Drittes Kapitel

Ich war auf dem Feld und hielt zwei Würfel in der Hand, ein Geschenk. Nicht von meinem Vater, der an so etwas nie gedacht hätte. Auch nicht von meiner Mutter, die mich manchmal nicht erkannte. Ich weiß selbst nicht mehr, wer sie mir gab. Ein König, der bei uns zu Besuch gewesen war? Ein Höfling, der sich einzuschmeicheln versucht hatte?

Die Würfel waren aus Elfenbein geschnitzt und mit kleinen Onyx-Einlagen versehen, vollkommen glatt unter meinem Daumen. Es war Spätsommer, und ich rang, außer Atem nach dem schnellen Lauf hinaus aus dem Palast, nach Luft. Seit dem Wettkampf damals hatte man mir einen Mann zur Seite gestellt, der mich in unseren athletischen Disziplinen unterrichten sollte: Boxen, Schwert- und Speerkampf, Diskus. Aber ich war vor ihm davongelaufen und wie benommen vor Freude darüber, seit Wochen endlich einmal wieder allein sein zu können.

Plötzlich tauchte dieser Junge auf. Er hieß Kleitonymos und war der Sohn eines Edelmanns, der häufig in unserem Palast zu Gast war. Er war älter und größer als ich und unangenehm stämmig. Offenbar hatte er es auf die Würfel in meiner Hand abgesehen, denn er streckte seine Hand aus und sagte: »Lass mal sehen.«

»Nein.« Ich wollte nicht, dass er sie mit seinen schmutzigen Fingern begrabschte. Ich war zwar kleiner, aber immerhin ein Prinz. Hatte ich nicht das Recht, nein zu sagen? Allerdings waren diese Söhne von Edelmännern daran gewöhnt, alles von mir verlangen zu können, was sie wollten. Sie wussten, dass mein Vater nie einschreiten würde.

»Gib her!« Er machte sich nicht einmal die Mühe, mir zu drohen. Dafür hasste ich ihn. Mir zu drohen wäre das Wenigste gewesen, was ich an Respekt verlangen durfte.

»Nein.«

Er trat auf mich zu. »Ich will sie haben.«

»Sie gehören mir.« Ich zeigte ihm die Zähne wie Hunde, die um das kämpften, was vom Tisch zu Boden fällt.

Er streckte die Hand aus, doch ich stieß ihn zurück. Er stolperte, worüber ich mich freute. Ich würde ihm nicht geben, was mir gehörte.

»He!«, brüllte er wütend. Ich war so klein, und viele hielten mich für dumm. Es wäre eine Schmach für ihn, wenn er sich von mir abweisen ließe. Hochrot im Gesicht griff er an. Ich wich unwillkürlich zurück.

Er grinste. »Feigling.«

»Ich bin kein Feigling«, rief ich laut. Mir wurde ganz heiß.

»Dein Vater hält dich aber für einen.« Er wählte seine Worte mit Bedacht und schien sie zu genießen. »Ich habe gehört, wie er sich vor meinem Vater über dich beklagt hat.«

»Hat er nicht«, entgegnete ich, obwohl ich wusste, dass es doch so war.

Der Junge hob die Faust. »Nennst du mich einen Lügner?« Ich zweifelte keinen Augenblick daran, dass er zuschlagen würde. Er wartete nur noch auf einen Vorwand. Ich konnte mir vorstellen, wie mein Vater dieses Wort ausgesprochen hatte. Feigling. Ich stemmte dem Jungen beide Hände gegen die Brust und stieß ihn so fest, wie ich nur konnte, von mir. Unser Land bestand aus Wiesen und Getreidefeldern. Hinzufallen tat nicht weh.

Nun, um ehrlich zu sein, gab es auch jede Menge Steine.

Er schlug heftig mit dem Kopf auf, und ich sah, wie er vor Schreck die Augen aufriss. Um seinen Kopf herum breitete sich eine Blutlache aus.

Vor lauter Entsetzen über das, was ich getan hatte, schnürte sich mir die Kehle zu. Ich hatte nie zuvor einen Menschen sterben sehen. Bullen, ja, und Ziegen, nicht zuletzt auch Fische in ihrem zappelnden Todeskampf. Auch auf Gemälden hatte ich es gesehen, auf Wandteppichen und unserem Geschirr, in das solche Szenen von Mord und Totschlag unter schwarzen Gestalten eingebrannt war. Aber das war mir noch nie zu Gesicht oder zu Ohren gekommen: dieses Gliederzucken und Röcheln. Und dann dieser Gestank des blutigen Ausflusses! Ich ergriff die Flucht.

Irgendwann später fanden sie mich vor den knorrigen Wurzeln eines Olivenbaums. Ich lag, schlaff und bleich, in meinem eigenen Erbrochenen. Die Würfel waren verschwunden, verloren auf der Flucht. Mein Vater musterte mich mit wütendem Blick. Die grimmige Miene ließ seine gelb gewordenen Zähne zum Vorschein kommen. Auf sein Zeichen hin trugen mich die Diener nach Hause.

Die Familie des Jungen verlangte meinen Tod oder meine Verbannung. Sie war mächtig und der Verstorbene ihr ältester Sohn. Ein Prinz mochte unbehelligt ihre Felder niederbrennen oder eine ihrer Töchter missbrauchen, solange Schadensersatz geleistet wurde. Doch die Söhne eines Mannes galten als unantastbar. Für sie würde ein Edelmann Krieg führen. Wir alle kannten die Regeln und hielten daran fest, um das Schlimmste zu vermeiden, das uns ständig bedrohte. Blutfehde. Die Diener machten das Zeichen zur Abwehr des Bösen.

Mein Vater hatte sich zeit seines Lebens für den Erhalt seines Königreichs eingesetzt, und das wollte er nun nicht wegen eines solchen Sohns wie mich verlieren, zumal es ihm ein Leichtes sein würde, mit irgendeiner Sklavin andere Erben zu zeugen. Also willigte er ein: Ich sollte ins Exil geschickt und am Hof eines anderen Königs für den Preis von Gold, aufgewogen mit meinem Gewicht, zum Mann erzogen werden. Ich würde keine Eltern haben, keinen Familiennamen, kein Erbe. In unseren Tagen wäre es besser zu sterben. Aber mein Vater dachte praktisch. Mein Gewicht an Gold kostete ihn weniger als eine aufwändige Bestattung, die in meinem Fall nötig gewesen wäre.

So wurde ich im Alter von zehn Jahren zum Waisenkind. So kam ich nach Phthia.

Phthia war das kleinste unserer Länder, ein winziger Fleck nur, im Norden zwischen der Meeresküste und den Gipfelgraden des Othrys-Gebirges gelegen. Sein König Peleus war ein Liebling der Götter, selbst zwar nicht göttlich, aber klug, tapfer, stattlich und an Frömmigkeit allen Männern seines Standes überlegen. Und weil sie ihm günstig gesinnt waren, gaben ihm die Götter eine Nymphe zur Frau, womit ihm die größtmögliche Ehre zuteilwurde. Denn welcher Sterbliche würde nicht einer Göttin beiwohnen und einen Sohn mit ihr zeugen wollen? Göttliches Blut läuterte unser irdenes Geschlecht und brachte aus Staub und Lehm Helden hervor. Und mit dieser Göttin verband sich ein noch größeres Versprechen: Die Moiren hatten geweissagt, ihr Sohn werde den Vater bei weitem übertreffen. Sein Stamm wäre gesichert. Doch wie alle Geschenke der Götter hatte auch dieses einen Haken. Die Göttin selbst widersetzte sich.

Jeder, sogar ich, kannte die Geschichte von Thetis’ Verführung. Die Götter hatten Peleus an einen heimlichen Ort geführt, zu einer Meeresbucht, in der sie sich gern aufhielt. Sie hatten ihn gewarnt, er solle keine Zeit mit Aufwartungen verschwenden – sie würde sich nie freiwillig mit einem Sterblichen einlassen.

Sie hatten ihn außerdem auf das vorbereitet, was er zu erwarten hatte. Die Nymphe Thetis war ähnlich gerissen wie ihr Vater Proteus, jener wandlungsfähige Gott des Meeres, und wusste auf vielfältigste Art und Weise Gestalt anzunehmen, ob in einem Kleid aus Schuppen, Tierhäuten oder Federn. Und sie würde sich mit Schnäbeln, Klauen und Zähnen, mit Schlingen und Stachelschwänzen zur Wehr setzen, doch Peleus dürfe nicht von ihr ablassen.

Peleus war ein frommer und gehorsamer Mann. Er tat, wozu ihm die Götter rieten, und wartete darauf, dass sie den schiefergrauen Wellen entstieg mit ihren schwarzen Haaren, die so lang waren wie ein Pferdeschweif. Da ergriff er sie und hielt sie gepackt, obwohl sie sich heftig wehrte, und sie rangen miteinander, bis beide erschöpft und geschunden im Sand lagen. Das Blut aus den Wunden, die sie ihm zugefügt hatte, vermischte sich mit der Schmiere ihrer verlorenen Jungfernschaft auf den Schenkeln. Sie hatte sich ihm vergeblich widersetzt, denn eine Entjungferung war so bindend wie ein Ehegelöbnis.

Die Götter verlangten von ihr, dass sie mindestens ein Jahr lang bei ihrem sterblichen Gatten bleiben sollte, und sie diente ihre Zeit auf Erden ab, wie es ihre Pflicht war, wenngleich schweigend und mürrisch. Wenn er ihr nun nahe kam, ließ sie ihn gewähren und wehrte sich nicht, lag stattdessen nur da, kalt wie ein Fisch. Ihr widerwilliger Schoß empfing nur ein einziges Kind, und kaum war die Frist verstrichen, floh sie aus dem Palast und verschwand im Meer.

Wenn sie zurückkehrte, so nur aus dem einzigen Grund, ihren Sohn zu sehen, doch sie blieb nie lange. Das Kind wurde von Ammen und Hauslehrern erzogen und unter die Aufsicht von Phoinix gestellt, dem getreuesten Berater Peleus’. Ob Peleus jemals bereute, von den Göttern beschenkt worden zu sein? Eine gewöhnliche Frau hätte sich an der Seite eines so milden und freundlich lächelnden Gatten wie Peleus glücklich schätzen können, doch der Meeresgöttin Thetis war er in seiner Sterblichkeit und Mittelmäßigkeit nur ein Gräuel gewesen.

Ein Diener führte mich durch den Palast. Seinen Namen hatte ich nicht verstanden, aber vielleicht hatte er ihn auch gar nicht genannt. Die Räume waren kleiner als in meinem früheren Zuhause und entsprachen dem Geist der Bescheidenheit, in dem das Land regiert wurde. Die Wände und Böden waren aus dem Marmor, der hier in der Gegend abgebaut wurde und im Vergleich zu den Steinen, die man im Süden fand, makellos weiß schimmerte. Meine Füße nahmen sich darauf noch dunkler aus.

Ich hatte nichts bei mir. Meine wenigen Habseligkeiten waren in meine Kammer gebracht worden, und das Gold meines Vaters befand sich auf dem Weg in die Schatzkammer. Ich fühlte eine seltsame Panik, als man mich von den Schmuckstücken getrennt hatte, meinen Begleitern auf der wochenlangen Reise, die mir meinen Wert versichert hatten: fünf Kelche mit ziselierten Stielen, ein schweres Zepter, ein Halsband aus getriebenem Gold, zwei schmuckvolle Vögel und eine Leier mit vergoldeten Armen. Letztere war, wie ich wusste, eine betrügerische Beigabe, denn das Instrument bestand natürlich aus billigem Holz und nahm den Platz ein, der mit Gold hätte aufgefüllt sein sollen. Doch es war so wunderschön, dass niemand Einwand erheben konnte. Die Leier stammte aus der Mitgift meiner Mutter. Während der Reise hatte ich immer wieder in die Satteltasche gegriffen, um mit der Hand über das polierte Holz zu streichen.

Ich nahm an, dass man mich in den Thronsaal führte, damit ich dort auf die Knie fallen und meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen könnte. Doch plötzlich hielt der Sklave vor einer Seitentür an. König Peleus sei abwesend, erklärte er mir und sagte, dass er mich stattdessen dem Königssohn vorstellen werde. Ich war verärgert, weil ich die artigen Worte, die ich mir unterwegs auf dem Eselsrücken zurechtgelegt hatte, nun nicht vorbringen konnte. Peleus’ Sohn. Ich erinnerte mich noch an den Kranz auf seinen hellen Haaren und an seine rosigen Fußsohlen, auf denen er so flink über die Laufstrecke gerannt war. So sollte ein Sohn sein.

Er lag auf einer breiten, mit Kissen gepolsterten Bank, balancierte eine Leier auf dem Bauch und zupfte gelangweilt an den Saiten. Er hatte mich nicht kommen hören, oder er wollte mich nicht zur Kenntnis nehmen. Jedenfalls wurde mir in dem Moment klar, welchen Platz ich an diesem Ort einnehmen sollte. Bis zu diesem Tag war ich ein Prinz gewesen, dessen Erscheinen angekündigt wurde. Jetzt war ich jemand, den man getrost übersehen konnte.

Ich trat einen Schritt vor und scharrte mit den Füßen, worauf er den Kopf zur Seite drehte und mich beäugte. Vor fünf Jahren hatte ich ihn das erste Mal gesehen und stellte nun fest, dass er aus seiner kindlichen Molligkeit herausgewachsen war. Ich starrte ihn an, tief beeindruckt von seiner Schönheit, den dunkelgrünen Augen und den zarten, fast märchenhaften Gesichtszügen. Ich hingegen hatte mich nicht so sehr verändert, geschweige denn zu meinem Vorteil, weshalb ich bei seinem Anblick neidisch wurde und mit Abneigung reagierte.

Er gähnte und hob die schweren Lider. »Wie heißt du?«

Das Königreich meines Vaters war vielleicht achtmal so groß wie das seines Vaters, ich hatte immerhin einen Jungen getötet, war in die Verbannung geschickt worden, und dennoch kannte er mich nicht. Ich presste die Lippen aufeinander und schwieg.

Wieder fragte er, lauter diesmal: »Wie heißt du?«

Dass ich ihm nicht gleich geantwortet hatte, war noch entschuldbar gewesen, es mochte ja sein, dass ich ihn nicht gehört hatte. Nun aber gab es keine Ausrede mehr.

»Patroklos.« Es war der Name, den mir mein Vater nach meiner Geburt hoffnungsvoll, aber unüberlegt gegeben hatte, und er lag mir bitter auf der Zunge. Er bedeutete »zur Ehre des Vaters«. Ich war gefasst darauf, dass der Junge auf der Bank einen Scherz machte und auf meine Schande anspielte. Aber das tat er nicht. Vielleicht, dachte ich, war er ein bisschen zu dumm dazu.

Er drehte sich zur Seite und schaute mich an. Eine Locke seiner goldenen Haare fiel ihm über die Augen. Er blies sie weg. »Mein Name ist Achill.«

Ich hob mein Kinn, und wir betrachteten einander. Dann blinzelte er mit den Augen, gähnte wieder und riss dabei den Mund auf wie eine Katze. »Willkommen in Phthia.«

Ich war an einem Königshof aufgewachsen und wusste, wann man mir zu verstehen gab, dass ich entlassen war.

Noch am selben Nachmittag erfuhr ich, dass ich nicht das einzige Pflegekind von Peleus war. Der bescheidene König erwies sich als durchaus reich an verstoßenen Söhnen. Es hieß, dass er als junger Bursche von zu Hause ausgerissen sei und ein Herz für Verbannte habe. Mein Bett bestand aus einem Strohlager in einem langen kahlen Raum, den ich mir mit anderen Jungen teilte, die sich rauften oder in den Tag hineinträumten. Ein Sklave zeigte mir, wohin man meine Sachen gebracht hatte. Ein paar Jungen hoben die Köpfe und starrten mich an. Einer fragte nach meinem Namen und ich antwortete. Doch sie verloren schnell wieder das Interesse. Niemand Wichtiges. Zaghaft ging ich zu meinem Strohlager und wartete auf das Abendessen.

In der Abenddämmerung rief uns das Geläut einer Bronzeglocke, das aus dem Inneren des Palasts tönte. Die anderen Jungen sprangen auf und eilten hinaus. Ich wähnte mich wie in einem Kaninchenbau, so verschlungen waren die engen, dunklen Korridore. Aus Angst, den Anschluss zu verlieren, trat ich dem Jungen, der vor mir lief, fast in die Hacken.

Die Halle, in der gegessen wurde, befand sich im vorderen Teil des Palasts mit Blick auf die Ausläufer des Othrys-Gebirges und war so groß, dass eine Vielzahl von Gästen darin Platz gefunden hätte. Peleus war bekannt dafür, dass er gern große Feste gab. Wir saßen auf Bänken aus Eichenholz, an Tischen, die offenbar uralt und entsprechend abgenutzt und zerkratzt waren. Das Essen war einfach, aber reichlich – gepökelter Fisch und dicke Scheiben Brot mit Kräuterkäse. Ziegen- oder Rindfleisch gab es nicht. Das war der Königsfamilie vorbehalten oder wurde nur an Festtagen gereicht. Am anderen Ende des Raumes sah ich im Schein der Lampe einen hellen Haarschopf leuchten. Achill. Die Jungen, die neben ihm saßen, amüsierten sich köstlich und lachten, offenbar über etwas, was er gesagt oder getan hatte. So sollte ein Prinz sein. Ich starrte auf mein Brot aus grobem Weizenschrot und strich mit den Fingern über die raue Rinde.

Nach dem Essen durften wir machen, was uns gefiel. Manche Jungen zogen sich in eine Ecke zurück, um zu spielen. »Willst du mitspielen?«, fragte einer. Er hatte noch kindliche Locken und war jünger als ich.

»Spielen?«

»Würfeln.« Er öffnete langsam die Hand und zeigte mir zwei Würfel aus geschnitzten Knochen, betupft mit schwarzer Farbe.

Unwillkürlich wich ich zurück. »Nein«, rief ich aus.

Er zwinkerte überrascht mit den Augen. »Dann eben nicht«, sagte er achselzuckend und ging fort.

In dieser Nacht träumte ich von dem toten Jungen, der mit zerbrochenem Schädel, aufgeschlagen wie ein Ei, am Boden liegt. Er hat mir nachgestellt. Blut strömt, dunkel wie Wein. Er öffnet die Augen, bewegt seine Lippen. Ich halte mir die Ohren zu. Die Stimmen der Toten, so heißt es, können Lebende in den Irrsinn treiben. Ich will kein Wort von ihm hören.

Ich schreckte auf und hoffte, nicht geschrien zu haben. Es war dunkel, vor dem Fenster leuchteten nur die Sterne am mondlosen Himmel. Mein flacher, hastiger Atem durchschnitt die Stille. Unter mir knisterte die Matratze, deren Füllung aus Stroh im Rücken piekste. Die Gegenwart der anderen Jungen tröstete mich nicht. Unsere Toten übten Rache, auch ungeachtet der Zeugen.

Die Gestirne kreisten, der Mond ging auf und zog über den Himmel. Als meine Augen schließlich wieder zufielen, lauerte der Junge noch, blutbesudelt und mit knochenbleichem Gesicht. Natürlich wartete er auf mich. Keine Seele wollte so früh in die endlosen Schatten unserer Unterwelt eingehen müssen. Die Verbannung mochte vielleicht die Lebenden besänftigen, doch die Toten waren damit nicht zufrieden gestellt.

Als ich aufwachte, waren meine Lider verklebt, die Glieder schwer und gefühllos. Die anderen Jungen liefen bereits umher und zogen sich an, um pünktlich zum Frühstück zu erscheinen. Dass ich womöglich ein wenig merkwürdig sei, hatte sich schnell herumgesprochen, und der Junge mit den Locken trat nicht mehr auf mich zu, weder mit Würfeln noch irgendetwas anderem. Am Frühstückstisch stopfte ich mir Brotkrumen in den Mund und schluckte. Man schenkte mir Milch ein und ich trank.

Anschließend wurden wir nach draußen in einen staubigen Hof in die pralle Sonne geführt, um im Umgang mit Speer und Schwert unterrichtet zu werden. Hier sollte ich erfahren, was es mit der Freundlichkeit des Peleus in Wahrheit auf sich hatte. Gut ausgebildet und zu Dank verpflichtet, würden wir ihm eines Tages als tüchtige Kämpfer dienen.

Man gab mir einen Speer. Eine schwielige Hand korrigierte meinen Griff und korrigierte ihn abermals. Ich warf und verfehlte das Ziel, den Stamm einer Eiche, nur knapp. Der Lehrer ließ schnaubend Luft ab und reichte mir einen zweiten Speer. Ich schaute mich im Kreis der anderen Jungen um, auf der Suche nach Peleus’ Sohn. Er war nicht da. Dann konzentrierte ich mich wieder auf die Eiche, deren Borke zerfetzt und aufgebrochen war. Aus den Einschlaglöchern troff Harz. Ich warf.

Die Sonne stieg höher und höher. Meine Kehle war heiß und trocken, Staub brannte darin. Als der Unterricht vorbei war, rannten die meisten Jungen zum Strand, wo immer noch ein leichter Wind wehte. Dort würfelten sie oder jagten einander und rissen Witze in den scharfen Dialekten des Nordens.

Meine Augen waren schwer, und meine Arme schmerzten von den Übungen am Vormittag. Ich setzte mich in den Schatten eines struppigen Olivenbaums und schaute hinaus aufs bewegte Meer. Niemand wechselte ein Wort mit mir. Mich nicht zur Kenntnis zu nehmen war leicht. Es war nicht viel anders als zu Hause.

Der nächste Tag verlief ähnlich, mit ermüdenden Übungen am Vormittag und langen Nachmittagsstunden, die ich allein verbrachte. In der Nacht betrachtete ich den abnehmenden Mond, so lange, bis ich ihn auch mit geschlossenen Augen sehen konnte, als gelbe Sichel vor meinen dunklen Augenlidern. Ich hoffte, sein Anblick würde mir das stets wiederkehrende Bild des Jungen ersparen. Unsere Mondgöttin hat Zauberkräfte und Macht über die Toten. Wenn sie es wollte, konnte sie auch meine Alpträume bannen.

Sie tat es nicht. Der Junge kam, Nacht für Nacht, mit starrem Blick und zerschmettertem Schädel. Manchmal drehte er sich um und zeigte mir das Loch im Kopf, aus dem die weiche Masse seines Gehirns hervorquoll. Ich wachte jedes Mal auf, atemlos vor Entsetzen, und starrte ins Dunkel, bis es hell wurde.

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