3.8

Für einen Moment hatte Skar Schwierigkeiten die Veränderung der Landschaft in ihrer ganzen Tiefe zu begreifen, zu verstehen, dass der graue, düstere und wenig einladende Wald nicht nur kurzfristig von ein paar bunten Blumen und ebenmäßig gewachsenem Buschwerk aufgelockert wurde, sondern dass sich etwas Wesentliches verändert hatte und dass optimistische Farbenpracht und prachtvolle Gewächse hier so selbstverständlich waren wie noch kurz zuvor das eintönige Braun und Grün einer tristen Monokultur. Sie waren dem jetzt breiten und gut ausgebauten Weg auf den Kamm eines dünn bewaldeten Hügels gefolgt, hinein in einen vollkommen veränderten und immer lieblicher anmutenden Landstrich, in dem Laub- und Nadelbäume harmonisch nebeneinander wuchsen wie zwei befreundete Völker und in dem eine erstaunliche Vielzahl von Blumen, Farnen und Pilzen ebenso zum Bild gehörte wie sirrende Insekten, die hauptsächlich damit beschäftigt zu sein schienen, die verschiedenen Pflanzen zu bestäuben.

Skars rechte Hand hatte es mittlerweile geschafft, sich immer weiter nach hinten zu schieben, an die Stelle, an der in seinem Gürtel das Messer steckte, das Esanna nicht wieder hatte zurücknehmen wollen angesichts des Quorrls, den er mit einem entschlossenen Schnitt in seine Halsschlagader von seinem Leiden befreit hatte. Jetzt war er froh darüber, dass Esanna in diesem Moment so emotional reagiert hatte. Der Quorrl, der ihn grob und voll unverhohlener Wut entwaffnet hatte, hatte ihn nicht gründlich abgetastet, sondern es dabei belassen, ihm nach der Entwaffnung einen kräftigen Hieb gegen die Brust zu verpassen, der ihm die Luft aus den Lungen geschlagen hatte.

Das war Glück gewesen. Ein noch größeres Glück war, dass es ihm jetzt tatsächlich gelang, Esannas Messer aus der versteckten Position zu ziehen und unbemerkt nach vorne zu bringen. Er wusste, dass er sich beeilen musste; der Regen hatte bereits nachgelassen und die Sicht wurde zunehmend besser - wodurch auch die Gefahr bestand, dass einer der ihn umgebenden Reiter auf seinen Befreiungsversuch aufmerksam wurde. Er drehte das Messer, sodass die Klinge auf seine Handfesseln zielte, und schrappte so lange über die Lederfesseln, bis das Material genug eingekerbt war, um es später mit einem Ruck durchtrennen zu können. Erst danach ließ er sein Messer unterhalb des Sattelknaufs verschwinden; ein aufmerksamer Beobachter würde es dort vielleicht entdecken, aber er ging davon aus, dass niemand eine Waffe bei ihm vermutete.

Offensichtlich kamen sie ihrem Ziel immer näher: Der Weg war einem regelrechten, durch Schottersteine halbwegs befestigten Fahrweg gewichen, der sich im Gegensatz zu dem bisherigen verschlammten Weg auch bei schlechtem Wetter von Gespannen nutzen lassen würde. Am Wegesrand folgten mehrere Lichtungen aufeinander mit relativ frisch gehauenen Baumstümpfen oder jungen Sprösslingen, die davon zeugten, dass hier geplant Forstwirtschaft betrieben wurde. Bevor sich Skar eine Hypothese zurechtlegen konnte, auf welche Stadt oder welches Fürstentum sie wohl zuhielten, hatten sie auch schon den Scheitelpunkt des Kamms erreicht und die Pferde liefen so leicht und befreit, als würden sie bereits die Weide wittern, auf der sie sich von den Strapazen des zügigen Ritts erholen konnten.

Als Skar über den Rücken des vor ihm reitenden Quorrl einen Blick auf das überwältigende Tal vor ihnen erhaschen konnte, verstand er die Vorfreude der Pferde. Wie von einem gigantischen Daumen in die umliegende Hügellandschaft hineingedrückt lag eine liebliche Landschaft vor ihnen: Neben rötlich gefärbtem Gestein am Wegesrand, das sich in ein Feld metallisch glänzender Kiesel hineingegraben hatte, wucherten wild wachsendes Korn, hohe Gräser, gelbgrüne Büsche und kleinere, kräftig aussehende Bäume unterschiedlicher Arten, die sich weit hinabzogen in den Talgrund und dort mit kleineren und größeren Gärten und quadratisch angelegten Feldern verschmolzen. Der Quorrl vor ihm schob sich viel zu schnell wieder in sein Blickfeld, um die Gebäude genauer erkennen zu können, die im Zentrum des Tals gleichermaßen ausgewogen wie imposant aufragten, aber Skar hatte einen flüchtigen Eindruck von rötlichen, goldenen Farben, geschwungenen Dächern und verspielten Verzierungen, die sich harmonisch ergänzten. Eine Festung war das nicht und schon gar nicht ein Dorf oder eine Stadt. Wo, zum Teufel, schleppte ihn Marna hin? Er brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten.

Marna hatte sich ein paar Pferdelängen vor ihn gesetzt; jetzt ließ er sich zurückfallen und war schon wenige Sekunden später neben Skar.

»Wir sind gleich da«, sagte er kühl. »Ich gebe dir einen guten Rat: Halte dich zurück beim Einreiten. Ich lasse dich töten, wenn du auch nur eine falsche Bewegung machst. Ganz zu schweigen von dem Mädchen und dem Nahrak.«

»Was für eine falsche Bewegung sollte ich denn machen?«, knurrte Skar. »Ich bin gefesselt und inmitten einer halben Hundertschaft Quorrl. Kaum die richtige Voraussetzung, um dir die Kehle durchzuschneiden.«

Marna lachte sein hartes, falsches und unglaublich metallisch klingendes Lachen. »Du hast das ungehobelte Benehmen eines Fischgesichts, Ahnherr aller Satai«, sagte er. »Was allerdings keinen Unterschied macht. Denn niemand weiß, wer du bist.«

»Woher willst du dir dann sicher sein, dass ausgerechnet ich der Ahnherr deiner Satai bin?«

»Der Nahrak war gesprächig«, sagte Marna nachdenklich. »Auch wenn wir etwas nachhelfen mussten ...«

»Aber das ist nicht alles«, vermutete Skar. »Du hattest mich sowieso schon erwartet.«

»Natürlich ist das nicht alles«, sagte Marna ärgerlich. »Ich habe lange nach dem Original des Elften Buches suchen müssen, um zu verhindern, dass es in die falschen Hände fällt.« Er gab sich einen Ruck und schüttelte dann den Kopf. »Aber das ist jetzt, nachdem es wieder an seinem angestammten Platz ist, nicht mehr wichtig.«

Skar versuchte hinter den schmalen Sehschlitzen der Wolfsmaske eine Regung zu erkennen. »Was hat es denn mit diesem Elften Buch auf sich?«

»Nichts«, sagte Marna. »Rein gar nichts. Jedenfalls nichts, was dich interessieren müsste ...«

»Außer, dass es mein Schicksal beschreibt? Außer, dass du dringend danach gesucht hast, weil du dir aus ihm wichtige Hinweise erhofft hast - so wichtige Hinweise, dass du dich persönlich zum Fall am Ninga begeben hast, um dieses Buch aufzutreiben? Sonst nichts?«

»Sonst nichts«, sagte Marna schroff. »Alles Weitere werden wir im Tempel besprechen.«

Er wollte sein Pferd antreiben, aber Skar hatte nicht vor es soweit kommen zu lassen. »Auf ein Wort noch, Skarissa«, sagte er. »Was genau hast du mit mir vor? Willst du mich töten lassen? Oder hast du vor mich als heimliches Pfand jahrelang in einem Kerker verrotten zu lassen?«

Der Satai gab seinem Rappen mit einem kurzen Ruck am reich verzierten Lederhalfter zu verstehen, dass er sein Tempo nicht beschleunigen sollte. Hinter der Goldmaske war keine Regung erkennbar, aber Skar hatte dennoch das Gefühl, dass Marna die Frage unangenehm war. Er ließ sich lange Zeit mit einer Antwort und Skar spürte eine Erregung in sich wachsen, die ihm bis zum Halse schlug. Er konnte nur hoffen, dass dem Anführer der Satai seine Nervosität verborgen blieb.

»Ob ich dich töten lassen will?«, fragte Marna. »Was für eine Frage. Selbstverständlich will ich das. Du bist und bleibst ein unkalkulierbarer Risikofaktor ...«

»Selbst dann, wenn ich deine Quorrl-Politik in gewissen Punkten billigen und unterstützen würde?«

»Selbst dann«, antwortete Marna eisig. »Ich kann niemanden neben mir dulden und ich brauche schon gar keinen Verbündeten, der mit mir über grundlegende Entscheidungen diskutieren will. Was ich brauche, sind Gehorsam und Umsetzungskraft.«

»Ist das dein letztes Wort?«, fragte Skar, während er seine Unterarmmuskeln anspannte. Er wusste, dass er nur diesen einen Versuch haben würde - und dass er sich gut überlegen musste, ob er ihn überhaupt wagen sollte. Deshalb und nur deshalb war er bereit seine Aktion von der Antwort Skarissa Marnas abhängig zu machen.

»Selbstverständlich ist das mein letztes Wort«, sagte Marna gereizt. »Und sei gewiss: Dein Schicksal wird sich am Tempel der Andersgläubigen entscheiden ...«

Skar warf einen raschen Blick nach vorne: Durch die Quorrl hindurch konnte er bereits die ersten Umrisse der Tempel erkennen, von denen Marna gesprochen hatte, goldene Verzierungen auf roten Dächern mit merkwürdigen runden, rohrförmigen Ziegeln und fein ziseliertem Schnitzwerk, feucht vom Regen und glänzend im schwachen Licht der Sonne, die ihre Strahlen durch immer noch dicke Wolken schickte ... hier sollte sich sein Schicksal entscheiden? Aber nicht durch eine fremde Hand.

»Genug der Worte«, sagte Marna. »Ich habe dir sowieso schon viel zu viel erklärt. Aber andererseits ... du sollst doch zumindest wissen, dass dein Tod nicht umsonst ist!« Das gab den Ausschlag. Skar spannte seine Muskeln an - und diesmal riss der Lederriemen. Mit einer blitzschnellen Bewegung griff Skar Esannas Messer und schnellte nach links: Sein Arm schoss mit der Geschwindigkeit eines abgeschossenen Pfeils auf Skarissa Marna zu, packte den Satai und riss ihn an sich heran, während seine rechte Hand ihm Esannas Klinge an die Kehle setzte, direkt unter dem Ansatz des lächerlichen goldenen Helms.

Marna erkannte sofort die Ausweglosigkeit seiner Lage und versuchte erst gar nicht sich zu wehren. »Alle Achtung«, krächzte er. »Man hat sich nicht zu viel von dir erzählt.«

Skar hielt ihn mit so festem Griff umklammert, dass die beiden Pferde aneinander gedrückt wurden und die Sattelschlaufen aneinander rieben. Sein Herz raste und seine Gedanken überschlugen sich; er war sich durchaus bewusst, dass ihm das Schwierigste noch bevorstand: Esanna und Kama freizupressen und dann mit Marna als Geisel von hier zu verschwinden.

Die hinter ihnen reitenden Quorrl schlossen auf, die vor ihnen reitenden verlangsamten das Tempo und von einem Moment auf den anderen sah sich Skar eingequetscht von Pferdeleibern und gigantischen Gestalten, die ihre Zackenschwerter in Angriffsposition hielten und keinesfalls so aussahen, als würden sie ihre Attacke auf die lange Bank schieben.

»Nicht!«, schrie Marna. »Weg! Weg! Ich regle das schon selber.«

Einer der Quorrl drängte sein Pferd drohend an das von Skar und seine linke Klauenhand streckte sich vor, schloss sich um sein Bein und drückte unbarmherzig zu; Skar hatte das Gefühl, er wollte ihm bei lebendigem Leib das Bein vom Körper reißen. »Gib auf«, knurrte der Quorrl und es klang wie das Knurren eines Berglöwen, kurz bevor er zum tödlichen Sprung ansetzte.

Skar tat gar nichts. Er wandte lediglich den Kopf und erwiderte den Blick des Quorrl, starrte in die kalten, ausdruckslosen Reptilienaugen und fragte sich, was in diesem Krieger wohl vorgehen würde, wenn er jetzt Marnas Kehle mit einem sauberen Schnitt durchtrennte und er ihm den Kopf des Skarissas entgegenschleudern würde.

»Nein. Ihr sollt gar nichts!« Marna winkte mit der freien linken Hand; die Rechte hatte Skar durch seinen festen Griff gleich mit eingeklemmt. »Weg mit euch! Kommt uns nicht zu nahe! Ich habe die Sache im Griff.«

Einen fürchterlichen Augenblick lang sah es so aus, als ob sich die Quorrl einen Dreck um seinen Befehl scheren und sich auf Skar stürzen würden, gleichgültig, was dann mit Marna passieren mochte - so viel zu der Bemerkung, dass Skarissa Marna die Situation im Griff hatte - und Skar ritzte den Hals des Wolfsgesichtigen ein ganz kleines bisschen, aber tief genug, dass ein paar Blutstropfen über den Ansatz seines hochgeschlossenen Umhangs spritzten.

In diesem Moment waren die beiden hünenhaften Leibwächter Marnas heran. Zuerst fürchtete Skar, sie würden mit ihren erhobenen Schwertern auf ihn zustürmen, um ihn ohne Rücksicht auf Marnas Leben niederzumachen. Doch dann begriff er, dass sie genau das Gegenteil vorhatten. »Weg!«, brüllte einer von ihnen. »Weg, hat euch Skarissa Marna befohlen!«

Die Quorrl zögerten, doch dann wichen sie, immer noch in den Tross der Reiter eingebunden, widerwillig ein Stück zur Seite. Skar atmete auf, obwohl er wusste, dass es zu früh war, um so etwas wie Triumph zu empfinden: Die Situation stand im wahrsten Sinne des Wortes auf Messers Schneide und eine einzige falsche Reaktion, eine hastige Bewegung oder eine unüberlegte Geste konnten dazu führen, dass das ganze labile Gleichgewicht kippte und sich die Quorrl wie auch die Leibwächter auf ihn stürzten: gleichgültig, was dann mit ihrem Anführer geschah.

»Was willst du von mir?«, stieß Marna hervor. »Freies Geleit? Deine Freunde mitnehmen ...«

Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Ein Rauschen erklang, ein gewaltiges Flügelschlagen in das sich ein Furcht erregendes Fauchen mischte und etwas Gigantisches, in vielfältigen Grüntönen Glänzendes, stürzte sich aus dem Himmel auf sie herab, getragen von gewaltigen ledernen Schwingen, mit vorgestreckten Klauen und einem weit aufgerissenen, gigantischen Gebiss; die Hölle selbst schien zum Leben erwacht zu sein und diese Kreatur ausgespuckt zu haben und Skar hätte gleichzeitig lachen wie auch wild aufschreien können, denn es war ein so unerwarteter und grauenvoller, aber gleichzeitig auch hoffnungsvoller Anblick, dass er im selben Moment tiefes Grauen wie auch grenzenlose Erleichterung empfand.

Der Frarr drehte kurz vor ihm ab und zog wieder ein Stück hoch. Der begleitende Luftzug war so gewaltig, dass er an Skar, Marna und den sie umgebenden Reitern vorbeifegte wie der Ausläufer eines Orkans und sie sich nur mit Mühe in ihren Sätteln halten konnten. Die meisten Pferde scheuten und innerhalb weniger Sekunden brach ein vollständiger Tumult aus; zwei, drei Pferde gingen durch und plötzlich beschleunigte der gesamte Trupp, teils angetrieben von einzelnen Reitern, die dem Furcht erregenden Drachen so schnell wie möglich zu entkommen trachteten, teils auch unfreiwillig, weil einige Quorrl und Satai kurzfristig die Kontrolle über ihre Tiere verloren hatten.

Marna versuchte die Situation zu nutzen, um sich zu befreien. Er warf den Kopf nach hinten und trat gleichzeitig mit seiner rechten Ferse in den Braunen - ungeachtet der Gefahr Skar damit zu einer schnellen Reaktion zu veranlassen, die ihn selbst das Leben kosten mochte. Aber er hatte Skar wohl richtig eingeschätzt: Statt das Leben des Goldbehelmten mit einem schnellen Messerschnitt zu beenden, versuchte er gleichzeitig sein Pferd zu beruhigen und Skarissa Marna weiter fest zu umklammern. Der Wolfsgesichtige schrie auf, als Skar so fest zudrückte, dass er ihm durch den Brustharnisch beinahe die Rippen brach, aber er gab nicht nach.

Skars Brauner preschte all seinen Bemühungen zum Trotz plötzlich los, während Marnas Rappe gleichzeitig einen Ausfallschritt machte und zur Seite tänzelte. Einen schrecklichen Augenblick hing Skar beinahe in der Luft; seine Körperkraft genügte nicht, um beide Pferde zu synchronen Bewegungen zu zwingen: Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich für eines der beiden Tiere zu entscheiden. Mit aller Kraft riss er Marna aus dem Sattel und zu sich herüber, während er sich gleichzeitig nach rechts warf und damit ihrer beider Gewicht so gut es ging austarierte.

Der Wolfsgesichtige strampelte wild mit Armen und Beinen und in einer anderen Situation hätte Skar angesichts dieser lächerlichen Befreiungsversuche wahrscheinlich laut aufgelacht. Doch so war er nur vollauf damit beschäftigt, sich auf dem durchgehenden Pferd festzuklammern, während er hinter ein paar Quorrl herpreschte, die gleich ihm ihre Tiere nicht mehr unter Kontrolle hatten. In diesem Moment kehrte der Drache zurück und spuckte Flammen und tödliche Hitze wie ein höllisches Bombardement, das ohne Unterschied und gleichermaßen auf sie alle niederzuckte, so als wollte der Frarr sie alle auf einmal auslöschen.

Und das war erst der Anfang.

Ein paar beherzte Krieger rissen Bogen oder Armbrüste hervor, spannten ihre Waffen und gaben ein paar hastige Schüsse ab. Die Pfeile und Bolzen jagten der Flugechse entgegen wie eine Insektenschar, die Ziel und Orientierung verloren hatte, und prasselten weit hinter dem Frarr zu Boden, als dieser bereits über ihren Köpfen vorbeigedonnert war. Mit heftigen Schlägen seiner gewaltigen Flügel sauste der Drache auf die Nachhut der Reitergruppe zu, als wollte er sie in Grund und Boden stampfen; erst kurz vor ihnen zog er wieder ein Stück hoch, doch nur so weit, dass die ledernen Schwingen in Höhe der Pferdeköpfe über die Reiter schrammten und ein paar Quorrl aus dem Sattel gehoben wurden und krachend zu Boden stürzten.

Wer nicht das Glück wie Skar hatte, schon weit genug vom Ort der Zerstörung entfernt zu sein, sprang freiwillig ab und eilte in den trügerischen Schutz der wenigen Bäume am Wegesrand. Waffen wurden gezogen, Bogen gespannt, Armbrüste schussfertig gemacht und Kommandos gebrüllt, doch dann war der Drache auch schon wieder heran, geschuppt und gigantisch und mit rot leuchtenden, bösen Augen, eine tobende Bestie, deren wuchtiger, peitschenschneller Schwanz ein paar herrenlose Pferde beiseite wischte, als wären sie lästiges Ungeziefer. In das schrille Aufjaulen der gepeinigten Tiere, das Schreien der Sterbenden und Verwundeten mischte sich ein neuer, furchtbarer Laut, kein Fauchen mehr, sondern ein Grollen wie das eines Sturmes, der mühelos gegen ein Haus anrennt und es zusammenstürzen lässt...

Ein gleißender Blitz zerriss den Tag und für die Dauer eines Lidschlags spiegelte sich das grausame Licht in Marnas Goldmaske und verlieh seinem Wolfsgesicht das Aussehen eines zornigen Gottes, der mit höllischem Feuer versuchte das Unabwendbare zurückzuweisen; aber es war nicht Marna, der über solcherart gewaltige Kräfte verfügte, sondern der Drache, der mit einer Feuersbrunst über sie herkam, die nichts Vergleichbares kannte und so unfassbar war wie das Khtaám in seinen grausamen wie bedrohlichen Manifestationen - aber kein bisschen weniger tödlich.

Bäume und Unterholz zerbarsten oder knickten um, als hätten Riesenfäuste auf sie eingeschlagen, regelrechte Explosionen erschütterten getroffene Menschen und Tiere und ein Quorrl, der dicht hinter Skar hergesprengt war, brach mit schwelender Kleidung in seinem Sattel zusammen, Gesicht und Hände furchtbar verbrannt und von züngelnden Flammen zerrissen. Skar glaubte flüssiges Feuer zu atmen. Die Hitzewelle fraß sich in seine Haut, als ob sie ihn bei lebendigem Leib verbrennen wollte, doch das Pferd jagte in riesigen Sätzen weiter, weg von der wabernden Wand aus Hitze und den alles verschlingenden Flammen. Das Gesicht eine Maske aus Grauen und Schmerz, die Kleider versengt und sein Haar schwelend, spürte Skar einen zweiten Schlag unbarmherziger Hitze, der ihn fast aus dem Sattel fegte und ihm Tränen des Schmerzes in die Augen trieb. Überall waren Feuer, Schreie und schwarze, brennende Dinge, die sich sein Bewusstsein weigerte, als das zu erkennen, was sie waren: reiterlose Pferde, die blind vor Angst und Schmerz hin und her liefen, Krieger, die verletzt waren oder denen der Schrecken den Verstand geraubt hatte.

Es hätte der Todeskampf der Welt sein können oder deren wahnsinnig übersteigerte Veränderung von einem gewalttätigen, aber halbwegs strukturierten Ganzen zum völligen Chaos; die Grenze zwischen Gut und Böse endgültig aufgesprengt, die Menschen hinausgestoßen in einen zerrissenen Wirbel widersprüchlicher, sinnloser Handlungen, die alle nur eins bedeuteten: Untergang und Vernichtung. Ein flatternder Wechsel zwischen sengenden Feuerstößen und rasenden Hitzewellen, zwischen bizarren Farbwirbeln und grotesken Mustern, bunten Kreisen, die sich auflösten und, Sonneneruptionen ähnlich, wilde Formen hinausschleuderten in eine bizarre Welt aus Licht und Bewegung, durch die der Feuer speiende Drache zog, unbekannten Regeln folgend auf einer verwirrenden Flugbahn, die jeden Ansatz zur Gegenwehr im Keim erstickte.

Skars Brauner hatte sich bislang auf den Beinen halten können und galoppierte jetzt mit weit ausgreifenden Sätzen weiter in Richtung der geschwungenen, fast spielerisch verzierten Dächer, deren Fröhlichkeit in krassem Gegensatz stand zu dem Entsetzen, das im Tal Einzug gehalten hatte. Flammen und Rauch verwandelten den Weg zum Tempel in ein Kaleidoskop des Todes; die Flammenwirbel schienen an dutzenden von Stellen gleichzeitig Nahrung zu finden und mit feurigen Armen nach ihm zu greifen, und in seinen Ohren gellten die Todesschreie der Quorrl, Satai und Tiere, die rings um ihn starben, aber er jagte weiter und hielt Marna dabei reflexartig umklammert, nur beseelt von dem Gedanken so schnell wie möglich dem feurigen Odem der Riesenechse zu entkommen und zu sehen, ob er irgendwo weiter vorne auf Esanna und Kama stieß, die zurzeit des Angriffs im Tross weit vor ihm geritten waren.

Vor ihnen tauchte plötzlich ein dunkler Schatten auf, ein verletzter Quorrl, der auf Händen und Füßen von dem Grauen wegzukrauchen versuchte und ihnen dabei, wohl blind vor Schmerz, in die Quere kam. Das Pferd versuchte das Hindernis zu überspringen, schaffte es aber nicht; seine Hinterläufe erwischten den verletzten Reptilienkrieger und schleuderten ihn zur Seite. Skar ließ instinktiv Marna los und stieß sich ab; er machte eine Rolle über den Pferdehals und schlug auf dem Boden auf, als der Braune selber auch bereits durch die Luft flog und weitaus weniger elegant neben ihm auf den Boden knallte.

Ein, zwei Sekunden blieb Skar wie benommen liegen. Dann rappelte er sich mühsam hoch und starrte voller Entsetzen auf die Szene, die sich dort abspielte, wo er noch kurz zuvor gewesen war.

Die wütende Echse hatte zu einem neuen Angriff angesetzt, spie sengende Hitze und flammenden Tod. Eine Feuersäule schoss zwischen den Reitern empor, die es nicht rechtzeitig geschafft hatten, sich in Sicherheit zu bringen, drückte Pferdeleiber mit Urgewalt auseinander und versengte, was sich ihr in den Weg stellte, schleuderte Äste, Buschwerk und dunkle, verstümmelte Körper wie Spielzeuge durch die Luft, verbrannte sie mit ihrem Flammenatem, ehe sie hart auf dem Boden aufschlugen. Die Druckwelle raste weiter, wischte Menschen, Quorrl und Tiere mühelos beiseite, bis ihre Ausläufer wie der Atem eines zornigen Feuergottes über ihn hinwegfegte.

Skar rutschte gerade noch rechtzeitig in den Schutz des zuckenden Pferdeleibs, um der Wucht der Feuerwelle zu entgehen, und obwohl er instinktiv die Hände vors Gesicht riss, spürte er, wie die Hitze seine Haut versengte. Rings um ihn herum verwandelte sich der Weg und das angrenzende Buschwerk in ein Chaos aus zusammenbrechenden Tieren und Männern und Schreien, und die Luft kochte und stank plötzlich nach verschmortem Fleisch und brennendem Haar. Das Gellen der Schmerz- und Schreckensschreie steigerte sich zu einem fürchterlichen Crescendo und Skar starrte fassungslos auf mehrere Quorrl, die mit brennender Kleidung direkt auf ihn zustürmten und blind vor Schmerz und Panik an ihm vorbeijagten, ohne überhaupt Notiz von ihm zu nehmen.

Es war unglaublich. Er hatte so etwas noch nicht erlebt. Mit zitternden Händen drückte er sich vom Boden ab und sprang zu Marna hinüber, der auf der anderen Seite seines schwer verletzten Braunen zu Boden gestürzt war. Der Wolfsgesichtige schien ohne Bewusstsein zu sein, aber er lebte. Seine Brust hob und senkte sich in schnellen, ungleichmäßigen Stößen und als er ihn auf den Rücken wälzte, spürte er die Hitze, die von seiner metallenen Maske abstrahlte.

Hastig suchte Skar nach dem Verschluss der Wolfsmaske. Er konnte nicht behaupten, dass ihm an diesem Satai-Oberhaupt besonders viel lag, aber andererseits war dieser Mann zu wichtig, um ihn sich durch seine aufgeheizte Maske das Gesicht verbrennen zu lassen.

Marna bäumte sich auf und riss mit einem verzweifelten Ruck seine Hände zurück. »Nicht«, stöhnte er, aber es klang mehr wie ein Reflex als wie ein bewusster Protest.

In diesem Moment hatte Skar bereits den Verschluss gefunden: einen goldenen Riegel, der zwei Lederbänder zusammenhielt. Er warf einen flüchtigen Blick auf den Himmel und atmete erleichtert auf; im Augenblick war nichts von dem Frarr zu sehen. Trotzdem ahnte er, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb, wollte er dem nächsten Angriff rechtzeitig entgehen.

»Nicht«, stöhnte Marna noch einmal. Aber seine Abwehrbewegung war so schwach, dass Skar sie nicht einmal beachtete, als er nun endlich den Helm löste. Trotz des Entsetzens, das ihn nach wie vor gepackt hielt, war er doch auch voller Neugierde und gespannter Erwartung: Er wollte endlich wissen, wie Marna aussah.

Als er den fast glühend heißen Helm ablegte, weigerte er sich einen Herzschlag lang zu begreifen, was er da sah; der Anblick kam zu unerwartet. Fassungslos starrte er in mandelförmige, dunkle Augen und ein ebenmäßiges, noch erstaunlich junges Gesicht.

Marna war kein Mann.

Marna war eine Frau.

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