Dreißigstes Kapitel

Achill sieht mich kommen. Ich renne so schnell, dass ich Blut auf der Zunge schmecke. Ich weine, meine Brust bebt, und die Kehle brennt. Er würde nun gehasst werden. Niemand würde sich an seinen Ruhm, seinen Edelmut oder seine Schönheit erinnern und alles, was ihn auszeichnet, würde in den Schmutz gezogen werden.

»Was ist passiert?«, fragt er, die Brauen besorgt zusammengezogen. Weiß er es wirklich nicht?

»Sie sterben«, stoße ich hervor. »Alle. Die Trojaner sind im Lager, sie brennen die Schiffe nieder. Ajax ist verwundet, und es gibt jetzt außer dir keinen mehr, der sie retten könnte.«

Seine Miene verhärtet sich. »Wenn sie sterben, trägt Agamemnon die Schuld daran. Ich habe ihn gewarnt.«

»Aber er hat dir doch gestern ein Friedensangebot gemacht –«

Er schnaubt verächtlich. »Ja, ein Paar Dreifüße und Rüstzeug, aber nichts, was seine Beleidigung wiedergutmachen könnte, ebenso wenig hat er eingestanden, Unrecht an mir getan zu haben.« Seine Stimme zittert vor Wut. »Odysseus, Diomedes und all die anderen mögen ihm die Stiefel lecken, ich aber werde es nicht tun.«

»Er ist ein Scheusal.« Ich klammere mich wie ein kleines Kind an ihm fest. »So empfinden alle. Du darfst nicht länger an ihn denken. Er wird, wie du schon gesagt hast, sich selbst vernichten. Aber lass die anderen nicht für seine Fehler büßen. Lass sie nicht sterben wegen seinem Wahn. Sie haben dich geliebt und hoch geachtet.«

»Mich hoch geachtet? Keiner hat mir im Streit mit Agamemnon den Rücken gestärkt oder Partei für mich ergriffen.« Die Bitterkeit seiner Stimme quält mich. »Sie haben schweigend seine Beleidigungen mit angehört und ihm damit das Gefühl gegeben, im Recht zu sein. Zehn Jahre lang habe ich für sie gekämpft. Und was ist der Lohn? Sie lassen mich fallen. Sie haben ihre Wahl getroffen, und ich weine ihnen keine Träne nach.«

Unten am Strand stürzt krachend ein Mast. Der Rauch wird dichter. Immer mehr Schiffe stehen in Flammen. Weitere Griechen sterben. Man würde ihn jetzt verfluchen und in die dunkelsten Winkel unserer Unterwelt verbannen wollen.

»Ja, sie waren töricht, aber sie sind immer noch unser Volk.«

»Die Myrmidonen sind unser Volk. Alle anderen sollen sich selbst helfen.« Er schickt sich an, zu gehen, doch ich halte ihn fest.

»Du schadest dir selbst und wirst für deine Weigerung gehasst werden. Bitte, wenn du –«

»Patroklos.« In dieser Schärfe hat er mich noch nie bei meinem Namen genannt. Er durchbohrt mich mit seinen Blicken und spricht wie ein Richter, der sein Urteil verkündet. »Ich werde es nicht tun. Verlange es nicht noch einmal von mir.«

Ich starre ihn an und finde keine Worte mehr, die ihn hätten erreichen können. Vielleicht gibt es sie nicht. Mein Mund ist trocken wie der graue Sand. Ich sehe das Ende vor Augen. Die Männer würden sterben und mit ihnen seine Ehre. Gnadenlos. Und doch suche ich verzweifelt weiter nach einer Möglichkeit, ihn zu besänftigen und umzustimmen.

Ich knie vor ihm nieder und presse seine Hände auf mein Gesicht. Noch immer strömen mir Tränen über die Wangen. »Tu’s für mich«, bitte ich. »Schone sie mir zuliebe. Ich weiß, was ich dir damit abverlange, und bitte dich trotzdem. Tu es für mich.«

Er schaut auf mich herab, und ich sehe den inneren Kampf in seinen Augen. Er schluckt.

»Alles«, erwidert er. »Alles, nur das nicht. Es ist mir unmöglich.«

Ich blicke in sein schönes, versteinertes Gesicht und verzweifle. »Wenn du mich liebst –«

»Nein!«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich kann es nicht. Wenn ich nachgebe, kann mich Agamemnon nach Belieben zurücksetzen. Keiner der anderen Könige wird mich respektieren, die Soldaten ebenso wenig.« Er ringt nach Luft, als hätte er sich im Wettlauf verausgabt. »Glaubst du etwa, es wäre mir egal, dass so viele sterben? Aber ich kann es nicht. Ich kann und werde nicht zulassen, dass er mich zum Narren hält!«

»Dann schick wenigstens die Myrmidonen ins Feld. Lass mich deinen Platz einnehmen. Gib mir deine Rüstung, und ich werde unsere Männer anführen.« Meine Worte schockieren uns beide gleichermaßen. Sie kommen nicht von mir, sondern scheinen von einem Gott durch meinen Mund ausgesprochen worden zu sein. Trotzdem halte ich daran fest; es ist wie der letzte Atemzug eines Ertrinkenden. »Verstehst du? Du musst deinen Eid nicht brechen und kannst doch die Griechen retten.«

Er starrt mich an. »Aber du kannst nicht kämpfen«, sagt er.

»Das wird nicht nötig sein. Man wird mich für dich halten und vor Angst die Flucht ergreifen.«

»Nein«, entgegnet er. »Das ist zu gefährlich.«

»Bitte.« Ich zerre an ihm. »Es ist nicht gefährlich. Ich werde Abstand halten zum Feind und geschützt sein von Automedon und unseren Kriegern. Ich verstehe, dass du selbst nicht kämpfen kannst, aber rette, was zu retten ist, auf diese Weise. Lass es mich tun. Du hast doch gesagt, mir alles gewähren zu wollen.«

»Aber –«

Ich lasse ihn nicht zu Wort kommen. »Bedenke, Agamemnon wird wissen, dass du dich ihm weiter verweigerst, aber die Männer werden dich lieben. Es gibt keinen größeren Ruhm als diesen – du wirst allen beweisen, dass selbst dein Phantom mächtiger ist als das ganze Heer Agamemnons.«

Er merkt auf.

»Nicht deine Kampfkraft, sondern allein dein großer Name wird sie retten, und umso größer wird Agamemnons Niederlage sein. Verstehst du?«

Ich sehe seiner Miene an, dass sein Widerwille allmählich abnimmt. Er stellt sich vor, wie die Trojaner vor seinem Schatten fliehen würden. Wie ihm die Männer auf Knien danken würden.

Er hebt seine Hand. »Schwöre«, sagt er. »Schwör mir, nicht selbst zu kämpfen, wenn du hinausziehst. Dass du bei Automedon im Streitwagen bleibst und die Myrmidonen vor dir marschieren lässt.«

»Ja.« Ich drücke meine Hand auf seine. »Etwas anderes käme mir nicht in den Sinn. Ich werde dem Feind Angst einjagen, das ist alles.« Mir schwindelt. Habe ich doch endlich einen Weg gefunden, vorbei an seinem Stolz und seiner Wut. Ich würde die Männer retten und nicht zuletzt ihn vor sich selbst schützen. »Du bist also einverstanden?«

Er zögert noch einen Moment und erforscht mich mit seinen grünen Augen. Dann aber nickt er bedächtig mit dem Kopf.

Im Knien gürtet er mich, so schnell, dass ich seinen Bewegungen kaum folgen kann, und ich spüre nur den zunehmenden Druck der Schnallen und Riemen. Stück für Stück legt er mir die Rüstung an, den bronzenen Brustpanzer, die Beinschienen und den Lederschurz. Währenddessen gibt er mir Ratschläge und Anweisungen, mit leiser Stimme, aber doch präzise. Ich dürfe unter keinen Umständen von Automedons Seite weichen oder gar auf eigene Faust handeln. Denen, die fliehen, könne ich zwar nachsetzen, aber nie selbst in den Kampf eingreifen, und vor allen Dingen solle ich mich von den Bogenschützen auf den Mauern Trojas fernhalten.

»Es wird anders sein als in den Tagen, als ich unsere Reihen angeführt habe«, sagt er.

»Ich weiß.« Ich versuche, meine Schultern anzuheben. Die Rüstung ist steif und schwer. Ich sage ihm, dass ich mir vorkäme wie Daphne, gefangen in ihrer Lorbeerhaut. Er lächelt nicht, sondern reicht mir zwei Speere mit glänzenden Spitzen. Als ich sie entgegennehme, rauscht mir das Blut in den Ohren. Er gibt mir weitere Ratschläge, doch ich achte nicht darauf, weil ich nur mein ungeduldiges Herz pochen höre. »Beeil dich«, erinnere ich mich, gesagt zu haben.

Nachdem er mir auch den Helm aufgesetzt hat, der meine dunklen Haare verbirgt, hält er mir einen Spiegel aus polierter Bronze hin. Ich starre mich in der Rüstung an, die ich so gut kenne wie meine eigenen Hände, den Helmbusch, das silberne Schwert am Gurt und das aus Gold getriebene Wehrgehenk. All dies sind unverwechselbar die Attribute Achills. Ich erkenne mich nur an den Augen wieder, die dunkel und größer sind als seine. Er küsst mich, seine süße Wärme füllt meine Kehle, er nimmt meine Hand und führt mich nach draußen.

Die Myrmidonen haben sich bereits zur Schlachtordnung formiert, verschanzt hinter Schilden, die wie Zikadenflügel schimmern. Achill bringt mich zum Streitwagen, vor dem bereits seine drei Rösser eingespannt sind – unter keinen Umständen von Automedons Seite weichen oder gar auf eigene Faust handeln –, und ich verstehe, dass er Angst hat, ich könnte mich verraten, wenn ich selbst zu kämpfen versuchte. »Mach dir keine Sorgen«, sage ich, erklimme den Wagen und stelle die Speere vor mir ab.

Achill hat sich inzwischen an die Myrmidonen gewandt, spricht zu ihnen und zeigt auf die brennenden Schiffe, über denen schwarzer Rauch aufsteigt. »Bringt ihn mir zurück«, sagt er. Sie nicken und klappern zum Zeichen ihres Einverständnisses mit den Waffen auf die Schilde. Gleich darauf steigt Automedon zu mir auf den Wagen und nimmt die Zügel in die Hand. Wir alle wissen, warum der Streitwagen unverzichtbar ist. Wäre ich zu Fuß den Strand entlanggelaufen, hätte mich niemand mit Achill verwechselt.

Die Pferde schnauben, als sie den Wagenlenker hinter sich spüren, und legen sich ins Zeug. Der Streitwagen ruckt ein Stück nach vorn, für mich so unerwartet, dass ich fast nach hinten weggekippt wäre. »Festhalten!«, sagt Automedon, und ich sehe mich von allen beobachtet, als ich linkisch den verrutschten Helm zurechtzurücken und gleichzeitig die Speere zu halten versuche.

»Alles in Ordnung«, sage ich, vor allem an mich selbst gerichtet.

»Bist du bereit?«, fragt Automedon.

Ich werfe einen letzten Blick zurück auf Achill, der neben dem Streitwagen steht und einen fast verlorenen Eindruck macht. Ich reiche ihm die Hand. Er ergreift sie und sagt: »Sei vorsichtig.«

»Versprochen.«

Es gibt noch einiges mehr zu sagen, doch zum ersten Mal bleiben wir stumm. Es würde andere Gelegenheiten geben, den Abend oder den nächsten Morgen oder all die Tage danach. Er lässt meine Hand los.

Ich wende mich wieder an Automedon. »Ich bin bereit«, sage ich. Die Pferde ziehen an, und Automedon führt sie auf den festen Sandstreifen nahe der Brandung. Dort angekommen, rollen die Räder leicht darüber hinweg. Mit Blick auf die Schiffe nehmen wir Fahrt auf. Ich spüre Gegenwind auf der Brust und wähne den Helmbusch flattern. Ich hebe die Speere.

Automedon duckt sich, um den Blick auf mich freizugeben. Von den Rädern stiebt Sand auf. Die Myrmidonen folgen im Laufschritt mit rasselnder Rüstung. Ich atme in kurzen Stößen und halte die Speere gepackt, bis mir die Finger schmerzen. Wir passieren die leeren Zelte von Idomeneus und Diomedes, fliegen dann an den kämpfenden Griechen vorbei, die ich hinter mir freudig ausrufen höre: »Achill! Es ist Achill!« Ich fühle mich von einer Welle der Erleichterung durchströmt. Unser Plan geht auf.

Wir steuern geradewegs auf die Schiffe und die Schlachtreihen zu. Noch zweihundert Schritte, und wir würden sie erreicht haben. Vom Stampfen der Hufe und den lärmenden Myrmidonen aufgeschreckt, drehen sich die Kämpfenden zu uns um. Ich hole tief Luft und straffe die Schultern unter meiner – seiner – Rüstung, ich stemme meine Füße links und rechts vor die Seitenwände des Streitwagens, reiße einen Speer in die Höhe und schreie aus Leibeskräften, den Kopf in den Nacken geworfen, wobei ich im Stillen bete, der Wagen möge nicht holpern und mich abwerfen. Zahllose Gesichter wenden sich uns zu, Trojaner und Griechen, die einen entsetzt, die anderen triumphierend. Mit lautem Getöse fahren wir in ihre Mitte.

Ich brülle seinen Namen und höre die bedrängten Griechen antworten, ein tierisches Heulen der Hoffnung. Vor mir stieben Trojaner auseinander. Ich zeige ihnen die Zähne und spüre mein Blut heiß durch die Adern schießen, aufgewühlt vom Anblick derer, die vor mir davonrennen. Doch die Trojaner sind tapfere Männer, und nicht alle suchen ihr Heil in der Flucht.

Vielleicht ist es die Rüstung, die mich gleichsam anders formt; vielleicht liegt es daran, dass ich ihn viele Jahre lang habe beobachten können. Jedenfalls fällt meine alte Unbeholfenheit von mir ab. Und dann, ohne einen Gedanken darauf zu verschwenden, was ich tue, schleudere ich einen Speer in die Brust eines Trojaners. Die Fackel, die er auf Idomeneus’ Schiff hatte werfen wollen, gleitet ihm aus der Hand, als er rücklings in den Sand stürzt. Ob er verblutet oder sich den Schädel aufschlägt, sehe ich nicht mehr. Tot, denke ich.

Automedon hat die Augen weit aufgerissen und bewegt die Lippen. Vermutlich will er mich an Achills Mahnung erinnern, nur ja nicht in den Kampf einzugreifen, doch schon greife ich zum zweiten Speer. Ich kann es. Die Pferde scheren aus, Männer springen aus unserer Bahn. Wieder empfinde ich deutlich jenes Gefühl von Stärke und Balance. Ich fasse einen Trojaner in den Blick, werfe und spüre den Schaft am Daumen entlanggleiten. Er fällt, am Schenkel aufgespießt von meinem Speer, der ihm, woran kein Zweifel bestehen kann, den Knochen zerschlagen hat. Um mich herum schreien die Männer den Namen Achills.

Ich packe Automedon bei der Schulter. »Einen weiteren Speer.« Er zögert einen Moment, zügelt dann das Gespann und gibt mir Gelegenheit, über den Rand des Wagens hinauszugreifen und einen Speer zu bergen, der in einem gefallenen Krieger steckt. Der Schaft scheint mir in die Hand zu springen. Ich hebe ihn und suche schon mein nächstes Ziel.

Die Griechen gehen zum Sturmangriff über. Neben mir tötet Menelaos einen Mann, während einer von Nestors Söhnen mit dem Speer auf unseren Streitwagen schlägt, um uns Glück zu wünschen, bevor er ihn in Richtung Kopf eines trojanischen Prinzen schleudert. Die Trojaner weichen zurück, darunter Hektor, der, Befehle brüllend, auf seinen Streitwagen springt, um ihn durchs Tor, über die schmale Brücke über dem Graben und aufs weite Feld dahinter zu lenken.

»Auf! Ihnen nach!«

Obwohl er sich sträubt, gehorcht Automedon und lenkt die Pferde zum Ausgang des Lagers. Ich sammele weitere Speere ein, schleppe dabei manchen Leichnam hinter uns her, ehe sich die Spitze löst, und jage dem Feind nach, dessen Streitwagen das Tor blockieren. Deren Lenker werfen entsetzte Blicke über die Schulter zurück auf Achill, der aus seiner grollenden Verbitterung auferstanden ist wie Phönix aus der Asche.

Nicht alle Gespanne sind so schnell und wendig wie das von Hektor, und etliche Wagen stürzen von der Brücke in den Graben, sodass ihre Lenker zu Fuß fliehen müssen. Wir setzen ihnen nach. Achills göttliche Pferde fliegen dahin. Wir könnten umkehren, denn die Trojaner sind zurückgeschlagen. Aber die Griechen hinter uns brüllen meinen Namen. Seinen Namen. Ich kann mich nicht mehr zurückhalten.

Auf meinen Befehl hin lenkt Automedon den Wagen im Bogen vorbei an den fliehenden Haufen, um ihnen von vorn zu begegnen. Meine Speere treffen und treffen wieder, reißen Bäuche und Kehlen auf, Lungen und Herzen. Ich kenne kein Erbarmen und finde mein Ziel an Schnallen und bronzenen Platten vorbei ins Fleisch, das aufplatzt wie löchrige Weinschläuche. Aus meiner Arbeit im weißen Zelt kenne ich die Schwachstellen. Es ist so leicht.

Aus der wild wogenden Menge bricht ein Streitwagen hervor. Sein Lenker ist riesig, und seine langen Haare fliegen im Wind, als er die schäumenden Rosse voranpeitscht. Die dunklen Augen sind auf mich gerichtet, der Mund ist wutverzerrt. Wie einem Seehund das Fell passt ihm der Panzer. Es ist Sarpedon.

Er hebt den Arm und zielt mit dem Speer auf mein Herz. Automedon reißt die Zügel herum. Ich spüre einen Lufthauch im Nacken und sehe den Speer hinter uns ins Feld einschlagen.

Sarpedon brüllt; ob er mich verflucht oder zum Kampf herausfordert, kann ich nicht unterscheiden. Ich glaube zu träumen und hebe meinen Speer, voller Wut auf den Mann, der so viele Griechen getötet und unseren Palisadenzaun eingerissen hat.

»Nein!« Automedon hält meinen Arm zurück, während er mit der freien Hand die Pferde antreibt. Sarpedon wendet seinen Wagen, und es scheint, dass er aufgibt. Doch dann wirft er das Gespann wieder herum und holt mit einem weiteren Speer zum Wurf aus.

Plötzlich bäumt sich eins unserer Pferde auf. Ich werde aus dem Wagen geschleudert und lande im Gras. Der Helm ist mir über die Augen gerutscht. Ich schiebe ihn zurück und sehe unsere Pferde ineinander verkeilt. Eins liegt, vom Speer getroffen, am Boden. Automedon scheint verschwunden.

Schon steuert Sarpedon sein Gespann auf mich zu. Mir bleibt keine Zeit zu fliehen. Ich springe vom Boden auf und hebe den Speer, halte ihn gepackt wie eine Schlange, die es zu würgen gilt. Achills Beispiel vor Augen, setze ich einen Fuß vor und straffe die Schultern. Achill würde eine Lücke in der Rüstung finden, oder aber eine hineinschlagen. Doch ich bin nicht Achill. Was ich sehe, ist etwas anderes: meine einzige Chance. Ich werfe den Speer.

Er trifft seinen Bauch mit so viel Wucht, dass der Riese zurücktaumelt und vom Wagen stürzt. Die Pferde springen an mir vorbei und lassen ihn zurück, reglos im Gras liegend. Ich lege meine Hand an den Griff meines Schwerts, voller Furcht, er stünde gleich auf, mich zu töten. Doch dann sehe ich seinen seltsam verrenkten Hals.

Ich habe Zeus’ Sohn getötet, doch damit ist es nicht getan, sie sollen glauben, er sei Achill zum Opfer gefallen. Der Staub senkt sich auf Sarpedons lange Haare. Ich trete auf ihn zu und stoße ihm einen weiteren Speer mit aller Macht durch die Brust. Blut sickert aus der Wunde, aber nur ein wenig, denn da ist kein Herzschlag mehr, der es hätte stärker quellen lassen. Nur mit Mühe kann ich den Speer wieder herausziehen.

Ich höre die Schreie der auf Streitwagen und zu Fuß herbeischwärmenden Meute, Lykier, die ihren König vor mir am Boden liegen sehen. Plötzlich spüre ich eine Hand im Nacken. Automedon, bleich vor Angst, zerrt mich zurück in den Wagen und treibt die Pferde an. »Wir müssen fort von hier«, keucht er.

Wir rasen über das Feld, gejagt von den Lykiern. Mir selbst ist nicht bewusst, wie nahe ich dem Tod war und noch bin. In meinem Mund ist ein Geschmack wie von Eisen, mein Blut so sehr in Wallung, dass mir der Kopf schwirrt.

Der Fluchtweg führt uns dicht an Troja vorbei. Zu meiner Seite ragen die Stadtmauern auf, aus riesigen Steinen angeblich von Göttern gefügt, darin die gewaltigen, bronzebeschlagenen Tore. Achill hat mich vor den Bogenschützen gewarnt, doch auf den Brustwehren ist kein einziger Mann zu sehen. Die Stadt scheint unbewacht zu sein. Sie einzunehmen wäre jetzt ein Kinderspiel.

Der Gedanke weckt wildes Verlangen in mir. Der Feind hat verdient, dass seine Feste verloren geht. Seit zehn Jahren setzt er uns zu und lichtet unsere Reihen. Auch Achill werden sie auf dem Gewissen haben. Es ist genug.

Ich springe vom Streitwagen und renne auf die Mauern zu, suche kletternd mit den Fingern greifbare Spalten und nutze jede Unebenheit der von Göttern behauenen Steine, um mich mit den Füßen abzustützen. So steige ich Armlänge um Armlänge nach oben. Ich will die unbezwingbare Stadt bezwingen und Helena befreien. Ihretwegen soll kein Mann mehr sterben müssen. Ich stelle mir vor, sie unter dem Arm ins Lager zurückzuschleppen und ihrem Gatten vor die Füße zu werfen.

Patroklos. Eine Stimme wie Musik, von oben. Ich blicke hinauf und sehe eine Gestalt in einer Mauernische lehnen, so lässig, als sonnte sie sich. Dunkle Haare fallen ihr auf die Schultern. Um den Rumpf sind Köcher und Bogen geschlungen. Vor Schreck rutsche ich aus und schabe mit den Knien an der Mauer entlang. Dieser Mann ist von bestechender Schönheit, hat glatte Haut und ein fein geschnittenes Gesicht, von dem ein übermenschlicher Glanz ausgeht. Schwarze Augen. Apoll.

Er lächelt, als hätte er auf diesen Augenblick gewartet, darauf, dass ich ihn erkenne. Dann streckt er den Arm aus, reicht, was im Grunde unmöglich scheint, bis tief zu mir hinab. Ich schließe die Augen und spüre, wie sich ein Finger in meine Rüstung hakt, mich von der Mauer löst und fallen lässt.

Ich schlage auf dem Boden auf, verwundert darüber, dass der Aufprall kaum ins Gewicht fällt, hatte ich doch geglaubt, hoch hinaufgestiegen zu sein. Verbissen setze ich zu einem neuen Versuch an. Ich will die Mauer bezwingen, sie soll mich nicht von meinem Vorhaben abbringen. Mir schwindelt wie im Fieberwahn. Die Vorstellung, Helena zu erbeuten, ist mir zu Kopf gestiegen. Die Mauersteine kommen mir vor wie dunkles Wasser, das sich auf mich ergießt. Den Gott in der Nische habe ich vergessen, so auch den Grund, warum ich gestürzt bin und immer wieder stürze. Erneut renne ich gegen die Wand an, und als ich diesmal hinaufblicke, lächelt der Gott nicht mehr. Er zupft mich von der Mauer, lässt mich eine Weile baumeln und dann fallen.

Ich schlage mit dem Kopf auf, bekomme keine Luft mehr. Verschwommene Gestalten beugen sich über mich. Sind mir unsere Männer zu Hilfe gekommen? Dann spüre ich einen kühlen Hauch auf der schweißnassen Stirn. Man hat mir den Helm abgenommen. Ich sehe ihn neben mir am Boden liegen, umgedreht wie ein leeres Schneckenhaus. Auch mein Rüstzeug fällt von mir ab, von Achill angelegt und nun von einem Gott gelöst.

Durch die eisige Stille gellen wütende Schreie. Mit Schrecken wird mir bewusst: Ich bin unbewaffnet und dem Feind ausgeliefert. Man wird mich als Patroklos erkennen.

Ich raffe mich auf, renne los. Eine Speerspitze streift meine Wade und reißt einen Schlitz in die Haut. Einer Hand, die nach mir greift, kann ich noch ausweichen, aber schon sehe ich einen Speerträger vor mir, der mit seiner Waffe auf mein Gesicht zielt. Sie schwirrt über meinen geduckten Kopf hinweg und fährt durch meine Haare wie eine zärtliche Hand. Über eine lange Lanze, die vor meinen Füßen im Gras einschlägt, springe ich hinweg, und dass ich nicht schon tot bin, verblüfft mich selbst am meisten. So schnell bin ich in meinem ganzen Leben noch nicht gewesen.

Der Speer, den ich nicht kommen sehe, bohrt sich mir von hinten durch den Rücken und bricht vorn unter dem Rippenbogen hervor. Von der Wucht des Stoßes zu Fall gebracht, stürze ich der Länge nach zu Boden und spüre, wie sich die Speerspitze zurück in den Bauch schiebt. Ich glaube, ich schreie.

Das Blut rinnt mir durch die Finger ins Gras. Die Menge, die sich um mich geschart hat, teilt sich, und ich sehe einen Mann auf mich zukommen. Er steigt, wie es scheint, aus weiter Ferne zu mir herab, als läge ich in einer tiefen Schlucht. Ich kenne ihn. Seine Hüftknochen erinnern mich an Tempelgesims. Seine Stirn ist stark gefurcht. Ohne auf die Männer zu achten, die ihn umschwirren, schreitet er über das Feld. Er kommt, um mir den Todesstoß zu versetzen. Hektor.

Ich hechle und glaube, mit jedem Atemzug im Inneren weiter aufzureißen. Trommelschlägen gleich dröhnen mir Erinnerungen durch den Kopf. Er kann mich nicht töten. Er darf es nicht. Und wenn er es tut, wird Achill ihn nicht leben lassen. Dabei muss er leben, immer, und darf nie sterben, nicht einmal dann, wenn er alt ist und so welk, dass sich jeder Knochen unter seiner Haut abzeichnet. Er muss leben, geht es mir durch den Kopf, als ich kriechend vor ihm zurückzuweichen versuche, denn solange er lebt, lebt auch Achill.

Verzweifelt blicke ich in die Runde der Männer und richte mich auf den Knien auf. Bitte, krächze ich. Bitte.

Aber sie beachten mich nicht. Sie schauen auf ihren Prinzen, Priamos’ ältesten Sohn, der mit unaufhaltsamen Schritten auf mich zukommt. Schon steht er vor mir, den Speer erhoben. Ich höre nur noch das Ächzen meiner Lungen und das Rasseln von Blut und Luft darin. Die Speerspitze neigt sich über mir wie ein Krug. Und dann stürzt sie herab, ein silberner Strahl vor meinen Augen.

Nein. Meine Hände fliegen in die Höhe wie aufgescheuchte Vögel. Aber ich bin schwach wie ein Kind im Vergleich zu Hektor. Ich kann den Stoß nicht aufhalten, geschweige denn abwehren. Sinnlos auch, dass ich den Schaft noch zu packen versuche, als das Eisen schon meinen letzten Schutzschild durchdringt, dünne Haut, die nachgibt wie Papier. Die Spitze taucht ein mit brennenden Schmerzen, die mir den Atem nehmen. Mein Kopf schlägt zurück auf den Boden, und das Letzte, was ich sehe, ist Hektor, der vor mir aufragt und den Speer aus meinem Leib zerrt. Mein letzter Gedanke: Achill.

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