Kapitel 4
Ein unwillkommener Besucher
Hector hockte sich auf den oberen Treppenabsatz und sah seinen Vater ins Arbeitszimmer zurückkehren. Von hier aus konnte er gut beobachten, was unten vor sich ging, ohne selbst gesehen zu werden. Er war neugierig auf den späten Besucher. Bestimmt hatte diese Verabredung etwas mit der sonderbaren Stimmung seines Vaters zu tun.
Er hörte den Schlag des Türklopfers, und mit den scharfen Augen eines jungen Menschen sah er, wie das Dienstmädchen einen Mann in Schwarz durch die Eingangsdiele zum Arbeitszimmer führte. Von der Art, wie sich jemand kleidet, lässt sich allerhand über eine Person aussagen, in diesem Fall aber fand Hector es erstaunlich schwer, viel von dem Mann dort unten zu erraten. Sein ganzes Äußeres war auffallend unauffällig. Die Kleider saßen gut, waren aber dunkel wie die Nacht und schienen jeden Lichtstrahl aufzusaugen. Sein breitkrempiger Hut war tief in die Stirn gezogen, außerdem hielt er den Kopf gesenkt.
»Hmmm«, machte Hector nachdenklich. »Wie seltsam.« Mit der Kleidung der Wohlhabenden kannte er sich aus, da in diesem Haus nur Wohlhabende verkehrten. Dieser Fremde gab jedoch nichts von sich preis und das erregte sofort Hectors Misstrauen. Es war nicht normal, dass jemand hierherkam, ohne seinen Reichtum zeigen zu wollen.
Das Dienstmädchen klopfte an die Tür des Arbeitszimmers.
»Mr Truepin möchte Euch sprechen«, rief sie.
Die Tür wurde geöffnet und der schemenhafte Mann trat ein. Hector wartete, bis das Dienstmädchen verschwunden war, dann schlich er die Treppe hinunter. Er kniete sich vor die Tür, schob das Abdeckplättchen mit dem Familienwappen beiseite und linste durch das Schlüsselloch. Als er ein wenig schnupperte, nahm er einen schwachen Zitrusduft wahr. Er hat sich einparfümiert, dachte Hector, aber auch diese Feststellung brachte ihn nicht viel weiter.
Er konnte den breiten, mit Leder abgedeckten Schreibtisch seines Vaters und den Stuhl sehen, doch der Rest des Zimmers lag außerhalb seines Blickfelds. Truepin stand links neben dem Schreibtisch. Den Hut hatte er abgenommen und so konnte Hector sein Profil betrachten. Er sah die schmale, leicht gebogene Nase und das vorspringende Kinn und stellte zu seiner Verblüffung fest, dass der Mann eine Augenklappe über dem linken Auge trug.
»Was für ein Zufall«, murmelte er. Denn dieser Mann war eindeutig derselbe, der ihn auf der Brücke so wütend angefunkelt hatte. Besser gekleidet, ja, und der Bart ordentlich gestutzt, aber die Nase erkannte er wieder. Wie verliert ein Mann sein Auge?, grübelte er. In der Schlacht? In einem Duell um ein hübsches Mädchen? Der wirkliche Grund war viel weniger edel, aber das konnte Hector nicht wissen.
Er musterte seinen Vater hinter dem Tisch, der nervös an seinen Kragenaufschlägen zupfte. In der Hand hatte er ein Blatt Papier.
»Ihr seid also Gulliver Truepin?«, sagte Augustus kalt.
»Ich sehe, Ihr habt meinen Brief erhalten«, antwortete der Besucher.
Augustus’ Gesicht verdüsterte sich. »Ja«, sagte er, »und ein solches Schurkenstück habe ich noch nie gelesen. Ich hätte gute Lust, auf der Stelle den Friedensrichter zu rufen – er ist nämlich mein Freund – und Euch in Ketten legen zu lassen. Erpressung ist das gemeinste Verbrechen.«
Truepin machte ein verblüfftes Gesicht. »Erpressung?«, wiederholte er. »Ihr erstaunt mich, Mr Fuselby …«
»Mein Name ist Fitzbaudly«, korrigierte Hectors Vater durch zusammengebissene Zähne.
»Wie Ihr wünscht«, sagte Truepin mit dünnem Lächeln. »Mag sein, dass der eine oder andere es Erpressung nennen würde, ich spreche allerdings lieber von einer Abmachung auf geschäftlicher Basis. Letztendlich ist es doch die Wahrheit, oder nicht?«
»Ich verhandle nicht mit Halunken«, fauchte Augustus.
»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Geschichte dem Nordstadt-Journal vorzulegen«, erwiderte Truepin kühl. »Sie werden gut dafür zahlen, das kann ich Euch versichern. Ich denke, sie fänden es höchst interessant zu erfahren, dass Ihr, Augustus, der führende Weinhändler der Nordstadt, der Mann, der diesseits des Flusses jeden Tisch, jedes Restaurant mit erlesenen Weinen beliefert, dass also ausgerechnet Ihr nichts Besseres seid als einer, der in der Südstadt billigen Fusel verhökert!«
Schockiert sah Hector, wie bei Truepins furchtbarer Anschuldigung das Gesicht des Vaters dunkelrot anlief. Wovon sprach dieser Mann? Papa ein Ginhändler? Das konnte nicht sein! Augustus sah jetzt aus, als bekäme er gleich einen Schlaganfall.
Truepin fuhr fort. »Ich weiß mit Sicherheit, Mr Fuselby, dass Ihr durch den Verkauf von Gin an die breite Masse der Südstadt reich geworden seid, dass Ihr die Abhängigkeit der Leute gefördert und von ihrem Elend profitiert habt. Ihr besitzt mehr Ginleitungen als jeder andere Händler.«
»Woher wisst Ihr das?«, platzte Augustus heraus.
»Ich habe Beweise«, erwiderte Truepin. »Und ich kenne etliche, die meine Behauptung untermauern können. Was seid Ihr für ein Mensch, wenn Ihr Euch an solchen Geschäften bereichert?«
»Und was seid Ihr für ein Mensch?«, rief Augustus. »Einer, der durch Drohungen und Anschuldigungen profitieren will? Und diese Leute, diese Zeugen meines Vergehens, wo sind sie? Alle von Euch bezahlt, nehme ich an. Mag sein, dass mein früher Reichtum auf diese Art und Weise zustande kam. Ich will nicht abstreiten, dass ich in der Vergangenheit Gin verkauft habe, aber damals war ich jung, ich habe einen Fehler gemacht. Und ich habe versucht, ihn wiedergutzumachen.«
»Ach ja«, höhnte Truepin. »Eure Spenden an Waisenhäuser und Suppenküchen. Herzerwärmend, gewiss. Genau genommen ist es gerade das, was mich zu Euch führt. Ein Mann Eures Formats spendet nicht ohne guten Grund an Suppenküchen. Vielleicht seid Ihr ja ein Einzelfall, dass Ihr Euch ein Gewissen daraus macht. Tatsache jedenfalls ist, ich kann Euch ruinieren. Wir kennen doch alle den unbeständigen Charakter der Nordstädter: in einem Augenblick Freund, im nächsten Feind. Aber ohne sie wärt Ihr verloren. Zahlt mir, was ich fordere, oder tragt die Konsequenzen. Betrachtet es als weitere Spende, wenn Ihr so wollt – was ich verlange, kann nur ein Tropfen im Ozean Eures riesigen Vermögens sein.«
Hector hatte dem Wortwechsel mit geballten Fäusten und zusammengebissenen Zähnen gelauscht. Er konnte kaum glauben, was er da hörte. Hatte er nicht erst heute die stockbetrunkenen Elendsgestalten gesehen? Konnte sein Vater tatsächlich in so etwas verwickelt sein? Er hatte es selbst zugegeben, doch wenn er sagte, er bedauere es und habe längst nichts mehr damit zu tun, dann glaubte Hector ihm. Die Summe, die Truepin forderte, war beträchtlich, Tropfen im Ozean oder nicht. »Zahl nicht«, bedrängte er seinen Vater lautlos. »Gib einem solchen Halunken kein Geld!«
Der Vater ging in quälender Unentschlossenheit hinter dem Schreibtisch auf und ab. Truepin ließ ihn nicht aus den Augen, sein Gesicht zeigte keine Regung. Endlich drehte sich Augustus um, und als Hector seine Miene sah, wurde ihm das Herz schwer. Er ahnte, wie der Vater entscheiden würde.
»Nun gut, Ihr niederträchtiger Mensch«, sagte Augustus langsam. »Ich werde bezahlen. Aber nur um meines Sohnes und seiner Zukunft willen. Und ich verdopple Eure Forderung sogar – unter der Bedingung, dass Ihr die Stadt verlasst und nie mehr wiederkommt.«
»Verdreifacht sie und das Geschäft ist perfekt.«
Augustus schloss die Augen und nickte. »Ich werde Euch die Summe geben, aber ich verfluche Euch für den Rest Eurer Tage.«
Truepin gestattete sich ein flüchtiges Lächeln. »Verflucht mich, wenn Ihr wollt – Worte können mich nicht verletzen. Hauptsache, Ihr gebt mir das Geld.«
»Nein!«, flüsterte Hector viel lauter als beabsichtigt.
Truepin fuhr herum. »Ist da draußen jemand?«
Augustus öffnete die Tür, aber Hector war schon verschwunden.