Kapitel 23

Auf die Idee, nach Boston zu reisen, war Julia gekommen, als sie auf dem Rückweg vom Mittagessen an einer exklusiven Damenboutique vorbeiging, in dessen Schaufenster ein Originalmodell von Kendall ausgestellt war. Von meiner Schwester! schoß es Julia durch den Kopf. Ihr darf ich für das, was meiner Mutter passiert ist, eigentlich keine Schuld geben, und meinen zwei Brüdern auch nicht. Und in diesem Augenblick war sie plötzlich von einer überwältigenden Sehnsucht nach ihren Geschwistern erfaßt worden, so daß sie sie unbedingt kennenlernen, mit ihnen sprechen und endlich Geborgenheit bei ihrer Familie finden wollte.

Im Büro hatte sie Max Tolkin mitgeteilt, daß sie für ein paar Tage verreisen müßte, und ihn etwas verlegen gebeten:»Wäre es wohl möglich, daß ich einen Vorschuß auf mein nächstes Monatsgehalt bekommen könnte?«

«Selbstverständlich«, hatte Tolkin freundlich erwidert.»Für Sie stehen ja bald Ferien an. Hier — mit den besten Wünschen für ein paar schöne Tage.«

Ob es wohl schöne Tage werden? überlegte Julia. Oder mache ich einen schrecklichen Fehler?

Als Julia nach Hause gekommen und Sally noch nicht von der Arbeit zurück gewesen war, hatte Julia gedacht: Ich darf nicht auf sie warten. Wenn ich nicht sofort hinfahre, werde ich nie fahren. Also hatte sie gepackt und Sally eine Nachricht hinterlassen.

Auf dem Weg zum Busbahnhof wurde Julia unsicher. Was mache ich eigentlich? Wie bin ich überhaupt zu diesem plötzlichen Entschluß gekommen? Und sie sagte sich leicht amüsiert: Ein plötzlicher Entschluß? Vierzehn Jahre habe ich dafür gebraucht! Sie war schrecklich aufgeregt. Was mochten das wohl für Menschen sein, ihre Halbgeschwister? Was wußte sie denn schon über sie: Ein Bruder war Richter, der zweite ein berühmter Polospieler und die Schwester eine bekannte Modedesignerin. Eine Familie von Erfolgsmenschen also, überlegte Julia. Und was bin ich? Hoffentlich blicken sie nicht von oben auf mich herab. Beim Gedanken an die Begegnungen, die ihr bevorstanden, und als sie in den Greyhound-Überlandbus einstieg und die Reise wirklich begann, bekam sie Herzklopfen.

In der South Station in Boston nahm Julia ein Taxi.

«Und wohin soll's gehen, Lady?«fragte der Taxifahrer.

Julia verließ der Mut.»Nach Rose Hill «hatte sie sagen wollen und erwiderte statt dessen:»Ich weiß es nicht.«

Der Fahrer drehte sich zu ihr nach hinten um und sagte freundlich:»Oje, und was machen wir jetzt — ich nämlich auch nicht.«

«Könnten Sie mich nicht einfach ein bißchen durch die Stadt fahren? Ich bin heute zum ersten Mal in Boston.«

Er nickte.»Natürlich.«

Er fuhr über die Summer Street bis zum Boston Common.

«Das ist hier der älteste öffentliche Park der Vereinigten Staaten«, erklärte der Taxifahrer.»Hier fanden früher die öffentlichen Hinrichtungen statt.«

Julia fielen Worte ihrer Mutter ein: »Im Winter bin ich mit den Kindern zum Schlittschuhlaufen zum Common gefahren. Woody war der geborene Sportler, du hättest ihn sehen sollen, ein süßer Junge. Ich hab immer gedacht, daß er der Erfolgreichste von den drei Geschwistern würde.« Es war fast so, als ob die Mutter neben ihr säße und diesen Augenblick miterlebte.

Mittlerweile hatten sie Charles Street und den Eingang zu den

Gärten erreicht.»Sehen Sie dort drüben, die Entchen aus Bronze?«sagte der Taxifahrer.»Ob Sie's glauben oder nicht — von denen hat jedes einen Namen.«

«Im öffentlichen Garten haben wir damals oft Picknick gemacht, und gleich am Eingang stehen richtig süße kleine Enten aus Bronze, und sie heißen Jack, Kack, Lack, Mack, Nack, Ouack, Pack und Quack.« Julia hatte es so lustig gefunden, daß ihre Mutter die Entennamen unablässig wiederholen mußte.

Julia warf einen vorsichtigen Blick auf den Taxameter — es wurde langsam teuer.»Könnten Sie mir ein günstiges Hotel empfehlen?«

«Selbstverständlich. Wie war's mit dem Copley Square Hotel?«

«Einverstanden.«

Ein paar Minuten später hielt das Taxi vor dem Hoteleingang.

«Viel Vergnügen in Boston, Lady.«

«Vielen Dank.«Wird mir der Aufenthalt hier Vergnügen bereiten? überlegte Julia. Oder wird's eine Katastrophe? Sie ging zu der Rezeption.

«Guten Tag. Kann ich etwas für Sie tun?«fragte der Angestellte.

«Ich hätte gern ein Zimmer.«

«Ein Einzelzimmer?«

«Ja.«

«Wie lange werden Sie bleiben?«

Sie zögerte mit der Antwort. Eine Stunde? Zehn Jahre?» Ich weiß es nicht.«

«Okay. «Er überprüfte das Schlüsselregal.»Ich hätte ein hübsches Zimmer für Sie im vierten Stock.«

«Ja, gerne. «Sie trug sich mit einer schönen, geschwungenen Handschrift ins Melderegister ein: JULIA STANFORD.

Der Mann an der Rezeption reichte ihr einen Schlüssel.»So, das war's. Angenehmen Aufenthalt.«

Es war ein kleines Zimmer, ordentlich und sauber. Und nach dem Auspacken rief Julia sofort Sally an.

«Julia? Mein Gott, wo bist du?«

«Ich bin in Boston.«

«Ist auch alles okay?«Sally klang beinahe hysterisch.

«Ja, wieso fragst du?«

«Du hattest Besuch — von einem Mann, ich glaube, er wollte dich umbringen.«

«Was sagst du da?«

«Er hatte ein Messer bei sich… du hättest den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen sollen…«Sie rang nach Atem.»Als er merkte, daß er mich mit dir verwechselt hatte, ist er getürmt!«

«Das glaube ich nicht!«

«Angeblich arbeitet er bei A. C. Nielsen — aber ich habe dort angerufen, und die kannten nicht mal seinen Namen! Kennst du jemanden, der es auf dich abgesehen hat?«

«Selbstverständlich nicht, Sally! Sei nicht albern! Hast du die Polizei angerufen?«

«Natürlich. Die hat mir aber auch nicht weiterhelfen können und mir den Rat gegeben, in Zukunft fremden Männern gegenüber vorsichtiger zu sein.«

«Also, mir geht's echt prima, du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. «Sie hörte, wie Sally erleichtert aufatmete.

«Na schön, solange dir's nur gutgeht. Julia?«

«Ja.«

«Paß gut auf dich auf, ja?«

«Selbstverständlich.«Was Sally sich bloß immer zusammenfantasiert! Wer sollte sie umbringen wollen?

«Weißt du schon, wann du wieder zurückkommst?«

Die gleiche Frage, die der Mann an der Rezeption gestellt hatte.»Nein.«

«Du bist dort hingefahren, um deine Verwandten kennenzulernen, nicht wahr?«»Ja.«

«Viel Glück.«

«Danke, Sally.«

«Ruf mal wieder an.«

«Bestimmt.«

Julia legte auf, blieb aber bewegungslos sitzen, da sie nicht wußte, was sie unternehmen sollte. Wenn ich Grips hätte, würde ich mich in den nächsten Bus setzen und wieder heimfahren. Ich habe bisher nur die Zeit in die Länge gezogen, um mich vor den nächsten Schritten zu drücken. Bin ich etwa nach Boston gekommen, um die Stadt zu besichtigen? Nein. Ich bin hier, um meine Angehörigen zu besuchen. Soll ich sie wirklich auf suchen? Nein… Ja… Und wenn sie mich nun hassen? Aber das darf ich mir gar nicht erst einreden. Sie werden mich liebhaben, und ich werde sie auch liebhaben. Sie starrte den Telefonapparat an und überlegte: Vielleicht wär's besser, wenn ich vorher anriefe. Nein! Dann könnte es passieren, daß sie es ablehnen, mich zu empfangen. Sie ging zum Schrank und nahm ihr bestes Kleid heraus. Jetzt oder nie.

Und eine halbe Stunde später saß sie im Taxi nach Rose Hill, um die Bekanntschaft ihrer Familie zu machen.

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