Elftes Kapitel

Die Sonne war gerade untergegangen, als wir den Grenzstein passierten, der das Palastgelände markierte. Wir hörten die Rufe der Wachen und als Antwort Hörnerklang. Dann, nach Erreichen der Hügelkuppe, lag der Palast vor uns, dahinter das Meer.

Und plötzlich wie ein Lichtblitz erschien auf der Schwelle des Hauses Thetis. Ihr schwarzes Haar stach ab vom weißen Marmor dahinter. Sie trug ein Gewand in den Farben der Tiefsee, dunklen Violetttönen, vermischt mit schillerndem Grau. Neben ihr standen Wachen und Peleus, doch ich sah nur sie und die messerscharfe Linie ihres Kiefers.

»Deine Mutter«, flüsterte ich Achill zu. Ich hätte schwören können, dass mich ihr kalter Blick streifte, als hätte sie meine Worte gehört. Ich schluckte und versuchte, mich mit Cheirons Versprechen zu beruhigen, der gesagt hatte, dass sie mir nichts antun würde.

Es war sonderbar, sie unter Sterblichen zu sehen, die im Vergleich zu ihr allesamt einen farblosen, fahlen Eindruck machten, obwohl es ihre Haut war, die bleich wie Knochen war. Sie hielt Abstand zu ihnen und ragte in ihrer unnatürlichen Größe hoch auf. Die Wachen hatten ehrfurchtsvoll und ängstlich die Augen niedergeschlagen.

Achill stieg vom Pferd. Ich folgte. Thetis zog ihn in ihre Arme, und ich sah die Wachen unruhig werden. Sie fragten sich wohl, wie es sein würde, mit dieser Haut in Berührung zu kommen, und waren froh, es nicht zu wissen.

»Sohn aus meinem Schoß, Fleisch aus meinem Fleisch. Achill«, sagte sie leise, doch ihre Stimme war deutlich zu hören. »Willkommen zu Hause.«

»Danke, Mutter«, erwiderte Achill. Ihm war klar, dass sie ihn für sich beanspruchte. Wir alle wussten es. Für einen Sohn gehörte es sich, den Vater als Ersten zu grüßen, dann erst die Mutter, wenn überhaupt. Sie aber war eine Göttin. Peleus presste die Lippen aufeinander und schwieg.

Als sie ihn aus ihren Armen entließ, ging er zum Vater. Auch der sagte: »Willkommen, Sohn.« Seine Stimme klang vergleichsweise schwach, und er schien gealtert. Wir waren drei Jahre fort gewesen.

»Patroklos, sei auch du herzlich willkommen.«

Alle Augen richteten sich auf mich, und ich verbeugte mich. Ich fühlte mich schutzlos den scharfen Blicken der Göttin ausgesetzt. Meine Haut schmerzte, als wäre ich durch einen Dornenstrauch gegangen und gleich darauf ins Meer gestiegen. Zum Glück meldete sich Achill zu Wort.

»Welche Nachrichten gibt es, Vater?«

Peleus warf einen Blick auf die Wachen. Vermutlich hatten Gerüchte im Palast die Runde gemacht.

»Ich habe mich dazu noch nicht geäußert und bis zu einer Erklärung deine Ankunft abwarten wollen. Jetzt, da du hier bist, sollen es alle erfahren. Komm.«

Wir folgten ihm in den Palast. Ich wollte mit Achill sprechen, wagte es aber nicht, denn Thetis war unmittelbar hinter uns. Die Sklaven hielten die Luft an und beeilten sich, ihr, der Göttin, den Weg freizumachen. Lautlos schritt sie über die steinernen Bodenplatten.




Der große Speisesaal stand voller Tische und Bänke. Dienstboten schwirrten mit Geschirr und schweren Weinkrügen umher. Im vorderen Teil des Raums war ein Podest aufgebaut, auf dem ein Tisch und drei Stühle standen, für den König selbst sowie für seinen Sohn und seine Frau. Meine Wangen glühten. Was hatte ich erwartet?

Trotz der lärmenden Hektik, mit der Vorbereitungen getroffen wurden, war Achills Stimme laut und deutlich zu hören. »Vater, ich sehe keinen Stuhl, auf dem Patroklos Platz nehmen könnte.« Mir wurde noch heißer.

»Achill«, flüsterte ich und wollte sagen: Lass gut sein. Ich setze mich zu den anderen. Mir ist es recht so. Doch er ignorierte mich.

»Patroklos ist mein eingeschworener Gefährte und sein Platz ist an meiner Seite.« Thetis’ Augen blitzten. Ich spürte das Feuer darin und sah die Ablehnung, die sie zum Ausdruck brachte.

»Nun gut«, sagte Peleus und wies einen Sklaven an, einen Stuhl für mich bereitzustellen. Ich machte mich so klein ich nur konnte und folgte Achill auf unsere Plätze.

»Jetzt wird sie mich hassen«, sagte ich.

»Sie hasst dich ohnehin schon«, erwiderte er und grinste dabei, was mich aber nicht erleichtern konnte.

»Warum ist sie gekommen?«, flüsterte ich. Es musste sich um etwas wirklich Wichtiges handeln, das sie aus ihren Meeresgrotten hervorgelockt hatte. Sie schaute Peleus an und verriet mit ihrer Miene, dass sie ihm noch sehr viel mehr Verachtung entgegenbrachte als mir.

»Keine Ahnung«, antwortete Achill. »Seltsam, ich habe die beiden seit meiner Kindheit nicht zusammen gesehen.«

Ich erinnerte mich an Cheirons Abschiedsworte, die er an Achill gerichtet hatte: Du solltest über deine Antwort nachdenken.

»Cheiron rechnet damit, dass es Krieg geben wird.«

Achill zog die Stirn in Falten. »In Mykene herrscht immer Krieg. Warum sollten wir ausgerechnet jetzt dazugerufen werden?«

Peleus setzte sich, worauf ein Herold dreimal in sein Horn stieß als Zeichen dafür, dass mit der Mahlzeit begonnen werden konnte. Normalerweise dauerte es geraume Zeit, bis alle Höflinge versammelt waren und Platz genommen hatten. Diesmal aber strömten sie herbei wie die Fluten der Schneeschmelze. Bald war der Saal zum Bersten gefüllt. Stühle wurden gerückt, und alles plapperte durcheinander. Ich hörte den Stimmen angespannte Aufregung an. Niemand schimpfte mit den Sklaven oder verscheuchte bettelnde Hunde. Alle hatten nur eines im Sinn, nämlich den Mann aus Mykene und dessen Nachricht.

Auch Thetis hatte sich inzwischen an den Tisch gesetzt. Einen Teller gab es für sie nicht, auch kein Messer. Götter lebten allein von Ambrosia und Nektar, dem Rauch unserer Brandopfer und dem Wein, den wir auf ihre Altäre gossen. Mir fiel auf, dass sie hier am Tisch weniger deutlich ins Auge sprang als draußen unter der Sonne. Die schweren, gewöhnlichen Möbel schienen sie irgendwie kleiner zu machen.

Peleus stand auf. Es wurde still bis in die hintersten Reihen. Er hob seinen Becher.

»Mir wurde aus Mykene eine Nachricht zugetragen, von Agamemnon und Menelaos, den Atriden.« Es verstummte nun selbst das letzte Gemurmel. Auch die Sklaven hielten inne. Ich wagte es nicht, zu atmen. Achill presste unter dem Tisch seinen Schenkel an meinen.

»Es ist zu einem schweren Vergehen gekommen.« Der König legte eine Pause ein und schien seine Wortwahl zu bedenken. »Die Gemahlin von Menelaos, Königin Helena, wurde aus ihrem Palast in Sparta entführt.«

Helena!, flüsterte so mancher dem Nebenmann ins Ohr. Seit ihrer Heirat waren die Geschichten über ihre sagenhafte Schönheit noch überschwänglicher geworden. Menelaos hatte ihr einen Palast mit doppelwandigen Felsmauern gebaut und Soldaten zu ihrem Schutz von Kindesbeinen an ausbilden lassen. Und dennoch war sie anscheinend geraubt worden. Von wem?

»Menelaos hatte eine Gesandtschaft des trojanischen Königs Priamos empfangen, deren Anführer, Priams Sohn Prinz Paris, für dieses Vergehen verantwortlich ist. Er entführte die Königin von Sparta aus ihrem Schlafgemach, während der König schlief.«

Empörung wurde laut. Nur jemand aus dem Osten hatte die Verschlagenheit, seinen Gastgeber so feige zu hintergehen. Jeder wusste, wie verdorben diese parfümierten Fremden durch Müßiggang und leichtes Leben waren. Ein wahrer Held hätte Helena nicht heimlich entführt, sondern mit dem Schwert um sie gekämpft.

»Agamemnon und Mykene rufen die Männer von Hellas auf, gen Troja zu segeln und Helena zu befreien. Es heißt, die Stadt sei reich und leicht einzunehmen. Alle, die in den Kampf ziehen, werden ruhmreich und mit großer Beute zurückkehren.«

Die Worte waren klug gewählt. Für Reichtum und Ruhm hatten sich unsere Männer immer schon geschlagen.

»Ich habe versprochen, ein Heer in Marsch zu setzen.« Peleus wartete, bis es wieder still wurde. »Wer nicht kämpfen will, soll bleiben, und ein jeder soll wissen, dass ich das Heer nicht selbst anführen werde.«

»Wer dann?«, rief einer.

»Das wäre noch zu entscheiden«, antwortete der König, doch ich sah, dass er den Blick auf seinen Sohn richtete.

Nein, dachte ich. Meine Hände umklammerten den Rand des Stuhls. Noch nicht. Thetis, die mir gegenübersaß, rührte keine Miene. Sie schien gewusst zu haben, dass es dazu kommen musste. Sie will, dass er geht. Der Zentaur und die Rosenquarzhöhle rückten plötzlich in unerreichbare Ferne, und nun verstand ich, was Cheiron gemeint hatte, als er sagte, die Welt geht davon aus, dass Achill geboren sei, um Krieg zu führen, dass seine Hände und die schnellen Beine allein zu diesem Zweck geschaffen wären – die mächtigen Mauern Trojas niederzureißen. Man würde ihn gegen Tausende trojanischer Speerwerfer antreten lassen und triumphierend mit ansehen, wie er ein Blutbad unter ihnen anrichtete.

Peleus deutete auf Phoinix, seinen ältesten Freund, der an einem der vorderen Tische saß. »Fürst Phoinix wird die Namen derer notieren, die zu kämpfen gewillt sind.«

Schon erhoben sich mehrere Männer von den Bänken. Peleus gebot ihnen mit einer Handbewegung Einhalt.

»Was noch zu sagen wäre …« Er hielt ein Pergament voller Schriftzeichen in die Höhe. »Vor ihrer Vermählung mit König Menelaos hatte Helena viele Bewerber. Es scheint, dass sie alle demjenigen einen Eid schwören mussten, der ihre Hand gewinnen sollte. Agamemnon und Menelaos fordern nun diese Männer auf, ihrer Verpflichtung nachzukommen und dem rechtmäßigen Gatten die Frau zurückzuführen.« Er reichte einem Herold das Pergament.

Ich traute meinen Ohren nicht. Der Eid. Im Geiste sah ich Bilder von einem Kohlebecken und das vergossene Blut einer weißen Ziege, eine Halle voll vornehmer Gestalten.

Der Herold hob das Pergament vor sein Gesicht. Mein Blick verschwamm, als er zu lesen begann.

Antenor.


Eurypylos.


Machaon.


Ich kannte diese Namen wie alle im Raum. Aber für mich waren es nicht nur Namen. Ich hatte alle, die sie trugen, mit eigenen Augen gesehen, damals in der rauchgeschwängerten Halle.

Agamemnon. Ich erinnerte mich an jenen grüblerischen Mann mit dichtem schwarzem Bart und eng zusammenstehenden, aufmerksamen Augen.

Odysseus. Der mit der langen, zahnfleischfarbenen Narbe an der Wade.

Ajax. Der fast doppelt so groß war wie alle anderen und einen riesigen Schild mit sich geführt hatte, der von zwei Sklaven gehalten worden war.

Philoktetes, der Bogenschütze.

Menoitiades.


Der Herold legte eine Pause ein, ich hörte viele fragen: Wer? Mein Vater hatte sich in den Jahren meiner Verbannung mit keiner Leistung hervorgetan; sein Ruhm war verblasst, sein Name vergessen. Und wer ihn kannte, wusste nichts von einem Sohn. Ich saß stocksteif auf meinem Stuhl und wagte es nicht, mich zu rühren. Ich bin an diesen Krieg gebunden.

Der Herold räusperte sich.

Idomeneus.


Diomedes.


»Du warst da? Einer der Bewerber?«, flüsterte Achill kaum vernehmlich, doch ich fürchtete, dass ihn alle hören konnten.

Ich nickte. Meine Kehle war so trocken, dass ich kein Wort herausbrachte. Ich hatte nur um Achill gefürchtet und mir Gedanken darüber gemacht, wie ich ihn würde zurückhalten können. Dass es dabei auch um mich ging, war mir nicht in den Sinn gekommen.

»Hör zu. Du trägst längst einen anderen Namen. Sag nichts. Wir müssen uns mit Cheiron beraten und überlegen, was zu tun ist.« So hastig hatte ich Achill noch nie sprechen hören. Sein Drängen brachte mich wieder zur Besinnung, und sein Blick flößte mir Mut ein. Ich nickte wieder.

Weitere Namen wurden vorgelesen. Ich erinnerte mich an die drei verhüllten Frauen auf dem Podest, von denen eine Helena gewesen war, an die vielen aufgehäuften Geschenke, die gefurchte Stirn meines Vaters, meinen Kniefall auf steinernem Boden. Was ich lange Zeit für einen Traum gehalten hatte, war Wirklichkeit gewesen.

Als der Herold das Pergament wieder einrollte, kam Unruhe auf. Bänke kratzten über den Boden, und Männer eilten zu Phoinix, um sich zum Kampf zu melden. Peleus wandte sich an uns. »Kommt. Ich möchte mit euch reden.« Ich richtete meinen Blick auf Thetis’ Platz, um zu sehen, ob sie mit uns kommen würde, doch sie war verschwunden.

Wir setzten uns zu Peleus an die offene Feuerstelle. Er bot uns Wein an, verdünnt mit einem Schluck Wasser. Achill lehnte ab. Ich nahm einen Becher entgegen, trank aber nicht. Der König saß auf seinem alten, mit Kissen gepolsterten Stuhl nahe am Feuer. Seine Augen ruhten auf Achill.

»Ich habe dich zurückrufen lassen, weil ich mir dachte, dass du unser Heer vielleicht anführen möchtest.«

Nun war es gesagt. Das Feuer knackte, die Holzscheite waren noch frisch.

Achill begegnete dem Blick seines Vaters. »Meine Ausbildung bei Cheiron ist noch nicht beendet.«

»Du warst länger am Pelion als ich, länger als jeder andere Held vor dir.«

»Das bedeutet nicht, dass ich loseilen muss, um den Atriden beizustehen, wenn ihnen ihre Frauen abhandenkommen.«

Ich dachte, Peleus würde über diese Antwort schmunzeln, aber das tat er nicht. »Menelaos wird gewiss rasen vor Wut, weil ihm die Frau genommen wurde, aber nicht er, sondern Agamemnon sandte den Boten. Er hat Troja über all die Jahre wachsen und gedeihen sehen und will nun die Früchte ernten. Die Eroberung der Stadt wird ein Fest für unsere tapfersten Helden sein, eine große Gelegenheit, Ruhm und Ehre zu erringen.«

Achill kniff die Brauen zusammen. »Es wird andere Gelegenheiten geben.«

Peleus ließ zwar nicht erkennen, dass er seinem Sohn zustimmte, aber ich ahnte, dass er es im Herzen tat. »Und was ist mit Patroklos? Er wurde zur Pflicht gerufen.«

»Er ist nicht mehr der Sohn des Menoitios, geschweige denn an einen Eid gebunden.«

Peleus krauste die Stirn. »Willst du die Entscheidung nicht Patroklos überlassen?«

»Er wurde in dem Augenblick von seinem Eid gelöst, als der Vater ihn enterbte«, sagte Achill mit trotzig erhobenem Kinn.

»Ich will nicht in den Krieg ziehen«, murmelte ich leise.

Peleus betrachtete uns einen Moment lang und sagte dann: »Ich habe in dieser Sache nicht zu entscheiden. Das überlasse ich euch.«

Ich fühlte mich ein wenig erleichtert. Der König würde mich nicht bloßstellen.

»Achill, Männer werden kommen, um mit dir zu sprechen, Fürsten, von Agamemnon geschickt.«

Draußen hörte ich das gleichmäßige Rauschen der Brandung. Ich konnte das Salz des Meeres riechen.

»Sie werden mich bitten zu kämpfen«, sagte Achill. Eine Frage war das nicht.

»Ja, das werden sie.«

»Willst du, dass ich sie anhöre?«

»Das will ich.«

Es wurde wieder still. Dann sagte Achill: »Ich möchte weder dich noch sie vor den Kopf stoßen und werde mir anhören, welche Gründe sie vorzutragen haben. Ich glaube allerdings nicht, dass sie mich überzeugen können.«

Peleus war sichtlich überrascht von den selbstsicheren Worten seines Sohnes, nicht unangenehm überrascht, wie es schien. »Auch darüber will ich nicht befinden«, entgegnete er mild.

Wieder krachte eins der brennenden Holzscheite und Funken stoben empor.

Achill kniete nieder, worauf Peleus ihm eine Hand auf den Kopf legte. Ich kannte diese Geste von Cheiron. Im Vergleich zu dessen Hand wirkte die von Peleus alt und welk. Ich konnte mir manchmal kaum vorstellen, dass er früher ein großer Krieger gewesen war und mit Göttern verkehrte.

Achills Schlafkammer hatte sich seit unserer Abreise nicht verändert, abgesehen von meinem Lager, das in unserer Abwesenheit entfernt worden war. Ich war froh darüber, denn falls man uns fragen sollte, warum wir in einem Bett schliefen, hätten wir eine triftige Ausrede. Wir umarmten uns, und ich dachte an die vielen Nächte, die ich in dieser Kammer gelegen und ihn im Geiste geliebt hatte.

Später drückte mich Achill ein letztes Mal an sich und flüsterte schläfrig: »Wenn du gehen musst, komme ich mit dir.« Wir schliefen.

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