Vierundzwanzigstes Kapitel

Die Jahre gingen ins Land, und einer der Soldaten, einer von Ajax’ Männern, beschwerte sich über die Dauer des Krieges. Anfangs achtete man nicht weiter auf ihn. Er war schrecklich hässlich und als Schurke bekannt. Doch er wiederholte seine Beschwerde wortreich. Vier Jahre, sagte er, und man habe immer noch nichts zu bieten. Wo ist der Reichtum? Wo die Frau? Wann werden wir zurückkehren? Ajax versuchte, ihm das Maul zu stopfen, doch er ließ nicht locker. Seht ihr, wie man mit uns umspringt?

Seine Unzufriedenheit zog Kreise, und die äußeren Umstände taten ein Übriges. Es regnete so viel, dass der Boden aufgeweicht war und den Kampf erschwerte. Viele litten unter Hautausschlägen und Entzündungen. Zu allem Überfluss wurden wir von Stechmücken heimgesucht, deren Schwärme sich wie Rauchwolken auf das Lager legten.

Mürrisch und nach Mücken klatschend drückten sich die Männer auf der Agora herum, zuerst nur in kleinen Gruppen, die dann aber immer größer und lauter wurden.

Vier Jahre!


Wer weiß, ob sie überhaupt in der Stadt ist? Hat sie jemand gesehen?


Wir sollten die Kämpfe einstellen.


Als Agamemnon das hörte, befahl er, die Aufständischen auszupeitschen. Doch am nächsten Tag meuterten doppelt so viele, nicht wenige waren Mykener.

Agamemnon ließ sie mit Waffengewalt auseinandertreiben. Die Männer flohen, kehrten aber zurück, kaum dass die Ordnungshüter abgezogen waren. Am Ende ließ Agamemnon Soldaten aufstellen, die die Agora von morgens bis abends bewachen mussten. Es war ein frustrierender Dienst – in praller Sonne und ausgerechnet dort, wo die meisten Mücken quälten. Es dauerte nicht lange, und die Wachsoldaten liefen ins Lager der Meuterer über.

Agamemnon schickte Spitzel aus, um durch sie die Namen der Rädelsführer zu erfahren, die er dann gefangen nehmen und auspeitschen ließ. Am nächsten Morgen weigerten sich mehrere Hundertschaften, den Kampf aufzunehmen. Manche meldeten sich krank, andere blieben ohne jeden Vorwand fern, was sich schnell herumsprach und zur Folge hatte, dass sich immer mehr Männer um den Dienst an der Waffe drückten. Sie warfen ihre Schwerter und Schilde auf dem Podest auf einen Haufen zusammen und nahmen die Agora in Beschlag. Als sich Agamemnon einen Weg durch die Menge zu bahnen versuchte, verschränkten die Männer ihre Arme vor der Brust und wichen nicht von der Stelle.

Dass ihm der Zutritt zu seiner eigenen Agora verwehrt blieb, versetzte Agamemnon in heillose Wut. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor, so fest hielt er das Zepter umklammert, einen Holzknüppel, mit Eisenband umwickelt. Als ein Mann vor ihm ausspuckte, schlug er ihn mit dem Zepter nieder. Wir alle hörten seinen Schädel krachen. Er stand nicht mehr auf.

Ich glaubte nicht, dass Agamemnon ihn absichtlich dermaßen hart bestrafen wollte. Wie versteinert starrte er auf die zu seinen Füßen liegende Leiche. Ein anderer ging davor in die Knie und wälzte sie auf den Rücken. Der Schädel war zertrümmert, zur Hälfte eingedrückt von der Wucht des Schlags. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht. Viele zogen ihre Messer. Ich hörte Achill etwas murmeln, und plötzlich war er von meiner Seite gewichen.

Agamemnons Miene verriet, dass ihm die verhängnisvolle Schwere seines Fehlers nach und nach bewusst wurde. Er hatte sich fahrlässigerweise von seinen loyalen Leibwachen entfernt und war nun von meuternden Soldaten umzingelt, ohne Aussicht darauf, dass ihm jemand zu Hilfe eilte. Ich hielt die Luft an und war mir sicher, ihn gleich sterben zu sehen.

»Männer von Griechenland!«

Alle Köpfe fuhren herum. Achill stand auf dem Haufen aus Schilden und Schwertern, von Kopf bis Fuß eine wahrhaft heldenhafte Erscheinung, schön, kraftvoll und mit ernster Miene.

»Ihr seid wütend«, sagte er.

Ein jeder fühlte sich angesprochen. Sie waren wütend. Und dass ein Anführer dies einräumte, war ohne Beispiel.

»Sprecht aus, was euch verärgert«, sagte er.

»Wir wollen nach Hause zurückkehren!«, schallte es aus den hinteren Reihen der Menge. »Es hat keinen Sinn, weiter zu kämpfen.«

»Agamemnon hat uns belogen!«

Zustimmendes Raunen wurde laut.

»Wir sind seit vier Jahren hier«, empörte sich eine besonders wütende Stimme. Ich hatte dafür Verständnis, obwohl mir diese vier Jahre wie ein überreiches Geschenk vorkamen, das den Händen knausernder Schicksalsgöttinnen abgerungen worden war. Doch für sie waren diese Jahre vergeudete Zeit, gestohlen von ihren Frauen und Familien.

»Ihr habt das Recht, Unmut zu äußern«, sagte Achill. »Euch wurde ein schneller Sieg versprochen, und nun fühlt ihr euch betrogen.«

»Ja!«

Ich warf einen Blick auf Agamemnon und dessen wutverzerrtes Gesicht. Er steckte in der Menge fest, zum Schweigen verurteilt, denn jedes falsche Wort hätte zu Tumulten geführt.

»Hört mich an!«, rief Achill. »Glaubt ihr, dass der Aristos Achaion in einem aussichtslosen Krieg kämpft?«

Alles schwieg.

»Nun?«

»Nein«, sagte jemand.

Achill nickte ernst. »So ist es, und darauf gebe ich euch mein Wort. Ich glaube an unseren Sieg und werde erst dann die Waffen strecken, wenn wir ihn errungen haben.«

»Du sprichst für dich«, rief eine andere Stimme. »Aber was ist mit denen, die abziehen möchten?«

Agamemnon öffnete den Mund, um zu antworten. Ich konnte mir vorstellen, was er sagen wollte. Niemand zieht ab! Wer Fahnenflucht begeht, wird hingerichtet! Aber zum Glück war Achill schneller.

»Es steht jedem frei, zu gehen, wann es ihm beliebt.«

»Wirklich?«, zweifelte jemand.

»Ja.« Er legte eine Pause ein und zeigte sein unbekümmertes, freundliches Lächeln, wozu nur er imstande war. »Aber wenn wir Troja einnehmen, geht euer Anteil der Beute an mich.«

Es war deutlich zu spüren, wie sich die Spannung löste. Manche lachten. Prinz Achill hatte wieder Beute in Aussicht gestellt, und wer gierig war, der hoffte auch.

Er bemerkte den Stimmungsumschwung und sagte: »Es wird höchste Zeit, dass wir wieder zu den Waffen greifen. Die Trojaner glauben sonst noch, wir hätten Angst.« Er zog sein glänzendes Schwert und hielt es in die Höhe. »Wer wagt es, sie eines Besseren zu belehren?«

Vereinzelt wurde Zustimmung laut, die schnell auf andere übergriff, und bald war alles in Bewegung, die Männer griffen nach ihren Waffen. Man trug den Toten fort und war sich einig darüber, dass er schon immer nur für Ärger gesorgt hatte. Achill sprang vom Podest und ging mit einem knappen Kopfnicken an Agamemnon vorbei. Der König von Mykene sagte nichts, aber ich sah, wie er dem Prinzen lange nachblickte.

Nach dieser Beinahe-Rebellion ersann Odysseus ein Beschäftigungsprogramm zur Vorbeugung weiterer Aufstände. Er schlug vor, das ganze Lager mit einem mächtigen Palisadenzaun samt lanzenbewehrtem Graben zu umgeben, insgesamt sechzehn Kilometer lang, damit unsere Zelte und Schiffe vor Angriffen der Trojaner geschützt sein würden.

Als Agamemnon zu den Arbeiten aufrief, war ich mir sicher, dass die Männer den eigentlichen Zweck dieses Kraftakts durchschauten. In all den zurückliegenden Jahren waren das Lager und die Schiffe nie gefährdet gewesen. Wozu nun diese Befestigungsanlage? Zumal kein Mensch an Achill vorbeikam –.

Dann aber trat Diomedes vor. Er begrüßte den Plan und schüchterte die Männer mit der Schilderung von Schreckensbildern nächtlicher Überfälle und brennender Schiffe ein. Vor allem Letzteres war besonders wirksam – ohne Schiffe würden wir nicht nach Hause zurückkehren können. Am Ende waren alle überzeugt, und voller Tatendrang zogen sie mit Beilen in den Wald. Odysseus machte den Unruhestifter, einen Mann namens Thersites, ausfindig und ließ ihn bis zur Besinnungslosigkeit auspeitschen.

Aufbegehrt wurde fortan nicht mehr.

Der Bau des Palisadenzauns und die Abwendung innerer Bedrohung führten zu großen Veränderungen insgesamt. Wir alle, von einfachen Fußsoldaten bis hin zu den Anführern, betrachteten das Lager mehr und mehr als unser Zuhause. Aus der Invasion war eine Belagerung geworden. Hatten wir bislang als Räuberhorden Dörfer und Gutshöfe der Umgebung überfallen, fingen wir nun selbst zu bauen an, nicht nur die Schutzmauer, sondern auch all das, was eine Stadt zu einer Stadt machte: eine Schmiede, eine Koppel für das gestohlene Vieh und sogar eine Töpferwerkstatt, die notwendig wurde, weil das mitgebrachte Geschirr entweder zu Bruch gegangen oder voller Sprünge und nicht mehr zu gebrauchen war. Auch viele andere Gebrauchsgegenstände hatten sich längst abgenutzt und mussten ersetzt werden. Von der Zeit unberührt schienen einzig das Rüstzeug und die polierten Insignien der Könige zu sein.

Auch die Männer veränderten sich. Die Mitglieder unterschiedlicher Heere wuchsen zu einer großen Gruppe zusammen. Von Aulis noch als Kreter, Zyprioten oder Argiver aufgebrochen, verstanden sich jetzt alle als Griechen, vereint in der Absicht, Troja zu erobern. Und dass sie Speisen, Frauen und Kleider miteinander teilten, schien alle Unterschiede zu verwischen. Agamemnons Behauptung, Griechenland zu vereinen, war letztlich doch nicht nur Prahlerei, denn der Gemeinschaftssinn – früher unter den rivalisierenden Königreichen undenkbar – dauerte über Jahre hinaus an, und es sollte unter denen, die um Troja gekämpft hatten, zu keinem Krieg mehr kommen.

Die Veränderungen machten auch vor mir nicht halt. Im Laufe der sechs, sieben Jahre verbrachte ich mehr Zeit in Machaons Zelt als an der Seite Achills auf dem Feld. So lernte ich einen Patienten nach dem anderen kennen. Irgendwann kam jeder zu uns, um versorgt zu werden, und sei es nur wegen eines verstauchten Knöchels oder eingewachsener Zehennägel. Auch Automedon musste einmal verarztet werden, weil ihm eine dicke Eiterbeule auf der Hand zu schaffen machte. Aufgeregte Männer brachten ihre schwangeren Sklavenfrauen zur Entbindung. Wir halfen bei der Geburt zahlloser Kinder und kurierten später deren Blessuren.

Und es waren nicht nur die einfachen Soldaten, die uns aufsuchten, sondern auch manche Könige. Nestor holte sich jeden Abend seinen Hustensaft ab, den wir ihm verordnet hatten. Menelaos nahm Opium gegen seine Kopfschmerzen, Ajax litt an einem übersäuerten Magen. Ihr Vertrauen auf Heilung und Trost rührte mich. Ich fing an, sie zu mögen, unabhängig davon, wie sie sich in den Ratssitzungen aufführten.

Mein Ansehen im Lager nahm zu. Man verlangte nach mir, ich war bekannt für meine geschickten Hände, die, wie sich herumgesprochen hatte, nur wenig Schmerzen bereiteten. Podaleirios ließ sich nur noch selten im Zelt blicken, denn nun war ich es, der Machaon vertrat.

Es überraschte Achill, wie viele mich herzlich grüßten und mir für ihre Heilung dankten, wenn wir durchs Lager gingen. »Erstaunlich, dass du dich an jeden Einzelnen erinnerst«, sagte er. »Für mich sehen sie alle gleich aus.«

Ich lachte und versuchte, ihm auf die Sprünge zu helfen. »Das da ist Sthenelos, der Wagenlenker von Diomedes, und da drüben siehst du Podarkes, den Bruder unseres ersten Gefallenen. Erinnerst du dich?«

»Ich gebe mich geschlagen«, sagte er. »Es ist einfacher, wenn sie sich an mich erinnern.«

Unser Kreis am Lagerfeuer wurde kleiner, denn ein Mädchen nach dem anderen nahm sich einen Myrmidonen zum Geliebten und dann zum Ehemann. Sie brauchten uns nicht mehr und hatten ihre eigene Familie, worüber wir froh waren. Die Stimmung im Lager war heiter. Man saß zusammen, lachte und hörte des Nachts Laute des Vergnügens, und so mancher Myrmidone wurde zum stolzen Vater.

Bald saß nur noch Brisëis mit uns am Feuer. Obwohl so schön wie eh und je und von vielen umworben, verzichtete sie auf Liebschaften. Stattdessen wurde sie zu einer Art Tante, die Süßigkeiten verteilte, Liebestropfen und weiche Tücher zum Trocknen der Augen bereithielt. Wenn ich mich an die Nächte vor Troja erinnere, sehe ich Achill an meiner Seite, Phoinix mit schmunzelndem Gesicht, Automedon, der einen Witz zu erzählen versucht und die Pointe verhunzt, und Brisëis mit ihren schwarzen Haaren, heimlichen Blicken und dem fröhlichen Lachen.

Es war noch dunkel, als ich eines frühen Morgens frierend erwachte. An diesem Tag sollten die Ernte gefeiert und dem Gott Apoll zum Dank die ersten Früchte gewidmet werden. Achill schlief noch. Sein Körper strahlte eine wohlige Wärme aus. Im Dunklen sah ich nur die Umrisse seines Gesichts, das markante Kinn und die sanft geschwungenen Brauen. Ich wollte ihn wecken und ihm in die Augen blicken, denn daran konnte ich mich nicht sattsehen.

Liebkosend fuhr ich mit meiner Hand über seine Brust. Wir hatten beide an Kraft gewonnen, er im Kampf auf dem Feld, ich durch meine Arbeit im Lazarett. Manchmal überraschte mich mein eigener Anblick. Ich war inzwischen ein Mann, in den Schultern so breit wie mein Vater damals, insgesamt aber sehr viel schlanker.

Die Berührung seiner Haut entfachte Lust in mir. Ich schlug das Laken zur Seite, um ihn ganz zu sehen, beugte mich über ihn und bedeckte ihn mit Küssen.

Es dämmerte. Das erste Morgenlicht drang durch die Zeltbahnen. Er schlug die Augen auf und schaute mich an. Unsere Glieder verschlangen sich ineinander wie von selbst und in erprobter Weise, und doch war es immer wieder neu für uns.

Später saßen wir beieinander und frühstückten. Wir hatten das Zelt geöffnet, um frische Luft hineinzulassen, die angenehm über unsere feuchte Haut strich. Draußen sahen wir die Myrmidonen bei ihren allmorgendlichen Verrichtungen. Automedon lief zum Strand, um ein Bad zu nehmen. Das Meer war noch warm von einem Sommer voller Sonne.

Sie kam nicht durch die Tür. Sie war einfach plötzlich da, mitten im Zelt. Erschrocken schnappte ich nach Luft und zog meine Hand, die auf Achills Knie lag, zurück, obwohl mir im selben Augenblick klar war, dass ich mich kindisch verhielt. Sie war eine Göttin und konnte uns sehen, wann immer sie wollte.

»Mutter«, grüßte er.

»Ich muss dich warnen.« Die Worte knirschten wie ein Knochen, der zerbissen wird. Im Halbdunkel des Zelts schimmerte ihre Haut kalt und hell. Ich sah jede scharfe Linie ihres Gesichtes, jede Falte des leuchtenden Gewandes ganz genau. So nah hatte sie schon lange nicht mehr vor mir gestanden, seit Skyros nicht. Ich hatte mich seitdem verändert, an Kraft und Größe zugenommen, und wenn ich mich nicht rasierte, wuchs mir ein Bart. Sie aber hatte sich nicht verändert. Natürlich nicht.

»Apoll ist erzürnt und will gegen die Griechen vorgehen. Wirst du ihm heute opfern?«

»Ja«, antwortete Achill. Wir hielten uns immer an die Festtagsriten, schnitten den Opfertieren die Kehle auf und brieten ihr Fett.

»Das musst du auch«, sagte sie, die Augen auf ihren Sohn geheftet. Von mir schien sie keine Notiz zu nehmen. »Eine Hekatombe.« Also hundert Schafe oder Rinder. Nur die reichsten und mächtigsten Männer konnten sich eine solche Opfergabe leisten. »Nicht weniger. Und richte dich nicht danach, was die anderen tun. Die Götter ergreifen Partei, und du solltest dich hüten, sie zu verärgern.«

All diese Tiere zu schlachten würde, wenn jeder mithalf, einen ganzen Tag in Anspruch nehmen, und im Lager würde es eine ganze Woche lang wie in einem Leichenhaus stinken. Achill aber nickte. »Wir werden deinen Rat befolgen.«

Sie presste die Lippen aufeinander, rote Striche, die wie Wundränder aussahen.

»Noch etwas«, sagte sie.

Obwohl sie mich nicht anschaute, machte sie mir Angst. Für mich war sie die Ausgeburt böser Omen und drohender Katastrophen.

»Ich höre.«

Ihr Zögern spannte mich auf die Folter. »Der beste Myrmidone wird sterben, ehe zwei weitere Jahre vergangen sind.«

Achill rührte keine Miene. »Wir wussten, dass es irgendwann geschehen muss«, entgegnete er.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Der Prophezeiung nach wirst du noch am Leben sein, wenn das passiert.«

Achill krauste die Stirn. »Was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. Es schien, als wollte sie ihn mit ihren großen schwarzen Augen in sich aufsaugen. »Ich fürchte eine Intrige.« Die Schicksalsgöttinnen waren bekannt für ihre Rätsel, die bis zum Schluss ungelöst blieben, dann aber zur bitteren Erkenntnis führten.

»Sei wachsam«, sagte sie. »Du musst auf der Hut sein.«

»Das bin ich«, erwiderte er.

Erst jetzt richtete sie ihren Blick auf mich. Wie von einem üblen Gestank belästigt, rümpfte sie die Nase. »Er ist deiner nicht würdig«, zischte sie. »Er ist es nie gewesen.«

»Wir sind da unterschiedlicher Meinung«, entgegnete Achill gelassen und wie zum wiederholten Male. Vielleicht hatte er ihr schon häufiger so geantwortet.

Mit einem verächtlichen Schnauben löste sie sich in Luft auf.

»Sie fürchtet sich«, sagte Achill.

»Das scheint mir auch so.« Ich räusperte mich und versuchte die Angst, die mir wie ein Kloß im Hals steckte, herunterzuschlucken.

»Wer ist deiner Meinung nach der beste Myrmidone? Von meiner Person abgesehen.«

Auf Anhieb kam mir Automedon in den Sinn, der sich an der Seite Achills wie kaum ein anderer in der Schlacht bewährt hatte. Doch als der beste war er beileibe nicht zu bezeichnen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete ich.

»Ob mein Vater gemeint sein könnte?«, fragte er.

Peleus, der in Phthia zurückgeblieben war, hatte mit Herakles und Perseus gekämpft. Er war eine Legende und beispielhaft für seine Frömmigkeit und seinen Mut. »Vielleicht.«

Wir schwiegen eine Weile. Dann sagte er: »Ich glaube, wir werden es bald wissen.«

»Du bist es jedenfalls nicht«, sagte ich. »Und darauf kommt’s an.«

Am Nachmittag kamen wir dem Rat seiner Mutter nach. Die Myrmidonen errichteten Scheiterhaufen für die Brandopfer. Ich hielt die Schalen für das Blut, während Achill Kehle um Kehle aufschlitzte. Die besten Fleischstücke verbrannten wir mit Gerste und Granatäpfeln, und in die glühenden Kohlen schütteten wir unseren besten Wein. Apoll ist erzürnt, hatte sie gesagt. Einer unserer mächtigsten Götter, der Gott der Bogenschützen, dessen Pfeile schneller waren als das Licht. Obwohl nicht besonders fromm, pries ich ihn an diesem Tag mit einer Inbrunst, die der von Peleus wahrscheinlich in nichts nachstand. Und für den besten der Myrmidonen schickte ich ein Stoßgebet zu den Göttern.

Brisëis bat mich, sie im Heilen zu unterrichten, und versprach im Gegenzug, mir beizubringen, was sie über die Wirkung der heimischen Gewächse wusste. Das war mir sehr willkommen, weil Machaons Vorräte zur Neige gingen, und so verbrachten wir viele angenehme Tage im Wald, sammelten Kräuter und pflückten unter modernden Hölzern Pilze, die so zart und weich waren wie die Ohren von Säuglingen.

Manchmal streifte ihre Hand dabei versehentlich meine. Dann blickte sie auf und lächelte. Wassertropfen hingen von ihren Ohren herab und in ihren Haaren wie Perlen. Sie hatte den langen Schurz um die Knie gewickelt und die Füße entblößt, die ebenso hübsch wie trittsicher waren.

An einem dieser Tage machten wir Rast, um zu Mittag zu essen. Wir teilten uns Brot, Käse und Streifen getrockneten Fleisches und schöpften mit den Händen Wasser aus dem Bach. Es war Frühling, und seit drei Wochen zeigte sich das fruchtbare Land in seiner ganzen Pracht. Knospen sprangen auf und entfalteten Blüten in allen Farben. Es war für mich die schönste Zeit des Jahres, wenn sich die Natur, von diesem Aufruhr fast erschöpft, auf das ruhigere Wirken des Sommers einstellte.

Ich hätte es kommen sehen müssen. Ich erzählte ihr gerade eine Geschichte – vielleicht etwas von Cheiron –, und sie hörte mir aufmerksam zu, die dunklen Augen ins Leere gerichtet. Als ich fertig war, blieb es lange still zwischen uns, was nichts Ungewöhnliches war, da sie häufig schwieg. Wir saßen so dicht beieinander, die Köpfe verschwörerisch zusammengesteckt, dass ich die Frucht riechen konnte, die sie gerade gegessen hatte. Ich nahm den Duft des Rosenöls wahr, das noch, für die anderen Mädchen gepresst, an ihren Fingern klebte, und mir wurde wieder einmal bewusst, wie lieb ich sie hatte, dieses ernste Gesicht mit den Mandelaugen. Ich stellte sie mir vor, wie sie als Mädchen auf Bäume geklettert und auf ihren dünnen Beinen mit anderen um die Wette gerannt war, und wünschte, sie schon damals gekannt zu haben, als ich noch im Haus meines Vaters gewohnt und mit meiner Mutter Steine übers Wasser hatte hüpfen lassen. Ich sah es fast bildlich vor mir.

Ihre Lippen berührten plötzlich meine. Ich war so überrascht, dass ich mich nicht rührte. Ihr Mund war weich und ein wenig zögerlich, die Augen hatte sie geschlossen. Ich erwiderte ihren Kuss und überließ mich, von Blütenduft umweht, dem Zauber des Moments. Dann rückte sie, den Blick gesenkt, von mir ab. Mir rauschte das Blut in den Ohren, doch was es in Wallung versetzte, war nicht so sehr das Verlangen, wie es Achill in mir auslöste, als vielmehr meine Sorge, ihr womöglich wehzutun. Ich legte meine Hand in ihre.

Sie ahnte es, spürte es an der Art, wie ich ihre Hand ergriff und ihr in die Augen sah. »Es tut mir leid«, flüsterte sie.

Ich schüttelte den Kopf, wusste aber nicht, was ich sagen sollte.

Sie hob die Schultern an wie zusammengefaltete Flügel. »Ich weiß, dass du ihn liebst«, sagte sie stockend. »Ich weiß es. Aber ich dachte – manche Männer haben Frauen und trotzdem auch Geliebte.«

Ihr Gesicht sah so traurig aus, dass ich nicht länger schweigen konnte.

»Brisëis«, sagte ich. »Wenn ich jemals mit einer Frau zusammen sein möchte, dann nur mit dir.«

»Aber du möchtest mit keiner Frau zusammen sein.«

»So ist es«, sagte ich möglichst schonend.

Sie nickte und schaute wieder zu Boden. Ich konnte hören, dass ihr Atem ein wenig zitterte.

»Tut mir leid«, sagte ich.

»Willst du denn nie Kinder haben?«

Die Frage überraschte mich. Ich kam mir doch selbst vor wie ein Kind, obwohl die meisten Männer meines Alters längst Väter waren.

»Ich wäre wohl kein guter Vater«, erwiderte ich.

»Das glaube ich nicht.«

»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich. »Du etwa?«

Was ich einfach so dahergesagt hatte, schien sie tief zu berühren. Sie zögerte. »Vielleicht.« Und plötzlich wurde mir bewusst, was sie mir eigentlich hatte sagen wollen. Ich schämte mich für meine Gedankenlosigkeit und errötete. Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Vielleicht um ihr zu danken.

Aber sie war schon aufgestanden und glättete ihr Kleid »Gehen wir?«

Mir blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen.

In dieser Nacht fand ich keine Ruhe. Unablässig gingen mir Brisëis und mein Kind durch den Kopf. Ich sah kleine mollige Beinchen, dunkle Haare und die großen Augen der Mutter. Ich sah uns, Brisëis und mich, mit dem Kind am Feuer hocken, das mit einem von mir geschnitzten Holzstück spielte. Und doch war dieser Szene eine seltsame Leere eigen, eine schmerzende Abwesenheit. Wo war Achill? Tot? Oder hatte er nie existiert? Ein solches Leben mochte ich nicht führen. Aber Brisëis hat mich auch nicht darum gebeten. Sie hatte mir dies alles in Aussicht gestellt, sich, das Kind und auch Achill.

Ich drehte mich zur Seite und schaute ihn an. »Hast du je daran gedacht, Kinder in die Welt zu setzen?«, fragte ich.

Er hatte die Augen geschlossen, schlief aber nicht. »Ich habe ein Kind«, antwortete er.

Es versetzte mir einen Stich, sooft ich daran erinnert wurde. An sein Kind mit Deidameia. Einen Jungen mit Namen Neoptolemos – Neuer Krieg –, wie er von Thetis wusste. Genannt wurde er Pyrrhos wegen seiner feuerroten Haare. An ihn, diesen fernab lebenden Sohn von Achill, zu denken beunruhigte mich. »Sieht er dir ähnlich?«, hatte ich schon einmal gefragt. Achill hatte mit den Achseln gezuckt. »Danach habe ich nicht gefragt.«

»Möchtest du ihn sehen?«

Achill schüttelte den Kopf. »Es ist gut, dass meine Mutter ihn aufzieht. Bei ihr hat er es besser.«

Daran zweifelte ich, behielt meinen Gedanken jedoch für mich. Ich wartete einen Moment für den Fall, dass er mich fragen wollte, ob ich mir ein Kind wünschte. Aber das tat er nicht. Ich hörte seinem Atem an, dass er eingeschlafen war. Er schlief immer vor mir ein.

»Achill?«

»Mmmm?«

»Magst du Brisëis?«

Er krauste die Stirn, hielt aber die Augen geschlossen. »Mögen?«

»Ob du dich an ihr erfreust«, sagte ich. »Du weißt, was ich meine.«

Er schlug die Augen auf und schien erschrocken. »Was hat das mit Kindern zu tun?«

»Nichts«, log ich.

»Wünscht sie sich ein Kind?«

»Kann sein.«

»Von mir?«, fragte er.

»Nein.«

»Gut.« Die Lider fielen ihm wieder zu. Als ich glaubte, dass er wieder eingeschlafen war, sagte er: »Von dir. Sie will ein Kind mit dir.«

Mein Schweigen bestätigte ihn. Er richtete sich auf und ließ das Laken von der Brust gleiten. »Ist sie schwanger?«, fragte er.

So gereizt hatte ich seine Stimme noch nie gehört.

»Nein«, sagte ich.

Er sah mir eindringlich in die Augen und suchte nach einer Antwort.

»Wünschst du es dir?«, fragte er sichtlich angespannt. Eifersucht war ihm fremd. Aber er war verletzt, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich kam mir grausam vor und bereute, ihn mit meinen Gedanken behelligt zu haben.

»Nein«, sagte ich. »Ich glaube nicht. Nein.«

»Wenn du es willst, wäre es in Ordnung.« Er sprach mit Bedacht, versuchte, gerecht zu sein.

Ich dachte wieder an das dunkelhaarige Kind. Ich dachte an Achill.

»Es ist gut so, wie es ist«, sagte ich.

Die Erleichterung in seinem Ausdruck tat mir gut.

In der Folgezeit schien mich Brisëis zu meiden. Ich aber hielt an unserer Gewohnheit fest und holte sie ab, um mit ihr spazieren zu gehen. Wir unterhielten uns über Heilkunde und das, was im Lager geschah. Über Kinder oder ein Leben als Mann und Frau redeten wir nicht. Wenn sie mich anschaute, sah ich immer noch die gleiche Sanftheit ihrer Augen. Ich gab mir Mühe, ihr mit ähnlich sanften Blicken zu begegnen.

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