Sechzehntes Kapitel

Am nächsten Tag erreichten wir Phthia. Die Sonne hatte ihren höchsten Punkt gerade überschritten. Achill und ich standen an der Reling.

»Siehst du das?«

»Was?« Er hatte schärfere Augen als ich.

»Die Küste. Sie sieht sonderbar aus.«

Als wir ihr ein Stück näher kamen, erkannte ich, warum. Auf der Landzunge drängte sich das Volk. Und dann war da dieses Rauschen. Zuerst dachte ich, es rührte von den Wellen her oder dem Schiff, das sie durchschnitt. Doch es wurde mit jedem Ruderschlag lauter, und dann wurde deutlich, dass es Stimmen waren, die immer und immer wieder riefen: Prinz Achill! Aristos Achaion!

Als unser Schiff am Strand auflief, flogen Hunderte von Händen in die Luft, und aus Hunderten von Kehlen schallte Jubel. Alle anderen Geräusche und die Kommandos der Seeleute wurden übertönt. Wir konnten kaum fassen, was wir hörten und sahen.

Es war vielleicht dieser Moment, der unserem Leben die entscheidende Wendung gab. Weder am Pelion noch auf Skyros, sondern hier wurde uns die erhabene Größe Achills bewusst, die man von nun an und bis in alle Ewigkeit an ihm bewunderte. Er war schon jetzt eine Legende, und doch war es erst der Anfang. Er zögerte, und ich ergriff seine Hand, so dass es das Volk nicht sehen konnte. »Geh«, drängte ich ihn. »Sie warten auf dich.«

Unter lautem Hurrageschrei stieg Achill mit zum Gruß erhobenen Armen auf die Laufplanke. Ich fürchtete schon, die Menge würde das Schiff stürmen, doch die Soldaten hielten sie auf Abstand und machten den Weg frei für ihn.

Achill wandte sich mir zu und sagte etwas, was ich zwar nicht hörte, aber trotzdem verstand. Komm mit mir. Ich nickte und folgte ihm. Auf beiden Seiten drängten die Menschen auf die Phalanx der Soldaten ein. Am Ende der Schneise wartete Peleus auf uns. Sein Gesicht war feucht, und er machte keine Anstalten, die Tränen abzuwischen. Er zog Achill an seine Brust, umarmte ihn und ließ ihn so bald nicht wieder los.

»Unser Prinz ist zurückgekehrt!« Seine Stimme klang tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte, und übertönte die Menge, die sogleich verstummte.

»Vor euch allen heiße ich meinen geliebten Sohn, den Erben meines Königreichs, von Herzen willkommen. Er wird euch in seiner Herrlichkeit nach Troja führen und im Triumph wieder heimkehren.«

Obwohl die Sonne vom Himmel herabbrannte, durchfuhr mich ein eiskalter Schauer. Er wird nicht heimkehren. Doch das konnte Peleus noch nicht wissen.

»Er, das Kind der Götter, ist zum Mann gereift. Zum Aristos Achaion

Die Soldaten schlugen mit den Schwertern auf ihre Schilde, Frauen kreischten, Männer johlten. Mir fiel auf, dass sich Achill in die Brust warf und den Kopf höher trug als sonst. Er beugte sich zu seinem Vater hin und flüsterte ihm etwas ins Ohr, was ich nicht hörte. Ein Streitwagen wartete auf uns. Wir bestiegen ihn und fuhren, von der Menschenmenge gefolgt, zum Palast.

Dort angekommen, umschwirrten uns Höflinge und Sklaven. Man gab uns zu essen und zu trinken, was wir im Stehen verzehrten, denn bald ging es weiter in den Palasthof, wo zweitausendfünfhundert Männer auf uns warteten. Als sie uns sahen, erhoben sie zum Gruß ihre quadratischen Schilde. Gerade dies war für mich vielleicht das Seltsamste: dass er all diese Männer anführen sollte. Er würde einen jeden bei seinem Namen kennenlernen und seine Geschichte erfahren. Er gehört nicht mehr mir allein.

Ob er nervös war, konnte selbst ich nicht erkennen. Ich sah, wie er sie begrüßte und Worte sagte, die bewirkten, dass alle die Schultern strafften. Sie glänzten und bestaunten ihren sagenhaften Prinzen, seine leuchtenden Haare, die tödlichen Hände und flinken Füße. Sie neigten sich ihm zu wie Blumen der Sonne und weideten sich an seinem Glanz. Es war, wie Odysseus vorhergesagt hatte. Seine Strahlkraft würde aus ihnen allen Helden machen.

Wir waren fortan nicht mehr allein. Ständig wurde nach ihm verlangt. Er sollte dies und jenes in Augenschein nehmen, in Sachen Proviant entscheiden und die Einberufungslisten absegnen, und es galt, zahllose Fragen zu beantworten. Er versuchte, all diesen Dingen gerecht zu werden, und verkündete schließlich: »Was sonst noch zur Vorbereitung des Feldzugs zu tun ist, überlasse ich den erfahrenen Händen von Phoinix, dem Berater meines Vaters.« Ich hörte eine Sklavin hinter mir seufzen. Sie war hübsch und anmutig.

Ihm war klar, dass ich hier wenig ausrichten konnte. Ich sah es seiner Miene an, wenn er mich anschaute. Er stellte sicher, dass auch ich die Tafeln und Pläne sehen konnte, und fragte mich häufig nach meiner Meinung. Dennoch fühlte ich mich zurückgesetzt und ließ es ihn spüren.

Für mich gab es kein Entrinnen. Durch alle Fenster drangen die Geräusche der Soldaten, die große Worte machten, exerzierten und die Speerspitzen schärften. Sie nannten sich jetzt Myrmidonen, Ameisenmänner, womit sie eine alte Ehrenbezeichnung aufgriffen. Auch das musste mir Achill erklären: Den Legenden nach hatte Zeus die Phthianer aus Ameisen erschaffen. Ich sah sie marschieren, in Reih und Glied und voller Angriffslust. Ich hörte, wie sie von reicher Beute träumten, die sie im Triumph nach Hause bringen wollten. Für uns gab es solche Träume nicht.

Ich sonderte mich ab und ließ mich, wenn er mit seinem Gefolge von einer Versammlung zur anderen eilte, unter irgendwelchen Vorwänden zurückfallen. Sie bemerkten es nicht, wenn ich stehen blieb und mich an meinen Sandalen zu schaffen machte oder am Bein kratzte. Und während sie um die nächste Ecke bogen, schlug ich eine andere Richtung ein, kehrte in unsere leere Kammer zurück und war froh, allein zu sein. Dort legte ich mich auf den steinernen Boden und machte die Augen zu, gequält von Vorstellungen, wie es mit ihm enden mochte, zu Fall gebracht durch ein Schwert oder eine Lanze, zerschmettert von einem Streitwagen, blutend, bis ihm das Herz stillstehen würde.

In der zweiten Woche fragte ich ihn eines Nachts, als wir schläfrig beieinanderlagen:

»Wirst du deinen Vater einweihen? In die Prophezeiung?« Die Worte klangen laut in der mitternächtlichen Stille. Er ließ sich mit der Antwort Zeit.

»Nein, ich glaube nicht, dass ich es ihm sage.«

»Nie?«

Er schüttelte kaum wahrnehmbar den Kopf. »Was würde das ändern? Es würde ihn nur tief betrüben.«

»Und was ist mit deiner Mutter? Wird sie es ihm nicht sagen?«

»Nein«, antwortete er. »Am letzten Tag auf Skyros habe ich sie gebeten, mir unter anderem zu versprechen, dass sie ihm nichts sagt.«

Ich krauste die Stirn. Davon hörte ich zum ersten Mal. »Und worum hast du sie noch gebeten?«

Er zögerte. Doch wir sagten uns immer die Wahrheit, hatten es stets getan. »Ich habe sie gebeten, dich zu beschützen«, antwortete er. »Danach.«

Ich starrte ihn an. Mein Mund war wie ausgetrocknet. »Was hat sie darauf erwidert?«

Wieder Stille. Dann, so leise, dass ich mir vorstellen konnte, wie sich Schamesröte auf seinen Wangen ausbreitete, sagte er: »Sie hat mir diese Bitte ausgeschlagen.«

Als er schließlich eingeschlafen war, lag ich noch lange wach, schaute durch das Fenster zu den Sternen und dachte darüber nach. Dass er sie um meinen Schutz gebeten hatte, versöhnte mich ein wenig und vertrieb die Kälte des Tages, wenn er überall gebraucht wurde und ich nicht.

Über die Antwort der Göttin machte ich mir keine Gedanken. Sie war mir einerlei, und ich hatte ohnehin nicht vor, am Leben festzuhalten, wenn er gegangen sein würde.

Drei Wochen verstrichen – drei Wochen, die nötig waren, um Soldaten zu mustern, eine Flotte auszurüsten und Verpflegung zu laden, die für die Dauer des Feldzugs ausreichen würde, vielleicht ein oder zwei Jahre. Belagerungen dauerten stets sehr lang.

Peleus bestand darauf, dass Achill nur das Beste bekam, und zahlte ein kleines Vermögen für Rüstzeug, so viel, dass sich sechs Männer damit hätten wappnen können: aus Bronze getriebene Brustpanzer, verziert mit eingravierten Löwengestalten und der Darstellung eines auffliegenden Phönix, lederne Beinschienen mit goldenen Bändern, Helme, auf denen Büschel aus Pferdehaaren steckten, ein aus Silber geschmiedetes Schwert, Dutzende von Speerspitzen und zwei leichte Streitwagen, dazu vier Pferde, einschließlich der beiden, die Peleus von den Göttern zu seiner Vermählung geschenkt bekommen hatte, zwei feurige Hengste mit Namen Xanthos und Balios, »der Blonde« und »der Gescheckte«. Sie verdrehten die Augen, wenn sie nicht frei laufen konnten. Er gab uns auch einen Wagenlenker an die Hand, einen Burschen, der jünger war als wir, aber kräftig gebaut und geschickt im Umgang mit Pferden. Automedon war sein Name.

Zuletzt bekam er einen langen Speer, aus dem Schössling einer Esche geschnitzt und so gründlich poliert, dass er wie eine graue Flamme leuchtete. Von Cheiron, erklärte Peleus, als er ihn seinem Sohn übergab. Wir beugten uns darüber und betasteten seine Oberfläche, um wenigstens auf diese Weise dem Zentauren nahe zu sein. Es war ein Prachtstück, an dem er, trotz seiner großen Fingerfertigkeit, Wochen gearbeitet haben musste. Wahrscheinlich hatte er gleich nach unserem Aufbruch damit begonnen. Wusste er, welches Schicksal Achill beschieden war? Ahnte er etwas von der Prophezeiung, wenn er sinnierend in seiner Quarzhöhle lag? Er hatte schon so manchen jungen Mann in Musik und Medizin unterrichtet und wusste aus bitterer Erfahrung, dass seine Schüler später in den Krieg geschickt wurden.

Dieser wunderschöne Speer war jedoch nicht aus Bitterkeit entstanden, sondern aus Liebe. Keine andere Hand als die von Achill konnte ihn führen, und wenn auch die Spitze tödlich scharf war, glitt der Schaft unter unseren Fingern hinweg wie der schlanke, geölte Holm einer Leier.

Der Tag der Abreise stand unmittelbar bevor. Unser Schiff war eine Schönheit, prächtiger noch als das von Odysseus, schlank und schnittig wie ein Messer. Es lag schwer beladen tief im Wasser.

Und das war nur das Flaggschiff. Zur Flotte zählten nicht weniger als neunundvierzig weitere Boote, die wie eine schwimmende Stadt aus Holz im Hafen von Phthia lagen. Die Bugspriete waren ein Bestiarium aus Tieren und Nymphen und Zwitterwesen, die Masten so hoch wie die Bäume, aus denen man sie gefertigt hatte. Im Vorschiff eines jeden dieser Boote stand ein frisch bestallter Kapitän und salutierte, als wir die Rampe zu unserem Segler bestiegen.

Achill ging voran. Sein purpurner Mantel flatterte im Wind. Ihm folgten Phoinix und ich, der den Alten stützte. Das Volk jubelte uns zu, und unsere Soldaten nahmen auf den Decks ihrer Boote Aufstellung. Viele gute Wünsche wurden uns zugerufen, Ruhm und reiche Beute aus Priamos’ Schatzkammern in Aussicht gestellt.

Peleus stand am Ufer und winkte zum Abschied. Achill hatte ihm nichts von der Prophezeiung gesagt, ihn nur in die Arme genommen und fest an sich gedrückt. Auch ich hatte ihn umarmt und seine ausgezehrten, schwachen Glieder dabei gespürt. So, dachte ich, würde sich Achill im Alter anfühlen, doch dann erinnerte ich mich wieder: Er wird nie alt sein.

Die frisch kalfaterten Planken klebten noch. Wir lehnten uns über die Reling, pressten unsere Bäuche an den von der Sonne gewärmten Handlauf und winkten ein letztes Mal. Anker wurden gelichtet, Segel gehisst. Die Seeleute setzten sich an die Ruder, die wie Augenwimpern aus den Bootsrümpfen ragten. Trommeln fingen zu schlagen an, worauf sich die Ruder in Bewegung setzten, um uns nach Troja zu bringen.

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