Allmählich verlor Tyler die Geduld, denn seit vierundzwanzig Stunden versuchte er unentwegt, Lee telefonisch zu erreichen — vergeblich. Lee war nicht zu Hause. Bei wem mag er sein? Tyler litt Höllenqualen. Was treibt er nur?
Er nahm erneut den Hörer ab, um es noch einmal zu versuchen, und ließ endlos das Telefon läuten. Er wollte schon auflegen, als sich Lee meldete.
«Hallo.«
«Lee! Wie geht's?«
«Wer spricht denn da?«
«Ich bin's — Tyler.«
«Tyler?«Schweigen.»Ach ja.«
Tyler spürte einen Stich der Enttäuschung.»Wie geht's dir?«
«Prima«, sagte Lee.
«Ich hab dir doch gesagt, daß ich eine wunderbare Überraschung für dich haben würde.«
«Ja?«Lee klang gelangweilt.
«Du hast mir einmal gestanden, daß es dein Traum wäre, auf einer herrlichen weißen Jacht nach St-Tropez zu reisen. Erinnerst du dich?«
«Was ist damit?«
«Wie fändest du es, wenn diese Reise im nächsten Monat stattfinden würde?«
«Ist das dein Ernst?«
«Worauf du dich verlassen kannst.«
«Also, ich weiß nicht. Hast du einen Freund, dem so eine Jacht gehört?«
«Ich bin drauf und dran, mir eine solche Jacht zu kaufen.«»Du hast doch nicht etwa ein krummes Ding vor, Richter?«
«Ein krummes Ding?… Nein, nein! Es ist nur, daß ich gerade eine Erbschaft gemacht habe. Ein Vermögen!«
«St-Tropez, wie? Doch — klingt gut. Klar würd’ ich dich gern begleiten. Liebend gern.«
Tyler war unendlich erleichtert.»Wunderbar. Und bis dahin laß dich bitte nicht…«Er wagte nicht einmal, den Gedanken zu Ende zu denken.»Ich bleibe in Kontakt, Lee. «Er legte auf und blieb auf der Bettkante sitzen. »Klar würd’ ich dich gern begleiten. Liebend gern.« Tyler triumphierte: Eine Weltreise mit Lee an Bord einer herrlichen]acht. Mit Lee!
Er griff nach dem Telefonbuch und blätterte in den gelben Seiten.
In der Firma John Alden Yachts, Inc., im Bostoner Handelshafen wurde Tyler beim Eintreten sogleich vom Geschäftsführer in Empfang genommen.»Was kann ich für Sie tun, Sir?«
Tyler warf ihm kurz einen abschätzenden Blick zu und sagte in einem Ton, als ob es sich um etwas völlig Normales handelte:»Ich würde gern eine Jacht kaufen. «Die Worte glitten ihm genüßlich von der Zunge.
Es war anzunehmen, daß die väterliche Jacht zur Erbmasse gehörte, aber Tyler hatte nicht vor, sich ein Schiff mit den Geschwistern zu teilen.
«Motor- oder Segeljacht?«
«Ich… ähm… ich bin mir nicht sicher. Ich möchte eine Weltreise machen.«
«Dann reden wir wahrscheinlich doch eher von einer Motorjacht.«
«Es muß unbedingt eine weiße Jacht sein.«
Der Geschäftsführer betrachtete ihn mit einem kaum unterdrückten Ausdruck verwunderten Befremdens.»Selbstverständlich. Und welche Ausmaße dürfte dieses Schiff nach Ihren Vorstellungen haben?«
Die Blue Skies war etwa fünfzig Meter lang.
«Etwa siebzig Meter.«
Der Verkaufsleiter zuckte unwillkürlich mit den Augen.»Aha, verstehe. Eine Jacht dieser Größenordnung wäre natürlich eine sehr kostspielige Angelegenheit, Mr. äh…«
«Richter Stanford. Harry Stanford war mein Vater.«
Das Gesicht des Mannes strahlte.
«Der Preis spielt keine Rolle«, erklärte Tyler.
«Aber gewiß nicht! Nun, Richter Stanford, wir werden für Sie eine Jacht finden, um die Sie alle beneiden werden. Eine weiße Jacht, selbstverständlich. Fürs erste überreiche ich Ihnen eine Mappe mit den Prospekten einiger lieferbarer Jachten. Rufen Sie mich doch bitte an, wenn Sie Klarheit gewonnen haben, welches Modell Sie interessiert.«
Woody Stanford träumte von Polopferden. Bisher war er immer darauf angewiesen gewesen, auf den Pferden von Freunden zu reiten; aber jetzt würde er sich die beste Koppel der Welt leisten können.
Er telefonierte mit Mimi Carson.»Ich möchte dir deine Pferde abkaufen«, teilte Woody ihr mit, und in seiner Stimme war die Aufregung zu hören. Er lauschte ihr einen Moment.»Genau — die ganze Koppel. Nein, es ist mein voller Ernst. Genau…«
Das Gespräch dauerte eine halbe Stunde, und als er den Hörer auflegte, lag ein fröhliches, zufriedenes Lächeln auf Woodys Gesicht. Er machte sich auf die Suche nach Peggy.
Sie saß allein auf der Veranda, und Woody konnte die Schwellungen und Blutergüsse von seinen Schlägen noch gut erkennen.
«Peggy…«
«Ja?«Sie hob argwöhnisch den Kopf.
«Ich muß mit dir reden. Ich… weiß nicht, wie ich anfangen soll.«
Sie rührte sich nicht, wartete ab.
Er holte tief Luft.»Ich weiß, daß ich ein schlechter Ehemann gewesen bin. Ich hab Sachen gemacht, für die es keine Entschuldigung gibt. Aber jetzt wird alles anders, Liebling. Verstehst du? Wir sind jetzt reiche Leute, sehr reiche Leute sogar, und ich will alles wiedergutmachen. «Er nahm ihre Hand.»Diesmal werde ich von den Drogen loskommen, wirklich. Wir werden ein vollkommen neues Leben anfangen.«
Sie sah ihm in die Augen.»Werden wir das, Woody?«fragte sie tonlos.
«Ja. Ich versprech's dir. Ich weiß, das hab’ ich dir schon oft versprochen, aber diesmal wird's ganz bestimmt klappen. Ich bin fest entschlossen, und ich werde mich in einer Klinik behandeln lassen, wo man mich völlig heilen kann. Ich will raus aus dieser Hölle, Peggy…«In seiner Stimme lag Verzweiflung.»Aber ohne dich schaff’ ich das nicht. Das weißt du ganz genau…«
Sie hielt seinem Blick lange stand, dann nahm sie ihn in die Arme.»Mein armes Baby. Ich weiß«, flüsterte sie.»Ich weiß. Ich werd dir helfen…«
Für Margo war der Zeitpunkt gekommen, um abzureisen.
Tyler fand sie im Studierzimmer. Er schloß die Tür hinter sich.»Ich wollte dir nur noch einmal für alles danken, Margo.«
Sie schenkte ihm ein glückliches Lächeln.»Es hat Spaß gemacht, und ich habe den Aufenthalt hier wirklich genossen. «Sie blickte ihn schelmisch an.»Vielleicht sollte ich Schauspielerin werden.«
Er grinste.»Du hättest das Zeug zu einer guten Schauspielerin. Das Publikum hier hast du jedenfalls total überzeugt.«
«Es ist mir wirklich gelungen, nicht wahr?«
«Ja, und hier ist deine zweite Rate. «Er zog einen Umschlag aus der Tasche.»Und das Rückflugticket nach Chicago.«
«Vielen Dank.«
Er schaute auf seine Armbanduhr.»Jetzt solltest du dich aber beeilen.«
«In Ordnung. Du solltest aber noch wissen, daß ich dir dafür dankbar bin, daß du mich aus dem Kittchen geholt hast. Und überhaupt.«
«Schon gut. «Er lächelte.»Gute Heimreise.«
«Danke.«
Er sah ihr nach, als sie die Treppe hinaufging. Das Spiel war gelaufen.
Schach und schachmatt.
Margo packte gerade ihre Koffer, als Kendall ins Zimmer trat.
«Hallo, Julia. Ich wollte nur…«Sie brach mitten im Satz ab.»Was machst du denn da?«
«Ich fahre heim.«
Kendall musterte sie erstaunt.»So bald schon? Aber wieso denn? Ich hatte gehofft, daß wir noch ein bißchen zusammenbleiben und uns besser kennenlernen könnten. Wir haben doch all die verlorenen Jahre nachzuholen.«
«Sicher. Na ja, ein andermal.«
Kendall ließ sich auf dem Bettrand nieder.»Das Ganze ist wie ein Wunder, nicht wahr? Daß wir uns überhaupt noch gefunden haben.«
Margo packte weiter.»Ja, ein wahres Wunder.«
«Du mußt dir ja vorkommen wie Aschenputtel. Ich meine, da lebst du ein absolut normales, bürgerliches Leben, und plötzlich händigt dir jemand eine Milliarde Dollar aus.«
Margo unterbrach das Packen.»Wie bitte?«
«Ich habe gesagt…«
«Eine Milliarde Dollar?«
«Ja. Laut dem Testament unseres Vaters erbt jeder von uns eine Milliarde Dollar.«
Margo war fassungslos.»Eine Milliarde Dollar — für jeden?«
«Hat man dir das denn nicht gesagt?«
«Nein«, sagte Margo gedehnt,»das hat man mir nicht gesagt. «Sie schien nachzudenken.»Weißt du, Kendall, du hast ja recht. Vielleicht wäre es doch gut, wenn wir uns besser kennenlernen.«
Tyler schaute sich im Solarium gerade Jachtfotos an, als Clark eintrat und sagte:
«Verzeihung, Richter Stanford, ein Anruf für Sie.«
«Ich nehme ihn hier entgegen.«
Es war Keith Perry in Chicago.
«Tyler?«
«Am Apparat.«
«Ich habe eine wirklich gute Nachricht für dich.«
«Ach ja?«
«Ich gehe ja bald in Pension… Was würdest du sagen, wenn du zum Gerichtspräsidenten ernannt würdest?«
Tyler hatte größte Mühe, ein Kichern zu unterdrücken.»Das wäre einfach wunderbar, Keith.«
«Nun, der Posten gehört dir!«
«Ich… also, mir fehlen die Worte!«Was hätte er auf die Nachricht auch sagen sollen?» Milliardäre sitzen aber nicht in einem dreckigen kleinen Gerichtssaal in Chicago über die Versager dieser Welt zu Gericht. «Oder:»Wegen einer Weltreise auf meiner Jacht stehe ich für das Amt leider nicht zur Verfügung.«
«Wie schnell könntest du nach Chicago zurückkehren?«
«Es wird noch ein Weilchen dauern«, erwiderte Tyler.»Es gibt hier noch eine Menge zu erledigen.«
«Nun gut, wir warten auf dich.«
Dann wartet mal schön!» Wiederhören. «Tyler legte auf und schaute auf seine Armbanduhr. Es war höchste Zeit, daß Margo sich zum Flughafen auf den Weg machte. Tyler ging nach oben, um zu sehen, ob sie abreisefertig war.
Sie war in ihrem Zimmer und packte aus.
Tyler war erstaunt.»Du bist noch nicht fertig?«
Sie erwiderte seinen fragenden Blick mit einem ironischen Lächeln.»Nein, ich packe den Koffer wieder aus, denn ich habe gemerkt, daß es mir hier eigentlich recht gut gefällt. Also sollte ich vielleicht noch ein bißchen länger bleiben.«
Er runzelte die Stirn.»Wovon redest du? Du mußt dich beeilen, damit du deine Maschine nach Chicago nicht verpaßt.«
«Es ist ja nicht die letzte Maschine, Richter. «Sie grinste ihn frech an.»Vielleicht könnte ich mir ja auch einen Privatjet zulegen.«
«Wovon redest du überhaupt?«
«Du hast mir erklärt, daß ich dir dabei helfen sollte, jemandem einen kleinen Streich zu spielen.«
«Und?«
«Nun, es sieht inzwischen ganz so aus, als ob der Streich auf meine Kosten gehen soll, denn ich habe mit meiner Rolle eine Milliarde Dollar verdient.«
Tylers Züge verhärteten sich.»Bitte, verlaß das Haus, und zwar sofort.«
«Das würde dir so in den Kram passen, wie?«höhnte Margo.»Ich geh’ aber erst, wenn's mir paßt, und noch ist es nicht soweit.«
Tyler musterte sie von Kopf bis Fuß.»Was… was willst du von mir?«
«Das ist schon besser. «Sie nickte beifällig.»Also, zugehört: Was diese Milliarde Dollar betrifft, die ich unter dem Namen von Julia Stanford erben sollte — die willst du für dich haben, stimmt's? Ich hatte mir ja von Anfang an gedacht, daß es dir bei diesem lustigen kleinen Täuschungsmanöver darauf ankam, ein bißchen Geld zusätzlich einzustecken — aber eine runde Milliarde Dollar! Das ist eine völlig neue Dimension. Ich denke, daß ich davon einen Teil verdient habe.«
Es klopfte an der Tür.
«Verzeihung«, sagte Clark,»das Mittagessen ist angerichtet.«
Margo wandte sich Tyler zu.»Geh nur, ich werde nicht mit euch essen. Ich habe ein paar wichtige Besorgungen zu erledigen.«
In Rose Hill wurden am späteren Nachmittag Pakete abgeliefert, Schachteln mit Kleidern von Armani, Sportkleidung von der Scaasi-Boutique, Unterwäsche von Jordan Marsh, ein Nerzmantel von Neiman Marcus sowie ein Diamantenkollier von Cartier — alles adressiert an Miss Julia Stanford.
Als Margo um halb fünf heimkam, wurde sie von einem aufgebrachten Tyler empfangen.
«Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«schimpfte er.
Sie quittierte seinen Angriff mit einem provozierenden Grinsen.»Ich hab ein paar Sachen zum Anziehen gebraucht. Als deine Schwester muß ich doch wohl auf mein Äußeres achten, oder? Übrigens — es ist wahrhaft erstaunlich, was man als eine Stanford in solchen Geschäften alles auf Kredit kriegt. Du übernimmst die Rechnungen doch, nicht wahr?«
«Julia…«
«Ich heiße Margo«, rief sie ihm in Erinnerung.»Ach so, und nur ganz nebenbei — ich habe die Jachtfotos auf dem Tisch gesehen. So eine Jacht willst du dir kaufen?«
«Das geht dich nichts an.«
«Da sei dir mal nicht so sicher. Vielleicht werden wir ja zusammen auf Kreuzfahrt gehen. Wir könnten die Jacht Margo taufen, oder sollten wir ihr vielleicht besser den Namen Julia geben? Wir sollten gemeinsam um die Welt fahren, denn ich bin gar nicht gern allein.«
Tyler mußte an sich halten und schluckte seinen Ärger hinunter.»Ich habe dich offenbar unterschätzt. Du bist ja eine ungemein schlaue junge Frau.«
«Aus deinem Mund ist das ein großes Kompliment.«
«Ich kann nur hoffen, daß du auch eine vernünftige junge Frau bist.«
«Das kommt ganz darauf an, was du dir unter >vernünftig< vorstellst.«
«Eine Million Dollar, bar auf die Hand.«
Da spürte sie plötzlich, wie ihr Herz schneller schlug.»Und die Sachen, die ich mir heute gekauft habe — darf ich die behalten?«
«Alle.«
Sie holte tief Luft.»Dann sind wir handelseinig.«
«Gut. Ich werde dir das Geld so rasch wie möglich zukommen lassen, da ich in ein paar Tagen nach Chicago zurückfliegen muß. «Er zog einen Schlüssel aus der Jackentasche und reichte ihn ihr.»Hier, da hast du die Schlüssel zu meinem Haus. Du kannst dort wohnen. Bleib und warte auf mich, bis ich zurückkomme, und rede mit niemandem.«
«Einverstanden. «Sie hatte Mühe, ihre Erregung zu unterdrücken. Ich hätte vielleicht noch mehr verlangen sollen, dachte sie.
«Ich werde dir einen Platz in der nächsten Maschine buchen.«
«Und was ist mit den Sachen, die ich…«
«Sie werden nachgeschickt. Ich kümmere mich darum.«
«Gut. He — die ganze Sache hat sich aber für uns beide wirklich gelohnt, was?«
Er nickte.»Ja, das hat sie.«
Tyler fuhr Margo persönlich zum Logan International Airport.
Auf dem Flughafen betrachtete sie ihn mit einem forschenden Blick.»Wie wirst du's den anderen erklären?«wollte sie wissen.»Meine plötzliche Abreise, meine ich.«
«Ich werde ihnen sagen, daß du eine sehr liebe alte Freundin besuchen mußtest, die unerwartet erkrankte — in Südamerika.«
Sie schaute ihn etwas traurig an.»Darf ich dir etwas gestehen, Richter? Diese Weltreise mit der Jacht — auf der hätten wir beide bestimmt unseren Spaß gehabt.«
Über Lautsprecher wurde ihr Flug aufgerufen.
«Dann muß ich wohl.«
«Gute Reise.«
«Danke, und auf Wiedersehen in Chicago.«
Tyler sah ihr nach, bis sie im Abflugterminal verschwunden war, und wartete den Start ihrer Maschine ab, bis er zur Limousine zurücklief.»Nach Rose Hill«, sagte er zum Chauffeur.
Zurück im Haus, lief er sofort in sein Zimmer und wählte die Durchwahl vom Gerichtspräsidenten Keith Perry in Chicago.
«Du wirst hier schon sehnsüchtig erwartet, wann kommst du denn endlich? Wir haben dir zu Ehren eine kleine Feier geplant.«
«Sehr bald, Keith«, erwiderte Tyler.»Unterdessen wäre ich dir dankbar für deine Hilfe bei einem kleinen Problem, das mir Kummer bereitet.«
«Aber natürlich. Was kann ich für dich tun?«
«Es geht um eine Verbrecherin, der ich zu helfen versucht hatte. Margo Posner. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich dich über den Fall unterrichtet.«
«Ich kann mich gut erinnern. Wo liegt das Problem?«
«Die arme Frau hat es sich in den Kopf gesetzt, daß sie meine Schwester ist. Sie ist mir nachgereist und wollte mich in Boston ermorden.«
«O mein Gott, das ist ja furchtbar.«
«Sie befindet sich zur Zeit auf dem Rückflug nach Chicago, Keith. Sie hat mir die Hausschlüssel gestohlen, und ich habe keine Ahnung, was sie als nächstes vorhat. Die Frau ist eine gefährliche Verrückte. Sie hat gedroht, meine ganze Familie umzubringen. Ich hätte gern, daß sie in die Reed Mental Health Facility eingeliefert wird. Wenn du die Einweisungsformulare ausfüllen und mir faxen würdest, setze ich meine Unterschrift drunter und faxe sie dir zurück. Um die Durchführung der erforderlichen psychiatrischen Untersuchungen kümmere ich mich dann persönlich.«
«In Ordnung. Ich nehme die Sache sofort in die Hand, Tyler.«
«Ich weiß deine Hilfe zu schätzen. Die Posner fliegt mit der United Airlines Flug 307. Ankunft Chicago zwanzig Uhr fünfzehn. Ich würde vorschlagen, daß du ein paar Männer zum Flughafen schickst, damit sie an Ort und Stelle festgenommen und unverzüglich ins Reed eingeliefert wird — in den Hochsicherheitstrakt dort. Und Besuch sollte sie keinen empfangen dürfen.«
«Ich werde dafür sorgen. Tut mir aufrichtig leid, daß du das durchmachen mußtest, Tyler.«
Tylers Stimme verriet Resignation.»Du kennst ja das alte Sprichwort, Keith: >Es gibt keine gute Tat, und sei sie noch so klein, für die man am Ende nicht bestraft wird.<«
Es war Kendall, die sich abends bei Tisch erkundigte:»Ißt Julia denn nicht mit uns?«
«Leider nein«, erwiderte Tyler mit einem Ausdruck des Bedauerns.»Sie hat mich gebeten, euch ihre Abschiedsgrüße zu bestellen. Sie mußte fort, nach Südamerika, und sich dort um eine alte Freundin kümmern, die einen Schlaganfall erlitten hat. Es kam alles recht plötzlich und unerwartet.«
«Aber das Testament ist ja noch gar nicht…«
«Julia hat mir eine Generalvollmacht erteilt. Ich soll es so einrichten, daß ihr Erbteil auf ein Treuhandkonto überwiesen wird.«
Ein Diener servierte Tyler einen Teller mit dicker Muschelsuppe — eine Bostoner Spezialität.
«Oha«, meinte er,»das sieht ja köstlich aus, und ich habe heute einen besonders großen Appetit.«
Flug 307 der United Airlines setzte planmäßig zur Landung auf dem O'Hare International Airport an, und über Lautsprecher meldete sich eine metallisch harte Stimme:»Meine Damen und Herren, bitte legen Sie Ihre Sitzgurte an.«
Margo Posner hatte den Flug genossen und die meiste Zeit davon geträumt, was sie mit ihrer Million Dollar machen würde, und sich vorgestellt, wie sie in den vornehmen Sachen und mit den Juwelen aussehen würde, die sie in Boston gekauft hatte. Und das alles verdanke ich im Grunde nur der Tatsache, daß ich ins Kittchen mußte. Ist das etwa kein Anlaß zum Jubeln?
Nach der Landung suchte Margo Posner ihre Sachen zusammen und lief die Treppe hinunter, gefolgt von einem Flugbegleiter. Unten, in unmittelbarer Nähe der Maschine, stand ein Rettungswagen, daneben, ganz in Weiß, zwei Sanitäter und ein Arzt, denen der Flugbegleiter ein Zeichen gab: Er deutete auf Margo.
Als Margo unten an der Treppe ankam, trat ein weißgekleideter Mann auf sie zu und sagte:»Verzeihung, Ma'am.«
Margo hob den Kopf.»Ja?«
«Sind Sie Margo Posner?«
«Ja, was ist…?«
«Ich bin Dr. Zimmermann. «Er faßte sie am Arm.»Wir möchten Sie bitten, uns zu begleiten. «Er dirigierte sie in Richtung des Rettungswagens.
Margo versuchte sich loszureißen.»Moment mal! Was wollen Sie von mir?«schrie sie.
Inzwischen war je ein Sanitäter neben ihr aufgetaucht, und sie wurde in die Mitte genommen.
«Bitte folgen Sie uns«, sagte der Arzt.
«Hilfe!«schrie Margo Posner.»Hilfe!«
Die übrigen Passagiere starrten sie nur mit offenem Mund an.
«Was steht ihr da rum?«rief Margo.»Seid ihr denn blind? Ich werde gekidnappt! Ich bin Julia Stanford! Ich bin Harry Stanfords Tochter.«
«Natürlich sind Sie Harry Stanfords Tochter!«sagte Dr. Zimmermann beschwichtigend.»Nun beruhigen Sie sich doch!«
Die Zuschauer schauten erstaunt zu, wie Margo, schreiend und um sich schlagend, in den Ambulanzwagen geschoben wurde.
Drinnen nahm der Arzt eine Spritze und drückte Margo die Nadel in den Arm.»Entspannen Sie sich!«sagte er.»Es wird ja alles wieder gut.«
«Sie sind wohl verrückt!«rief Margo.»Sie müssen…«Ihr fielen die Augenlider zu.
Die Wagentüren wurden geschlossen, und die Ambulanz fuhr los.
Bei der Lektüre des Berichts mußte Tyler lauthals lachen, weil er sich das Bild gut vorstellen konnte, wie das geldgeile Miststück trotz heftiger Gegenwehr weggeschleppt und abtransportiert worden war. Er würde schon dafür sorgen, daß sie für den Rest ihres Lebens in der psychiatrischen Abteilung hinter Schloß und Riegel bliebe!
Jetzt habe ich das Spiel wirklich gewonnen, sagte er sich. Ich hab's geschafft! Wenn der Alte wüßte, daß ich die Stanford Enterprises unter’m Daumen habe, würde er sich im Grabe umdrehen — wenn er noch ein Grab hätte. Und jetzt kann ich auch Lee alle Träume erfüllen.
Die Ereignisse dieses Tages hatten Tyler in sexuelle
Erregung versetzt. Ich muß mir Erleichterung verschaffen. Er öffnete seinen Koffer und holte aus dem hinteren Fach ein Exemplar von Damron's Address Book heraus, wo er unter» Boston «eine Liste der zahlreichen Schwulenbars fand.
Er entschied sich für das» Quest «an der Boylston Street.
Das Abendessen werde ich mir heute schenken. Ich geh gleich in den Klub.
Julia und Sally machten sich für die Arbeit zurecht.
«Und wie war dein Abend mit Henry?«wollte Sally wissen.
«Wie immer.«
«War's wirklich so schlimm, ja? Habt ihr euch schon auf den Hochzeitstermin geeinigt?«
«Gott bewahre!«rief Julia entsetzt.»Henry ist ja ein lieber Kerl, aber…«Sie stieß einen Seufzer aus.»Er ist nichts für mich.«
«Henry vielleicht nicht«, meinte Sally.»Aber die hier sind ganz bestimmt für dich«, und sie reichte Julia fünf Umschläge.
Rechnungen! Julia machte die Kuverts auf, drei der Rechnungen trugen den Vermerk ÜBERFÄLLIG, eine vierte die Notiz DRITTE MAHNUNG. Julia schaute sie einen Moment an.
«Sally, ob du mir wohl aushelfen könntest…?«
Sally musterte sie mit einem Ausdruck tiefsten Befremdens.»Ich verstehe dich nicht.«
«Was soll das heißen?«
«Du rackerst dich ab wie ein Galeerensklave, du hast kein Geld, um deine Rechnungen bezahlen zu können — und bräuchtest doch nur einen kleinen Finger zu heben, und schon hättest du ein paar Millionen Dollar.«
«Die gehören mir nicht.«
«Aber selbstverständlich gehören sie dir! Es ist dein Geld!«fuhr Sally sie an.»Harry Stanford war dein Vater, oder nicht? Na also — dann hast du, logischerweise, auch Anspruch auf einen Teil des Erbes. Und du weißt genau, daß ich im Leben nur selten etwas >logisch< finde.«
«Schlag's dir aus dem Kopf. Ich habe dir ja erzählt, wie er meine Mutter behandelt hat. Da hat er mir bestimmt nicht mal einen Cent vermacht.«
Sally stöhnte laut auf.»Verdammt! Und ich hatte mich schon drauf gefreut, meine Wohnung mit einer Millionärin zuteilen.«
Sie gingen nach unten zum Parkplatz, auf dem sie nachts ihre Autos abstellten. Julias Parkplatz war leer, und sie rief entsetzt:»Er ist weg!«
«Bist du auch absolut sicher, daß du ihn gestern abend hier geparkt hast?«
«Ja, absolut.«
«Dann ist er gestohlen worden!«
Julia schüttelte den Kopf.»Nein!«Sie sprach es langsam und gedehnt aus.
«Was denn sonst?«
Sie sah Sally an.»Der Verkäufer muß ihn sich zurückgeholt haben, denn ich bin mit drei Ratenzahlungen im Rückstand.«
«Wundervoll!«sagte Sally tonlos.»Einfach wundervoll.«
Sally ging die Situation ihrer Wohngenossin nicht mehr aus dem Kopf. Eine Geschichte wie im Märchen, dachte sie. Eine Prinzessin, die nicht weiß, daß sie eine Prinzessin ist. Nur daß sie es in diesem Fall eben doch weiß und zu stolz ist, es für sich zu nutzen. Das ist nicht fair! Ihre Verwandten besitzen haufenweise Geld, und sie ist völlig mittellos. Na schön, wenn sie nichts für sich selber tun will, dann tu's eben ich. Sie kann mir ja hinterher danken.
Als Julia am Abend außer Haus war, machte Sally sich noch einmal über den Karton mit den Zeitungsausschnitten her und nahm einen Artikel jüngeren Datums heraus, in dem berichtet wurde, daß Harry Stanfords Erben sich zu seiner Beerdigung in Rose Hill eingefunden hatten.
Wenn die Prinzessin sie nicht aufsuchen will, sagte sich Sally, dann müssen sie eben die Prinzessin aufsuchen.
Sally setzte sich an den Tisch und schrieb einen Brief, den sie an Richter Tyler Stanford adressierte.