9.

Er beobachtete vom Fenster seiner Kammer aus, wie sich der Hof leerte. Natürlich dauerte es länger als die zehn Minuten, die er den Männern gegeben hatte - der Hof war groß und besaß nur zwei Ausgänge, zog er die Tür ab, die zu den Quartieren der Quorrl führte, und von den gut fünfhundert Mann, aus denen sein Satai-Heer bestand, war der allergrößte Teil gekommen, um das barbarische Schauspiel nicht zu verpassen. Aber die Männer versuchten wenigstens, die Frist einzuhalten - woran sicherlich auch die Tatsache nicht ganz unschuldig war, daß Skar hoch aufgerichtet hinter dem Fenster stand und von unten aus gut sichtbar war. Trotzdem verging fast eine halbe Stunde, ehe auch der letzte Satai den Hof verlassen hatte und Titch mit seiner schrecklichen Arbeit fortfuhr. Skar wandte sich ab, als der Quorrl wieder sein Schwert hob. Er wollte es nicht sehen. Er hätte viel darum gegeben, es nicht einmal wissen zu müssen. Langsam drehte er sich um, durchmaß die kleine Kammer zwei-, dreimal hintereinander mit unruhigen, ziellosen Schritten und ließ sich schließlich auf sein Bett niedersinken. Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, starrte aus weit aufgerissenen Augen die Decke an und versuchte, sich über den Grund seines aufgewühlten Seelenzustandes klar zu werden; nicht zum erstenmal in den letzten Tagen und Wochen. Und nicht zum erstenmal gelang es ihm nicht. Etwas geschah mit ihm. In ihm. Er spürte es jetzt ganz deutlich. Es war eine Entwicklung, die irgendwann zwischen heute morgen und Bradburns Sai-Tan ihren Anfang genommen hatte und unweigerlich einem Höhepunkt zusteuerte - oder einem Tiefpunkt, je nachdem. Etwas würde geschehen, nicht einmal unbedingt nur mit ihm, und es würde nicht mehr allzu-lange dauern. In letzter Zeit hatte er immer öfter das Gefühl, sich auf einer dünner werdenden Kruste zu bewegen, unter der sich ein Vulkan zum Ausbruch fertig machte.

Jemand klopfte. Skar schrak aus seinen Gedanken hoch, schwang die Beine vom Bett und rief ein halblautes: »Herein«, noch während er sich aufsetzte. War Titch schon fertig damit, seine Brüder zu ermorden? dachte er böse.

Es war nicht der Quorrl, es war Del. Der schwarzhaarige Riese trat rasch ins Zimmer, schob die Tür hinter sich zu, ohne sie ganz ins Schloß zu drücken, und kam auf ihn zu, wobei er einen kleinen Umweg durch die Kammer machte, um einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

»Das war nicht besonders klug von dir«, begann er übergangslos.

»Seit wann klopfst du an, wenn du ein fremdes Zimmer betrittst?« fragte Skar. »Früher hast du einfach die Tür eingeschlagen.«

Del machte eine ärgerliche Handbewegung, wie um Skars Worte fortzuwischen. »Warum hast du das getan?«

»Was?« fragte Skar, der ganz genau wußte, was Del meinte. Del deutete verärgert zum Fenster. »Dein kleiner Auftritt gerade«, sagte er. »Das war sehr beeindruckend, wirklich. Mein Kompliment, Skar. Das hättest du zu deinen besten Zeiten nicht wirkungsvoller hinkriegen können. Falls es unter den Männern noch irgendeinen gegeben haben sollte, der dich nicht gehaßt hat, dann dürftest du ihn jetzt bekehrt haben. Bist du verrückt geworden?«

»Nein.« Skar stand auf. Er war... fassungslos. Er hatte viel erwartet von Del - eigentlich alles, angefangen von Vorwürfen über Spott bis zu verletzendem Hohn, in dem er immer schon ein Meister gewesen war. Womit er nicht gerechnet hatte und was ihn so erschütterte, das war der vollkommene Ernst, mit dem Del diese Worte sprach. »Aber ich glaube, du bist es«, fuhr er nach einer Weile fort. »Seit wann amüsieren sich Satai damit, bei einer öffentlichen Hinrichtung zuzusehen?«

»Seit sie -«, begann Del, sprach dann aber nicht weiter, sondern machte nur eine abfällige, irgendwie resignierend wirkende Handbewegung. »Manchmal frage ich mich, ob du vielleicht recht hast«, vollendete er grollend den angefangenen Satz. »Womit?«

»Mit deiner Idee zu gehen«, antwortete Del. »Du verstehst nichts mehr, Skar.«

»Dann erkläre es mir«, verlangte Skar. Seine Stimme war plötzlich ganz leise, aber es war jene gläserne Schärfe darin, die außer Del nur wenige Menschen jemals gehört hatten, ohne sich voller Schrecken für den Rest ihres Lebens daran zu erinnern. »Erkläre mir, wieso ich zulassen sollte, daß Satai sich wie dummes Bauernvolk benehmen.« Wütend ergriff er den Zipfel von Dels schwarzem Mantel und riß ihn in die Höhe. »Du hast mich gezwungen, diesen Mantel anzuziehen, Del - jetzt erkläre mir, warum ich mich vor irgend jemandem verantworten sollte, wenn ich meine Macht ausnutze!«

Del schlug wütend seine Hand beiseite. Seine Augen blitzten. »Du Narr!« schnappte er. »Ich spreche nicht von den Satai! Ich spreche von den Quorrl! Bist du verrückt geworden, Titch so zu demütigen, vor seinen Männern?«

»Demütigen?« Skars Wut schlug übergangslos in Verwirrung um. Er hatte den Zorn in Titchs Augen bemerkt, aber - »Ja, demütigen!« schrie Del. »Was glaubst du, was du getan hast, du Narr! Titch ist nicht irgendwer! Er ist ein Fürst seines Volkes, so etwas wie...« Er suchte nach Worten und begann erregt im Zimmer auf und ab zu gehen. »So etwas wie du«, sagte er schließlich. »Oder ich! Sein Bruder und er waren die Kriegsherren von Quorrl! Seinen Bruder hast du erschlagen, und ihn demütigst du vor den Augen seiner Leibgarde! Verdammt, Skar, wie würdest du dich fühlen, wenn ein Quorrl käme und dir in aller Öffentlichkeit ins Gesicht spuckt?!«

»Das habe ich nicht«, versuchte Skar sich zu verteidigen, aber er kam sich hilflos und dumm bei diesen Worten vor. Natürlich hatte er es. Er hatte mehr getan.

»Weißt du, daß es ein Wunder ist, daß du überhaupt noch lebst?!« brüllte Del plötzlich. »Bei allen Göttern, Skar, ich dachte, mir würde das Herz stehenbleiben, als ich sah, was du tust. Es... hätte mich nicht gewundert, wenn Titch dich und alle dort unten auf dem Hof erschlagen und anschließend die gesamte Festung niedergebrannt hätte. Dieser Quorrl ist so etwas wie ein Gott für sein Volk!«

Skar blickte verwirrt zum Fenster, machte einen Schritt und blieb wieder stehen. »Aber ich dachte -«

»Das ist dein Problem, Skar«, unterbrach ihn Del höhnisch. »Du denkst. Du denkst zuviel und im falschen Moment.« Er packte ihn grob bei der Schulter, daß Skar schmerzhaft das Gesicht verzog. »Tu mir selbst und dir einen Gefallen, Skar«, forderte er. »Frage mich demnächst um Rat, bevor du denkst.« Die Worte taten ihm im gleichen Moment schon wieder leid. Skar sah, wie er erschrak, und spürte, wie er betreten die Hand von seiner Schulter zog und zur Faust ballte. »Verzeih«, murmelte er. »Das wollte ich nicht sagen.«

»Doch«, behauptete Skar. »Das wolltest du. Und vielleicht hast du sogar recht. Es tut mir leid.« Er seufzte, aber dann, fast im selben Moment schon, machte sich Trotz in ihm breit.

»Warum hast du es mir nie gesagt?«

»Was? Das mit Titch?« Del zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Aus Dummheit, schätze ich. Vielleicht habe ich einfach angenommen, du wüßtest es. Bradburn will uns sehen«, fügte er unvermittelt hinzu. »Das ist auch der Grund, aus dem ich gekommen bin.« Abrupt wandte er sich zur Tür, stieß sie auf und wartete ungeduldig, daß Skar ihm folgte. Aber er ging schnell weiter, und er hielt auch ein winziges bißchen mehr Abstand, als nötig gewesen wäre. Gerade genug, um Skar begreifen zu lassen, daß er nicht mit ihm reden wollte.

Sie mußten den Hof überqueren, um zu den Räumen zu gelangen, die Bradburn für sich beanspruchte. Er war noch immer leer. Von den gut zweihundert Quorrl, die Titch eskortiert hatten, war keine Spur mehr zu sehen, und auch die Toten waren bereits weggeschafft worden. Trotzdem ertappte sich Skar dabei, fast krampfhaft überallhin zu blicken, nur nicht in die Richtung, in der die Exekution stattgefunden hatte. Sonderbar, dachte er. Er war doch früher nie so zart besaitet gewesen. Aber früher war ihm vielleicht auch noch nie alles so sinnlos vorgekommen. Er war Krieger, vom Tage seiner Geburt an, ein Mann, der das Töten kannte und selbst getötet hatte, so viele, daß er schon vor einem Menschenalter damit aufgehört hatte, sie zu zählen. Aber er hatte es nie genossen.

Sie betraten die Festung auf der anderen Seite des Hofes wieder, und Del führte ihn durch ein wahres Labyrinth von Treppenschächten und Gängen tiefer in den Berg hinein. Eine sonderbare, fast unangenehme Stille nahm sie auf, während sie gebückt durch die niedrigen Gänge eilten und Treppen hinuntergingen, deren Stufen gerade eine Winzigkeit zu niedrig ausgelegt waren, um sie wirklich bequem überwinden zu können. Bradburns Kammer lag tief im gewachsenen Fels, der das Fundament der Burg bildete; so tief, daß man meinte, das Gewicht der Tonnen um Tonnen von Gestein spüren zu können, die auf die Decke herabdrückten. Vielleicht erinnerte es ihn an seine Heimat, den unterirdischen Tempel in den Bergen, in dem er den größten Teil seines Lebens verbracht hatte. Wieder - und nicht zum ersten Mal erschien ihm dieser Gedanke wichtig, ohne daß er sagen konnte, warum - kam ihm die ungeheuerliche Größe von Drasks Trutzburg zu Bewußtsein. Obgleich der allergrößte Teil von Titchs Quorrl-Armee auf der Ebene vor der Festung lagerte, mußten sich mehr als zweitausend Personen in der Festung aufhalten. Aber das änderte nichts daran, daß man stundenlang durch ihre fensterlosen Stollen und Tunnel gehen konnte, ohne auch nur auf ein einziges lebendes Wesen zu treffen. Er fragte sich, wie Drask es geschafft hatte, diese zyklopische Burg in nur zwei Jahren aus dem Berg zu schneiden.

Er verscheuchte auch diesen Gedanken und konzentrierte sich darauf, mit Del Schritt zu halten. Nur ein weiteres Rätsel, das er vermutlich niemals lösen würde. Es war auch nicht wichtig. Bradburn war nicht allein, und das Licht in seiner Kammer war so schwach, daß Skar im ersten Moment Mühe hatte, mehr als Schatten und verschwommene Umrisse zu erkennen. Immerhin sah er, daß Bradburn nicht allein war und daß seine Kammer eher dem Laboratorium eines Alchimisten glich als der Zelle eines Predigers. Sie war sehr groß, wirkte aber winzig, denn sie war vollgestopft mit Tischen und Truhen, und an den Wänden standen deckenhohe Regale voller säuberlich geordneter Schriftrollen und alter, ledergebundener Bücher. Skar fragte sich, wie um alles in der Welt Bradburn bei dieser Beleuchtung eine Schrift lesen wollte, die aus weniger als handgroßen Buchstaben bestand. Der Prediger beantwortete die unausgesprochene Frage schon im nächsten Moment, indem er nämlich einen glühenden Span an den Docht einer fremdartig geformten Öllampe hielt, welche die Kammer mit erstaunlich intensiver Helligkeit erfüllte. Fast gleichzeitig machte er eine Handbewegung zu der Person, mit der er bei seinem und Dels Eintreten geredet hatte, und schickte sie damit fort. Skar, durch das plötzliche, ungewohnte Licht geblendet, erkannte sie erst, als sie an ihm vorüberging und eine Strähne ihres langen blonden Haares seinen Arm streifte. Verwirrt sah er Kiina nach. Aber er beherrschte sich im letzten Moment, sie anzufahren, was sie hier unten zu suchen hatte. Es ging ihn nichts an.

Stattdessen wandte er sich an Bradburn und versuchte wenigstens, sich zu so etwas wie einem Lächeln zu zwingen. Der Prediger erwiderte die Miene nicht, aber in seinen Augen war wie stets etwas von der alten Freundlichkeit und Güte. Vielleicht sah Skar sie auch nur, weil er sie sehen wollte. Außer Del war Bradburn der einzige Mensch, den er noch aus der alten Welt kannte; eines von zwei Verbindungsgliedern zwischen den beiden Leben, die er gelebt hatte.

»Du wolltest uns sprechen«, unterbrach Del das unbehaglich werdende Schweigen.

»Ja.« Bradburn nickte, kam mit kleinen, fast trippelnden Schritten näher und suchte etwas aus dem Durcheinander auf seinem Tisch heraus, das Skar erst nach einigen Augenblicken als die kleine Phiole wiedererkannte, die er der toten Errish abgenommen hatte. Einen Moment lang wog er sie in der Hand, als wisse er nicht genau, was er damit anfangen sollte, dann stellte er sie behutsam wieder zurück und deutete mit einer Kopfbewegung darauf.

»Ich habe die letzten Stunden darauf verwandt herauszufinden, was diese Flasche enthält«, begann er umständlich.

»Und?« Del beugte sich vor und nahm das kleine Glasgefäß seinerseits auf. In seinen gewaltigen Pranken wirkte es noch zerbrechlicher, als es ohnehin war. »Was ist drin? Ein Liebestrank der Margoi?«

Es sollte ein Scherz sein, aber Bradburn blieb ernst. »Nein«, antwortete er ungerührt. »Es ist Gift. Ich weiß nicht, welcher Art, und ich weiß nicht, wo es herkommt oder wie es genau wirkt. Aber es ist Gift.«

Del sah ihn ohne große Überraschung an. »Gift?«

»Die tödlichste Mixtur, die mir je untergekommen ist«, bestätigte Bradburn.

Del fuhr erschrocken zusammen und beeilte sich, die kleine, in Kupfer eingesponnene Flasche vorsichtig wieder auf den Tisch zurückzustellen, von dem er sie genommen hatte. Er sagte kein Wort, sondern schien darauf zu warten, daß der Gesichtslose Prediger weitersprach, und auch Skar zog es vor, zu dem Gehörten zuerst einmal zu schweigen und sich im übrigen über Dels plötzlich schreckensbleiches Gesicht zu amüsieren.

Er war nicht besonders überrascht; er wäre ganz im Gegenteil eher verwirrt gewesen, hätte die kleine Phiole irgend etwas anderes enthalten. Er verstand es nur nicht mehr. Er begriff einfach nicht, warum der Daij-Djan die Errish und ihren Drachenvogel getötet und sie somit vielleicht alle gerettet hatte.

»Wie tödlich?« fragte Del nach einer Weile.

Bradburn zuckte mit den Achseln. »Tödlich genug für uns«, sagte er. »Es gibt Quellen dort unten bei den Felsen. Soviel ich weiß, bezieht die Burg ihr Trinkwasser dorther.« Er wandte sich mit einem fragenden Blick an Skar. »Glaubst du, daß du die Stelle wiederfindest, an der du die Errish entdeckt hast?« Skar nickte. »Sicher.«

»Dann solltest du es tun«, schlug Bradburn vor, »und nachsehen, ob sich in der Nähe eine Quelle befindet. Ein Bach, der im Boden verschwindet, ein kleiner See...« Er breitete die Hände aus, um anzudeuten, daß es noch zahllose andere Möglichkeiten gab.

»Du glaubst, die Errish wollte unser Trinkwasser vergiften?« fragte Del zweifelnd.

Bradburn wiederholte die Handbewegung und zuckte dazu mit den Achseln. »Vielleicht hatte sie auch vor, es einfach über unseren Köpfen auszugießen oder in den Fluß zu schütten.« Er seufzte, bedachte das so harmlos aussehende Fläschchen mit einem fast ängstlichen Blick und fuhr sich müde mit den Händen durch das Gesicht. »Das eine ergibt so wenig Sinn wie das andere.«

»Wieso?« Del trat einen Schritt näher. »Gerade hast du gesagt, es wäre die tödlichste Mixtur, die du je gesehen hättest.« Bradburn seufzte erneut, wandte sich zur Seite und angelte einen halbgefüllten Becher von einem Regal, aus dem er einen gewaltigen Schluck nahm, ehe er antwortete. »Ja, das stimmt«, bestätigte er. »Ich bin kein Giftmischer, und auch kein Alchimist. Aber die Errish verstehen viel von den alten Künsten. Mehr als irgendeiner von uns.«

»Hast du deshalb mit Kiina gesprochen?« wollte Skar wissen. Bradburn lächelte und brachte das Kunststück fertig, gleichzeitig mit dem Kopf zu schütteln und zu nicken. »Sie weiß viel über ihr Volk«, antwortete er. »Nicht so viel wie eine wirkliche Errish, natürlich, denn sie wurde niemals geweiht, aber sie war die Tochter der Margoi.«

Seine Worte versetzten Skar einen dünnen, aber spürbaren Stich ins Herz. Er dachte an Gowenna - Kiina, wie ihr wirklicher Name gewesen war, den sie an ihre Tochter weitergegeben hatte -, und ein sonderbares Gefühl von Sehnsucht machte sich in ihm breit. War das die Ursache für seine grundlose Aggressivität diesem Mädchen gegenüber? dachte er verstört. Feindete er es nur so an, weil er seine Mutter vielleicht doch geliebt hatte, ohne es bisher zu wissen?

Er schüttelte den Gedanken mühsam ab und deutete auf die Phiole. »Hast du es ausprobiert?«

Bradburn nickte und trank einen weiteren Schluck Wein. Das Zittern seiner Hände hörte allmählich auf. Er sah müde aus, fand Skar. Nicht körperlich, sondern auf schwer in Worte zu fassende Weise im ganzen. Wie ein Mann, der einfach zu lange gelebt hatte. »So gut ich konnte«, erklärte er mit einem neuerlichen Achselzucken. »Ich gab einen Tropfen davon in ein Gefäß mit Wasser. Anschließend habe ich einen der Hunde davon trinken lassen. Er fiel um wie vom Blitz getroffen, kaum daß er das Wasser berührt hatte. Und die beiden Männer, die mir geholfen haben, wurden krank.« Er machte eine beruhigende Handbewegung, als Del etwas sagen wollte. »Nicht schlimm«, fügte er hinzu. »Sie werden es überleben, aber die Symptome sind eindeutig - sie klagen über Kopfschmerz und Übelkeit, und sie haben Fieber bekommen. Es reicht offensichtlich schon, nur die Dämpfe einzuatmen.«

»Und das soll keinen Sinn ergeben?« fragte Del zweifelnd. »Nein«, antwortete Skar an Bradburns Stelle. Er deutete auf das Giftfläschchen. »Das Zeug da im Brunnen hätte ein paar Dutzend von uns umgebracht. Schlimmstenfalls ein paar Hundert. Aber wir sind über vierzigtausend. Und wir werden sechzigtausend sein, wenn die Männer aus Denwar erst einmal eingetroffen sind.« Er zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hatte sie wirklich vor, es vom Rücken ihrer Daktyle aus auf unsere Köpfe herabzuschütten.« Er glaubte selbst nicht an diese Möglichkeit, und Del und Bradburn machten sich nicht einmal die Mühe zu antworten.

»Wir müssen noch einmal dorthin«, entschied Bradburn nach einer Weile. »Zu den Felsen, zwischen denen du die Errish gefunden hast.«

»Wozu?« fragte Skar, ein kleines bißchen zu heftig, als daß Bradburn oder Del sein Erschrecken noch entgehen konnte. Er machte eine verlegene Handbewegung. »Ich meine - was versprichst du dir davon? Die Errish wird dir kaum noch irgendwelche Fragen beantworten können, weißt du?«

Bradburn starrte ihn an, und auch zwischen Dels Brauen entstand eine steile Falte, die mehr über seine Gedanken aussagte als das spöttische Lächeln, das auf seinen Lippen lag.

»Manchmal reden Tote noch«, erwiderte Bradburn schließlich. »Es wäre nützlich, zum Beispiel zu wissen, wie sie gestorben ist. Oder ihr Gepäck zu untersuchen.« Er machte eine flatternde Handbewegung zur Decke hinauf. »Wieso reiten wir nicht gleich jetzt?«

Diesmal schüttelte Skar zu Recht den Kopf. »Es ist zu spät«, stellte er fest. »Es wird dunkel, bis wir unten am Fluß sind. Und ich bin nicht sicher, ob ich die Stelle in der Nacht wiederfinde.«

»Außerdem ist das Gelände dort unten schwierig«, pflichtete ihm Del bei. »Wir haben nicht viel davon, wenn du mit einem gebrochenen Bein zurückkommst. Ich -«

Er sprach nicht weiter, denn in diesem Moment drangen vom Korridor schwere, stampfende Schritte herein, und der Schein einer Fackel huschte über die matt beleuchteten Wände, gefolgt von einem riesigen, verzerrten Schatten. Ein Quorrl? dachte Skar verblüfft. Hier unten? Das war sonderbar - er hatte selten Quorrl in den unterirdischen Teilen der Festung gesehen; sie mieden Bradburns Nähe, und dazu kam, daß sie geschlossene Räume und erst recht Höhlen so sehr verabscheuten, wie Bradburn sie zu lieben schien. Er tauschte einen raschen Blick mit dem Prediger und erkannte, daß auch Bradburn überrascht aussah; ja, beinahe ein bißchen erschrocken.

Seine Verwirrung wurde zu leiser Sorge, als er erkannte, wer der Quorrl war, der die Kammer betrat - niemand anderes als Titch nämlich, der jetzt zwar nicht mehr seine goldfarbene Prachtrüstung trug, aber kaum weniger barbarisch aussah als vorhin oben auf dem Hof. An seinem Gürtel hing noch immer das gewaltige Zweihand-Schwert, das so lang war, daß seine Spitze bei jedem Schritt des Quorrl den Boden berührte und regelmäßig hell klingende Laute von sich gab. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Klinge zu säubern. Und auch an seinen Händen klebte noch Blut.

Del atmete scharf ein, als sich Skars und Titchs Blicke begegneten, und sie verstanden beide. Für einen Moment war es, als spränge ein Funke zwischen ihnen über, aber die Explosion kam nicht. Statt dessen sah Skar bloß zur Seite, und Titch verzog seinen fast lippenlosen Mund zur Karikatur eines menschlichen Lächelns.

Skar fing Dels beschwörenden Blick auf und wandte sich widerwillig an den Quorrl. »Titch?«

»Ihr verlangtet mich zu sehen, Hoher Satai«, antwortete Quorrl. »Ihr wart nicht in Eurem Quartier, aber es schien mir, als ob Euer Anliegen ... dringend sei. So habe ich Euch gesucht.« Skar war nicht sicher, ob der verletzende Spott, den er in Titchs Stimme zu hören glaubte, wirklich da war. Er beschloß, wenigstens für den Moment anzunehmen, daß er ihn sich nur einbildete. »Es war ... nichts«, antwortete er unsicher. »Ein Mißverständnis. Ich wußte gewisse Dinge nicht. Meine Schuld, daß ich mich nicht informiert habe. Es tut mir leid.«

Titch schien verwirrt. Skar war plötzlich sehr sicher, daß der Quorrl mit dem festen Vorsatz hierhergekommen war, ihn zur Rede zu stellen; allermindestens. Sein unerwartetes Nachgeben paßte nicht in Titchs Konzept. Der Gedanke erfüllte Skar mit einer gewissen Schadenfreude, mahnte ihn aber gleichzeitig auch zur Vorsicht. Titch war kein Gegner, den er unterschätzen sollte. Das war ein Quorrl nie, und dieser Quorrl schon gar nicht. »Aber wir sollten über gewisse Dinge reden«, fügte er deshalb hinzu. »Bevor es wieder zu einem Mißverständnis kommt.« Titchs Blick wurde lauernd. »Ihr meint den Tod der acht Feiglinge?« fragte er.

Skar nickte und schüttelte fast im gleichen Moment den Kopf. »Nein. Oder doch, ja. Du hattest recht, vorhin - es geht mich nichts an, was du mit deinen Leuten machst, und warum. Aber solange unsere beiden Heere zusammen sind, wäre ich dir dankbar, wenn du mich informierst, falls du weitere ... Strafmaßnahmen ergreifen mußt.«

Titch schwieg einen Moment. Er starrte ihn an, und Skar spürte, daß er zu einer wütenden Antwort ansetzte. Aber dann geschah etwas Sonderbares: Titchs Blick blieb an etwas hängen, das sich irgendwo hinter Skar befand. Seine Augen weiteten sich, ganz wie die eines Menschen, der irgend etwas Entsetzliches sieht, und etwas geschah mit seinem Gesicht, was vielleicht das quorrlsche Äquivalent eines menschlichen Erbleichens sein mochte. Sein schmaler, lippenloser Mund klaffte für die Dauer eines Atemzuges auf und gewährte Skar einen Blick auf die vierfache Reihe gegeneinandergesetzter Reißzähne, die darin bleckte, aber selbst in dieser Bewegung war nichts Drohendes. Nur Entsetzen.

»Was hast du?« fragte Del, dem Titchs jähes Erschrecken ebensowenig entgangen war wie Skar.

»Nichts«, antwortete Titch. »Es war... nichts. Ein Irrtum.« Er machte eine Bewegung, als versuche er, eine unsichtbare Last abzuschütteln. »Ich dachte, ich hätte etwas gesehen. Aber es war wohl nur ein Schatten. Unsere Augen sind nicht gut für dieses Licht«, fügte er erklärend hinzu, und das war genauso gelogen wie seine Behauptung, sich getäuscht zu haben.

Aber Skar verbiß sich auch jetzt eine entsprechende Frage. Irgend etwas hatte den Quorrl bis ins Innerste erschreckt. Er würde nicht darüber reden, weder jetzt noch irgendwann. Aber Skar wußte plötzlich, daß es wichtig war; nicht nur für Titch, sondern auch für ihn, für Del - vielleicht für sie alle.

Vielleicht für ganz Enwor.

Vielleicht sah er aber auch nur Gespenster.

Er räusperte sich ein paarmal, um das unangenehm werdende Schweigen zu überspielen, und wandte sich wieder an Bradburn. »Du gibst Bescheid, sobald du irgend etwas Neues herausfindest.« Bradburn nickte. »Ich erwarte dich, morgen bei Sonnenaufgang. Oben am Tor.«

Er sah stur an Titch vorbei, als er die Kammer verließ, aber er spürte, daß der Quorrl ihm nachstarrte. Und irgend etwas war an diesem Blick, das Skar schaudern ließ.

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