Kapitel 18

In der Kanzlei Renquist, Renquist & Fitzgerald saß Steve Sloane mit Simon Fitzgerald bei einer Tasse Kaffee zusammen.

«Um Shakespeare zu zitieren: >Es ist etwas faul im Staate Dänemarks«

«Was beunruhigt dich?«fragte Fitzgerald.

Steve seufzte.»Ich weiß nicht so recht. Es betrifft die Stanfords: Sie geben mir Rätsel auf.«

Simon Fitzgerald schnaubte verächtlich.»Willkommen im Club.«

«Ich komme immer wieder auf eine zentrale Frage zurück, Simon, und finde keine Antwort.«

«Und wie lautet die Frage?«

«Den Kindern lag sehr viel daran, daß Harry Stanfords Leiche exhumiert wurde, um seine DNS-Werte mit denen von dieser Frau vergleichen zu können. Folglich müssen wir davon ausgehen, daß es für das Verschwinden der Leiche eigentlich nur eine mögliche Erklärung geben kann — nämlich einen Vergleich zwischen den DNS-Werten dieser Frau und Harry Stanfords zu verhindern. Doch die einzige Person, die davon profitieren könnte, wäre ebendiese Frau — sofern sie eine Betrügerin ist.«

«Richtig.«

«Trotzdem ist dieser Privatdetektiv, dieser Frank Timmons — ich habe mich beim Bezirksstaatsanwalt vergewissert, er genießt einen ausgezeichneten Ruf —, mit Fingerabdrücken angekommen, die beweisen, daß es sich bei dieser Frau um die wahre Julia Stanford handelt. Meine Frage lautet: Wer hat Harry Stanfords Leiche ausgegraben und verschwinden lassen? Und mit welcher Absicht?«»Das ist die große Frage, falls…«

Die Sprechanlage summte, und eine Sekretärin sagte:»Mr. Sloane, ein Gespräch für Sie auf der zweiten Leitung.«

Steve Sloane nahm den Hörer ab.»Hallo…«

«Mr. Sloane«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung,»hier Richter Stanford. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie noch heute vormittag in Rose Hill vorbeischauen könnten.«

Steve wechselte einen Blick mit Fitzgerald.»Einverstanden, in ungefähr einer Stunde?«

«Das wäre prima. Ich danke Ihnen.«

Steve legte den Hörer auf.»Eine Aufforderung zum Vorsprechen im Hause der Stanfords.«

«Da bin ich aber neugierig, was sie von dir wollen.«

«Ich wette zehn zu eins, daß es ihnen um eine Beschleunigung der Freigabe des Testaments geht, damit sie endlich an das viele schöne Geld herankommen.«

«Lee? Hier Tyler. Wie geht's?«

«Bestens, danke.«

«Du fehlst mir.«

Kurzes Schweigen, dann:»Du fehlst mir auch, Tyler.«

Dieser Satz tat ihm gut.»Lee, ich habe dir eine aufregende Neuigkeit mitzuteilen, aber ich kann darüber nicht am Telefon sprechen. Es betrifft etwas, das dich sehr glücklich machen wird. Wenn wir beide…«

«Ich muß auflegen, Tyler, ich bin nicht allein.«

«Aber…«

Die Leitung war tot.

Tyler saß einen Moment unbeweglich da und überlegte: Er hätte sicherlich niemals gesagt, daß ich ihm fehle, wenn er es nicht auch so gemeint hätte.

Bis auf Woody und Peggy waren alle im Wohnzimmer in Rose Hill versammelt, und Steve Sloane studierte die

Gesichter.

Richter Stanford machte einen ungewöhnlich entspannten Eindruck. Kendall wirkte seltsam verkrampft, und ihr Mann Marc, der für diese Zusammenkunft am Vortag aus New York eingetroffen war, war ein gutaussehender Franzose und ein paar Jahre jünger als seine Frau. Und schließlich Julia — sie nahm ihre Aufnahme in die Familie auffallend ruhig und gelassen hin. Steve wurde nachdenklich. Ich hätte eigentlich erwartet, daß ein Mensch nach einer unerwarteten Millionenerbschaft ein bißchen aufgeregt ist.

Er ließ ihre Gesichter noch einmal Revue passieren. Ob einer von ihnen Harry Stanfords Leiche gestohlen hatte? Und wenn ja, wer könnte es gewesen sein, und zu welchem Zweck?

Tyler hatte das Wort ergriffen.»Mr. Sloane, mit dem Erbschaftsrecht des Staates Illinois bin ich vertraut, nur weiß ich nicht, wie sehr es sich von den hiesigen Gesetzen unterscheidet. Wir hätten gern von Ihnen gewußt, ob sich die Prozedur nicht irgendwie beschleunigen ließe?«

Steve mußte innerlich grinsen. Ich hätte darauf bestehen sollen, daß Simon meine Wette annimmt. Er wandte sich Tyler zu.»Wir arbeiten daran, Richter.«

«Der Name Stanford«, sagte Tyler mit Nachdruck,»müßte doch helfen, ein bißchen Druck zu machen.«

Damit hat er völlig recht, dachte Steve und nickte.»Ich tue, was ich kann. Sofern es überhaupt möglich sein sollte, die…«

Von der Treppe her drangen laute Stimmen herüber.

«Halt endlich den Mund, du blöde Kuh! Ich will nichts mehr davon hören! Hast du mich verstanden!?«

Woody und Peggy kamen die Treppe herunter und betraten den Raum. Peggys Gesicht war geschwollen, und sie hatte ein blaues Auge. Woody grinste, und seine Augen glänzten unnatürlich.

«Tag alle miteinander. Hoffentlich kommen wir nicht zu spät.«

Die Blicke aller Anwesenden richteten sich schockiert auf Peggy.

Kendall stand auf.»Was ist geschehen?«

«Gar nichts. Ich… ich bin gegen eine Tür gerannt.«

Woody ließ sich auf einen Stuhl sinken, und Peggy nahm neben ihm Platz. Woody tätschelte ihr die Hand und erkundigte sich fürsorglich:»Fühlst du dich wohl, Liebste?«

Peggy nickte, sagte aber nichts.

«Gut. «Woody widmete seine Aufmerksamkeit den anderen.»Also — was habe ich verpaßt?«

Tyler warf ihm einen mißbilligenden Blick zu.»Ich hatte Mr. Sloane gerade gefragt, ob er nicht ein bißchen Druck machen kann, damit das Testament rasch in Kraft tritt.«

«Das wäre mir nur recht. «Woody wandte sich grinsend an Peggy.»Du hättest doch sicher gern ein paar neue Kleider, nicht wahr, mein Schatz?«

«Ich brauche keine neuen Sachen«, erwiderte sie nervös.

«Auch wahr. Du gehst ja doch nie aus, oder?«Er drehte sich wieder den anderen zu.»Peggy ist nämlich sehr schüchtern. Sie weiß nicht, worüber sie sich unterhalten könnte. Hab ich recht?«

Peggy rannte aus dem Zimmer.

«Ich will sehen, wie's ihr geht«, sagte Kendall, stand auf und ging aus dem Zimmer.

Du meine Güte! dachte Steve. Wenn Woody sich schon in Gegenwart fremder Menschen so aggressiv aufführt, wie wird er sich da erst verhalten, wenn er mit seiner Frau allein ist!?

Woody ergriff das Wort.»Wie lange«, fragte er Steve,»sind Sie schon in Fitzgeralds Kanzlei tätig?«

«Fünf Jahre.«

«Ich werde nie verstehen, wie Sie's ausgehalten haben, für meinen Vater zu arbeiten.«

«Ihr Vater konnte, soweit ich weiß«, Steve suchte nach dem richtigen Wort,»… ziemlich schwierig sein.«

Woody schnaubte.»Schwierig? Er war ein zweibeiniges Ungeheuer! Wußten Sie, daß er für jeden von uns einen Spitznamen hatte? Mich hat er immer nur Charlie genannt — nach Charlie McCarthy, einer Scheinperson des Bauchredners Edgar Bergen. Meine Schwester hieß bei ihm nur Pony, weil er fand, daß sie ein Pferdegesicht hatte. Und sein Spitzname für Tyler…«

Steve, dem die Sache peinlich war, fiel ihm ins Wort.»Ich glaube wirklich nicht, daß Sie…«

«Ist schon gut«, lenkte Woody ein.»Millionen von Dollar heilen viele Wunden.«

Steve erhob sich.»Nun denn, wenn Sie weiter nichts auf dem Herzen haben, sollte ich mich jetzt wohl besser verabschieden. «Er konnte es nicht abwarten, nach draußen an die frische Luft zu kommen.

Peggy drückte sich im Badezimmer gerade ein kaltes, feuchtes Tuch an die geschwollene Wange, als Kendall eintrat.

«Peggy? Geht es dir gut?«

Peggy drehte sich um.»Mir geht's gut, danke… Tut mir leid, das vorhin unten.«

«Du entschuldigst dich? Wütend solltest du sein. Seit wann schlägt er dich schon?«

«Er schlägt mich nicht«, widersprach Peggy und wiederholte stur:»Ich bin gegen eine Tür gerannt.«

Kendall trat näher.»Peggy — warum läßt du dir das bieten? Das hast du doch nicht nötig!«

Kurzes Schweigen.»Es ist nötig.«

«Aber wieso denn?«Kendall schaute sie verständnislos an.

«Weil ich ihn liebe. «Und dann strömten die Worte nur so aus ihrem Mund.»Und er liebt mich auch. Glaub mir, er ist nicht immer so. Es ist nur so, daß er… Manchmal ist er eben einfach nicht er selbst.«

«Du meinst, wenn er Drogen genommen hat.«»Nein!«

«Peggy…«

«Nein!«

«Peggy… «

Sie zögerte, bevor sie zugab:»Wahrscheinlich hast du recht.«

«Wann hat das angefangen?«

«Gleich… gleich nach der Hochzeit. «Peggys Stimme klang heiser.»Angefangen hat es nach einem Polospiel. Woody wurde nach einem Sturz vom Pferd schwer verletzt und bekam dann im Krankenhaus starke Schmerzmittel. Die haben ihn auf die Idee gebracht. «Sie schaute Kendall flehentlich an.»Es war also nicht seine Schuld, verstehst du? Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus hat er… hat er weiterhin Mittel genommen. Und wenn ich versucht habe, ihn davon abzubringen, hat er… hat er mich jedesmal geschlagen.«

«Um Gottes willen, Peggy! Er braucht Hilfe! Verstehst du das denn nicht? Allein schaffst du's nie. Er ist drogensüchtig. Was nimmt er denn? Kokain?«

«Nein. «Sie blieb einen Augenblick still.»Heroin.«

«O mein Gott! Kannst du ihn nicht so weit bringen, daß er einen Arzt aufsucht?«

«Ich hab's versucht. «Ihre Stimme war zu einem Flüstern geworden.»Du weißt ja nicht, wie oft ich's versucht habe! In drei Rehabilitationskliniken ist er schon gewesen. «Sie schüttelte den Kopf.»Danach geht's eine Zeitlang gut, aber dann… dann fängt er wieder damit an. Er… kann nicht anders.«

Kendall nahm Peggy in die Arme.»Das tut mir ja so leid«, sagte sie.

Peggy rang sich ein Lächeln ab.»Ich bin ganz sicher, daß Woody es irgendwann schafft. Er gibt sich große Mühe, wirklich. «Ihre Miene hellte sich auf.»Am Anfang unserer Ehe war er ein prima Kumpel. Wir haben immer nur gelacht miteinander, und er hat mir kleine Geschenke gemacht und… «

Ihr traten Tränen in die Augen.»Ich hab ihn ja so lieb!«

«Falls ich irgend etwas tun kann…«

«Danke«, flüsterte Peggy.»Das ist sehr nett von dir.«

Kendall ging wieder nach unten. Als wir noch Kinder waren, vor dem Tod unserer Mutter, dachte sie, haben wir uns die Zukunft so schön vorgestellt.»Du wirst eine berühmte Modeschöpferin, Schwester lein, und ich werde einmal der beste Sportler der Welt!«Und was das Traurige an der Sache ist — es wäre möglich gewesen. Und nun das.

Kendall wußte plötzlich nicht mehr, ob sie mehr Mitleid mit Woody oder mit Peggy haben sollte.

Kendall war schon fast unten, als Clark mit einem Brief in der Hand auf sie zukam.»Verzeihung, Miss Kendall, dieser Brief ist eben von einem Boten abgegeben worden. «Er reichte ihr den Umschlag. Kendall blickte überrascht auf.»Wer…«Sie nickte wie geistesabwesend mit dem Kopf.»Danke, Clark.«

Kendall öffnete den Umschlag und erbleichte, als sie den Brief las.»Nein!«stieß sie gepreßt hervor. Ihr Puls raste, ihr wurde schwindlig, und sie mußte sich an einem Tisch festhalten. Sie versuchte tief zu atmen.

Als sie sich endlich wieder im Griff hatte, ging sie ins Wohnzimmer, wo die Versammlung im Aufbruch begriffen war.

«Marc…«Kendall, kreidebleich, hatte Mühe, ruhig zu wirken.»Könnte ich dich einen Moment sprechen?«

Er schaute sie besorgt an.»Aber gewiß.«

«Geht's dir nicht gut, Kendall?«fragte Tyler.

Sie zwang sich zu einem Lächeln.»Alles in Ordnung, danke.«

Sie nahm Marc an der Hand und ging mit ihm nach oben. Im Schlafzimmer schloß sie die Tür hinter sich ab.

«Was ist los?«wollte Marc wissen.

Kendall reichte ihm den Umschlag. Der Brief lautete:

Liebe Mrs. Renaud,

Glückwunsch! Unser Tierschutzverband war hocherfreut, als wir durch die Zeitung von Ihrem großen Glück erfuhren. Da uns Ihre Anteilnahme für unsere Arbeit bekannt ist, rechnen wir weiterhin mit Ihrer Unterstützung. In diesem Sinne würden wir es gutheißen, wenn Sie innerhalb der nächsten zehn Tage eine Million US-Dollar auf unserem Nummernkonto in Zürich deponieren könnten. Wir sehen Ihrer baldigen Nachricht entgegen.

Wie in allen anderen Briefen auch, war der Buchstabe E beschädigt.

«Die Mistkerle!«schimpfte Marc.

«Wieso haben sie gewußt, daß ich hier bin?«fragte Kendall.

«Dazu brauchten sie doch nur eine Zeitung aufzuschlagen!«antwortete Marc bitter. Kopfschüttelnd las er den Brief noch einmal durch.»Die werden nie aufhören. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei zu verständigen.«

«Nein!«rief Kendall.»Das ist unmöglich, dafür ist es zu spät. Verstehst du denn nicht? Dann wäre alles aus. Alles!«

Marc nahm sie in die Arme.»Ist ja gut. Dann müssen wir eben eine andere Möglichkeit finden.«

Doch Kendall wußte genau, daß es keine andere Möglichkeit gab.

Der Vorfall hatte sich vor einigen Monaten ereignet, an einem — wie es zunächst den Anschein hatte — wundervollen Frühlingstag. Kendall war zur Geburtstagsfeier einer Freundin nach Ridgefield, Connecticut, gefahren. Es war ein sehr schönes Fest geworden, und Kendall hatte sich nach langer Zeit mal wieder mit alten Freundinnen unterhalten können. Sie hatte gerade ein Glas Champagner geleert und plauderte angeregt, als ihr Blick auf die Uhr fiel.»Oje, ich hab gar nicht gewußt, daß es schon so spät ist. Marc erwartet mich.«

Sie hatte sich eiligst verabschiedet, war zu ihrem Auto gerannt, eingestiegen und losgebraust. Unterwegs faßte sie den Entschluß, eine Abkürzung zu nehmen und über eine kurvenreiche Landstraße zu fahren, die zur Route J-864 nach New York führte. Sie fuhr mit etwa achtzig Stundenkilometern, als sie nach einer scharfen Biegung auf der rechten Straßenseite ein parkendes Fahrzeug bemerkte. Kendall riß instinktiv das Steuer nach links, und in diesem Moment überquerte eine Frau mit frisch gepflückten Blumen in der Hand die schmale Fahrbahn. Kendall versuchte verzweifelt, ihr auszuweichen — aber es war zu spät.

Das Folgende erlebte sie wie durch einen Schleier. Kendall hörte einen furchtbaren Aufprall, als sie die Frau mit der linken Stoßstange erfaßte, und brachte den Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Sie zitterte am ganzen Körper, sprang aus dem Wagen und rannte zu der Frau hin, die blutüberströmt auf der Straße lag.

Vor Schreck blieb sie wie angewurzelt stehen. Als sie endlich den nötigen Mut fand, sich bückte und die Frau auf den Rücken drehte, um in ihr Gesicht zu sehen, bemerkte sie die starren Augen.»O mein Gott!«flüsterte Kendall. Hilflos sah sie sich um, wußte nicht, was sie tun sollte — nirgends war ein anderes Auto in Sicht. Sie ist tot, dachte Kendall. Ich kann ihr doch nicht mehr helfen. Es war nicht meine Schuld, aber man wird mir vorwerfen, unter Alkoholeinfluß unvorsichtig gefahren zu sein. Man wird einen Alkoholtest machen, und ich komme ins Gefängnis.

Sie warf noch rasch einen letzten Blick auf die Tote, dann hastete sie zurück zu ihrem Wagen. Die Stoßstange wies vorne links eine Delle auf, außerdem einige Blutflecken. Ich muß den Wagen in die Garage stellen, sagte sich Kendall, weil die Polizei natürlich nach dem Unfallwagen fahnden wird. Sie stieg ein und brauste los.

Während der restlichen Fahrt schaute sie immer wieder in den Rückspiegel, da sie Blaulicht und Polizeisirenen erwartete, bis sie in die Garage an der Ninetysixth Street fuhr und Sam, den Eigentümer, dort im Gespräch mit seinem Kfz-Mechaniker Red bemerkte. Kendall stieg aus.

«'n Abend, Mrs. Renaud«, grüßte Sam.

«Gu… guten Abend. «Sie hatte Mühe, gegen das Zähneklappern anzukämpfen.

«Soll'n wir ihn für die Nacht wegstellen?«

«Ja… Ja, bitte.«

Red musterte die Stoßstange.»Da haben Sie aber eine böse Delle, Mrs. Renaud. Scheint auch Blut dran zu kleben.«

Die beiden Männer wechselten einen vielsagenden Blick.

Kendall holte tief Luft.»Ich… ich habe auf dem Highway ein Reh erwischt.«

«Da können Sie aber von Glück reden, daß der Schaden nicht größer ist«, meinte Sam.»Als neulich einem Freund von mir ein Reh vor den Wagen lief, hatte sein Wagen Totalschaden. «Er lächelte verschmitzt.»Dem Reh ist's aber auch nicht gut bekommen.«

«Wenn Sie ihn für mich parken würden«, bat Kendall.

Sie ging zum Ausgang, schaute sich noch einmal um und sah die beiden Männer in einer angestrengten Begutachtung der Stoßstange vertieft.

Als Kendall zu Hause Marc von dem schrecklichen Unfall berichtete, nahm er sie in die Arme.»O mein Gott, Liebling, wie konnte das…?«

Kendall schluchzte laut auf.»Ich… ich konnte es doch nicht verhindern. Sie ist mir direkt vor den Wagen gelaufen. Sie — sie hatte am Straßenrand einen Blumenstrauß gepflückt und…«

«Psst! Ich bin sicher, daß du keine Schuld hast. Es war ein Unfall. Wir müssen es der Polizei melden.«»Ich weiß. Du hast ja recht. Ich… ich hätte dortbleiben und das Eintreffen der Polizei abwarten sollen. Ich habe… ich habe die Nerven verloren, habe Fahrerflucht begangen. Aber ich hätte nichts mehr für sie tun können, sie war tot. Du hättest ihr Gesicht sehen sollen. Es war furchtbar.«

Er hielt sie in den Armen, bis sie sich ein wenig beruhigt hatte.

«Marc«, sagte sie dann langsam,»… muß das sein, daß wir zur Polizei gehen?«

Er runzelte die Stirn.»Warum fragst du?«

Sie war einem Nervenzusammenbruch nahe.»Also, vorbei ist vorbei, oder? Sie kann doch nicht wieder lebendig gemacht werden. Ich kann nichts mehr tun. Was würde es ihr nützen, wenn ich bestraft werde? Ich habe es doch nicht absichtlich getan. Warum können wir denn nicht einfach so tun, als ob es nicht passiert wäre?«

«Kendall! Wenn es irgendwann herauskäme…«

«Aber wie denn? Es gab doch keine Augenzeugen.«

«Und was ist mit deinem Wagen? Ist er beschädigt worden?«

«Er hat eine Beule. Dem Garagenwachmann hab ich gesagt, ich hätte ein Reh überfahren. «Sie rang um Selbstbeherrschung.»Den Unfall hat doch niemand gesehen, Marc… Denk mal an die Folgen, falls ich verurteilt würde? Ich würde meine Firma verlieren, ich würde alles verlieren, was ich seit Jahren mühsam aufgebaut habe — und wofür? Wegen etwas, das unwiderruflich geschehen ist. Alles wäre aus. «Sie begann erneut heftig zu schluchzen.

Er drückte sie an sich.»Psst! Warten wir's ab, warten wir's ab.«

Die Morgenzeitungen brachten die Geschichte groß heraus. Was dem Ganzen zusätzlich Tragik verlieh, war die Tatsache, daß die tote Frau nach Manhattan unterwegs gewesen war, um zu heiraten. The New York Times berichtete nur die nackten

Fakten, Daily News und Newsday dagegen bauschten alles zu einer herzzerreißenden Tragödie auf.

Kendall kaufte sämtliche Zeitungen, las sie allesamt, und ihr Entsetzen über die eigene Tat wurde immer größer, und sie dachte ununterbrochen darüber nach, was gewesen wäre, wenn

Wenn ich nicht zum Geburtstag meiner Freundin nach Kentucky gefahren wäre…

Wenn ich an diesem Tag zu Hause geblieben wäre…

Wenn ich keinen Alkohol getrunken hätte…

Wenn die Frau die Blumen nur ein paar Sekunden später gepflückt hätte…

Ich bin für den Tod eines Menschen verantwortlich!

Kendall mußte an das furchtbare Leid denken, das sie den Angehörigen der Toten und ihrem Verlobten zugefügt hatte.

Laut Zeitungsberichten bat die Polizei die Bevölkerung um Hinweise auf alles, was möglicherweise im Zusammenhang mit der Fahrerflucht stehen könnte.

Es besteht keine Möglichkeit, daß sie mir auf die Spur kommen könnten, dachte Kendall. Ich muß mich nur so verhalten, als ob nichts geschehen wäre.

Als Kendall am nächsten Morgen ihren Wagen aus der Garage abholte, war Red allein dort.

«Ich habe das Blut von Ihrem Wagen abgewischt«, erklärte er.»Soll ich auch die Delle beseitigen?«

Natürlich — daran hätte ich wirklich gleich denken müssen! »Ja, bitte.«

Red musterte sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck oder bildete sie sich das nur ein?

«Ich hab mich gestern lang mit Sam über die Sache unterhalten«, bemerkte Red.»Das ist schon komisch, wissen Sie. Ein Reh hätte eigentlich einen viel größeren Schaden verursachen müssen.«

Kendalls Herz begann laut zu pochen. Ihr war der Mund plötzlich wie ausgedörrt, so daß sie kaum mehr reden konnte.»Es war… es war nur ein kleines Reh.«

Red nickte und meinte lakonisch:»Muß wirklich ein sehr kleines Reh gewesen sein.«

Kendall glaubte zu spüren, daß seine Blicke ihr folgten, als sie aus der Garage fuhr.

Im Büro fragte Kendalls Sekretärin Nadine beim Eintreten ihre Chefin besorgt:»Was ist denn mit Ihnen passiert?«

Kendall erstarrte.»Was… wie meinen Sie das?«

«Sie sehen richtig mitgenommen aus. Ich hole Ihnen einen Kaffee.«

«Ja, danke.«

Kendall trat vor den Spiegel. Sie sah blaß und erschöpft aus. Man braucht mich bloß anzuschauen, und man weiß sofort Bescheid!

Nadine kam mit einer Tasse Kaffee zurück.»Hier, das wird Ihnen guttun. «Sie musterte Kendall neugierig.»Ist irgendwas nicht in Ordnung?«

«Ich… ich hatte gestern einen kleinen Unfall«, erwiderte Kendall.

«Ja? Ist jemand verletzt worden?«

Kendall sah erneut das Gesicht der toten Frau vor sich.

«Nein… Mir ist nur ein Reh vor den Wagen gelaufen.«

«Und was ist mit dem Wagen?«

«Der ist zur Reparatur in der Werkstatt.«

«Ich werde bei der Versicherung anrufen.«

«Ach nein, bitte, Nadine, lassen Sie nur.«

Der erstaunte Blick Nadines war Kendall keineswegs entgangen.

Zwei Tage später war der erste Brief eingetroffen:

Liebe Mrs. Renaud,

ich bin Vorsitzender der Vereinigung zum Schutz der Tiere in freier Wildbahn, die sich in großen finanziellen Schwierigkeiten befindet. Ich bin sicher, daß Sie uns gern helfen möchten. Die Vereinigung benötigt dringend Mittel, um ihre Arbeit fortsetzen zu können. Eines unserer Hauptanliegen gilt dem Reh. Sie können $ 50.000 auf das Konto Nummer 804072-A bei der Schweizer Kreditbank in Zürich überweisen. Ich erlaube mir den ausdrücklichen Hinweis, daß diese Summe binnen der nächsten fünf Tage dort eingehen sollte.

Der Brief war ohne Unterschrift, und er war auf einer Schreibmaschine getippt worden, deren Buchstabe E beschädigt war. In dem Umschlag steckte außerdem ein Zeitungsausschnitt mit der Unfallmeldung. Kendall las den Brief zweimal durch: Die Drohung war unmißverständlich. Marc hat recht gehabt, überlegte Kendall. Ich hätte wirklich zur Polizei gehen sollen. Das Verschweigen hatte alles nur noch viel schlimmer gemacht. Sie hatte Fahrerflucht begangen, und wenn man sie jetzt schnappen würde, mußte sie unweigerlich mit einer Gefängnisstrafe und öffentlicher Schande rechnen — und mit dem Ende ihrer Karriere.

In der Mittagspause suchte sie ihre Bank auf.»Ich möchte gern fünfzigtausend Dollar telegrafisch nach Zürich überweisen… «

Als sie abends nach Hause kam, zeigte sie Marc den Brief.

Er war wie vom Donner gerührt.»Mein Gott!«rief er.»Wer könnte den geschrieben haben?«

«Jemand, der… aber von der Sache weiß doch niemand.«

«Irgend jemand weiß es eben doch, Kendall!«

Sie zuckte zusammen.»Aber die Umgebung des Unfallorts war total menschenleer, Marc! Ich…«

«Moment mal! Laß uns nachdenken. Versuche, dich genau an alles nach deiner Rückkehr in New York zu erinnern.«

«Da war gar nichts. Ich… ich habe den Wagen zur Garage gefahren, und…«Sie brach mitten im Satz ab. »Da haben Sie aber eine böse Delle, Mrs. Renaud, scheint auch Blut dran zu kleben.«

Marc bemerkte den veränderten Gesichtsausdruck seiner Frau.»Was?«

Kendall sagte gedehnt:»Der Garagenwachmann und der Kfz-Mechaniker waren anwesend, als ich den Wagen in die Garage fuhr — die haben das Blut an der Stoßstange bemerkt. Ich habe ihnen erklärt, daß ich ein Reh angefahren hätte, woraufhin sie einwandten, daß dann am Wagen ein größerer Schaden entstanden sein müßte. «Plötzlich kam ihr noch etwas anderes in den Sinn.»Marc…«

«Ja?«

«Nadine, meine Sekretärin. Der habe ich das gleiche erzählt, und ich habe bemerkt, daß sie mir ebenfalls nicht geglaubt hat. Es muß also eine von diesen drei Personen sein.«

«Nein«, widersprach Marc nachdenklich.

Sie starrte ihn überrascht an.»Was soll das heißen?«

«Setz dich, Kendall, und hör mir mal gut zu. Falls einer von diesen dreien Verdacht geschöpft hat, so wäre es durchaus möglich, daß er die Geschichte einem ganzen Dutzend anderer Menschen weitererzählt hat. Und über den Unfall selbst haben immerhin alle Zeitungen berichtet. Vermutlich hat irgend jemand einfach kombiniert. Obwohl ich persönlich ja der Ansicht bin, daß der Brief nur Bluff ist — ein Versuchsballon. Es war ein böser Fehler von dir, das Geld zu überweisen.«

«Aber wieso denn?«

«Weil die Person, die den Brief geschrieben hat, jetzt ganz genau weiß, daß du schuldig bist — daß du die Tat begangen hast. Verstehst du? Du hast ihm damit den fehlenden Beweis geliefert.«

«O mein Gott! Was soll ich nur machen?«jammerte Kendall.

Marc Renaud schwieg eine Weile und überlegte.»Ich habe da eine Idee, wie wir herausfinden können, wer dahintersteckt.«

Am nächsten Morgen saßen Kendall und Marc um zehn Uhr in der First Manhattan Security Bank dem stellvertretenden Direktor gegenüber.

«Was kann ich für Sie tun?«fragte Mr. Russell Gibbons die beiden.

«Wir möchten Sie bitten«, antwortete Marc,»ein

Nummernkonto in Zürich zu überprüfen.«

«Ja?«

«Wir hätten gern den Namen des Kontoinhabers erfahren.«

Gibbons rieb sich verlegen das Kinn.»Besteht da ein Zusammenhang mit einer kriminellen Tat?«

«Nein!«erwiderte Marc schnell.»Aber wieso fragen Sie?«

«Nun ja, es müßte schon ein krimineller Tatbestand vorliegen, also Geldwäsche oder ein Vergehen gegen Schweizer oder amerikanische Gesetze, sonst wird die Schweiz das Geheimnis eines dortigen Nummernkontos nie preisgeben. Die Reputation der Schweizer Banken beruht auf Verschwiegenheit.«

«Aber es muß doch eine Möglichkeit geben…«

«Bedaure, leider nicht.«

Kendall und Marc wechselten einen fragenden Blick. Kendalls Gesicht verriet Verzweiflung.

Marc erhob sich.»Ich danke Ihnen, daß Sie sich für uns Zeit genommen haben.«

«Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht helfen konnte. «Er begleitete sie zur Tür.

Als Kendall abends ihren Wagen in die Garage fuhr, waren weder Sam noch Red zu sehen. Nachdem sie den Wagen abgestellt hatte, bemerkte sie auf einem Tischchen in dem winzigen Büroraum eine Schreibmaschine. Kendall blieb stehen und fragte sich, ob an dieser Maschine womöglich der Buchstabe E defekt wäre. Ich muß es herauskriegen, dachte sie. Sie ging zum Eingang des Büros, zögerte kurz vor der Tür, trat dann aber doch ein und wollte sich eben der Schreibmaschine nähern, als wie aus dem Nichts Sam auftauchte.

«'n Abend, Mrs. Renaud«, grüßte er.»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Sie drehte sich überrascht um.»Nein… Ich habe nur gerade mein Auto eingestellt. Gute Nacht. «Sie eilte zur Tür.

«Gute Nacht, Mrs. Renaud.«

Als Kendall am nächsten Morgen wieder an dem Büro vorbeikam, war die Schreibmaschine verschwunden, und an ihrem Platz stand ein Computer.

Sam bemerkte Kendalls prüfenden Blick.»Hübsch, nicht wahr? Hab beschlossen, die Firma auf den neuesten Stand der Bürotechnologie zu bringen.«

Weil er sich's jetzt leisten kann?

Als sie ihren Verdacht am Abend Marc gegenüber äußerte, meinte er:»Möglich wäre es schon, aber ohne Beweise kommen wir nicht weiter.«

Am Montagmorgen wurde Kendall in ihrem Geschäft bereits von Nadine erwartet.

«Fühlen Sie sich heute besser, Mrs. Renaud?«

«Ja, danke der Nachfrage.«

«Ich hatte gestern Geburtstag. Sehen Sie mal, was mein Mann mir geschenkt hat!«Sie ging zum Wandschrank und holte einen herrlichen Nerzmantel heraus.»Wunderschön, nicht wahr?«

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