Kapitel 20

Aus einem

Brief an Polly

Withypitts Hall

Liebe Polly,

es ist schon nach zwei Uhr morgens, aber ich war noch nicht im Bett. Erst muss ich von den Ereignissen dieses Abends berichten, sie mit jemandem teilen, sonst werde ich noch verrückt. Ich entschuldige mich gleich für meine krakelige Schrift – ausgerechnet ich, der Dir das Schreiben beigebracht hat! Aber meine Hand zittert noch jetzt vor Schreck.

Der Abend verlief zunächst wie jeder andere. Vor dem Schlafengehen schaute ich noch einmal im Incunabulorum vorbei, denn das Fest rückt näher, und ich wollte mich überzeugen, dass mit meinen Kokons alles in Ordnung ist. Mir gehen in diesen Tagen tausend Befürchtungen durch den Kopf, deshalb kann ich sowieso schlecht schlafen. Ich mache mir Sorgen um die Kokons, um meinen Plan und natürlich mache ich mir Sorgen wegen Bovrik. In letzter Zeit habe ich nicht sehr viel von ihm gesehen. Lady Mandible hält ihn auf Trab, er fährt immer wieder mal in die Stadt, bleibt oft sogar über Nacht weg.

Im Incunabulorum ist es ausgesprochen kalt, aber ich stelle immer fest, dass diese Temperatur meinen Verstand schärft. Gedanken an meinen Vater verfolgen mich. Ich kann kaum glauben, dass ich so dicht davorstehe, ihn zu rächen. Jeden Tag beim Aufwachen und beim Schlafengehen sage ich mir, dass ich das Richtige tue und dass er meine Absicht nun bestimmt nicht mehr missbilligen würde.

Wenn ich zu tun habe, löst sich meine innere Anspannung meistens, und so machte ich mich auf meine nächtliche Runde. Die Kokons sind in großen Glasgefäßen, die auf je zwei Holzblöcken stehen. Im Hohlraum dazwischen habe ich unter den Gefäßen flache Petroleumlämpchen aufgestellt, damit ich später das Schlüpfen steuern kann. Ich ging von einem Gefäß zum andern und prüfte ihren jeweiligen Inhalt: Dutzende hellbrauner Kokons des Papilio ingenspennatus hingen an Fäden, die durch das Innere jedes Gefäßes gespannt waren. Sie sind so groß wie mein Daumen, nur dicker, und die Fäden hängen unter ihrem Gewicht durch. Vor dem Glas in der hintersten Ecke des Raums blieb ich ein wenig länger stehen. Die Kokons darin sind viel dunkler. Wenn doch Vater hier wäre und sie sehen könnte, dachte ich …

Luxus ist mir nichts Neues, ich kenne ihn von Withypitts Hall und von Urbs Umida, aber wenn ich diese schlichten Wunder der Natur sehe, weiß ich, dass ich da eine andere Art von Schönheit vor mir habe als die von Lady Mandibles funkelnden Juwelen oder Bovriks pompöser Kleidung.

Pah! Dieser Mann! Er verdient alles, was auf ihn zukommen wird!

Als die Uhr Mitternacht schlug, war ich froh, dass mich etwas aus meinen düsteren Gedanken riss: Nach dem letzten Schlag meinte ich, ein Geräusch aus dem Flur gehört zu haben. Mein erster Gedanke? Bovrik! Wer sonst sollte um diese Zeit herumschleichen? Ich öffnete ganz leise die Tür und linste hinaus. Sehen konnte ich niemanden, nur allmählich sich entfernende Schritte konnte ich hören, aber er war es ganz sicher. Ich roch sein Zitronenparfüm, das wie eine Duftspur hinter ihm herwehte.

Natürlich schlich ich ihm nach, und immer, wenn er um eine Ecke bog, sah ich seine Rockschöße aufblitzen. Ich hielt mich dicht an den Wänden, streifte gegen Vorhänge, Wandteppiche und ausgestopfte Tiere. Nach einer Weile wurden die schwermütigen und disharmonischen Weisen von Lord Mandibles Cembalo lauter – er hat versprochen, auf dem Fest zu spielen, aber ich fürchte, da übernimmt er sich. Schließlich kamen wir zu Lord Mandibles Privatgemächern. Ich sah, wie Bovrik in das Schlafzimmer des Lords schlich. Was machte er dort? Was war das nun wieder für ein Rätsel?

Bevor ich weitergrübeln konnte, erschien er wieder auf dem Gang, wobei er in merkwürdiger Haltung seinen Umhang zusammenhielt, und hastete in entgegengesetzter Richtung davon. Ich hatte ihn schnell aus den Augen verloren und machte mich auf den Rückweg zu meinem Turm.

Doch, Polly, es war nicht diese merkwürdige Begegnung, die mich zu Feder und Papier greifen ließ. Jetzt kann ich mich nicht länger darum herumdrücken.

Withypitts Hall ist das reinste Labyrinth, und da es Nacht war und ich so in meine Gedanken vertieft, merkte ich erst nach einer Weile, dass ich durch Gänge lief, die ich nicht kannte – ich musste irgendwo falsch abgebogen sein. Zunächst machte ich mir keine Sorgen, aber als ich weiterging, war mir, als ob allmählich die Wände näher zusammenrückten. Ganz sicher aber war die Decke hier niedriger. Trotzdem ging ich weiter.

Auch dieser Teil des Herrenhauses war natürlich nicht ohne Lady Mandibles Spuren: Überall an den Wänden hingen Bilder in unterschiedlichen Größen. Es waren Ölgemälde, aber sie hatten wenig zu tun mit den Porträts der Mandible-Vorfahren, die sonst überall in Withypitts Hall ernst und streng von den Wänden blickten. Es waren Porträts und Landschaften in gedeckten Farben, aber so befremdlich gemalt, dass sich kaum erkennen ließ, was da porträtiert war. Ich sah wilde Tiere und Menschen, Himmel und Meer, aber dazwischen auch Dinge, die ich nicht verstand. Die Identität des Künstlers dagegen war kein so großes Geheimnis: In der Ecke jedes Werkes stand deutlich der Name Lysandra. Irgendwie überraschte es mich nicht, dass Lady Mandible die Welt so darstellte.

Als ich weiterging, änderte sich die Farbe der Bilder. Sie nahmen im schwachen Licht meiner kürzer werdenden Kerze allmählich ein Eigenleben an. Die matten, rötlich braun verschmierten Farben schienen jetzt als Monstren und Dämonen in einem höllischen Inferno zusammenzulaufen. Welcher Geist fantasiert sich solche Bilder zusammen?

Vor mir sah ich eine Tür. Wenn ich auch große Bedenken hatte, so siegte doch die Neugier, und ich legte die Hand auf den Türknauf und drehte langsam. Mein Herz schlug schneller. Nun hatte ich genauso viel Angst vor dem, was hinter mir war, wie vor dem, was vor mir lag. Die Tür öffnete sich leicht und lautlos. Ich ging hindurch und hörte, wie sie sich mit leisem Klicken wieder schloss.

Ich stand in einem großen Zimmer. Durch das Fenster zu meiner Linken schien der Mond herein und im Kamin gegenüber schwelte noch die Glut eines Feuers. Das Zimmer war luxuriös eingerichtet, doch wegen des Lichts kam mir alles grau vor. Zögernd ging ich zwischen den dunklen Umrissen hindurch zum Kamin. Links stand eine mit einem Tuch verhüllte hölzerne Staffelei, darunter ein Bild und daneben ein niedriges Tischchen mit Gläsern und Pinseln sowie einer Palette, die fast vollständig mit dicken Farbklecksen beschmiert war. Ich nahm einen Pinsel in die Hand und sah ihn genauer an. Schweinsborsten, dachte ich. Schweinsborsten für Lady Mandibles Hobby. Denn für mich gab es keinen Zweifel, dass ich mich hier in ihrem Zimmer befand. Ich war schon drauf und dran, das Tuch von dem Bild zu ziehen, aber im letzten Moment hielt ich inne. Wenn es eins von der gleichen Art wie die im Gang war, hatte ich wenig Verlangen danach, es zu sehen.

Plötzlich hörte ich ein Seufzen. Ich war nicht allein!

Langsam drehte ich mich nach dem Geräusch um und sah erst jetzt, dass auf einem niedrigen Diwan jemand lag. Ich riss die Augen auf, starr vor Schreck, aber die Gestalt regte sich nicht. Ich duckte mich und schlich hinter den Möbelstücken näher an das Sofa heran. Jetzt konnte ich erkennen, dass es ein Mann war. Sein Kopf ruhte auf einem Kissen, seine Augen waren geschlossen. Er trug kein Hemd und seine weiße Brust schimmerte im Mondlicht geradezu.

Es war Gerulphus. Er schien zu schlafen. Er atmete tief, seine Brust hob und senkte sich gleichmäßig, und als ich mich noch weiter vorwagte, sah ich, dass er lauter große dunkle Narben auf der Brust hatte. Sie waren dick und prall und – kaum zu glauben – sie bewegten sich!

Denn diese Narben waren lebendig!

»Tartari flammis!«, flüsterte ich und musste gegen den Brechreiz ankämpfen: Gerulphus’ Brust und Bauch waren von aufgedunsenen schwarzen Blutegeln übersät!

Was ist das für eine absonderliche Sitte?, dachte ich und wandte mich ab. Nichts wie weg hier. Aber zu meinem noch größeren Entsetzen hörte ich in diesem Augenblick Schritte, eine Hand an der Tür und dann eine Stimme, die mir das Blut gefrieren ließ.

»Gerulphus? Bist du da?«

Ich duckte mich hastig hinter einen Sessel und hoffte, mein wild pochendes Herz werde mich nicht verraten. Dann sah ich Lady Mandible eintreten.

Sie war ganz in Schwarz, um ihre Schultern lag eine lange, über den Rücken hängende Boa aus Straußenfedern. Weite Glockenärmel bedeckten ihre Hände bis fast zu den Fingerspitzen. Als sie sich bewegte, konnte ich das leise Rascheln ihres Kleides hören. Ihre Lippen wirkten in diesem Licht tiefdunkelrot. Sie ging direkt auf Gerulphus zu und stieß ihn mit einem beringten Finger an. Der Diener schreckte sichtlich zusammen und schlug die Augen auf.

»Fertig?«

Gerulphus blickte auf seine Brust und nickte langsam. Da fuhr Lady Mandible mit ihren langen Fingernägeln zwischen die Blutegel und Gerulphus’ Brust und pflückte die vollgesaugten Tiere eins nach dem andern von seiner Haut. Lächelnd und mit leicht geöffnetem Mund ging sie dieser grausigen Tätigkeit nach – ich bin überzeugt, dass sie dabei jeden Augenblick genoss. Die Blutegel – ich zählte insgesamt zwanzig – wurden in ein großes Glasgefäß auf dem Tisch neben dem Sofa gelegt. Kein Wunder, dass Gerulphus so blass aussieht, dachte ich, er muss ja fast blutleer sein.

»Ausgezeichnet«, schnurrte Lady Mandible. »Dann triff die nötigen Vorkehrungen, damit ich das Blut morgen verwenden kann.« Damit rauschte sie aus dem Zimmer.

Gerulphus stand auf und zog mit schwerfälligen Bewegungen sein Hemd an. Aus seinen Wunden sickerte Blut und der weiße Stoff war bald rot befleckt, aber er schien es nicht zu bemerken. Zu meiner großen Erleichterung verließ er wenige Minuten später ebenfalls das Zimmer, so musste ich wenigstens nicht mit ansehen, welche weiteren Abscheulichkeiten mit diesen »Vorkehrungen« verbunden sein mochten. Endlich fühlte ich mich sicher genug, um mich aus meinem Versteck zu wagen. Ich ging noch einmal zur Staffelei und zog langsam das Tuch herunter. Aber ich sah nicht die einäugigen Monster und die Teufel mit der gespaltenen Zunge, ich sah nur das rötliche Braun, in dem alles gemalt war. Und zum ersten Mal fragte ich mich, was ich eigentlich hier tat, in einem Haus, in dem die Borsten eines Pinsels in Menschenblut getaucht werden …

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