Kapitel 3
Auf der Nordseite
Hector saß reglos im Schmetterlingshaus. Ihm war warm, fast unangenehm warm, obwohl er nur ein Nachthemd anhatte. Nach seiner strumpfsockigen Flucht waren seine Füße voller Schrammen und wunder Stellen und seine Nerven hatten sich immer noch nicht beruhigt. Schmetterlinge der verschiedensten Größen und Farbschattierungen flatterten um ihn herum und ließen sich auf den unzähligen Pflanzen und blühenden Blumen nieder, die an den Glaswänden ihrer Behausung wuchsen.
So viel Schönheit, dachte Hector – und nur wenige Stunden zuvor war er von all der Hässlichkeit umgeben gewesen und hatte auch daran Gefallen gefunden …
Der Heimweg aus der Südstadt war ihm endlos erschienen. Obwohl er mit gesenktem Kopf und möglichst, ohne jemanden anzusehen, durch die Straßen gestürmt war, hatte er noch genügend ungebetene Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber nicht etwa, weil ein Teil seiner Kleider fehlte, sondern weil die, die er noch besaß, so sauber waren. Schlecht gekleidete Jungen liefen hier viele herum, aber keiner mit so weißen Strümpfen. Doch lange hatte es nicht gedauert, und Hector war wegen all der Dunghaufen und Gemüseabfälle, die auf Straßen und Gehwegen herumlagen, kaum mehr von den zahllosen Straßenkindern in der Menge zu unterscheiden. Wie jeder andere hatte er die Erfahrung gemacht, dass es hier oft besser war, nicht aufzufallen.
Er kam an lärmerfüllten Kneipen vorbei, an unbeleuchteten Läden und Fenstern von Pfandleihhäusern. Er spähte in schmale Seitenwege und sah reglos kauernde Gestalten – ob tot oder lebendig, konnte er nicht erkennen –, er sah düstere Schatten neben den Ginleitungen hocken und das scharfe Getränk hinunterstürzen, das ihre Kehle wärmte und ihre Sorgen verdrängte, bevor es sie unausweichlich in den Ruin führen würde. Er wich Kutschen aus, sah Milchmädchen, schamlose Bettler, Messerschleifer und Wanderschauspieler.
Endlich, als Hector den Fluss erreicht hatte, ließ er zum ersten Mal den Gedanken zu, dass er möglicherweise doch sicher nach Hause gelangen könnte. Er beugte sich über das niedrige Geländer, um das dunkle Wasser des verrufenen Foedus besser zu sehen. Der Gestank des Flusses an diesem Tag würde ihn sein Leben lang begleiten. Noch nach Jahren würde ihn der Geruch eines einzigen Atoms seiner chemischen Zusammensetzung augenblicklich nach Urbs Umida zurücktragen und bittersüße Erinnerungen an die Südstadt in ihm wachrufen. Für manche Städte war der Fluss der Lebensnerv; für Urbs Umida war er eher der Styx, der Fluss der Unterwelt, und schon beschwor Hectors sprühende Fantasie für einen Moment Charon, den mythologischen Fährmann der Toten, herauf, der seinen schwerfälligen Stechkahn über den Fluss stakte. Als er noch einmal hinsah, erkannte er, dass es sich nur um einen armseligen Flößer handelte.
Auf der Hälfte der Brücke, als er unter dem Schild des Wirtshauses Zum Flinken Finger vorbeikam – ein Lokal von so schlechtem Ruf, dass es in der Nord- wie in der Südstadt gleichermaßen bekannt war –, wusste Hector das Ziel in Reichweite, und das spornte ihn an. In seiner Eile stolperte er über einen lockeren Pflasterstein und stieß mit einem schmutzigen Kerl zusammen, der gerade über die Straße kam.
»Willst mir wohl die Taschen ausräumen, wie?«, knurrte der Mann, packte Hector am Arm, drückte sein Kinn nach oben und zwang ihn so, ihm ins Gesicht zu sehen. Es war kein schöner Anblick. Der Mann trug eine schmierige schwarze Augenklappe und einen grauen Bart, und bevor er Hector losließ, schüttelte er ihn heftig. Hector stolperte davon, so schnell ihn seine müden Beine tragen konnten, und rannte, bis er die breiten hellen Straßen der Nordseite erreicht hatte …
Jetzt, wenige Stunden später und in der Sicherheit des väterlichen Schmetterlingshauses, war der Süden wieder eine ferne Welt. Von draußen schien sanftes Mondlicht durch die Glaswände. Ein Schmetterling, schwarz wie die Nacht, ließ sich auf Hectors Handfläche nieder und blieb ruhig sitzen. Hector spürte das Kribbeln der dünnen Beinchen auf seiner Haut. Der muss frisch geschlüpft sein, dachte er und hob vorsichtig die Hand ans Gesicht, um ihn besser sehen zu können.
»Hector?«
Die Stimme ließ Hector zusammenfahren. Er hob den Kopf und sah seinen Vater in der Tür stehen. Der Schmetterling flog auf und flatterte in einer eleganten Spirale bis unter das Glasdach.
»Was machst du denn mitten in der Nacht hier unten?«, fragte sein Vater besorgt.
Hector zog die Schultern hoch. »Ich konnte nicht schlafen.« Zugleich fragte er sich, warum sein Vater so spät noch hier draußen war. In letzter Zeit schien ihn etwas zu beschäftigen, das war Hector aufgefallen. Geschäfte wahrscheinlich, dachte er. Um von sich abzulenken, deutete er auf den schwarzen Schmetterling, der inzwischen auf den weißen Blüten eines nahen Strauchs gelandet war.
»Ich sehe, du hast einen neuen. Pulvis funestus, wenn ich mich nicht irre?«
Sein Vater lächelte. »Ganz recht. Gewöhnlich wird er nur Schwarzflügelfalter genannt. Besonders beeindruckend, wenn sie in großer Zahl fliegen. Im Schwarm erzeugen sie eine schwarze Staubwolke, die abergläubisch als Todeswolke gedeutet wird. Wie du siehst, lieben sie Lippia citriodora, besser bekannt als Zitronenstrauch. Sie mögen seinen Zitrusduft. Doch es ist spät. Komm mit ins Arbeitszimmer. Ich muss dir etwas zeigen.«
Das Gras war feucht vom nächtlichen Tau, und Hector schlüpfte aus den Pantoffeln und lief barfuß – eine Wohltat für seine Füße. Falls sein Vater es gesehen hatte, sagte er nichts.
In Augustus Fitzbaudlys Arbeitszimmer standen Glaskästen an den Wänden und in jedem Kasten war ein Schmetterling: dunkelbraune Zipfelfalter, Edelfalter mit gezackten Flügeln, elegante Schwalbenschwänze und Distelfalter. Hector war stolz darauf, dass er von allen die volkstümlichen wie die lateinischen Namen kannte. Augustus’ Faszination für die Lepidopterologie, das Studium der Schmetterlinge und Nachtfalter, hatte nach dem Tod von Hectors Mutter begonnen. Und als sein Vater mehr und mehr Zeit mit seiner Sammlung verbrachte, hatte Hector begriffen, dass er, wenn er die Beachtung des Vaters haben wollte, sich ebenfalls für diese Insekten interessieren musste. Zuerst hatte er sich vor einigen der Behandlungsmethoden geekelt, doch inzwischen wartete auch er gespannt auf die in braunes Packpapier gehüllten Päckchen, auf denen in großen schwarzen Buchstaben Urbs Umida – Lepidopterologisches Zubehör stand und die Kokons, Schmetterlingseier oder Raupen enthielten.
»Hier ist er«, sagte Augustus und nahm einen Glaskasten in die Hand, der doppelt so groß war wie alle anderen. Darin befand sich der größte Schmetterling, den Hector je gesehen hatte – die riesigen, in der stillen Symmetrie des Todes auseinandergebreiteten Flügel leuchteten in unzähligen kräftigen Violett-, Blau- und Grüntönen.
»Papilio ingenspennatus«, sagte Augustus. »Seine Flügelspanne kann bis zu dreißig Zentimeter betragen. Genau wie der Schwarzflügelfalter kann auch er im Kokon sehr niedrige Temperaturen überstehen und sich bereits vollständig entwickeln; er schlüpft aber erst, wenn es warm genug ist.«
Voller Ehrfurcht betrachtete Hector den Schmetterling. Etwas Ähnliches hatte er noch nie gesehen. Der Schmetterling schien selbst in dieser starren Ruhe zu schillern.
»Warst du heute auf der anderen Seite der Brücke?«, fragte sein Vater plötzlich. Darauf war Hector nicht vorbereitet. »Ich habe dich hereinkommen sehen. Du hast etwas … unordentlich ausgesehen, um es freundlich zu formulieren.«
Leugnen war sinnlos. Und außerdem, lag da nicht ein Zwinkern im Auge des Vaters? »Ich wollte mal sehen, wie es auf der anderen Seite so ist, weiter nichts«, sagte Hector beiläufig und sah dabei immer noch den großen Schmetterling an.
»Ein Abenteuer also. Und wie fandest du es? Hässlich, schmutzig und stinkend?« Augustus beobachtete ihn genau.
Hector wusste, dass sein Vater eine Antwort dieser Art erwartete. Und es stimmte ja auch. Wie konnte er die ganze Scheußlichkeit, den Dreck und den Gestank vergessen? Und doch ließ ihn allein der Gedanke daran vor Aufregung schaudern. »Hier auf der Nordseite sind alle so höflich«, erklärte er. »Zumindest tun sie so als ob. Die Damen lassen ihre Sonnenschirme kreisen und prahlen mit ihren neuen Kleidern. Die Männer verbeugen sich lächelnd und machen langweilige Konversation. Aber das ist alles nur Getue. Sie meinen doch kein Wort davon ernst.«
»Da ist wohl etwas Wahres dran«, murmelte der Vater.
»Aber drüben über dem Fluss!«, schwärmte Hector. »Es ist nicht so, dass die Leute einfach nur anders aussehen, es ist die Art, wie es dort zugeht: lebendig, irgendwie unheimlich, aber auch spannend. Auf unserer Seite des Foedus scheint das Leben manchmal wie abgestorben.«
Jetzt sah Augustus erschrocken auf. Er senkte die Stimme und wurde ernst.
»Hector, lass dich da nicht hineinziehen. Die Südstadt mag dir verlockend, aufregend und ungewöhnlich vorkommen – aber sie ist gemein, niederträchtig. Jedes Laster, das die Menschheit kennt, ist auf ihren Straßen zu Hause. Der Ort ist verdorben bis ins Mark und von Alkoholikern, Halunken und armen Teufeln bevölkert. Um mich deutlicher auszudrücken, ich verbiete dir, dort noch einmal hinzugehen.«
Hector war enttäuscht und sein Vater senkte sogleich die Stimme. »Deine Zukunft liegt auf dieser Seite, mein Sohn. Ich habe eine Stelle für dich im Geschäft.«
»Als Weinhändler?«, sagte Hector zerknirscht. »Aber ich will kein …«
Augustus legte ihm die Hand auf die Schulter und lächelte. »Vergiss nicht, dass wir gut vom Weinhandel leben. Er hat uns unseren ganzen Reichtum eingebracht. Wenn du das Geschäft nicht übernimmst, wer dann?«
Das Schlagen der Uhr im Arbeitszimmer unterbrach das ausgedehnte Schweigen zwischen Vater und Sohn. Jeder war auf seine Weise enttäuscht. Hector musterte seinen Vater noch einmal nachdenklich. Er bezweifelte, dass sein eigenwilliger Gang über die Brücke der einzige Grund für dessen Ärger und Besorgnis war, und wechselte das Thema.
»Hast du vor dem Schlafengehen noch ein Rätsel für mich?«, fragte er. Es war ein Spiel, das sie jeden Abend spielten. »Du bist an der Reihe.«
Augustus’ Stirn glättete sich. »Allerdings, und zwar ein kniffliges. Es heißt kig.«
»Kig?«, fragte Hector stirnrunzelnd.
»Kig. Schlicht und einfach kig«, wiederholte Augustus. »Kommst du auf die Lösung?«
»Hm«, überlegte Hector. »Drei einzelne Buchstaben. Kann sein, dass sie ihre Nachbarbuchstaben verloren haben.« An der Miene seines Vaters sah Hector, dass er auf der richtigen Spur war. »Aber wie konnte es dazu kommen?«, riet er weiter. »Vielleicht stammen sie einfach aus einem Wort, das so geschrumpft ist, dass am Ende nur noch ›kig‹ übrig geblieben ist?«
Sein Vater zog eine Grimasse und Hector erklärte mit breitem Grinsen: »Zum Beispiel könnte dieses Wort kundig sein!«
Augustus applaudierte lachend. »Kein Zweifel, Hector, du bist ungewöhnlich schlau«, sagte er. »Ich weiß, dass eine große Zukunft vor dir liegt.«
»Aber muss ich denn wirklich Weinhändler werden?«
»Kein Aber mehr.« Augustus drohte scherzhaft mit dem Finger. »Ab ins Bett jetzt. Ich habe noch eine Verabredung.«
Hector zog die Augenbrauen hoch. »So spät?«
»Manchmal muss das sein«, sagte sein Vater vage. »Na, komm, ich begleite dich noch bis zur Treppe.«