Kapitel 19
Knapp entkommen!
Hector gab sich Mühe, möglichst leise zu atmen, aber er war innerlich angespannt, seine Brust wie zusammengeschnürt. Er kauerte in unbequemer Stellung unter einem Busch, und ein Ast pikte ihn in den Hinterkopf, aber er durfte sich jetzt keinen Laut erlauben. Vor ihm dehnte sich eine kleine Lichtung in dem ansonsten düsteren und dichten Wald aus jahrhundertealten Eichen. Ihr Holz bildete die Quelle für einen großen Teil der Innenausstattung von Withypitts Hall: die Wandvertäfelungen, die breiten Holzdielen (dort, wo die Böden nicht aus Marmor waren) und natürlich der wuchtige Esstisch im großen Speisesaal.
Eisregen fiel, aber Hector hatte sich fest in den Umhang seines Vaters gehüllt. Er hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen und der grüne Stoff ließ ihn fast mit seiner Umgebung verschmelzen. Kein Mensch konnte ahnen, dass er hier war. Ein Mensch nicht, aber vielleicht ein – Tier?
Nur wenige Meter von seinem Versteck entfernt stand ein Borstenrückenschwein.
Ein Prachtexemplar und ganz besonders stark behaart, schien es Hector selbst für ein Borstenrückenschwein ungewöhnlich groß. Es wirkte urtümlich, die Schnurrhaare waren grau, doch der Borstenkamm auf seinem Rücken sah genau so aus, wie Hector es immer gehört hatte: schwarz glänzend und wie angesengt. Eine Weile hatte es in Withypitts Hall Gerüchte gegeben – von Lord Mandible mit großer Aufregung begrüßt –, dass eine Anzahl besonders großer Schweine durch den Wald streifen sollte. Allerdings waren sie erst wenige Male und auch nur in großen zeitlichen Abständen gesichtet worden. Hector bezweifelte aber nicht, dass dieses Schwein hier eins von den sagenhaften Tieren sein musste.
Es war das dritte Mal, dass er sich in den Wald vorwagte. Lady Mandible brauche eine größere Menge Schweinsborsten, hatte ihn der Baron wissen lassen, und Hector hatte die Aufgabe übernommen. Er war ganz froh, wenn man ihm irgendwelche Besorgungen auftrug, denn solange die Kokons kühl lagen, verlangten sie kaum Fürsorge, und seiner inneren Verfassung kam es durchaus entgegen, wenn er immer etwas zu tun hatte. Außerdem war es in seinem eigenen Interesse, wenn er in den Wald ging …
Trotz der Jahreszeit schienen die Borstenrückenschweine zahlreich unterwegs zu sein und so waren die Borsten auf dem Waldboden und zwischen dem Geäst von Sträuchern und Dornbüschen leicht zu finden. In Withypitts Hall hatte man dafür vielerlei Verwendung, von falschen Augenwimpern über Füllmaterial für Kissen bis hin zu Kosmetikpinseln. Zweimal schon hatte Hector bei früheren Gelegenheiten seinen Beutel ohne Zwischenfall vollgesammelt, diesmal schien es jedoch nicht so glattzugehen.
Das Schwein streckte seine lange, fleischige Schnauze in die Luft und schnüffelte hörbar. Hector hatte das Gefühl, als ahne es seine Anwesenheit. Es hielt den Kopf leicht schräg und äugte dabei mit starrem Blick ins Laub. Aus seinem Unterkiefer ragten zwei mächtige gelbliche, vor Geifer glänzende Reißzähne hervor, die passgenau neben den beiden aus dem Oberkiefer ragenden Hauern standen.
Der wiegt bestimmt so viel wie mein Pferd, dachte Hector.
Noch einmal witterte das Schwein, dann machte es sich daran, im Waldboden zu wühlen. Als es fand, was es suchte, fraß es geräuschvoll mit mahlenden Kiefern. Danach grunzte es zufrieden, machte kehrt und verschwand zwischen den Bäumen. Hector wagte wieder zu atmen. Es war ein Privileg, das Tier überhaupt gesehen zu haben, aber es war auch eine Erleichterung, es abziehen zu sehen. So mancher Jäger war schon ums Leben gekommen, und die wenigen, die eine Begegnung mit dem Schwein überlebt hatten, waren von den Narben seiner Reißzähne gezeichnet.
Als Hector unter dem Busch hervorkroch, sah er vor sich etwas auf dem Boden glitzern. Er hob es auf. Es war ein großer Ring, schwer und kalt in seiner Hand. Sein schwarzer Stein schimmerte sogar im schwachen Licht des Waldes. Wie mochte er hierhergekommen sein? Wie auch immer, er war ein Glücksfall für ihn. Falls der Ring so wertvoll war, wie er aussah, würde er gutes Geld einbringen. Hector wusste sehr wohl, dass, wenn sein Vorhaben abgeschlossen wäre, ein rascher Abgang aus Withypitts Hall nötig sein könnte. Dann würde ihm jede zusätzliche Geldsumme weiterhelfen. Er steckte den Ring ein.
Hector richtete sich auf und ging zu der Stelle, an der das Schwein gewühlt hatte. Deutlich konnte er die Reste seines Pilzmahls sehen. Das Schwein hatte nur die großen, saftigen Köpfe abgefressen und die dünnen Stiele im Boden stecken lassen. Genau nach diesen Stielen war Hector auf der Suche.
Nachdem er sie ausgebuddelt hatte, streifte er schnell seine Handschuhe ab und stopfte sie mit der Innenseite nach außen in die Tasche zu dem Ring. Er zupfte ein dickes Büschel Schweinsborsten von einem nahen Gesträuch, steckte es in den prall gefüllten Beutel an seiner Hüfte und machte sich dann auf den Rückweg durch den Wald. Seine Stute hatte er an einen Ast gebunden, als die Bäume zu dicht wurden und sie nicht mehr hindurchkam.
Er war noch nicht weit gekommen, da blieb er jäh stehen und spitzte die Ohren. Wegen des dichten Gestrüpps konnte er kaum etwas sehen, aber hören konnte er. Und was er hörte, war der unverkennbare Laut eines schnaubenden, grunzenden Schweins beim Angriff. Ohne sich umzudrehen, stürmte Hector in wilder Flucht davon. Während er sich durch das Unterholz und die niedrigen, überhängenden Äste kämpfte, fluchte er innerlich. Er hätte es wissen müssen. Diese Waldschweine waren nicht nur berühmt wegen ihrer ungewöhnlichen Behaarung und ihres köstliches Fleisches, sondern auch berüchtigt wegen ihrer reizbaren, heimtückischen Art. Natürlich würde es ihn verfolgen; es hatte nur den rechten Augenblick abgewartet. Er hätte besser doch mal einen Blick über die Schulter werfen sollen, aber zurzeit gingen ihm so viele Dinge durch den Kopf, dass er nicht so vorsichtig war wie sonst.
Obwohl das Borstenrückenschwein für ein Tier, das in den Wäldern lebt, ungewöhnlich groß ist – viel von seiner Körpermasse besteht aus reinem Fett, weshalb das Fleisch ja auch so besonders schmackhaft ist –, tut diese Größe seiner Schnelligkeit und Gewandtheit keinen Abbruch. Ein Borstenrückenschwein in vollem Galopp zu sehen, den Kopf gesenkt, die Augen starr auf sein Ziel gerichtet, mit den Läufen die Erde aufreißend, ist ein furchterregender Anblick. Man muss sich vorstellen: die borstigen, fetten, hin und her schwingenden Flanken, die dunklen, im Rhythmus des Galopps wabbelnden Körpermassen. Allein dieser Anblick ist atemberaubend … und erst der Lärm! Sein röhrendes Grunzen erinnert eher an einen Löwen als an ein Schwein. Während es durch das Dickicht bricht, wird sein Tempo immer schneller, und nichts darf sich ihm in den Weg stellen, um es von seinem Ziel abzubringen: dem Ziel, zu zerstören und zu töten.
Hector fragte sich, ob das Schwein vom schnellen Laufen auch einen solchen Schmerz in Kehle und Lunge spüren mochte wie er. Jedenfalls war diese Jagd alles andere als ein Wettlauf unter gleichen Bedingungen; da erwiesen sich vier Beine natürlich als vorteilhafter als zwei. In seiner übersteigerten Fantasie glaubte Hector schon den heißen Atem des Schweins an seinen Waden zu spüren. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass ihm das Biest von hinten einen Stoß mit seinem knochigen Schädel versetzen würde. Er sah sich bereits auf den feuchten Waldboden stürzen und unter den mörderischen Läufen liegen. Eigentlich war er sogar überrascht, dass das nicht längst passiert war. Sein Umhang, ein Schutz vor dem Wetter, war bei dieser Verfolgungsjagd ein Hindernis. Er versuchte, ihn im Laufen mit einer Hand fest am Körper zu halten, aber immer wieder griffen Äste und Brombeerranken nach ihm und rissen am Stoff. Der Lederbeutel unter dem wehenden Umhang schlug ihm im Laufen gegen die Knie, mal gegen das rechte, mal gegen das linke.
Allmählich ließen Hectors Kräfte nach, doch schließlich konnte er nicht weit vor sich sein Pferd sehen. Es war nervös, spürte die Gefahr und die Angst seines Herrn. Hector griff nach den Zügeln und sprang in den Sattel. Er bohrte die Fersen in die schwarzen Flanken, riss das Pferd herum und die Stute bäumte sich auf. »Tartari flammis!«, murmelte er und brach einen Ast vom nächsten Baum, um sich verteidigen zu können, denn das bedrohliche, vor Geifer schäumende Maul des Ungetüms war nun unmittelbar hinter ihm.
Plötzlich brach eine andere Gestalt zwischen den Bäumen hervor, schreiend und mit den Armen fuchtelnd. Hector konnte den Fremden nicht richtig sehen (es war auch kaum der geeignete Moment, um ihn nach seinem Namen zu fragen), das Schwein aber, verwirrt von dem plötzlichen Tumult, blieb mit fliegenden Flanken und sabbernder Schnauze wie angewurzelt stehen. Sein Kopf pendelte zwischen ihnen hin und her, als überlege es, wen es nun verfolgen solle, dann aber verblüffte es alle beide, Hector und den Fremden: Es wandte sich ab und rannte in ganz anderer Richtung davon.
Hector blickte zu dem Mann hin, der dem davonstürmenden Schwein nachsah. Immer noch keuchend vor Anstrengung, ließ er sich von seinem Pferd gleiten und ging auf ihn zu. »Danke«, sagte er erleichtert. »Ihr habt mich gerettet.«
»Gern geschehen«, sagte der Mann mit einer leichten Verbeugung. »Manchmal hat man einfach das Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.«
Hector blinzelte dem Fremden unter seiner Kapuze entgegen. Irgendwie kam er ihm bekannt vor. Sein Gesicht lag im Schatten, doch schätzungsweise war er nur wenige Jahre älter als er selbst. Er war von schlanker Gestalt und kaum größer als Hector.
»Wie kann ich mich revanchieren?«, fragte Hector in der Hoffnung, ihn noch ein wenig aufzuhalten.
Der Fremde schüttelte den Kopf und winkte ab. »Mach dir darum nicht allzu viele Gedanken. Vielleicht kannst du ja später mal etwas für mich tun. Aber jetzt muss ich weiter. Adieu«, sagte er und ging fröhlich pfeifend davon.
»Sag mir wenigstens deinen Namen«, rief Hector hinter ihm her, aber da war der Fremde schon zwischen den Bäumen verschwunden.