinen gelben Reptilienaugen.

»Skar«, keuchte er kaum hörbar. »Du bist... Skar. Du bist zurück! Ich ... wusste es!«

»Spiel mit, verdammt noch mal!«, zischte Skar. »Oder ich muss dich wirklich töten!«

Er war nicht einmal sicher, ob der Quorrl seine Worte überhaupt verstand. Sein Blick begann sich zu verschleiern. Seine Augen wurden dunkel vor Schmerz, aber unter der körperlichen Qual und dem Entsetzen war noch mehr, etwas Neues und Erschreckendes, das irgendetwas tief in Skar berührte und erschauern ließ. Er begriff weniger denn je, was hier vorging, aber ihm war plötzlich klar, dass diese Welt anders war als die, an die er sich zu erinnern glaubte, so vollkommen und radikal anders, wie es nur ging.

Hinter ihm wurden Schritte laut, das Geräusch von Metall und grobem Leder, die aneinander schlugen. Ihm blieb keine Zeit weiter mit dem sterbenden Quorrl zu reden. Skar zog das Schwert mit einem schnellen Ruck aus der Brust des Quorrl und drehte die Klinge im allerletzten Moment um eine Winzigkeit, sodass die Wunde heftiger zu bluten begann. Einen Menschen hätte er damit auf der Stelle getötet, aber er kannte die Anatomie der Quorrl gut genug, um zu wissen, dass das Geschöpf selbst diese Verletzung überleben konnte - mit ein wenig Glück. Der Quorrl spielte auf jeden Fall mit: Er bäumte sich auf, stieß ein letztes, qualvolles Röcheln aus und sank dann zurück.

Skar drehte sich schnell herum und trat den Männern entgegen, die ihm gefolgt waren; vier oder fünf, unter ihnen auch der Mann, den er als Anführer der Männer identifiziert hatte. Die anderen waren dort zurückgeblieben, wo sie die Quorrl niedergemacht hatten. Skar konnte nicht genau erkennen, was sie taten, aber er sah immerhin, dass einer von ihnen mit dem Satai sprach, wobei er heftig gestikulierte und in seine Richtung deutete. Etwas an der Art seiner Bewegungen gefiel ihm nicht. Schließlich machte der Satai eine entschiedene Geste und schüttelte den Kopf. Das Gespräch war beendet. Skar hatte die Worte nicht verstehen müssen, um zu wissen, dass es dabei um ihn gegangen war. Einer der Männer, die ihm gefolgt waren, wollte an ihm vorbeitreten und sich dem verwundeten Quorrl nähern, aber Skar hielt ihn mit einer befehlenden Geste zurück. »Was hast du vor?«, fragte er. »Willst du dich überzeugen, dass er auch wirklich tot ist?«

»Nein, Herr«, antwortete der Mann verwirrt. »Ich will nur...«

»Oder möchtest du ihn ein bisschen verstümmeln und seinen Leichnam schänden?« Skar legte bewusst einen sachten, aber unüberhörbaren Ton von Verachtung in seine Stimme. Er musterte den Mann kalt, schob das Schwert mit einem Ruck in den Gürtel zurück und flehte insgeheim, dass man ihm seine Nervosität nicht zu deutlich anmerkte. Er spielte mit dem Feuer, und das Schlimmste war, er spielte ein Spiel, dessen Regeln er nicht einmal kannte. Er hatte bereits mindestens einen schweren Fehler gemacht und vielleicht war das schon einer zu viel.

Ohne die Männer auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen, ging er zum Rand der Gruppe zurück. Er konnte zwar hören, dass ihm einige von ihnen folgten, aber nicht, wie viele. Falls seine Rechnung nicht aufging und sie sich davon überzeugten, dass der Quorrl tot war, hatte er ein Problem. Schlimmstenfalls würde er sich darauf hinausreden müssen, einen Fehler begangen zu haben. Schließlich hatte er das Herz des Quorrl nur um einen knappen Zoll verfehlt. Er widerstand dem Impuls, einen Blick über die Schulter zurückzuwerfen, nur mit Mühe.

Der Satai mit der Wolfsmaske blickte ihm ruhig entgegen. Skar war ihm jetzt näher als gerade, aber es gelang ihm immer noch nicht, die Augen hinter den schmalen Sehschlitzen zu fixieren. Irgendetwas an ihnen war unheimlich.

»Das war beeindruckend«, begann er mit einer Geste auf den scheinbar toten Quorrl. »Du bist schnell. Aber auch ziemlich leichtsinnig. Du hättest dir leicht einen Pfeil einfangen können.«

»Ihr würdet einem Satai nicht in den Rücken schießen, oder?« Was stimmte nicht mit diesem Satai? Es waren nicht nur seine sonderbaren Augen. Etwas an seiner ganzen Erscheinung war... falsch.

»Das kommt ganz auf den Satai an.« Der Wolfsgesichtige legte den Kopf auf die Seite. »Wie, sagtest du gleich, war dein Name? Skar?«

»So ähnlich«, antwortete Skar bedächtig. »Nur etwas kürzer: Ska.«

»Mein Name ist Marna«, sagte der Wolfsgesichtige. Einen Moment lang herrschte Stille, dann drang ein kehliges, metallen verzerrtes Lachen hinter dem Visier hervor. »Skarissa Marna, um genau zu sein. Ich nehme an, das sagt dir nichts ...«

»Sollte es?« Skar versuchte erneut die unwirkliche Dunkelheit hinter dem Wolfsvisier zu durchdringen, aber die gespannte Erwartungshaltung der anderen sagte ihm, dass ihn Name oder Titel beeindrucken sollten.

»Nicht unbedingt. Aber du scheinst wirklich von sehr weit her zu kommen. Hat man dort, wo du lebst, so großes Mitleid mit Quorrl, dass man sein eigenes Leben riskiert, um ihnen einen gnädigen Tod zu gewähren?«

»Man hat Respekt vor dem Leben«, antwortete Skar. Er ignorierte die Frage, die sich in Marnas Worten verbarg. Er würde bestimmt kein Wort darüber verlieren, woher er kam. Er hatte schon viel zu viele Fehler gemacht. »Ich töte einen Feind, wenn ich muss. Aber ich quäle ihn nicht.«

»Und das sagt ein Satai? Ein Mann, der das Töten gelernt hat wie kein anderer?« Marna schüttelte den Kopf, aber Skar schwieg. Er würde sich dieses Gespräch nicht aufzwingen lassen. Nicht bevor er wusste, was mit diesem sonderbaren Satai nicht stimmte.

Statt zu antworten, fragte er: »Was ist hier passiert?«

»Ich hatte gehofft, dass du uns diese Frage beantworten könntest, Ska«, sagte Marna. Die Art, auf die er seinen angeblichen Namen betonte, war der reine Hohn. Skar ignorierte es.

»Ich muss Euch enttäuschen«, sagte Skar. »Ich kam zufällig vorbei. Als ich die Quorrl aus dem Wald brechen sah, habe ich mich versteckt. Dann kamt Ihr und Eure Leute ... den Rest der Geschichte kennt Ihr.«

»Meine Leute?« Marna schüttelte den Kopf. »Roun und seine Miliz gehören nicht zu mir. Ich bin genau wie du zufällig vorbeigekommen. So sind wir Satai nun einmal. Aber das weißt du ja sicherlich. Suchst du Arbeit, Ska?«

»Wenn sie gut bezahlt wird.«

»Wenn du Geld brauchst, dann gehst du am besten mit Roun und seinen Männern. Ich bin sicher, dass sie gut für ein Schwert bezahlen, das sie und ihre Familien vor den Quorrl beschützt. Falls du dem Ruf folgen willst, dann komm zu uns.«

Marnas Stimme klang ruhig, fast beiläufig, aber vielleicht war es gerade das, was Skar alarmierte. Er spürte, dass von seiner Antwort viel abhing. Wenn nicht alles.

»Und wo finde ich Euch?«, fragte er.

»Roun wird dir den Weg zeigen«, antwortete Marna. »Er wird dir auch ein Pferd und warme Kleidung geben - nicht wahr, Roun?«

»Natürlich«, sagte Roun - ganz wie Skar vermutet hatte, der Mann, der am Anfang das Wort ergriffen hatte. »Wir werden ihm das beste Pferd geben, das wir haben.«

»Wie schön«, antwortete Marna. Er klang gelangweilt. »Und jetzt sollten wir von hier verschwinden, bevor noch mehr von diesen Bestien auftauchen. Wenn ihr das Buch gefunden habt, dann gebt es Ska mit.«

Und damit riss er sein Pferd herum und sprengte ohne ein weiteres Wort davon.

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