Sie sprachen kein Wort mehr miteinander, bis die halbe Stunde abgelaufen war, die Del Bradburn gegeben hatte, um das Mädchen aufzuwecken, aber Skar widerstand auch der Versuchung, wie ein störrisches Kind einfach aus dem Raum zu laufen und sich irgendwo zu verkriechen, um sich selbst leid zu tun.
Er war sehr erleichtert, als sie den Thronsaal endlich verließen und in den Trakt der Festung gingen, den Bradburn und die anderen Heiler für sich reserviert hatten - erschreckend in seinen Ausmaßen, in dem erschreckend viele verwundete Männer und noch mehr verletzte Quorrl lagen. Skar war nur ein einziges Mal hier gewesen, gleich am ersten Tag, fast unmittelbar, nachdem die Burg gefallen war, und was er gesehen hatte, hatte ihn so bestürzt, daß er seither einen großen Bogen um diesen Teil der Anlage geschlagen hatte. Selbst ihn hatte die Schnelligkeit getäuscht, mit der Drasks gewaltiges Bollwerk gefallen war. Aber immerhin war es kein kleines Heer gewesen, das Del und er hierhergeführt hatten, sondern eine Walze aus vierzigtausend Quorrl und fünfhundert Satai-Kriegern, die die wenigen Verteidiger einfach durch ihre bloße Übermacht erstickt hatte. Den gewaltigen Blutzoll, den sie - und wieder einmal vor allem die Quorrl - dafür bezahlen mußten, hatte keiner von ihnen so richtig begriffen. Und er weigerte sich selbst jetzt noch, die Anzahl der Verwundeten und Sterbenden zu schätzen, an denen sie auf dem Weg zu Bradburns Quartier vorbeikamen.
Das Mädchen war wach, als sie die kleine Kammer an der Ostseite der Festung betraten. Neben seinem Lager standen Bradburn und einer seiner Gehilfen, ein kleiner, ausgemergelt wirkender Quorrl, dessen Finger aussahen, als hätten sie die Gicht, aber trotzdem sehr geschickt zu sein schienen. Bradburn sah auf, als sie eintraten, und für einen Moment war Skar sehr sicher, daß der Prediger (Prediger? dachte er. Bradburn tat in ihrem Heer alles nur Denkbare, aber er hatte ihn niemals irgend etwas predigen hören. Er mußte sich bei Gelegenheit eine andere Bezeichnung für ihn einfallen lassen.) spürte, was zwischen Del und ihm vorgefallen war; es hätte Skar jedenfalls in keiner Weise überrascht, wenn man ihm die Verbitterung ansah, die dieses letzte Gespräch mit Del in ihm zurückgelassen hatte. Aber Bradburn sagte kein Wort dazu, sondern beschied seinem schuppigen Gehilfen nur mit einer knappen Geste, den Raum zu verlassen, und wandte sich dann ebenfalls um.
»Überanstrengt sie nicht«, riet er ihnen im Gehen, und so leise, daß das Mädchen die Worte nicht verstehen konnte. »Sie ist völlig erschöpft. Und sehr verwirrt.«
Del nickte knapp und wartete, bis sie allein waren. Dann versuchte er, sein Gesicht zu so etwas wie einem Lächeln zu zwingen, und trat mit zwei raschen Schritten an das Lager heran. Skar folgte ihm, etwas langsamer und in einigem Abstand. Er erkannte das Mädchen kaum wieder. Bradburn hatte die Wunden verbunden und eine übelriechende, graue Salbe auf die Verbrennungen an Hals und Schulter aufgetragen, und jemand hatte ihm das Haar geschnitten, so daß es jetzt nur noch bis zu den Schultern reichte. Es sah jünger aus als am Morgen, als er es auf dem Rücken der Echse erblickt hatte, und sehr viel knabenhafter. Ein Kind.
Das Mädchen schaute einen Moment lang aufmerksam zu Del hoch - es schien sehr müde zu sein, aber sein Blick war klar und vollkommen wach -, drehte dann den Kopf und sah Skar an. »Bist du Skar?«
Skar nickte automatisch. Er war überrascht, und auch Del blickte verwirrt auf, trat dann aber wortlos zurück, damit Skar seinen Platz einnehmen konnte.
»Das bin ich«, bestätigte Skar, nachdem er es getan hatte. »Woher kennst du mich?«
»Ein Mann mit einer Narbe im Gesicht und brennenden Augen«, antwortete das Mädchen. »Die Beschreibung paßt.«
»Oh.« Skar hob ganz unbewußt die Hand und berührte die dünne weiße Linie, welche die linke Seite seines Gesichtes in zwei ungleichmäßige Hälften teilte. Er hatte diese Narbe schon so lange, daß er sie manchmal vergaß, obwohl sie es war, die ihm seinen Namen gegeben hatte. »Beschreibt man mich so?«
»Man nicht«, gab das Mädchen zur Antwort. »Meine Mutter. Sie hat mich hierhergeschickt. Zu dir. Ich bin Kiina.«
Diesmal war Skar mehr als nur ein wenig überrascht. »Kiina? Du bist -«
»Gowennas Tochter, ja.«
»Die Tochter der Margoi?« fragte Del ungläubig. »Aber das kann nicht sein. Errish bekommen keine Kinder.«
»Manche schon«, berichtigte Kiina ruhig. »Sonst wäre ich nicht hier, oder?« Sie lachte ganz leise, versuchte sich aufzurichten und schüttelte heftig den Kopf, als Skar ihr helfen wollte. Skar unterdrückte ein Lächeln. Zumindest die Sturheit schien sie von ihrer Mutter geerbt zu haben - wenn sie diejenige war, die zu sein sie vorgab. Aber irgendwie glaubte er ihr. Er sah Del an, ehe er weitersprach, aber er las auch in den Augen des anderen nur Verwirrung.
»Deine Mutter hat dich also geschickt«, fuhr er fort. »Zu mir?« Kiina nickte und schüttelte fast in der gleichen Bewegung den Kopf. »Ja«, sagte sie, »und nein. Meine Mutter ist tot, schon seit drei Jahren. Aber sie hat oft von dir gesprochen. Du mußt sie ziemlich beeindruckt haben, Satai.« Sie maß Skar mit einem sehr langen, abschätzenden Blick; einem Blick von so unverschämt taxierender Art, wie ihn nur Kinder zustande bringen. Skar korrigierte seine Schätzung um ein paar Jahre nach unten, was ihr Alter betraf. »Ich verstehe zwar nicht ganz, wieso, aber...«
»Sie ist tot?« Skar erschrak erst mit einiger Verspätung; vielleicht, weil er in letzter Zeit vom Tode so vieler gehört hatte, daß er es schon fast erwartete. »Gowenna ist tot, behauptest du?«
»Sie starb am Fieber«, antwortete Kiina. In ihrer Stimme war nicht die mindeste Spur von Trauer oder Mitgefühl. »Errish werden nicht sehr alt, wußtest du das nicht? Das Leben mit den Drachen läßt sie ausbrennen.« Sie sah ihn aus sehr großen, dunklen Augen an. »Es ist also wahr.«
Skar vermochte dem plötzlichen Gedankensprung nicht zu folgen; und er versuchte es auch gar nicht. Die Nachricht von Gowennas Tod erschütterte ihn, jetzt, nachdem er sie wirklich wahrgenommen hatte. Er hatte bisher nicht einmal an die Ehrwürdige Mutter der Errish gedacht, aber irgendwie hatte er ganz automatisch unterstellt, daß sie noch lebte; so, wie er nach seinem Erwachen im Tempel der Gesichtslosen Priester ohnehin geglaubt hatte, daß alles unverändert sei. Aber das stimmte nicht. Alles war anders geworden, nicht nur er. Zwanzig Jahre gingen nicht so einfach an einer Welt vorüber, ohne daß die Dinge sich änderten.
»Du kommst aus Elay?« erkundigte sich Del, als Skar keinerlei Anstalten machte, dem Mädchen irgendeine Frage zu stellen, sondern sie nur weiter anstarrte.
»Aus dem Drachenland«, wich Kiina aus, womit sie seine Frage nicht direkt beantwortete. »Ich wollte eher zu euch stoßen, aber sie haben mich verfolgt, und ich mußte mich verstecken. Ich -« Sie brach ab, und auf ihrem Gesicht machte sich ein Ausdruck breit, als wäre ihr mit jähem Schrecken etwas sehr Wichtiges wieder eingefallen, das sie vergessen gehabt hatte. »Was ist mit Kaleigh?« fragte sie.
»Dein Drache?« Skar schüttelte bedauernd den Kopf. »Er ist tot.« Er wollte hinzufügen: Es tut mir leid, aber er verbiß sich die Worte im letzten Moment. Niemand, der nicht als Errish geboren und aufgewachsen war, konnte wirklich nachempfinden, wie eng sich die Ehrwürdigen Frauen mit ihren titanischen Reittieren verbunden fühlten. Sie waren viel mehr als Reittier und Herrin, viel mehr als Freunde - sie waren Teile eines Ganzen, das nicht auseinandergerissen werden konnte, ohne daß beide zu Schaden kamen. Er hatte Errish erlebt, die aus Kummer über den Verlust ihrer Drachen gestorben waren. Und umgekehrt.
Ein heftiges Mitgefühl ergriff ihn. Er streckte die Hand aus und faßte nach Kiinas Schulter, aber wieder entzog sie sich seiner Berührung. In ihren Augen glitzerten Tränen. Trotzdem war ihre Stimme fest, als sie weitersprach. »Sie werden dafür bezahlen, Skar. Ich werde zurückgehen und jeden einzelnen von diesen Ungeheuern umbringen, das schwöre ich.«
Del seufzte. »Wie wäre es, wenn du uns statt dessen lieber erzählen würdest, warum du überhaupt gekommen bist«, forderte er sie ungeduldig auf. Skar warf ihm einen ärgerlichen Blick zu, aber Del ignorierte ihn, obwohl er ihn sehr wohl bemerkte, »Die Daktylen und die drei Panzerechsen, die dich verfolgten - wer waren sie, und warum wollten sie dich töten?«
»Errish«, antwortete Kiina. »Das, was die Sternengeborenen aus ihnen gemacht haben.«
»Sie sind alle so ... verändert?« fragte Skar zögernd.
Kiina antwortete wieder mit dieser Mischung aus gleichzeitigem Nicken und Kopfschütteln. »Die meisten«, sagte sie. »Ein paar konnten entkommen, aber sie haben uns die Drachen genommen. Elay ist fest in ihrer Hand, und niemand kann das Tal der Drachen betreten, ohne getötet zu werden.« Sie wich Skars Blick jetzt aus, aber irgend etwas war plötzlich in ihrer Stimme, das Skar warnte. Ihre Selbstbeherrschung begann zu zerbröckeln. Er begriff plötzlich, daß die Ruhe, die sie bisher an den Tag gelegt hatte, nicht echt war, sondern nur der Schock, den das Erlebte - und nicht zuletzt der Tod ihrer Reitechse - ihr bereitet hatte. Und der alarmierte Blick, den Del ihm insgeheim zuwarf, bewies, daß auch er es spürte: Das Mädchen würde zusammenbrechen, wenn sie nicht sehr behutsam vorgingen.
Ohne darauf zu achten, daß Kiina abermals ein Stück von ihm fortrückte, setzte er sich neben sie auf die Bettkante und legte den Arm um ihre Schultern. Im allerersten Moment versteifte sie sich, und er rechnete fest damit, daß sie seinen Arm abstreifen würde, aber dann entspannte sie sich, und er konnte direkt fühlen, wie ihr Widerstand zerbrach. Letztendlich war sie nur ein Kind, das zu viel durchgemacht hatte und den Schutz und die Nähe eines Erwachsenen suchte.
»Erzähle«, bat er leise. »Ruhig und von Anfang an. Wir haben viel Zeit.«
»Das habt ihr nicht«, antwortete Kiina.
»Was soll das heißen?« Dels Stimme war sehr scharf.
Statt einer direkten Antwort streifte Kiina Skars Arm jetzt doch ab, schleuderte die Decke beiseite und stand mit einem Ruck auf. Ohne auf Dels ärgerlichen Blick zu achten, bückte sie sich nach ihrem Kleid und streifte es über. Daß es an einer Seite verkohlt war und eine schmierige schwarze Spur auf ihrer Haut hinterließ, schien sie nicht besonders zu stören. Skar sah, daß ihre Bewegungen unsicher waren und ihre Hände ganz leicht zitterten. Aber sie war noch jung genug, um wirklich zu glauben, daß es ein Zeichen von Tapferkeit war, sich Schmerzen nicht anmerken zu lassen. Er lächelte verzeihend, als sie sich wieder zu Del und ihm herumdrehte; ein Lächeln, das neuen Zorn in Kiinas Augen auflodern ließ.
»Welcher Tag ist heute?« fragte sie.
Del sagte es ihr, und Kiina überlegte einen Moment angestrengt. »Dann sind es noch zwei Tage, bis das Heer aus Denwar hier ist«, erklärte sie. »Falls ihr euren Zeitplan einhaltet, heißt das.«
»Welches... Heer?« fragte Del verblüfft; aber auch hörbar mißtrauisch.
Kiina verzog abfällig die Lippen. »Die zehntausend Satai und Veden, die ihr erwartet, um mit der Invasion Besh-Iknes zu beginnen«, erwiderte sie.
»Du weißt davon?« Del klang eher erschüttert als erschrocken. »Die anderen wissen davon« antwortete Kiina triumphierend. Sie war noch jung genug, um den Moment in all seiner Dramatik auszukosten, und Skar sah, wie sich Dels Stirn abermals umwölkte. Geduld hatte noch nie zu seinen Stärken gehört.
»Was soll das heißen?« fragte er scharf. »Von wem sprichst du?«
»Du hast sie doch gesehen, Satai«, gab Kiina zur Antwort. »Die, welche mich verfolgt haben. Diese Burg hier -« Sie machte eine weit ausholende Geste und schloß in der gleichen Bewegung die silberne Spange, die ihr Kleid über der Schulter hielt. »- ist eine einzige Falle. Sie wurde nur zu dem Zweck erbaut, euch hierherzulocken. Und ihr seid ja auch gekommen, oder?«
»Zum Teufel, was soll das heißen?« brauste Del auf. »Wer wollte uns hierherlocken, und warum? Und woher willst du das alles wissen?!« Skar machte eine warnende Handbewegung, aber Del ignorierte ihn einfach, trat mit einem wütenden Schritt auf Kiina zu und riß sie an der Schulter herum. Das Mädchen stieß einen erschrockenen kleinen Schrei aus und versuchte sich loszureißen, aber Dels Griff war viel zu fest. »Sprich endlich!«
»Laß sie los«, gebot Skar scharf.
Er hatte selbst nicht damit gerechnet, aber Del gehorchte tatsächlich - allerdings nur, um gleich darauf einen weiteren, drohenden Schritt auf Kiina zuzumachen und sie abermals anzufahren: »Also - was soll das bedeuten?«
Kiina warf Skar einen beistandheischenden Blick zu, aber er reagierte nicht. Er mißbilligte die Art, auf die Del mit ihr sprach, aber er verstand ihn. Für Kiina schien dies alles hier nichts als ein einziges großes Spiel zu sein, ein Spiel, bei dem der Einsatz durchaus ihr Leben sein konnte, aber trotzdem ein Spiel. Es wurde Zeit, daß ihr jemand klarmachte, was es wirklich war. »Es ... es ist so, wie ich gesagt habe«, antwortete sie, als sie begriff, daß Skar ihr nicht helfen würde. »Es ist eine Falle, für euch und das Heer. Sie wollen euch alle zusammen vernichten, und alle auf einmal.«
»Wer?« wollte Del erfahren. »Und wie?«
»Wie, weiß ich nicht«, erwiderte Kiina, jetzt nicht mehr aggressiv, sondern nur noch trotzig. »Und wer, weißt du so gut wie ich, Satai. Die Zauberpriester.«
»Drasks Brüder?« Del lachte abfällig. »Du bist verrückt, Kindchen. Sie haben es versucht, aber sie haben uns nicht einmal daran hindern können, ihnen ihre famose Burg wegzunehmen. Und wir waren kaum halb so viele, wie wir sein werden, wenn das Eis aufbricht und wir losmarschieren. Was sollten sie uns tun?«
»Dasselbe, was sie uns angetan haben, Satai«, antwortete Kiina leise, und ganz plötzlich, von einem Atemzug auf den anderen, fiel jede Kindlichkeit und jeder Trotz von ihr ab. Der Ernst, den Skar plötzlich in ihrer Stimme hörte, war nicht mehr gespielt. Er stand auf, trat an Dels Seite und legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, ehe er wieder auffahren und Kiina vollends einschüchtern konnte. Er hatte Bradburns Worte nicht vergessen. Das Mädchen hatte eine womöglich wochenlange Flucht und endlose Leiden hinter sich. Wenn sie ihr zu sehr zusetzten, konnte es gut sein, daß sie einfach zusammenbrach und sie gar nichts mehr von ihr erfuhren.
»Was ist passiert?« fragte er.
Der Ausdruck von Schmerz auf Kiinas Gesicht wurde stärker. Ihre Mundwinkel zuckten, als hielte sie nur noch mit Mühe ihre Beherrschung aufrecht. Aber sie weinte nicht. »Dasselbe wie hier«, berichtete sie leise. »Die Zauberpriester. Sie ... sie kamen vor drei Jahren, kurz, nachdem meine Mutter gestorben war. Die Errish -« Skar fiel abermals auf, daß sie die Errish sagte, und nicht wir - »wußten, was in Ikne und den anderen Städten geschehen war, und sie waren vorbereitet. Sie haben sie erwartet und besiegt.«
»Einfach so?« fragte Del.
Kiina schüttelte zornig den Kopf. »Nicht einfach so«, antwortete sie trotzig. »Der Kampf dauerte lange, und sie waren sehr viele. Aber am Ende wurden sie geschlagen und vertrieben. Sie kamen wieder, und sie wurden wieder geschlagen.« Sie sprach nicht weiter, und abermals änderte sich etwas in ihrem Blick. Ihre Augen schienen eine Spur dunkler und größer zu werden, und obwohl sie Skar direkt anblickte, hatte er das sichere Gefühl, daß sie ihn in Wahrheit gar nicht sah. Was sie erzählte, das weckte die Erinnerungen, und mit ihnen kam der Schmerz.
»Und?« drängte er. »Was geschah weiter?«
»Das, was euch passieren wird, Skar«, antwortete Kiina. Ihre Stimme schwankte, und ihre Art zu sprechen wurde immer schleppender, als sie nach Worten für Dinge suchte, die mit Worten nicht zu beschreiben waren. »Die Errish und ihre Drachen haben sie geschlagen, wo immer sie auf sie stießen, aber es ... es war, als würden sie mit jeder Niederlage stärker. Zahllose von ihnen fanden den Tod, aber sie kamen immer wieder.« ...als würden sie mit jeder Niederlage stärker. Skar schauderte. War es wirklich Zufall, daß sich Kiinas Worte so sehr nach dem anhörten, was auch Drask bei ihrem letzten Gespräch gesagt hatte: Gib acht, daß ihr euch nicht totsiegt, Satai.
»Und dann?« fragte Del ungeduldig, als Kiina abermals in dumpfes Schweigen verfiel.
»Etwas ... geschah«, fuhr Kiina stockend fort. »Ich weiß nicht, was. Niemand wußte es. Die... die Angriffe hörten auf, aber plötzlich war alles anders geworden. Ein paar Errish verloren den Kontakt zu ihren Drachen. Andere... wurden von ihren eigenen Tieren angegriffen und getötet, und einige ... brachten sich gegenseitig um.«
Del runzelte ungläubig die Stirn, und auch Skar fiel es schwer, diesen Teil von Kiinas Bericht zu glauben. Errish, die sich gegenseitig töteten? Unvorstellbar!
So unvorstellbar wie Satai, die plündernd und brandschatzend durch das Land ziehen, nicht wahr? wisperte eine Stimme hinter seiner Stirn.
»Es war entsetzlich«, berichtete Kiina weiter. »Elay ist... nicht mehr das, was es einmal war. Haß und Mißtrauen waren alles, was die Errish noch füreinander empfanden. Es kam zu Kämpfen unter ihnen. Manche versuchten zu fliehen, aber die anderen hielten sie zurück oder töteten sie. Vor einem Jahr schließlich rief die neue Margoi alle Errish zurück zu einer großen Beratung nach Elay. Als sie vorüber war, da... da hatten sie sich verändert.«
»Verändert? Wie?«
Kiina sah Skar aus Augen an, die groß und dunkel vor Angst geworden waren. »Ihr habt sie gesehen, Skar. Diese... diese Frauen, die mich verfolgt haben. Das waren Errish. Das, was aus ihnen geworden ist, nach diesem entsetzlichen Tag.«
»Aber was ist geschehen?« fragte Del verwirrt. »Dieses... dieses Ding, das an ihnen haftet -«
»Der Wächter.«
»Nennen sie es so?« fragte Skar. »Dieses Netz?«
»Sie hatten es alle, nachdem sie Elay wieder verließen«, sagte Kiina. »Und nicht nur sie. Es war plötzlich da, und es ... breitete sich aus. Es wuchs, und es wächst noch immer. Niemand kann sich dagegen schützen.«
»Niemand?« Dels Augen verengten sich mißtrauisch. »Du schon. Und dein Drache auch, oder?«
»Nein«, antwortete Kiina. »Es wollte mich nicht.« Sie verzog die Lippen zu einem schmerzlichen Lächeln. »Ich war nicht wichtig genug. Es ist gigantisch, Satai. Es... es hat Elay überwuchert wie ein Geschwür und... und Tausende verschlungen. Aber nicht alle. Ich habe in der Burg gearbeitet, als Dienstmagd und in den Ställen, und später als Zofe der neuen Margoi. Ich habe vieles erfahren, und vieles gesehen. Nicht alle sind mit dem Netz verbunden. Nur die Mächtigen und die Krieger. Es tötet seine Träger, manche in Tagen, andere in Monaten oder Jahren, aber es tötet sie. Vielleicht frißt es sie innerlich auf - ich weiß es nicht. Aber es ist wählerisch. Es beherrscht uns, aber es braucht uns auch.«
»Das ist eine ziemlich phantastische Geschichte, findest du nicht?« äußerte Del zweifelnd. Er hob die Hand und machte eine herrische Bewegung, als Kiina auffahren wollte. »Ich habe dieses Ding gesehen, und ich glaube dir, aber... es fällt mir nicht leicht. Wieso hat niemand etwas davon erfahren, wenn das alles wirklich so passiert ist?«
»Ihr hattet genug damit zu tun, Krieg zu führen, oder?« fragte Kiina böse. »Und sie haben die Grenzen hermetisch abgeriegelt.«
»Das ist vollkommen unmöglich«, widersprach Del. »Niemand kann -«
»Niemand, aber etwas«, fiel ihm Kiina ins Wort. »Das Drachenland ist eine natürliche Festung, Satai. Es gibt nur ein halbes Dutzend Pässe über die Berge, die nicht schwer zu bewachen sind. Sie haben zahllose eurer Männer abgefangen und getötet, die versuchten, ins Land zu kommen. Ist einer davon zurückgekehrt?«
Del antwortete nicht, aber sein Mißtrauen war keineswegs besänftigt. Er suchte nur weiter nach irgendeinem Fehler in Kiinas Geschichte, einem Widerspruch, wo er einhaken und sie als die Lüge darstellen konnte, als die er sie gerne sehen würde. »Aber das ergibt keinen Sinn«, erklärte er schließlich. »Selbst wenn du die Wahrheit sagst - warum sollten sie es tun? Nicht einmal die Errish mit ihren Drachen könnten uns vernichten. Wir sind einfach zu viele, selbst für euch!«
»Es gibt keine Errish mehr, Satai«, korrigierte Kiina ihn bitter. »Die Drachen haben uns verlassen. Das Netz tötet sie, und es macht es den Errish unmöglich, sie zu reiten.«
»Und diese drei Ungeheuer, die dich verfolgt haben?« fragte Skar.
Kiina verzog beinahe angeekelt die Lippen. »Das waren keine Drachen«, entgegnete sie heftig. »Es sind Skorr, dumme plumpe Tiere, die im Tal der Drachen leben und zu nichts nutze sind. Keine Drachen wie unsere Echsen. Sie können nur töten, sonst nichts. Und nicht einmal das besonders gut.«
»Und wie bist du entkommen?« fragte Del. »Wie konntest du das Land verlassen, wenn sie die Pässe doch so scharf bewachen?«
»Auf dem einzigen Weg, den sie nicht gesperrt haben«, antwortete Kiina. »Durch das Tal der Drachen.«
»Gut«, schloß Del. »Ich weiß nicht, ob ich dir glaube, aber im Moment belassen wir es dabei. Du hast also gehört, was geschehen wird, und bist gekommen, um uns zu warnen.« Kiina starrte ihn an, als zweifele sie an seinem Verstand.
»Nein«, sagte sie. »Nicht nur deshalb.«
»Nein?« Del blinzelte. »Warum dann?«
»Ich bin gekommen, weil ich eure Hilfe brauche, Satai«, erklärte Kiina ernst. »Ihr seid die einzigen, die Elay befreien können.«
Für die Dauer von zwei, drei endlosen Atemzügen starrte Del das Mädchen aus ungläubig aufgerissenen Augen an.
Dann begann er schallend zu lachen.
Sie hatten noch lange mit Kiina gesprochen, denn jede Antwort, die sie von ihr erhielten, zog ein Dutzend neuer Fragen nach sich, und Skar war sich bis zum Schluß selbst nicht darüber klar geworden, ob er ihr nun glaubte oder nicht.
Schließlich war genau das passiert, was Bradburn ihnen prophezeit hatte - die Anstrengung war einfach über Kiinas Kräfte gegangen, und sie war in Skars Armen zusammengesunken und hatte das Bewußtsein verloren. Sie hatten das Mädchen in Bradburns Obhut zurückgelassen.
Del schien ganz selbstverständlich anzunehmen, daß Skar ihn wieder hinauf in den Thronsaal begleiten würde, um über das Gehörte zu sprechen - und es wäre ja auch nur vernünftig gewesen. Aber Skar wollte nicht mehr reden. Nicht jetzt, nicht mit Del und vielleicht überhaupt nicht mehr. Er wollte keine endlosen Gespräche mehr über Dinge führen, die sie doch nicht ändern konnten und an deren Ende doch nichts anderes herauskommen würde als der unvermeidliche Streit mit Del. Er wollte...
Es war absurd: Er wollte - mußte - etwas tun, von dem er nicht einmal wußte, was es war. Kiinas Worte, so unglaublich und verwirrend sie gewesen sein mochten, hatten auch noch den letzten Zweifel in ihm beseitigt: Er würde gehen, vielleicht nicht heute, denn Kiinas Warnung war zu ernst, um sie zu ignorieren, aber bald. Und er würde jetzt ganz bestimmt nicht mit Del diskutieren.
Er ließ Del einfach stehen, indem er auf der Treppe plötzlich schneller ging und seinen überraschten Ausruf einfach ignorierte, schlug den dem Thronsaal entgegengesetzten Weg ein und trat auf den Festungshof hinaus. Der Geruch von Menschen und Quorrl schlug ihm entgegen; zu vieler Menschen und Quorrl, die zu lange auf zu engem Raum zusammengedrängt gelebt hatten. Aber auch Wärme, denn die Sonne hatte jetzt schon Kraft, und die Festungsmauern hielten den eisigen Wind zurück. Einen Moment lang verharrte er, ließ seinen Blick über das bunte Durcheinander von Menschen und Quorrl und Hunden und Pferden streifen, das den Hof erfüllte, und wandte sich dann nach rechts; eigentlich ziellos, und wenn überhaupt, dann nur aus dem Grund, von der Tür wegzukommen, falls Del etwa auf die Idee verfallen sollte, ihm nachzueilen.
Er hatte kaum ein paar Schritte gemacht, als ihm eine hochgewachsene, schuppige Gestalt mit einem Schlangengesicht den Weg vertrat. Skar wollte ganz automatisch die Hand heben und den Quorrl vertreiben, wie er es sich in den letzten Tagen sowohl mit Menschen als auch den reptilienhaften Barbaren aus dem Norden angewöhnt hatte - er ließ keine Gelegenheit aus zu betonen, wie zuwider es ihm war, als etwas Besonderes behandelt zu werden, aber das änderte nichts daran, daß er begonnen hatte, die Privilegien einer solchen Rolle zu genießen - aber dann erkannte er den Quorrl. Es war der Heiler, dem er am Morgen nach dem Kampf gegen die Drachen begegnet war. Der Quorrl mit dem Sprachfehler.
»Was willst du?« fragte er grob. »Ich habe keine Zeit.«
»Esssh ihsst whichthig, Hehrrr«, krächzte der Quorrl.
»Khhhooomt.« Er hob die Hand, wie um Skar beim Arm zu ergreifen, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Trotzdem reichte allein diese angefangene Geste aus, Skar davon zu überzeugen, daß sein Anliegen wirklich wichtig sein mußte - sein Verstehen der Quorrl war noch immer jämmerlich, aber er hatte in den letzten Tagen und Wochen gelernt, daß es einem Quorrl mindestens so zuwider war, einen Menschen zu berühren, wie es diesem umgekehrt Unbehagen bereitete, die glatte kalte Reptilienhaut eines Quorrl anzufassen.
»Wichtig?« vergewisserte er sich überflüssigerweise.
Der Quorrl nickte; zumindest versuchte er es, aber es mißlang kläglich, weil zu einem menschlichen Nicken ein menschlicher Hals gehörte, und er hatte keinen. »Was willst du?«
Der Blick der dunklen geschlitzten Schlangenaugen suchte, ehe er antwortete, die Tür, aus der Skar herausgetreten war. Fast, dachte Skar verwirrt, ah müsse er sich erst davon überzeugen, daß sie auch wirklich allein waren, bevor er sprach. Wovor hatte er Angst? »Ihhch mhhuuuß mit Euch hrheden, Hehhhrr«, sagte der Quorrl schwerfällig. Skar sah erst jetzt, daß es gar kein Sprachfehler war, der ihn zu dieser lächerlichen Art des Redens zwang. Irgendwann, vor langer Zeit einmal, hatte jemand versucht, das Kinn des Quorrl zu spalten; wie es aussah, mit einer Axt oder einem sehr wuchtigen Schwert.
»Dann tu es«, forderte Skar ihn unfreundlich auf. »Was gibt es für Probleme? Habt ihr zu wenig Beute gemacht, oder fehlt euch rohes Fleisch zum Essen?«
Der Quorrl reagierte nicht auf seine grundlose Aggressivität, und vielleicht war gerade das der Grund, aus dem Skar seine Worte fast im gleichen Moment schon bedauerte.
»Dhie Kchrrieger, Hehhrr«, antwortete der Quorrl. »Ssssie schtherben.«
»Sterben?« Skar sah den Quorrl verständnislos an. Auf dem Hof waren sehr viele Quorrl. Lebende Quorrl, so weit er erkennen konnte. »Was meinst du damit?«
Der Quorrl beantwortete diese Frage nicht, sondern drehte sich wortlos und mit der nur scheinbaren Schwerfälligkeit seines Volkes herum und deutete auf die Tür, durch die Skar gerade erst gekommen war. »Fhooolgt mir, Hehhrr.«
Er ließ Skar keine Zeit zu widersprechen, sondern setzte sich in Bewegung, und Skar mußte ihm folgen, ob er wollte oder nicht. Sie schlugen wieder den Weg zu Bradburns Quartier ein, und schon nach ein paar Schritten begriff Skar, wohin ihn der Quorrl führte - in eines der guten halben Dutzend unterirdischer Gewölbe, in dem sie die Verwundeten und Kranken untergebracht hatten. Natürlich - er war ein Heiler.
Er hörte das Stöhnen der Sterbenden schon von weitem, und der Geruch war unverkennbar - es stank nach Reptilien und Krankheit, nach schlechtem Wasser und Abfällen. Es war, dachte Skar, als würden sie sich einem Schlangenstall nähern. Er ging ein wenig schneller, um zu dem Quorrl aufzuschließen, streckte den Arm aus und hielt ihn grob an der Schulter zurück. Der Barbar ging einfach weiter, und bei seinem Gewicht von über dreihundert Pfund war es Skar auch unmöglich, ihn zum Stehenbleiben zu zwingen. »Was soll das?« fragte er ärgerlich. »Ich weiß, wie es hier aussieht.«
»Nheihhhn, Hehhhrr«, widersprach der Quorrl mühsam.
»Dhas wißßßßt Hihr hniccccht. Khooommt.« Fast sanft streifte er Skars Hand ab, brachte ihn aber gleichzeitig dazu, schneller weiterzugehen, bis sie das improvisierte Lazarett erreicht hatten. Skar erschrak. Das Gewölbe war groß, sicherlich dreißig auf hundert Schritte, wenn nicht mehr, aber es kam ihm trotzdem mit einem Male winzig vor, denn es quoll schier über vor grün- und graugeschuppten Gestalten, die auf einfachen Lagern, auf Fellbündeln und zerschlissenen Decken oder auch nur auf dem nackten Steinboden lagen. Und es waren entsetzlich viele. Gestern, als er das letzte Mal bewußt hier unten gewesen war, hatte er ihre Zahl ganz beiläufig auf hundert geschätzt; vielleicht ein paar mehr oder weniger.
Jetzt schien sie sich glattweg verdoppelt zu haben.
Verwirrt und erschrocken zugleich sah er den Quorrl an. »Was ist passiert?«
»Die Krrriehger, hdhie Euccccch uuhnd den Hhhhohhhen Ssssathai heute mhoorgen beghleitet habhheeen, Herr«, flüsterte der Quorrl. »Hshie schtherben.«
»Alle?«
»Die meisten«, antwortete der Quorrl nach kurzem Überlegen. »Ehtwas thöööthet sssie. Sheeeht ssshelbhst.« Er winkte auffordernd mit einer plumpen, dreifingrigen Hand, kniete neben einer der reglosen Schuppengestalten nieder und forderte Skar mit einer neuerlichen Geste auf, zu ihm zu treten.
Skar zögerte. Plötzlich wollte er gar nicht mehr sehen, was hier wirklich geschah. Trotzdem ließ er sich gehorsam neben dem Quorrl in die Hocke sinken und blickte auf das breitflächige Gesicht des Barbarenkriegers herab.
Im ersten Moment fiel ihm nichts Außergewöhnliches auf. Der Quorrl schien das Bewußtsein verloren zu haben, und er fieberte. Die Krallen seiner linken Hand fuhren immer wieder über den Stein, auf dem er lag, und verursachten dabei ein scharrendes, regelmäßiges Geräusch, das Skar schaudern ließ. Er sah keine Wunden, keine sichtbaren Verletzungen, nicht einmal einen Kratzer. Trotzdem hätte der Quorrl ihm nicht einmal sagen müssen, daß der Krieger im Sterben lag. Skar wußte es einfach.
»Was ist geschehen?« fragte er.
Er wartete vergeblich auf eine Antwort, schaute verärgert hoch - und blickte in das breitflächige Gesicht eines zweiten, sehr viel größeren Quorrl, der neben ihn und den Heiler getreten war, ohne daß er es auch nur bemerkt hätte. In seinen Augen blitzte Zorn.
Vielleicht war es gerade dieser Blick, an dem Skar ihn auf der Stelle wiedererkannte - er war fast ein wenig erstaunt über sich selbst, denn für Menschenaugen glich kein Quorrl einem anderen, und trotzdem sahen sie alle irgendwie gleich aus, so daß es schwer war, sie auseinanderzuhalten. Aber dann erinnerte er sich, daß Del ihm den Quorrl eigens vorgestellt hatte; und er erinnerte sich auch, daß Titch der Bruder von Trash war, dem Quorrl-Krieger, den er getötet hatte. Nicht, daß das etwas bedeutete - Quorrl konnten Hunderte von Brüdern haben, soviel er wußte. Plötzlich begriff er - wieder einmal - wie erbärmlich wenig sie alle von dem Volk wußten, das fast die Hälfte ihrer Welt sein Eigen nannte.
»Was tust du hier?« fragte Titch.
Skar deutete verwirrt auf den Kranken, dann auf den Heiler, der ihn hergebracht hatte. »Irgend etwas ist hier -«
»Hier ist nichts geschehen«, unterbrach ihn Titch, so laut und so grob, daß es schon fast einer Brüskierung gleichkam. »Nichts, was dich interessieren müßte, Satai.«
Skar stand auf und sah den Quorrl scharf an. Er war eher überrascht als verärgert - aber er hatte auch keine Lust, sich von einem fischgesichtigen Quorrl anknurren zu lassen wie einen Hund.
»Es interessiert mich schon, wenn unsere Krieger ohne ersichtlichen Grund krank werden und sterben, Quorrl«, antwortete er betont. »Das ist doch richtig, oder?«
Titch zuckte mit den Schultern; eine Geste, die er den Menschen abgesehen hatte und die seine Andersartigkeit nur noch betonte. »Ich weiß es nicht«, antwortete er. »Wenn Kahshan es sagt, wird es wohl seine Richtigkeit haben. Er ist der Heilkundige, nicht ich. Es scheint, als würden alle krank, die am Morgen dabei waren.« Er zögerte eine Sekunde, dann verbesserte er sich: »Fast alle.«
»Fast?« Skar sah auf. Die Art, in der Titch das wertest betont hatte, gefiel ihm nicht.
»Alle, die gekämpft haben«, erklärte der Quorrl.
»Du meinst, jeder, der die Drachen berührt hat«, vermutete Skar.
»Oder ihre Reiter.« Titch nickte und warf dem neben ihm stehenden Kahshan einen eindeutig zornigen Blick zu. »Ja, so ist es wohl. Etwas tötet sie. Vielleicht der Fluch der Sternengeborenen.«
»Unsinn!« widersprach Skar. Titchs Worte machten ihn zornig; mehr, als er im ersten Moment selbst begriff. »So etwas gibt es nicht«, fügte er hinzu, nachdem er sich ebenfalls erhoben hatte. Zwei, drei flache Schlangengesichter wandten sich ihm und Titch zu, und er begriff, daß er laut genug gesprochen hatte, seine Worte überall verständlich zu machen.
»Das ist Unsinn, Titch«, wiederholte er noch einmal, sehr viel leiser, aber in beinahe noch schärferem Ton. »So etwas gibt es nicht, Titch. Die Sternengeborenen sind unsere Feinde, aber sie sind keine Zauberer.«
Titch antwortete nicht sofort, aber Skar spürte vielleicht gerade deshalb, wie wenig seine Worte bewirkten. Quorrl waren ein abergläubisches Volk, schlimmer noch als die Veden. Manchmal fragte er sich, wie sie so mächtig hatten werden können, bei dem Gespinst von Traditionen und undurchschaubaren Regeln und Verhaltensweisen, das ihre Kultur ausmachte.
Er ergriff Titch am Arm, drehte ihn mit sanfter Gewalt herum und deutete auf eine Nische neben dem Eingang, einen der wenigen freien Flecken in dieser Katakombe des Todes. Titch verstand. Er schwieg, bis sie außer Hörweite der anderen waren, und als er weitersprach, dämpfte er seine Stimme zu dem, was die Quorrl unter einem Flüstern verstehen mochten.
»Sie sind Zauberer, Satai«, widersprach er. »Sie werden uns töten. Auch euch.«
»Vielleicht«, antwortete Skar zornig. »Aber wenn, dann mit dem Schwert, oder mit den Klauen ihrer Drachen, nicht mit Magie.« Seine Stimme wurde fast beschwörend. »Hör auf, solchen Unsinn zu erzählen, Titch! Wir werden eine Erklärung für das alles hier finden, aber wenn du anfängst, das Gerücht zu verbreiten, daß sie uns nur mit einem Fluch töten können, dann haben wir diesen Krieg verloren, ehe er begonnen hat!«
»Meine Männer sind nicht blind«, beharrte Titch ausdruckslos. »Sie sehen, was geschieht. Und deine Sorgen sind unbegründet, Satai. Ich habe dich hierhergebracht, um dich zu warnen. Nicht mehr. Etwas geschieht hier, das ist richtig. Ich weiß nicht, was, und auch das ist richtig. Aber das ist ganz allein unser Problem.«
»Bradburn könnte euch helfen.«
Titch machte ein unanständiges Geräusch. Er hatte wirklich eine Menge von den. Menschen gelernt, dachte Skar finster. »Bradburn? Euer Priester?« Er lachte. »Unsere Heiler sind es, die ihm helfen«, sagte er betont. »Und es ist nicht nötig. Meine Krieger fürchten das Sterben nicht. Keiner von ihnen. Die hier sind, sind bereits tot.«
»Was soll das heißen - sie sind bereits tot?« fragte Skar. Titch setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber dann anders und starrte an Skar vorbei ins Leere. Es fiel Skar - wie jedem Menschen - schwer, im Gesicht eines Quorrl zu lesen, aber er war plötzlich sehr sicher, daß Titch bereits bedauerte, diese Worte überhaupt ausgesprochen zu haben.
»Weiß Bradburn überhaupt, was hier passiert?« fragte er. »Ja. Aber er kann nichts tun.« Titch zögerte einen Moment. »Er glaubt, daß die Drachen krank waren. Vielleicht hat er recht.« Aber das glaubte er nicht wirklich. Skar spürte ganz genau, daß der Quorrl eigentlich etwas ganz anderes hatte sagen wollen. Aber er spürte auch, daß er ihm nicht antworten würde, sollte er ihn darauf ansprechen. Titch verwirrte ihn mehr und mehr.
»Aber dann müßte es auch uns treffen«, folgerte er. »Del und mich und die Satai, die dabeigewesen sind.«
»Vielleicht«, antwortete Titch. »Vielleicht auch nicht. Die Drachen sind uns mehr verwandt als euch. Vielleicht sterbt ihr später, vielleicht gar nicht.« Er machte eine komplizierte Geste mit beiden Händen, deren Bedeutung Skar nicht klar wurde. »Aber ich bin nicht hergekommen, um über euren Tod zu reden«, fuhr er fort. »Etwas geschieht, Satai. Ich weiß nicht was, und ich weiß nicht, warum und wie, aber... etwas ändert sich.«
Skar war die kleine Pause in seinen Worten nicht entgangen; ebensowenig wie die Tatsache, daß sie mehr bedeuten mochte als das, was der Quorrl sagte. Er war verwirrt. Das alles war kein Zufall mehr. Drask, dann Kiina und jetzt Titch - die sonderbare Unruhe, die ihn selbst schon seit Tagen ergriffen hatte, nicht einmal berücksichtigt. Vielleicht, überlegte er, war es gar nicht so, daß nur er sich verändert hatte. Vielleicht veränderte sich alles, und nur er und dieser Quorrl spürten es. Unsicher sah er sich nach dem Quorrl um, der ihn hier heruntergebracht hatte, nicht nur ohne Titchs Wissen, sondern, wie ihm plötzlich klar wurde, sogar ganz und gar gegen seinen ausgesprochenen Willen. Er konnte ihn nirgends mehr entdecken; wahrscheinlich hatte er die Gelegenheit genutzt, sich klammheimlich aus dem Staub zu machen, dachte Skar. Er wandte sich wieder an Titch.
»Was willst du damit andeuten?« fragte er.
Titch zögerte. Es fiel ihm sichtlich schwer, die richtigen Worte zu finden; nicht, weil er die Sprache nicht beherrschte. Der Quorrl beherrschte die Hochsprache Enwors besser und fließender als so mancher Mensch, dem Skar in seinem Leben begegnet war. Aber er redete über Dinge, über die er wohl noch nie geredet hatte; vielleicht nicht einmal nachgedacht.
»Ich... weiß es nicht«, sagte der Quorrl nach einer Weile. Irgendwie sah er plötzlich hilflos aus, trotz seiner enormen Größe und des Zornes, der noch immer in seinem Blick loderte. »Etwas ist nicht gut.«
»Krieg ist niemals gut«, entgegnete Skar, aber Titch machte nur eine wegwerfende Handbewegung. Er wandte sich um und begann, die Treppe wieder hinaufzugehen, und Skar folgte ihm. Zwei Satai, die ihnen entgegenkamen, wichen im letzten Moment respektvoll zur Seite, als sie erkannten, werden Quorrl begleitete. Skar fragte sich unwillkürlich, ob sie es auch getan hätten, wenn Titch allein gewesen wäre. Er wußte, daß Titch so etwas wie der Befehlshaber des Quorrl-Heeres war, in seinem Rang durchaus Del und ihm vergleichbar. Trotzdem war er für die meisten dieser sogenannten Satai noch immer nicht mehr als ein Tier.
»Ich meine nicht den Krieg«, knüpfte Titch an das unterbrochene Gespräch an, als sie das Gebäude verlassen hatten und wieder auf den Hof hinaustraten. Gegen das ungewohnt grelle Sonnenlicht kam er Skar plötzlich noch gigantischer und massiger vor, als er ohnehin war. Er fühlte sich wie ein Zwerg neben dem schuppigen Titanen. »Er ist nötig«, fuhr Titch fort. »Er gehört zum Leben wie die Geburt und die Liebe und der Tod. Aber etwas... ist plötzlich falsch.«
Er sah Skar aus seinen schmalen Fischaugen an, und zum allerersten Mal, solange Skar die Quorrl kannte, glaubte er so etwas wie Furcht im Blick eines dieser gigantischen Wesen zu sehen. »Ich weiß nicht, was es ist, Satai«, führte er weiter aus. »Aber es macht mir Angst. Es macht uns allen Angst. Und ihr tätet auch gut daran, Angst zu haben. Vielleicht noch mehr als wir.«
Skar war nicht einmal überrascht. Ein Quorrl, der Angst hatte, das wäre noch vor Tagen eine ungefähr so logische Vorstellung wie ein ertrinkender Fisch für ihn gewesen. Aber er spürte es ja auch, ebenso wie Kiina und Bradburn, und wie auch Del, auch wenn dieser es nicht zugab. Etwas änderte sich. Etwas Schreckliches geschah.
Aber er ging nicht weiter auf Titchs Worte ein, sondern drehte sich wortlos weg und verließ endgültig die Festung.