Kapitel 11
Aus dem
Nordstadt-Journal
Die anspruchsvolle Tageszeitung
für den kritischen Leser
Honorige Gäste bei Eröffnung des Wein-Handelshauses
von Tarquin Faulkner
Lady Lysandra Mandible, in eine Kombination aus weißen Pelzen gekleidet (Bild oben), bot bei ihrem Gastauftritt zur Eröffnung der dritten Zweigstelle von Faulkners Weinhandel einen ausnehmend eleganten Anblick.
Begleitet wurde sie von Baron Bovrik de Vandolin (gleichfalls oben abgebildet). Es hat nicht lange gedauert, bis der geheimnisvolle fremde Baron die vornehme Gesellschaft von Urbs Umida für sich gewinnen konnte. Seit er vor einigen Wochen in die Stadt gekommen ist, erweist sich dieser charmante Gentleman (Spross der osteuropäischen Linie des Adelsgeschlechts der de Vandolins) als äußerst beliebter und gern gesehener Gast auf Dinnerabenden, Tanzveranstaltungen und Feiern. Er besitzt einen beneidenswerten Ruf als höchst unterhaltsamer Zeitgenosse voller Esprit und Inspiration, und außerdem ist er ein Held. Wer hat nicht vom tragischen Verlust seines linken Auges gehört, den er in einem Duell für eine verleumdete Frau erlitt? Doch Baron Bovrik de Vandolin zählt nicht zu der Sorte Mensch, die sich wegen einer solchen optischen Unannehmlichkeit vor der Öffentlichkeit verkriecht.
Was Lady Mandible betrifft, so dürfte sich eine Vorstellung wohl erübrigen. Zweifellos ist sie die schönste und geistvollste Lady, die je die Flure von Withypitts Hall, dem Familiensitz der Mandibles, erstrahlen ließ. Nicht nur für ihren Stil und Geschmack ist sie berühmt, sondern auch für ihre extravagante Lebensweise – dafür lieben wir Nordstädter sie! Bei der kürzlich erfolgten Renovierung von Withypitts Hall sollen keine Kosten gescheut worden sein. Das Resultat wird sich gewiss beim alljährlich stattfindenden Mittwinterfest der Mandibles präsentieren.
Der junge Lord Mandible, der sich seit dem tragischen Tod seines Vaters kaum mehr in der Stadt sehen lässt, verlässt Withypitts Hall, das sechs Rittstunden entfernt liegt, nur selten. Wegen seines verkrüppelten Beines fand er noch nie besonderen Gefallen an Feiern und Tanzvergnügen, und so dürfte er es eher mit Erleichterung sehen, dass Baron Bovrik Lady Mandible zu allen gesellschaftlichen Verpflichtungen begleitet.
Trotz des Umstands, dass viele junge Damen der Stadt angeblich von dem Baron verzaubert sind, scheint er unempfänglich für ihre Reize und widmet sich ganz der vor ihm liegenden Aufgabe. Es ist allgemein bekannt, dass ihm angetragen wurde, bei der Organisation des Mittwinterfestes der Mandibles zu helfen. Wir aus der Nordstadt von Urbs Umida sehen dem Fest mit freudiger Erwartung entgegen. Obzwar immer wieder ein prachtvoller Anlass, ist in diesem Jahr zu spüren, dass Lady Mandible dem Fest ihren ganz persönlichen Stempel aufdrücken wird.
Hector legte die zerknüllte Seite auf den Boden neben seine Matratze und beugte sich vor, um mit dem Finger zum hundertsten Mal das Profil dieses Barons Bovrik de Vandolin nachzufahren. Dann streckte er sich stirnrunzelnd auf der Matratze aus.
»Was bist du für ein Meister der Täuschung, Truepin«, murmelte er, während er seinen schwarzen Kokon zwischen den Fingern hin und her rollte. Denn falls diese Skizze gut getroffen war, hatte Hector kaum einen Zweifel, dass es sich bei Gulliver Truepin und Bovrik de Vandolin um ein und dieselbe Person handelte.
»Und wenn nicht«, sagte er laut, »bin ich es Papa zumindest schuldig, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.«