Kapitel 4

Sein Vorbild war Dan Quayle, der für ihn zum politischen Leitbild geworden war, das er häufig beschwor.

«Es ist mir völlig egal, was die Leute über Quayle reden, denn er ist der einzige Politiker, der noch wahre Wertvorstellungen hat. Er glaubt an die Familie, denn ohne die Werte des Familienlebens würde es noch schlimmer um unser Land stehen. Wenn ich mir all die jungen unverheirateten Männer und Frauen vorstelle, die zusammenleben und Babys kriegen — das ist doch furchtbar. Da muß man sich über unsere hohe Kriminalitätsrate gar nicht wundern. Mit meiner Stimme hätte Dan Quayle als Präsidentschaftskandidat jedenfalls rechnen können. «Er empfand es als Schande, daß er wegen irgendeines blöden Paragraphen nicht mehr wählen durfte, doch an seinem unerschütterlichen Vertrauen zu Dan Quayle ließ er keinen Zweifel aufkommen.

Er hatte vier Kinder, einen achtjährigen Sohn, Billy, und drei Mädchen — Amy, Clarissa und Susan, die zehn, zwölf und vierzehn Jahre alt waren. Wundervolle Kinder, die sein ein und alles waren, und die Wochenenden waren dem Zusammensein mit den Kindern vorbehalten. Er grillte für sie, er spielte mit ihnen, ging mit ihnen ins Kino und ins Sportstadion, er half ihnen bei den Schularbeiten. Er wurde von allen Jugendlichen der Umgebung bewundert, er reparierte ihre Fahrräder, ihr Spielzeug, und er lud sie mit ihren Familien zu Picknicks ein. Sie gaben ihm einen Spitznamen: Papa.

An einem sonnigen Samstagmorgen saß Papa auf der Zuschauertribüne und beobachtete das Baseballspiel. Es war ein richtiger Bilderbuch-Wochenendtag mit warmem Sonnenschein und Schäfchenwolken am Himmel. Sein achtjähriger Sohn Billy war am Schlagholz, richtig profihaft und erwachsen sah er aus in seinem Jugendligatrikot. Neben Papa saßen seine Frau und die drei Töchter. Etwas Schöneres kann's doch gar nicht geben, dachte Papa. Warum sind nicht alle Familien so wie wir?

Das achte Inning ging dem Ende entgegen, es stand unentschieden, zwei Spieler waren draußen und die Male vorbereitet. Billy stand am Heimmal, und von drei Bällen hatte er zwei vergeben.

«Kauf sie dir, Billy!«schrie der Vater ihm aufmunternd zu.»Hau den Ball über den Zaun!«

Billy wartete auf den Wurf. Schnell und tief kam der Ball geflogen, und Bill schlug wie wild nach dem Ball — daneben.

«Dritter Schlag!«rief der Schiedsrichter.

Das Inning war vorbei.

Von der Zuschauertribüne, wo Eltern, Verwandte und Familienfreunde saßen, ertönte lautes Aufstöhnen und Jubeln. Billy blieb beim Seitenwechsel der beiden Mannschaften mit herunterhängenden Armen mutlos stehen.

«Alles in Ordnung, Sohn!«rief Papa.»Beim nächsten Mal schaffst du's bestimmt.«

Billy hatte Mühe, sich zu einem Lächeln durchzuringen.

Der Teamchef John Cotton wartete auf Billy.»Du bist draußen!«rief er laut.

«Aber, Mr. Cotton…«

«Los, lauf schon. Runter vom Spielfeld!«

Billys Vater beobachtete staunend und mit verletztem Stolz, wie sein Sohn das Feld verließ. Das kann er doch nicht machen, dachte er. Er muß Billy noch eine Chance geben. Ich werde es Mr. Cotton klarmachen. Genau in diesem Moment begann jedoch sein Mobiltelefon zu läuten, dessen Nummer nur einem einzigen Menschen bekannt war. Er weiß aber doch, daß ich's nicht leiden kann, an Wochenenden gestört zu werden. Billys Vater war äußerst verärgert.

Er zögerte, bevor er die Antenne herauszog, zögerte, bevor er den Knopf drückte, zögerte, bis er endlich ins Mundstück sprach.»Hallo?«

Die Stimme am anderen Ende der Leitung redete ein paar Minuten lang ruhig auf ihn ein. Papa hörte zu, nickte von Zeit zu Zeit mit dem Kopf und sagte schließlich:»Ja, ich verstehe, ich werd mich drum kümmern. «Dann steckte er das Telefon in die Tasche zurück.

«Alles in Ordnung, Schatz?«fragte seine Frau.

«Nein, leider nicht. Ich soll übers Wochenende arbeiten, und dabei hatte ich morgen ein so schönes Grillfest für uns geplant.«

Seine Frau nahm seine Hand und beruhigte ihn liebevoll:»Mach dir deswegen keine Gedanken. Die Arbeit ist wichtiger.«

Aber nicht so wichtig wie mein Familienleben, dachte Papa. Dan Quayle würde meinen Widerstand gegen Arbeit am Wochenende bestimmt verstehen.

Seine Hand begann schrecklich zu jucken. Woher kommt bloß dieses Jucken? überlegte er. Ich sollte wirklich einen Hautarzt aufsuchen.

John Cotton arbeitete als stellvertretender Filialleiter im örtlichen Supermarkt. Weil sein Sohn der Jugendmannschaft angehörte, hatte der kräftige, sportliche Mann sich bereit erklärt, sie als Trainer zu betreuen. An diesem Nachmittag nun hatte seine Mannschaft nur wegen dem kleinen Billy verloren.

Der Supermarkt war bereits geschlossen, und John Cotton lief über den Parkplatz zu seinem Auto, als ein Unbekannter mit einem Paket im Arm auf ihn zukam.

«Verzeihung — Mr. Cotton.«

«Ja, bitte?«

«Könnte ich Sie wohl einen Augenblick sprechen?«

«Der Supermarkt hat bereits geschlossen.«»Ja nun, mit dem Geschäft hat das auch nichts zu tun, ich möchte mit Ihnen über meinen Sohn sprechen. Billy ist sehr verstört, weil Sie ihn aus der Mannschaft ausgeschlossen haben und ihn auch in Zukunft nicht mehr mitspielen lassen wollen.«

«Billy ist Ihr Sohn? Ich bedaure, daß er bei uns überhaupt mitgespielt hat. Aus dem wird nie ein richtiger Ballspieler.«

«Sie sind unfair, Mr. Cotton«, widersprach Billys Vater streng.»Schließlich kenne ich Billy besser, eigentlich ist er ein hervorragender Spieler. Sie werden es ja sehen, wenn er am nächsten Samstag spielt…«

«Er wird aber am nächsten Samstag nicht mitspielen. Er ist draußen.«

«Aber…«

«Da gibt's kein Aber, meine Entscheidung steht fest. Falls es jedoch sonst noch etwas…«

«Ja, da wäre noch etwas. «Der Vater wickelte das Paket aus, das er mitgebracht hatte, und zum Vorschein kam ein BaseballSchlagholz.»Hier ist das Schlagholz«, sagte er in flehendem Ton,»mit dem Billy letzten Samstag gespielt hat. Sehen Sie nur — das Holz ist gesplittert, deswegen wäre es auch nicht fair, ihn zu bestrafen, weil…«

«Hören Sie, Mister, das Schlagholz kümmert mich einen feuchten Dreck. Ihr Sohn ist aus der Mannschaft raus!«

Billys Vater stieß einen Seufzer aus, der zum Ausdruck brachte, daß er die Reaktion seines Gegenübers sehr bedauerte.»Sie sind sicher, daß Sie Ihre Meinung nicht ändern wollen?«

«Absolut.«

Als Cotton die Hand nach dem Türgriff seines Wagens ausstreckte, wurde die Heckscheibe von Billys Vater mit einem weit ausholenden Schlag zertrümmert.

Cotton starrte ihn völlig entsetzt an.»Was… tun Sie da?«

«Aufwärmen«, erklärte Papa, hob das Schlagholz hoch und holte von neuem aus, um es Cotton gegen die Kniescheibe sausen zu lassen.

John Cotton schrie auf, stürzte und krümmte sich vor Schmerzen am Boden.»Sie sind verrückt!«brüllte er.»Hilfe!«

Billys Vater kniete sich neben ihn hin und sagte mit gedämpfter Stimme:»Wenn Sie noch mal um Hilfe schreien, zertrümmere ich Ihnen auch die zweite Kniescheibe.«

Cotton hob den Kopf — einen Ausdruck von Schmerz und panischem Schrecken in den Augen.

«Falls mein Sohn am nächsten Samstag nicht mitspielen darf, bring ich Sie um und Ihren Sohn ebenfalls. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

Cotton sah dem Mann in die Augen und nickte. Er mußte an sich halten, um nicht vor Schmerz aufzuheulen.

«Gut. Ach ja, noch etwas — ich möchte nicht, daß diese Sache bekannt wird. Ich habe Freunde, die würden Ihnen das sehr übelnehmen. «Er schaute auf seine Armbanduhr. Er hatte gerade noch Zeit, um die nächste Maschine nach Boston zu erreichen.

Plötzlich begann seine Hand wieder zu jucken.

Am Sonntagmorgen um sieben Uhr schritt er — in einem Dreiteiler, mit einem teuren Diplomatenkoffer aus Leder in der Hand — am Vendome vorbei über Copley Square, lief zielbewußt weiter in die Stuart Street und betrat eine halbe Straßenlänge nach Park Plaza Castle das Boston Trust Building, wo er sofort auf den Wachposten zusteuerte. Das riesige Bürogebäude beherbergte Dutzende von Mietern, und da war es so gut wie ausgeschlossen, daß der Dienstmann an der Rezeption alle herein- und hinausgehenden Personen kannte und auf Unbekannte mißtrauisch reagieren würde.

«Guten Morgen«, grüßte der Mann.

«Guten Morgen, Sir. Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«

Der Mann seufzte ergeben.»Mir könnte nicht einmal Gott helfen. Die glauben, daß ich nichts Besseres zu tun hätte, als die Sonntage damit zu verbringen, Arbeiten zu erledigen, die eigentlich andere erledigen sollten.«

Der Dienstmann empfand Mitgefühl.»Das Gefühl kenn ich auch. «Er schob ihm das Besucherregister hin.»Wenn Sie sich bitte hier eintragen würden.«

Der Mann trug sich ein und ging zum Lift. Das gesuchte Büro lag im fünften Stock. Er fuhr in den sechsten Stock, lief über die Treppe eine Etage zurück und schlich durch den Flur bis zur Tür mit der Aufschrift renquist, renquist & FITZGERALD — eine Anwaltskanzlei. Der Mann vergewisserte sich, daß sich in dem langen Flur auch wirklich niemand aufhielt, dann öffnete er seinen Koffer und nahm eine kleine Picke und ein Spanngerät heraus, und fünf Sekunden später öffnete sich die Tür. Er trat ein und schloß die Tür hinter sich.

Der Empfangsraum war auf altmodische, konventionelle Art eingerichtet — ganz in dem Stil, den man bei einer führenden Anwaltskanzlei in Boston erwarten würde. Der Mann blieb einen Moment stehen, um sich zu orientieren, und begab sich dann in den Aktenraum, wo alle Unterlagen aufbewahrt wurden. Die Stahlschränke waren nach Buchstaben geordnet. Er rüttelte an der Schranktür mit dem Etikett R-S; der Schrank war abgeschlossen.

Er nahm Generalschlüssel, Feile und Kombizange aus seinem Koffer, schob den Generalschlüssel ins Schrankschloß, bewegte ihn behutsam hin und her, zog ihn wieder heraus und sah sich die schwarzen Markierungen an. Er hielt den Schlüssel mit der Kombizange fest und feilte mit großer Vorsicht an den schwarzen Stellen. Danach schob er den Generalschlüssel ein zweites Mal ins Schloß und wiederholte den Vorgang. Beim Öffnen des Schlosses begann er leise vor sich hin zu summen und mußte plötzlich lächeln, als ihm der Titel der Melodie einfiel: Far away places.

Ich werde mit meiner Familie in Urlaub fahren, überlegte er in einem plötzlich aufwallenden Glücksgefühl. Wir werden endlich einmal richtig Ferien machen. Hawaii würde den Kindern bestimmt gefallen.

Das Schrankfach ließ sich bewegen, es war nicht festgeschraubt, und er hatte die gesuchte Akte bald gefunden. Er holte eine kleine Pentax-Kamera aus seinem Koffer und machte sich ans Werk, und binnen zehn Minuten war alles geschafft. Dann nahm er ein paar Kleenextücher aus dem Koffer, ging zum Wasserbehälter, um sie anzufeuchten, lief in den Aktenraum zurück, um die Stahlspäne vom Fußboden aufzuwischen, verschloß den Aktenschrank, trat auf den Flur hinaus, schloß die Tür von außen ab und verließ das Gebäude.

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