2.1

Irgendwann mitten in dieser stürmischen und eiskalten Nacht erwachte Skar, atemlos und gehetzt und voller Unruhe. Er hatte geträumt, etwas Entsetzliches, unbeschreiblich Grauenhaftes, aber er erinnerte sich an kaum mehr als ein Gefühl unendlicher Panik, das sich wie ein schwerer Druck auf seine Brust gelegt hatte. Trotzdem glaubte er für einen Moment dünne Fäden zu sehen, die sich um seinen Körper wanden, mit ekelhaft viel Verästelungen und zielgerichteten Bewegungen, so als wollten sie ihn einweben wie in einem gigantischen Spinnennetz, in dessen Mitte ihm das Schicksal die Rolle als Beute zugedacht hatte und in ihm war eine Panik, als griffen eiskalte Finger nach ihm, die ihm die Luft zum Atmen aus dem Körper pressen wollten.

Der Sturm heulte noch immer mit ungebrochener Wut und trieb eisige Ausläufer in den Schutz der Höhle, in der sie kurz vor der Dämmerung Zuflucht gefunden hatten. Sie hatten großes Glück gehabt, dass sie den tobenden Naturgewalten noch in letzter Sekunde entkommen waren, und auch wenn die Höhle feucht, dunkel und muffig war und die strenge Ausdünstung von Tierkot ihn anfangs fast zum Würgen gebracht hatte, war sie ein ideales Versteck, ein Unterschlupf, um wenigstens in dieser einen Nacht zur Ruhe zu kommen. Doch statt sich auch nur halbwegs entspannen zu können, hatte er erst mit Esanna einen erbitterten und vollkommen sinnlosen Streit geführt und hatte dann lange nicht einschlafen können; dabei hätte schon alleine der eiskalte Wind gereicht, um ihm einen höchst unruhigen Schlaf zu bescheren.

Merkwürdigerweise fror er nicht, im Gegenteil; er schien von Innen heraus zu glühen, so als hätte er starkes Fieber. Zu allem Übel hatte er entsetzlichen Durst, aber ihm fehlte selbst die Kraft, sich mit der Zunge über die Lippen zu fahren, und er erwachte auch nicht wirklich. Es war, als gestatte ihm der Traum - der kein Traum als solcher war, sondern ein unbegreiflicher Ausläufer dessen, das ihn hierher gebracht hatte - nur einen kleinen Ausflug an den Rand der Wirklichkeit, um ihm zu zeigen, dass er nichts weiter als ein Spielball unbekannter Kräfte war.

Doch die Szene, in der er sich wieder fand, war nicht die Gegenwart, konnte nicht die Gegenwart sein. Etwas hatte sich verändert. Er fand sich wieder in einer Vergangenheit, doch diesmal waren es nicht die Schatten seines früheren Lebens, nicht die Erinnerung an Del und Kiina, die nach ihm griffen, sondern etwas ganz Nahes, zu traumhaft, um vollkommen überzeugend die gestrigen Ereignisse im Detail wiederzugeben und doch so nah an der Realität, dass es fast körperlich greifbar war. Er sah sich vor Gor stehen, vor dem gewaltigen Quorrl, der ihn aus irgendeinem unbegreiflichen Grund schon bei ihrer ersten Begegnung wieder erkannt zu haben glaubte, und um das Leben Esannas schachern. Doch ganz anders als in der gestrigen Wirklichkeit standen hinter dem Quorrl nicht nur wenige Schuppenkrieger, sondern eine riesige Armee, die wie ein endloser Ozean hinaus in ein gewaltiges Tal brandeten, sich auf den Hängen aneinander drängten, kaum genug Platz habend für ihre gezogenen Zackenschwerter und das andere Kriegsgerät, das sie für ihren Vernichtungsfeldzug gegen die Digger mitschleppten. Er sah sich Esannas Hand ergreifen, als wäre sie sein eigen Fleisch und Blut, als wäre sie seine wieder auferstandene Tochter Kiina, deren Gebeine in der Wirklichkeit schon längst vermodert sein mussten, oder mehr noch, die Tochter, die er sein ganzes Leben lang in seinem Herzen getragen hatte, ohne ihr Abbild jemals auch nur im Entferntesten in der Wirklichkeit zu finden.

Die Szene verblasste, wurde zuerst seltsam farblos und doch gleichzeitig so intensiv, dass ihn das Geschehen fast schmerzte. Er sah sich selbst und Esanna einen hellen, lichtüberfluteten Korridor aus Bruchstücken der realen Welt entlangschweben, sah sich durch Städte, Häuser und Arenen gleiten, die wie alles Übrige auf dieser Welt fest verwoben waren mit einem ganz und gar unbegreiflichen Ganzen, vorbei an grotesk veränderten, farbig schillernden Menschengesichtern, die auf eine ganz neue, unfassbare Weise mit ihrer Umgebung verschmolzen, dann hinaustrieben, vorbei an Wäldern, Seen, Gebirgen, die gleich kostbaren Edelsteinen eingefügt zu sein schienen in das mysteriöse Gebilde, in den Kosmos und in das Gefüge der ganzen Welt. Er sah sie einschweben in ein Tal, das vollkommen durchzogen war von dem unbegreiflichen Etwas, das ausgefüllt war von ihm wie vielleicht sonst nichts auf Enwor und doch mehr war als ein Knotenpunkt oder eine zufällige Ansammlung, sondern das, was die Digger wohl als ihr Ziel betrachtet hätten, als Zentrum ihrer Suche, als das, was sie ihr Leben lang angelockt hatte und nun doch verderben würde.

Und dann, plötzlich und von einem Moment auf den anderen, veränderte sich alles und die Gesetze der Zeit selbst schienen aufgehoben. Es war wie der Durchbruch zu einer anderen Welt, wie ein Verschlingen der Wirklichkeit. Er war da, mitten in der Nacht, gefangen in einem grauenvollen Traum, und dann, von einem Zeitabschnitt auf den anderen, wich die erstickende Schwärze einem schattenerfüllten Halbdunkel, in dem er im ersten Moment nicht richtig sehen konnte, nichts wirklich erkannte, bis sich schließlich seine Umgebung schemenhaft aus dem Nichts herausschälte, Konturen bildend -, die er erst halbwegs erriet und dann mit so glasklarer Deutlichkeit wahrnahm, dass es fast schmerzte...

Übergangslos saß er auf kaltem, hartem Felsboden, im flackernden Licht eines mit wenigen trockenen Holzscheiten entfachten Feuers, das ihn gleichzeitig wärmte und auf eine merkwürdige, peinigende Art auszutrocknen schien. Es war schon spät und der Sturm, der vor der Höhle tobte, hatte ihren Aufstieg zur Qual werden lassen und er wusste plötzlich, dass es wieder die Vergangenheit war, die ihn in einer unglaublich lebendigen Vision eingeholt hatte... ... dass ihn gleichzeitig ein tranceähnlicher Schlaf gefangen hielt und er doch hier war, an diesem gestrigen, längst vergangenen Abend, der wie aus den Tiefen der Zeit für einen endlosen Augenblick zurückgekehrt war...

»Es wäre besser, du würdest etwas schlafen«, sagte er gerade zu Esanna, in diesem Gestern, das plötzlich zur Gegenwart geworden war.

Das Mädchen schüttelte beinahe erschrocken den Kopf. »Nein«, sagte es hastig. »Ich will nicht schlafen. Nicht jetzt. Nicht... nachdem das alles geschehen ist.«

Erst jetzt, als es ihm auf Armeslänge gegenübersaß, sah er, wie erschöpft und mitgenommen das Mädchen aussah. Aber das war kein Wunder; nicht, nachdem die Quorrl ihr Dorf überrannt hatten und sie vielleicht die letzte Überlebende ihrer Familie war ... und er wusste jetzt mit geradezu übernatürlicher Klarheit, dass er diesen, den gestrigen Abend nach dem erschwerten Aufstieg, nun tatsächlich noch einmal erlebte, ohne seinen Ablauf ändern zu können.

»Warum habt Ihr mich entführt, Satai?«, fragte sie mit erstickter Stimme. Ihre Worte überraschten ihn nicht sehr und er hatte auch nicht vor auf die Beschuldigung darin einzugehen. Er musste endlich herausbekommen, was hier eigentlich los war und wieso er in diese unsägliche Auseinandersetzung zwischen Quorrl und Digger mit hineingezogen worden war.

»Ich habe dich nicht entführt, sondern gerettet«, stellte er fest. »Und jetzt will ich endlich wissen, warum die Quorrl euch angegriffen haben.«

Einen endlosen Herzschlag lang trafen sich ihre Blicke und zum wiederholten Male wurde sich Skar bewusst, wie sehr ihn Esanna in ihrer herausfordernden, temperamentvollen Art an Kiina erinnerte, an diese Kindfrau, die sein eigen Fleisch und Blut war und ihm trotz der Abenteuer, die sie zusammen erlebt hatten, merkwürdig fremd geblieben war - wie konnte er dann erwarten, dass das Digger-Mädchen ihn verstand?

Skar konnte geradezu sehen, wie sich die Gedanken hinter der Stirn des Mädchen überschlugen. »Die Ungeheuer haben uns angegriffen, weil Ihr uns verraten habt.« Sie schüttelte den Kopf, als könne sie etwas nicht verstehen, und fuhr dann anklagend fort: »Mein Vater hat Euch Gastrecht gewährt. Und wie habt Ihr es ihm gedankt?«

»Wie hätte ich es ihm denn danken sollen?«, fragte Skar mit einer Schroffheit, die ihn selbst überraschte. »Indem ich mich von ihm und seinen Freunden hätte umbringen lassen?«

Esannas Augen wurden groß und dunkel vor Angst.

»Mein Vater hat Euch nur angegriffen, weil er begriffen hat, dass Ihr ein dreckiger Verräter seid.«

»Ich habe niemanden verraten.«

»Und wie kommt es dann, Satai, dass die Quorrl unser Dorf ausgerechnet in der Vorbereitung zur Erweckung angegriffen haben?« Esannas Stimme zitterte. »Ihr habt uns ausspioniert und ihnen verraten, dass wir die Erweckung vorbereiten. Das genau war ihre Chance. Der einzige Zeitpunkt, zu dem unsere Wachsamkeit nicht so groß war wie sonst.«

»So ein Schwachsinn«, knurrte Skar. »Es war der Schutz des Nebels, den die Quorrl genutzt haben. Obwohl ich nicht einmal glaube, dass sie irgendeinen Schutz gebraucht hätten.«

»Sie brauchten keinen Schutz, weil Ihr uns verraten habt.« In Esannas weit aufgerissenen Augen stand ein Ausdruck fassungslosen Entsetzens, so als würde sie dem Mörder ihrer Familie ins Gesicht blicken und könnte einfach nicht glauben, dass ihn noch nicht einmal das geringste Schuldgefühl plagte. »Aber das ist Euch gleichgültig, nicht wahr? Es interessiert Euch nicht im Geringsten, wie viel Leid Ihr über mich und all die anderen gebracht habt!«

»Es tut mir Leid, was passiert ist«, sagte Skar. »Aber ich habe nichts mit dem Hass zwischen euch und den Quorrl zu tun. Und verraten habe ich schon gar nichts.«

Esannas Hände begannen für einen Moment zu zittern. »Ihr seid ein Verräter«, sagte sie erschüttert. »Möge Euch der Tod noch heute Nacht im Schlaf ereilen.«

»Danke für die frommen Wünsche«, sagte er schroff und dachte daran, dass ihn der Tod schon längst geholt hatte - was aber nicht hieß, dass er es nicht noch einmal tat. »Menschen und Quorrl dreschen aufeinander ein, wo auch immer sie können - aber das heute ... das war anders. Ich will wissen, warum.«

»Natürlich war es anders«, sagte Esanna wütend.

»Schließlich sind wir Digger. Die Quorrl sind unsere Todfeinde. Wann immer sie einen von uns erwischen, metzeln sie ihn nieder ...« Sie brach ab und schluchzte. Es war offensichtlich, dass sie gegen Tränen ankämpfte, aber auch genauso sinnlos. Sie weinte leise vor sich hin, in einem Schmerz, dessen ganze Kraft sich sicherlich erst in den nächsten Tagen entfalten würde, wenn der Schock nachließ und sie die ganze Tragweite des heute Geschehenen nicht mehr länger vor sich verleugnen konnte.

Skar starrte in das prasselnde Feuer, das er nur mit Mühe in Gang hatte setzen können; es war kaum trockenes Laub oder Reisig in diesem Teil der Höhle zu finden gewesen, aber immerhin einige, wohl von einem früheren Besucher dieses ungastlichen Unterschlupfs zusammengesammelte Holzstücke. Er wollte Entsetzen empfinden, Furcht, Schmerz, Verzweiflung, aber in ihm war nichts. Jedenfalls nichts von alledem. Der mannigfache Tod der Digger, ihr Sterben und Leiden, ließ ihn merkwürdig kalt. Es war sogar beinahe so, als würde etwas in ihm so etwas wie Genugtuung bei dem Gedanken empfinden, dass das Dorf der Digger nun dem Erdboden gleichgemacht worden war.

Ein paar Atemzüge lang verlor er sich vollkommen in den Flammen, ihrem Züngeln und spielerischen Ausfällen in die kalte Nacht hinein, ins Spiel der Rauchschwaden, die, von der immer noch eiskalten, zugigen Luft mitgerissen, in verwirrenden Mustern zum fernen Ausgang gewirbelt wurden, und in das Knistern und Prasseln des Holzes, das ihm nach den schrecklichen Schreien, dem Stöhnen und dem Waffengeklirr wie das Versprechen einer fernen heilen Welt erschien. Während ihn das unergründliche Züngeln der kleinen Flämmchen noch gefangen nahm, bemerkte er aus den Augenwinkeln eine andere Bewegung, ein vorsichtiges Voranschieben von Esannas zierlicher Hand, die sich unter ihren Rock schob wie eine Schlange auf der Suche nach einer schnellen Beute. Es war vielleicht den sich schrecklich überstürzenden Ereignissen des Nachmittags zuzuschreiben, der Erschöpfung der äußerst bizarren Wanderung durch das unwegsame, kaum einsichtige Gelände, durch das sie auf ihrem wie von einer unsichtbaren Hand gelenkten Weg hierhin gelangt waren: Seine Reaktion war viel langsamer, als man sie von einem Ausnahmekrieger wie ihm erwarten durfte.

Esannas Hand kam wieder vor und sie war nicht leer. Spätestens das metallische Aufblitzen hätte ihn warnen müssen oder die in einer schnell Bewegung nach oben gerissene Hand. Nichts von alledem geschah. Er wandte in einer geradezu grotesk langsamen Bewegung den Kopf zu ihr um, wie es vielleicht ein Bauer tun würde, der sich in einem Wirtshaus einem überraschenden Angriff gegenübersah. Auch als sich Esanna mit einem Aufschrei auf ihn stürzte, reagierte er nicht. Ihre Hand, die den zierlichen Schaft des Messers so fest umklammerte, dass das Weiß ihrer Knöchel hervortrat, zuckte nach unten, genau in Richtung seines Halses.

Erst in diesem Moment handelte er, endlich, und mit der ihm eigenen Schnelligkeit und Konsequenz. Seine rechte Hand schoss wie ein Falke nach oben, um ihr Handgelenk zu packen, gleichzeitig drehte er den Oberkörper zur Seite und so nah übers Feuer, dass die Hitze seine Augenbrauen versengte. Das scharf geschliffene Messer sauste mit unvermindert tödlicher Wucht auf seinen Hals hinab und ritzte die Haut, kurz oberhalb der Halsschlagader. Doch da umklammerte seine Hand auch schon Esannas Handgelenk; mit einer kräftigen Bewegung verdrehte er es so kräftig, dass ihr gar nichts anderes übrig blieb, als die Waffe mit einem Aufschrei loszulassen. Das Messer trudelte ins Feuer hinab und tauchte mit einem dumpfen Aufprall in die Hitze hinein. Funken stoben auf und begruben die Waffe unter sich in ihrer Glut.

Skar ließ Esannas Handgelenk wieder los und versetzte ihr einen Stoß gegen die Schulter, der sie ein paar Meter zurücktaumeln ließ. »Tu das besser nicht noch mal«, sagte er, ohne aufzusehen, aber jetzt wachsam und gespannt genug, um jeden weiteren Angriff schon im Ansatz abwehren zu können.

Esanna reagierte ganz anders, als er erwartet hatte. Statt sich wie eine Furie auf ihn zu stürzen, gab sie nur einen fast lautlosen, jammernden Laut von sich, griff dann mit der Linken nach ihrem Handgelenk und massierte die Stelle, an der Skar sie gepackt hatte. Der Satai beließ es dabei. Es hatte keinen Sinn, ihr Vorhaltungen zu machen; außerdem konnte er sie verstehen, nur zu gut sogar. Wahrscheinlich machte sie ihn allein für die Vernichtung ihrer Familie verantwortlich und sicherlich glaubte sie, dass er irgendetwas Entsetzliches mit ihr vorhatte - was sie allerdings nicht ungefährlich machte, denn Rache und Angst waren starke Motive für einen erbarmungslosen Angriff und möglicherweise bereitete sie schon jetzt die nächste Attacke vor.

Aus den Augenwinkeln gewahrte er eine zuerst fast unmerkliche Veränderung in ihrer Körperhaltung, die dann zur eindeutigen Absicht wurde: Esanna trat ein paar Schritt vor und damit so nah ans Feuer, dass die Flammen fast ihre Füße versengten. Im ersten Moment glaubte Skar, sie wollte nach dem von feuriger Gischt verschlungenen Messer greifen, aber dann begriff er seinen Irrtum - sie wollte mit ihm reden.

»Gebt mich frei«, sagte sie tonlos. »Ich bin Euch doch nur im Weg. Was will schon ein Herr wie Ihr von einem wertlosen Digger-Mädchen?«

Skar starrte wieder ins Feuer, beobachtend, wie die leckenden Flammen nach dem Messer griffen. Zuerst schien das gehärtete Metall dem Angriff zu widerstehen, doch dann machten sich erste Verfärbungen bemerkbar, ein Wechselspiel verschiedener Farben, ein violett-grünliches Flammenspiel, das ihm verriet, dass die Waffe aus billigem Eisen gefertigt worden war. Einen Herzschlag lang war er versucht, sie mit einem Ast aus der Mitte der Funken sprühenden, hell brennenden Holzscheite zu angeln, um Esanna nicht in Versuchung zu führen - doch eine unerklärliche und vor allem ungewohnte Trägheit hinderte ihn daran, diese einfache Vorsichtsmaßnahme durchzuführen.

Und vielleicht war es ja auch gar nicht so wichtig. Sollte Esanna wirklich mit einer schnellen Bewegung nach dem glühend heißen Messer greifen, würde sie eine unliebsame Überraschung erleben: Außer ein paar Brandblasen würde ihr das nichts einbringen. Skar blinzelte ein letztes Mal in die gleißende Helligkeit des Feuers und sah dann zu dem Mädchen hinauf. Ihre Blicke begegneten sich und schienen ein stummes Duell auszufechten; in Esanna Augen funkelte so viel Hass und Wut, dass es Skar fast erschreckte. Wenn sie nur im Entferntesten das Gefühl gehabt hätte ihn auf die eine oder andere Weise überrumpeln zu können, das begriff er in diesem Moment, dann hätte sie es getan.

»Ich werde jetzt einfach gehen«, sagte Esanna mit der Entschlossenheit eines kleinen Kindes, das seinen Kopf durchsetzen will. »Und auch Ihr werdet mich nicht aufhalten, Satai.«

Skar sah sie einen Augenblick vollkommen überrascht an, bis er begriff, dass sie es durchaus ernst meinte. »Du täuschst dich, wenn du glaubst, ich wollte dir irgendwelche Steine in den Weg legen.«

Esanna setzte zu einer wütenden Entgegnung an, verschluckte sich aber dann beinahe an den Worten, die ihr schon auf der Zunge lagen, als sie die Bedeutung seiner Worte begriff und trotzig fragte: »Und was soll das heißen?«

»Wenn du gehen willst, dann geh«, sagte Skar ruhig und sich durchaus bewusst, dass sie andernfalls nicht Ruhe geben würde, bis er sie nicht gefesselt und geknebelt in eine Ecke der Höhle warf - oder bis sie einsah, dass jeder Fluchtversuch an den Unbilden der Natur scheitern würde. »Ich gebe dir sogar noch einen Rat auf den Weg: Such dir ganz schnell eine neue Unterkunft, eine Höhle oder zumindest einen tiefen Felsspalt, und sieh zu, dass du genug Holz findest, um dir ein Feuer machen zu können. Ansonsten wirst du bei dieser Witterung die Nacht wohl kaum überleben.« Esanna zögerte. »Heißt das, du lässt mich wirklich frei und ich kann machen, was ich will?«, fragte sie misstrauisch. »Auch zurückgehen in mein Dorf?«

»Natürlich«, nickte Skar. »Ich werde dich nicht daran hindern.« Aber vielleicht die Quorrl, fügte er in Gedanken hinzu.

In Esannas Augen glitzerte kalte Entschlossenheit. Sie war wohl noch zu jung, den Ernst seiner Warnung zu begreifen und ihn gegen den Drang abzuwägen, ohne ihn die Nacht zu verbringen. Alles was sie sah, war die Chance sich von ihm zu befreien, ohne zu begreifen, dass sie ohne den Satai kaum mehr als ein paar Stunden in der stürmischen, menschenfeindlichen und nebelverhangenen Nacht überleben würde. Aber trotzdem - sie war nicht die Erste und würde nicht die Letzte sein, die für einen Hauch trügerischer Freiheit bereit war ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Irgendwie neidete Skar ihr diese jugendliche Naivität. »Also dann«, sagte sie und unterstrich ihre Worte mit einer kurzen, entschlossenen Geste und dann schien sie ein kurzes Flackern zu durchzucken, sich ihre Gestalt aufzulösen und genauso ihr Gewand und die vorgestreckten Hände, während der Rest ihres Körpers noch in der letzten Bewegung erstarrt war und in Feuerwirbeln auseinander jagte, zu schwirrenden grellweißen Funken wurde ...

Zurück in der Gegenwart war er sich trotzdem im ersten Moment nicht sicher, ob er nun wirklich erwacht war oder ob er nur eine besonders niederträchtige Fortsetzung des Alptraums erlebte. Sein ganzer Körper war ein einziger, brennender Schmerz und er hatte ein fürchterliches Brennen in seiner Kehle; es war ein Gefühl, als hätte er tütenweise Sand geschluckt und danach tagelang keine Quelle, keinen Bach, kein Rinnsal gefunden, um seinen entsetzlichen Durst zu stillen. Das erstickende Gefühl war so stark, dass er noch nicht einmal frei husten konnte, geschweige denn schlucken. Das Schlimmste aber: Er war auf eine widernatürliche Weise in zwei Wirklichkeiten hinein erwacht. Auf der einen Seite lag er in der alles verschlingenden Kälte inmitten der stürmischen Nacht mit dem leisen Knistern und Prasseln des erlöschenden Feuers neben sich und auf der anderen Seite war es der Abend zuvor, an dem er eingenickt war, kaum dass Esanna die Höhle verlassen hatte. Während ihn der brennende Durst fast um den Verstand brachte, fühlte er sich zerrissen, als ob zwei Personen in ihm wären: Der gestern Abend Schutz suchend in diese Höhle eingekehrte Skar und der von einem Alptraum gebeutelte Skar, der wenige Stunden später in einen alles verschlingenden Wahnsinn hinein erwachte.

Es dauerte nicht lange, bis ein Geräusch am Höhleneingang davon kündete, dass jemand von draußen hereintappte, jemand, der so müde, erschöpft und wahrscheinlich verfroren war, dass er kaum noch gerade gehen konnte, sondern eher darum kämpfen musste, noch einen Fuß vor den anderen zu setzen. Skar brauchte nicht aufzusehen, um zu wissen, wer das war, der da triefend und erschöpft von einem vermeintlichen Ausflug in die Freiheit zurückkehrte.

»Schon gut«, sagte Esanna, als sie zitternd und nass wie eine Flussratte, die stundenlang einen Kanal durchschwommen hatte, ans Feuer trat, »du brauchst nichts zu sagen.«

Skar stemmte sich auf den Ellbogen, um zu erkennen, welche der Esannas ihn angesprochen hatte. Die Feuerstelle schien währenddessen zu eigenem, gespenstischem Leben erwacht zu sein: Sie sprang zwischen fast erloschen und munter prasselnd ständig hin und her. Auch Esanna war von der Veränderung betroffen; durch ihre Gestalt ging ein ständiges Flackern wie von irisierendem Licht und ihre Konturen verschwammen im raschen Wechsel, so als könnten sich seine Augen nicht entscheiden, wie sie sie sehen wollten. Doch in beiden Fällen stand sie vor Kälte geschüttelt vor ihm und ihre Kleidung war so voller Feuchtigkeit, dass sich dunkle Flecken auf ihr abzeichneten.

»Ja«, krächzte er, benommen und immer noch gefangen in dem Traum (welchem Traum? Zu welcher Zeit?) und er wunderte sich, dass seine zerstörte Kehle überhaupt einen Laut hervorgebracht hatte.

»Es ist nichts dort draußen«, stieß Esanna wütend hervor und deutete hinter sich auf den Höhleneingang, »nichts, außer einem Schneesturm und Dunkelheit und Nebel - warum musstest du mich auch ausgerechnet in diese verdammte Gegend mitschleppen?«

»Weil...«, sagte Skar und versuchte sich verzweifelt an das zu erinnern, was er hatte sagen wollen. Er kämpfte gegen das Gefühl an, dass die Wirklichkeit abrutschte, dass sie sich wie ein Boot in stürmischer See überschlug und ihn mitriss in die alles verschlingende Unendlichkeit. Esannas Frage war berechtigt, das begriff er, doch gleichzeitig schien es ihm unmöglich, sie zu beantworten - vielleicht, weil es keine Antwort gab oder weil die Antwort zu schrecklich war, um sie sich bewusst zu machen, oder weil jemand - etwas - ihn daran zu hindern suchte, den Gedanken weiterzuverfolgen...

»Weil was?«, fragte Esanna.

Die Antwort, die Antwort... Sie war von zentraler, fast lebenswichtiger Bedeutung. Sicherlich, er hatte sich schon oft in den verrücktesten Situationen befunden und nicht gewusst, ob er überhaupt die geringste Chance hatte, den nächsten Tag unversehrt oder zumindest lebend zu erreichen - aber das hier war etwas ganz anderes, etwas viel Bedrohlicheres, auch wenn es nur um die Beantwortung einer an sich simplen Frage ging.

Und dann, von einer Sekunde auf die andere, ging die Welt um ihn abermals zu Bruch, tanzten bunt schillernde Farbkreise um ihn herum und verschlangen alles, was er vorher noch mit durchbrochener Klarheit hatte sehen können, rissen das gerade noch Sichtbare in einen gigantischen Strudel mit sich hinab, zerstörerisch, verschlingend und vernichtend... Sand füllte seinen Mund, knirschte zwischen seinen Zähnen, kroch brennend und heiß unter seine Kleidung und scheuerte auf seiner bloßen Haut; ein grauenhaftes Gefühl, als würde er unter Sandmassen verschüttet, die ihn zuerst nur ausgedörrt hatten, um ihn jetzt gänzlich zu ersticken, als wollten sie ihn lebendig unter sich begraben, ihn, den ja schon seit einer kleinen Ewigkeit Toten und Verdammten, ihn, der keine Lebensberechtigung mehr hatte außer Es zu dienen, seinen Auftrag zu erfüllen, der Welt den Willen des Unbegreiflichen aufzuzwingen ...

Die Welt um ihn herum explodierte in tausend Farben, in tausend Splittern, nur um dann wahnsinnig rasch, aber irgendwie verkehrt und verdreht wieder zusammenzuwachsen. Die Magie der Bilder war gleichzeitig grauenvoll und entsetzlich schön, riss ihn allumfassend mit sich, ergänzt durch einen tausendfachen Choral brüllender, tobender, infernalisch kreischender Stimmen und knatternder Geräusche, die auf ihn eindrangen und den Rest seines Bewusstseins mit sich rissen, als wollten sie ihn mitnehmen auf eine Höllenreise ohne Wiederkehr und einen fürchterlichen Augenblick lang erkannte er ihn: den Kern der Dinge, umgeben vom Feuerwerk netzförmiger Strukturen, die sich durch alles zogen, alles unterwanderten, nichts unberührt ließen, um, von einem unbekannten Trieb getrieben, immer weiter hinauszuwachsen in die Welt, bis sie auch den letzten Gegenstand, jeden Menschen und jedes beliebige andere Lebewesen in Besitz genommen hatten ...

... und auch ihn und Esanna, die miteinander verwoben waren, sich im Tiefsten bereits in dem Moment erkannt hatten, als sie sich zum ersten Mal gegenübergestanden hatten, in all ihrer Fremdartigkeit und trotz des drohenden Abgrunds der Zeit, der zwischen ihnen klaffte. Aber da war noch etwas anderes, etwas, das sich vom Anfang der Zeit, vom Nabel der Welt, vom Ursprung her ausdehnte und in sie hineinfraß, das gleichzeitig erschreckend fremd und unglaublich vertraut war. Es bohrte sich in ihn hinein und, dessen war er sich mit erschreckender Klarheit bewusst, gleichzeitig auch in Esanna, suchte nach etwas, nach einer Antwort, nach dem Erkennen. Das Tasten und Suchen in seinem Geist wurde stärker, glitt hinab auf eine Ebene seines Bewusstseins, die ihm bislang vollständig verschlossen geblieben war, und noch tiefer, tief unter sein Denken und Fühlen und bis auf den Grund seiner Seele und ...

... plötzlich stand sie wieder vor ihm.

Esanna.

Auch er stand nun und es war etwas ganz Selbstverständliches in dieser schmerzhaft vertrauten Art, mit der sie sich gegenüberstanden, wie zwei Menschen, die sich lange nicht gesehen hatten und nun nicht wussten, wie sie miteinander umgehen sollten. Zitternd starrte sie Skar an, erwartungsvoll, fragend und doch wissend, und dann streckte sie die Hände zu ihm vor, fassend, berührend und ertastend, bis sie seine Finger gefunden hatte und sie mit sanftem Griff umschloss.

Er wusste nicht, was sie tat, geschweige denn, wie, aber er spürte, wie sie seine Kraft mit diesem erschreckend fremden Etwas verband. Es war ihm, als berührten unsichtbare kalte Finger seinen Geist; es war ein unangenehmes Gefühl, fremd und auf unfassbare Weise drohend und düster. Er kämpfte einen Moment gegen den Impuls ihre Hände mit Gewalt von den seinen loszureißen und sie von sich zu stoßen.

Und dann tat Esanna plötzlich etwas, was er als Letztes von ihr erwartet hatte.

Sie glitt dicht an ihn heran, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn, sehr sanft und ohne irgendwelches Verlangen; auf eine mädchenhaft scheue und doch gleichzeitig selbstsichere Art, wie sie Skar noch nie kennen gelernt hatte. Es war eine Berührung, aus der tiefe Vertrautheit sprach. Und - ja, sicher - auch Hingabe, aber eine Hingabe sonderbar fremder, verwirrender Art, seltsam substanzlos, als hätte sie gar nichts mit ihnen beiden zu tun, sondern mit einer vollkommen fremden, unergründlichen Macht - mit Es. Einen Herzschlag lang versuchte er sich gegen ihre Umarmung zu wehren, aber dann entspannte er sich und genoss das Gefühl einem Menschen nahe zu sein, der auf eine vollkommen unbegreifliche Weise mit ihm verbunden war - tiefer vielleicht, als es selbst zwischen Liebenden jemals möglich war.

»Sieh«, flüsterte Esanna so sanft wie ein Luftzug, der über die Blätter eines Baums strich, »und begreife.«

Er schloss unwillkürlich die Augen, stieg hinab in sich selbst, erlag dem Lockruf des Unfassbaren, das ihn im gleichen Moment mit unbarmherziger Kraft anzog und abstieß. Ein Bild stieg in ihm auf, zuerst kaum fassbar, dann immer konkreter ... es nahm Form an und verlor sie doch gleichzeitig, war gut und doch bis auf den Grund böse, abgrundtief schlecht, fremd und unmenschlich ... war nichts mehr als Schaum, weiß und federleicht, auf der Oberfläche eines massiven, schwerfälligen Ozeans, einer dunklen Masse aus Wasser, die auf Enwor schwappte und sich ständig ausbreitete, nicht aufhörte zu wachsen, solange es lebte, ein riesenhaftes Gebilde, Lage um Lage, Schicht um Schicht seine ursprüngliche Form, seinen Zusammenhalt verlierend, wie ein Schneckenhaus mit Millionen Kammern, eine Zwiebel aus tausendfach ineinander geschichteten Ablagerungen. Die Vision war nicht klar vor seinen Augen, sondern blieb seltsam unfassbar, aber es drängte sich ihm auf mit einer Zwanghaftigkeit, die ihn erschreckte und bis ins Tiefste berührte und sein Innerstes aufwühlte, weil er ahnte, nein, wusste, dass es der Wirklichkeit näher kam, als es ihm lieb sein konnte ...

Und er begriff. Es war kein intellektuelles Verstehen, nicht einmal der Hauch eines bewussten Gedankens, sondern etwas ganz anderes, viel tieferes. Er und Es, sie waren eins und dennoch Unendlichkeiten voneinander getrennt; sie waren wie ineinander verwachsene Zwillinge und doch wie zwei feindliche Geschwister, wie sie sich fremder nicht sein konnten, und während er Es sah, veränderte sich alles um ihn, warfen die tausendfachen realen Gegenstände dieser Welt Dutzende von Schattenbildern an Hunderten von Orten, gleichzeitig und dennoch getrennt durch unbegreifliche Abgründe der Zeit.

Dann zerstob das Bild, löste sich von einem Moment auf den anderen auf und ließ ihn zerstört und leer zurück. Er hätte aufschreien können in diesem Augenblick, aufschreien, weil der Verlust ihn fast zerriss und ihn mit einer unbekannt brennenden Sehnsucht zurückließ, die sich in seine Eingeweide wühlte und in seine Seele stahl, als wollte sie ihn vernichten.

»Weil was?«, fragte Esanna.

Ihre Worte rissen Skar in die Wirklichkeit zurück. Er öffnete die Augen und griff Halt suchend an die Stelle, an der eben noch Esanna gestanden hatte, und zwar direkt vor ihm - jetzt aber hockte er am Boden vor der Feuerstelle und stand nicht mehr länger! -, doch dann begriff er seinen Irrtum und zog hastig die Hand zurück, als hätte er etwas glühend Heißes berührt.

»Nun sag schon, warum du den Weg in diese Einöde gewählt hast«, drängte Esanna.

Eine dumpfe, noch unfassbare Ahnung stieg in Skar empor, verblasste aber, bevor er sie greifen konnte. »Weil es ... ein gutes Versteck ist«, sagte er mühsam. »Keine Quorrl, keine Menschen ... Hier sind wir erst einmal sicher.«

Esannas Augen zogen sich zu dünnen Schlitzen zusammen. »Du hättest es mir sagen können«, beschwerte sie sich. »Was?«, fragte Skar, während ihm ein kurzer eisiger Schauer über den Rücken lief. »Dass wir an einem der unwirtlichsten und entlegensten Flecken der bekannten Welt sind? Aber ich dachte, das wüsstest du. Schließlich seid ihr Digger freiwillig in diese Gegend gekommen.«

»Ja. Nein.« Esanna schüttelte sich und trat näher ans Feuer heran, während sie gleichzeitig die Arme um sich schlang.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Er blinzelte ein paarmal, versuchte zu begreifen, was dort vor ihm gerade geschah. Er sah Esanna verfroren am Feuer stehen, müde, zerschlagen und immer noch am ganzen Körper zitternd. Aber da war noch etwas anderes, glitzerte etwas in ihrer Hand, was eigentlich harmlos in der Feuerstelle liegen sollte: das Messer.

Im nächsten Augenblick war die Vision schon wieder verschwunden, um nur ein paar Sekunden später flackernd wieder zum Leben zu erwachen. Was ging hier vor? War es eine Warnung aus den Tiefen seiner Seele, ein Hinweis vor einem künftigen Angriff Esannas, den sie schon plante, nachdem ihr Versuch, in der tobenden Nacht einen anderen Unterschlupf zu finden, an den Naturgewalten gescheitert war? Vielleicht - und doch ... es war so, als würde er sie zwischendurch tatsächlich in einer ganz ähnlichen, aber grundverschiedenen Pose sehen, als stünden zwei Esannas vor ihm, die eine fröstelnd, aber harmlos, am Feuer und die andere mit einer tödlichen Waffe in der Hand, die sie ihm, dem gerade Erwachten, ins Herz stoßen wollte.

»Ich frage mich, warum du dir ausgerechnet diese Gegend hier ausgesucht hast, Herr«, sagte Esanna. In ihren Augen flackerte etwas, das er nicht zu deuten vermochte. »Ihr hättet vor den Quorrl doch auch ein anderes Versteck finden können als ausgerechnet hier.«

Ganz nebenbei fiel Skar auf, dass sie zwischen dem vertrauten du und dem ehrfurchtsvollen, aber wohl mehr spöttisch oder sogar abfällig gemeinten Ihr hin und her schwankte - etwas, das aber ganz im Hier und Jetzt stattfand und nichts zu tun hatte mit der mittlerweile verblassten Vision der mörderischen Esanna. Trotzdem - wenn er die Warnung ernst nahm, sollte er sofort das mittlerweile glühende Messer aus den Flammen nehmen und, nachdem es abgekühlt war, in seinem Waffengurt verstauen.

»Ich will jetzt endlich wissen, was du von mir willst!«

Esanna wirbelte mit einer erschreckend schnellen Bewegung zu ihm herum. »Ich bin doch nur Ballast für Euch!« Skar schwieg noch immer. Es gab auch nichts, was er hätte sagen können, nichts, was irgendeiner Verteidigung noch Sinn gegeben hätte. Das zwischen ihm und Esanna bestehende Band war nichts, was sich in Worte kleiden ließ und was auch immer sie zusammengeführt hatte: Mit ihm selbst, mit einer bewussten Entscheidung hatte das wohl am wenigsten zu tun.

»Erzähl mir mehr über die Digger«, sagte er nach einer weiteren Minute des Schweigens, während in ihm gleichzeitig ein erbitterter Kampf tobte und sich Gedanken glasklar aneinander reihten, mit messerscharfer Logik, als ob sie ihn zerschneiden wollten: Dunkler Bruder, Sternenbestie Daij-Djan, Vernichtung der alten Ordnung, Kampf ums Überleben, Tod, Tod, Tod und Tasten und Suchen in der alles verschlingenden Ewigkeit des Immertoten, aus dem Nichts und Niemand zurückkehrte ins Reich des Lebens ... Und doch war er hier, Skar, dem die Geschichtsschreibung der Welt das Elfte Buch widmete, den die Prophezeiung dazu auserkoren hatte, Enwor zu retten, nachdem Narren auf allen Seiten zur umfassenden Vernichtung aufgerufen hatten ... ein Skar, der tot war, gestorben vor unendlich langer Zeit... Und der er deswegen nicht selber sein konnte!

Wer aber war er dann?

Skar versuchte den Gedanken weiterzuverfolgen, zu ergründen, was es mit dem Geheimnis seiner Existenz auf sich hatte. »Ich will wissen, warum dein Volk ausgerechnet hier lebt«, hörte er sich jedoch stattdessen sagen, als bestünde er aus zwei Wesen, als wäre der eine vollkommen auf das Gespräch mit dem Mädchen konzentriert und als würde der andere voller Panik und Entsetzen versuchen zu begreifen, was mit ihm geschah und wer oder was er eigentlich wirklich war.

»Schon wieder ein Vorwurf, Satai?«, fragte Esanna hart. »Erst verratet Ihr uns an diese Ungeheuer, dann schlagt Ihr Euch im Kampf auf ihre Seite und schließlich entführt Ihr mich - und nun tut Ihr so als hätten wir kein Recht dem Ruf zu folgen und das zu tun, was getan werden muss!«

»Dem Ruf folgen?«, wiederholte Skar verwirrt. Diese Formulierung schlug in ihm eine Saite an, weckte eine Erinnerung, die wie eine alte Wunde aufplatzte. »Was genau meinst du damit?«

»Als ob Ihr das nicht genau wüsstet«, schnaubte Esanna. »Wir sind nun mal Digger und Digger folgen ihrem Ruf so wie ... wie ... ach, das ist ja auch egal.«

»So wie Quorrl dem Ruf des Blutes folgen und Digger auslöschen, sobald sie ihrer habhaft werden, und so wie andererseits Satai dem Ruf folgen, um gegen die Quorrl zu ziehen?«, half Skar ihr aus.

»Ja, genau«, funkelte ihn Esanna an. »Das wisst Ihr ja wohl besser als jeder andere, nicht wahr? Ich habe nicht gewusst, dass sich Satai auf einen Blutpakt mit den Quorrl einlassen, obwohl es mich kein bisschen wundert, so wie sich deinesgleichen in letzter Zeit verhält, vielleicht mal abgesehen von Marna, dem Satai mit der Wolfsmaske, und seinen Gefolgsleuten.«

Skar schwieg einen Moment. Seine Verwirrung wuchs, je länger das Gespräch anhielt. Doch gleichzeitig wurde das von seinen (seinen?) Augen vermittelte Bild der Höhle und der vor ihm stehenden Esanna auch schärfer, als ob sich ein bislang vorhandener Schleier auflöste und auch das Pfeifen und Heulen des Sturms erschien ihm mit einem Mal viel deutlicher: Stärker als je zuvor schien es bemüht zu sein, das fröhlich prasselnde Feuer zu übertönen. Immerhin ließ zumindest das beklemmende Gefühl nach, das die Visionen mit sich gebracht hatten, und er konnte sich nur noch verschwommen an die Trugbilder erinnern, an die tanzenden Schatten, die ihn gerade noch genarrt hatten - falls da wirklich überhaupt etwas gewesen war - und an Esannas Umarmung und an das kratzende, erstickende Gefühl in seiner Kehle und die brennende Frage nach Ursprung und Sinn seiner Existenz.

»Es ist nicht ganz einfach, dir zu folgen«, sagte er schließlich, während er mit einem Kopfschütteln den Schrecken der letzten Minuten endgültig von sich zu schütteln versuchte. »Wie du weißt, komme ich von weit her und der Ort, von dem ich komme - na, man könnte fast sagen, die Zeit sei dort stehen geblieben.«

»Ich glaube dir kein Wort«, sagte Esanna verächtlich. »Du bist doch nicht viel mehr als ein Strauchdieb in der Maske des ehrbaren Satais.«

»Du hast es erkannt«, sagte Skar und mit einem Mal fielen alle Fragen, alles Drängen von ihm ab und etwas Altbekanntes gewann in ihm die Vorherrschaft: blanker, menschenverachtender Zynismus: »Ich schleiche mich nachts in die Hütten armer Leute, schlitze die Männer auf, schände die Frauen und verspeise die kleinen Kinder zum Frühstück.«

Er zuckte zusammen, als er merkte, was für eine Geschmacklosigkeit ihm da über die Lippen gekommen war. Eine vollkommen überflüssige Bemerkung angesichts des Gemetzels, das gerade - und doch, wie es ihm schien, vor unendlich langer Zeit - in Esannas Heimatdorf stattgefunden hatte und bei dem wahrscheinlich neben ihrem Vater auch andere enge Verwandte von ihr den Tod gefunden hatten.

»Verzeih«, sagte er mitten in Esannas entsetzten Gesichtsausdruck hinein, »ich glaube, wir sind beide etwas mit der Situation überfordert. Für den Anfang würde es mir schon genügen, wenn du dich entscheiden könntest, wie du mich ansprechen willst: Ob du es vielleicht über dich bringen kannst, beim du oder beim Ihr zu bleiben, ganz wie es dir gefällt.«

»Wie es mir gefällt?«, wunderte sich Esanna. »Was soll dieser Schwachsinn. Du - also gut, Ihr - habt mich doch nicht ohne Grund hierher mitgeschleppt.«

»Ich verstehe nicht ganz«, behauptete Skar, obwohl er natürlich nur zu gut verstand. Alles, was er mit dieser Bemerkung erreichen wollte, war Zeit gewinnen: Zeit, um sich darüber klar zu werden, was ihn dazu getrieben hatte, ausgerechnet dieses Mädchen zu retten, und Zeit, um begreifen zu lernen, was es mit ihm selbst auf sich hatte.

»Was ist denn daran zu verstehen?«, fragte Esanna mit der ganzen Empörung der Jugend, die sie trotz des frisch erlebten Grauens kraftvoll gegen ihr Schicksal ankämpfen ließ. »Du hast dich bei uns als Gast eingeschlichen, uns schmählich verraten...«

»Das hatten wir doch schon alles«, sagte Skar. »Fangen wir lieber bei den Dingen an, die mir noch nicht bekannt sind: so trivial sie dir auch erscheinen mögen.«

»Und das wäre?«, fragte Esanna im gereizten Tonfall eines Kindes, dessen Mutter ihm gerade zu erklären versucht, warum es besser ist, nicht nachts allein durch einen Wald zu gehen.

»Beginnen wir mit den Diggern«, sagte Skar leise, während er die Augen schloß, um die verschiedenen, ihn quälenden Bilder in den Hintergrund zu schieben. »Was genau sucht ihr so nah an der Grenze zum Quorrl-Gebiet?«

»Was für eine Frage«, sagte Esanna, immer noch erschüttert. »Jedermann weiß doch, wer wir sind und was wir tun. Ganz Enwor kennt uns! Das kann doch nicht sein ... es sei denn«, ihre Augen verdüsterten sich, als hätte sie einen furchtbaren Verdacht, »du kommst von jenseits des Eises.« Skar schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bin ein Bewohner Enwors wie du auch. Aber... ich komme aus einer sehr abgelegenen Gegend ...«

»Aus welcher Gegend?«, fragte Esanna misstrauisch.

»Das tut nichts zur Sache«, wehrte Skar rasch ab. »Wir hatten schon sehr lange keine Besucher, waren vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Nimm einfach an, dass bei uns die Zeit stehen geblieben ist.«

»Dann muss sie vor sehr, sehr langer Zeit stehen geblieben sein«, sagte Esanna und warf ihre langen, dunklen Haare zurück. »Seit nunmehr dreihundert langen Jahren suchen wir nach Kaol, und wenn wir zuerst auch nur wenige waren und verspottet wurden, so sind wir doch schon lange zu einer großen, mächtigen Bewegung geworden, die niemand auf Enwor noch zu ignorieren wagt!« Stolz schwang in ihrer Stimme mit und noch etwas anderes, so etwas wie religiöse Inbrunst. Aber nicht das war es, was Skar zusammenzucken ließ, sondern die Zeitangabe. »Dreihundert Jahre«, murmelte er fassungslos.

»Ja.« Esanna ließ sich in die Hocke nieder und wärmte ihre Hände am Feuer; fast schien es Skar, als würde sie gegen die Versuchung ankämpfen mit einem schnellen Griff ins Feuer das Messer wieder in ihren Besitz zu bringen. Doch selbst wenn es ihr gelänge: Die glühend heiße Waffe würde ihr zu nichts nutze sein, ganz im Gegenteil, sie würde sich nur damit die Hände versengen. »Es war der Tod des Großen Skar, der die Welt veränderte, der uns Kaol schenkte und erst damit die Veränderung zum Guten und Reinen bewirkte ...« Sie blinzelte leicht. »Aber ich nehme an, das weißt du alles«, fügte sie rasch hinzu.

»Rede ruhig weiter«, sagte Skar, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Was hat es mit diesem ... mit Skar auf sich? Welche Rolle spielt er für euch Digger?«

»Schon wieder so eine merkwürdige Frage«, seufzte Esanna. »Man könnte wirklich meinen, du wärst geradewegs aus der Tiefsee aufgestiegen. Vielleicht bist du ja gar kein Mensch, sondern ein Monster der Tiefe, das uns zur Prüfung geschickt wurde...« Es sollte wohl eine leicht dahingesagte Bemerkung sein, aber das Zittern in Esannas Stimme verriet, dass ihr nach allem anderen als nach Albernheiten zumute war.

Skar war noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Der große Skar - ob er nun wollte oder nicht, er musste begreifen lernen, dass die Menschen damit ihn meinten - oder doch zumindest das Bild, das sie sich über die Jahrhunderte von ihm gemacht hatten. Mit der Wirklichkeit, mit ihm selbst hatte das wohl kaum etwas zu tun. Aber das hatte es in solchen Fällen ja wohl nie; wann immer die Menschen jemanden als ihr Idol vereinnahmten, drängten sie sein tatsächliches Leben und Wirken immer weiter in den Hintergrund zurück und ersetzten es durch ein Wunschbild, an dem sie so lange änderten und feilten, bis es ihren eigenen Vorstellungen gerecht wurde, gleichgültig, welche Absichten und Motive den ursprünglichen Menschen getrieben hatten und gleichgültig, ob ihn das große Kotzen überkommen würde beim Anblick dessen, was man ihm alles andichtete - wenn er es zu seinen Lebzeiten denn überhaupt noch mitbekam.

Dass jemand dreihundert Jahre nach seinem Tod auf die Welt zurückkehrte und erst dann sah, was man aus ihm gemacht hatte, war ja nicht gerade üblich. Dreihundert Jahre! Das war unglaublich. Bislang hatte es sich Skar immer noch irgendwie einzureden versucht, dass sein Tod vielleicht doch nicht so endgültig gewesen war, wie es ihm seine Erinnerung hatte vorgaukeln wollen, dass sein Gedächtnis trog, ihm vielleicht irgendwelche Lügengeschichten eingetrichtert worden waren, dass er vielleicht eine Weile im Koma gelegen hatte, ein paar Wochen, Monate oder vielleicht auch Jahre, dass er dann ohne Gedächtnis an Land gespült worden war, nur scheinbar wieder auferstanden, weil er auf irgendeine unbegreifliche Weise doch nicht wirklich tot, sondern nur scheintot gewesen war - doch jetzt, in diesem einen entsetzlichen Augenblick begriff er, dass das alles ein Trugschluss war, dass etwas vollkommen Unbegreifliches mit ihm geschehen war. Natürlich konnte es sein, dass ihn Esanna belogen hatte - wissentlich oder unwissentlich. Aber er schob diese Möglichkeit ohne zu Zögern beiseite. Er spürte einfach, dass sie die Wahrheit gesagt hatte, er spürte, dass tatsächlich Jahrhunderte zwischen seinem früheren Leben und seiner jetzigen Existenz lagen.

»Wenn ihr Kaol sucht«, sagte Skar, »dann wird es vielleicht doch eine leichtere Möglichkeit geben, als es ausgerechnet den Quorrl unterm Hintern wegzustehlen.«

»Sicherlich gibt es leichtere Möglichkeiten«, sagte Esanna ärgerlich. »Doch unser Clan musste neue Schürfgründe suchen. Alles, was einfach auszubeuten ist, ist in der Kontrolle des Clans der Ältesten.« In ihren Augen blitzte es wütend auf. »Die Ältesten - sie haben uns gezwungen bis zum Äußersten zu gehen. Wir mussten einfach hierher kommen, denn hier gibt es jede Menge Kaol und niemanden, der ein Recht darauf beansprucht.«

»Die Quorrl sehen das vielleicht ein bisschen anders.«

»Die Quorrl! Das sind doch bloß Tiere. Die wissen doch gar nicht, auf welchem Schatz sie sitzen. Alles, was wir machen müssen, ist sie ein Stück weit zurückzudrängen, um unseren Anspruch auf die hiesigen Kaol-Vorkommen zu sichern.«

»Und dann kommen nach euch andere Digger, die wieder ein Stück weiter ins Quorrl-Gebiet ziehen müssen, um Rechte an Kaol zu erwerben und immer so weiter fort.« Skar nickte ärgerlich. »Das ist ein altbekanntes Muster. Und am Ende stehen Vernichtung, Hass und womöglich die Ausrottung eines ganzen Volkes ...«

»Die Quorrl sind Mörder«, unterbrach ihn Esanna mit überkippender Stimme. »Sie haben unser ganzes Dorf ausgelöscht.«

»Das mag sein«, sagte Skar hart. »Die Quorrl haben gemordet. Das haben sie schon immer getan. Zumindest einige von ihnen. Aber bei den Menschen ist das doch kein bisschen anders!«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass unser beider Anliegen sein sollte dem Kampf ein Ende zu setzen ... Also setzen wir dort an, wo er - zumindest zum guten Teil - seinen Ursprung nimmt.«

»Du willst also doch gegen die Quorrl in den Krieg ziehen?«

»Wenn du es so sehen willst«, sagte Skar, wobei er bewusst die Wahrheit strapazierte und seine nächsten Worte so wählte, dass Esanna ihn missverstehen musste. »Ich werde dem Ruf folgen und an Marnas Hof ziehen.«

Esanna starrte ihn vollkommen fassungslos an. »Das verstehe ich nicht«, bekannte sie. »Alles, was du bislang gesagt hast, alles, was du getan hast, weist dich als Freund dieser Ungeheuer aus, als Verräter der heiligen Sache ... Und jetzt willst du all das von dir weisen, so tun, als ob nichts gewesen sei?« Ihre Augen verengten sich. »Oder hast du vielleicht ganz andere Gründe zu Marna zu gehen? Bist du ein gedungener Mörder, der den Auftrag hat ihn umzubringen?«

»So ein Blödsinn«, sagte Skar. »Wenn das so wäre: Hätte ich nicht oben an der Klippe reichlich Gelegenheit dazu gehabt? Hätte ich mich nicht nur im Schutz eines Felsens auf die Lauer legen müssen, um ihn mit einem Pfeil vom Sattel zu holen. Nein«, er schüttelte entschieden den Kopf, »ich wünsche genauso wenig wie du den Tod Marnas. Alles, was ich will, ist ihn davon zu überzeugen, dass es einen anderen Weg gibt, als die Quorrl auszulöschen.«

Esanna starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Ich glaube dir kein Wort, Satai«, sagte sie. »Du hast doch irgendeine Schweinerei vor.«

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