Er erzählte Del und Bradburn alles; alles mit Ausnahme seiner neuerlichen Begegnung mit dem Daij-Djan. Nicht einmal so sehr, weil ihn die bloße Erinnerung an die gesichtslose Sternenbestie mit nackter Angst erfüllte, sondern auch, weil er überzeugt war, daß sie für Del und Bradburn und all die anderen keinerlei Relevanz hatte. Was zwischen diesem Ding und ihm war, das ging nur sie beide etwas an. Er wußte noch nicht, was, und er wußte noch nicht, wann und wie, aber irgendwann - und es war nicht mehr sehr lange - würde er ihr endgültig gegenüberstehen und alles erfahren. In der Version, die er Del erzählte, war er auf einen Felsen hinaufgestiegen, um die nähere Umgebung überblicken zu können, und hatte dabei die tote Errish und ihren Drachenvogel entdeckt; eine Geschichte, die allemal glaubhaft genug klang. Vielleicht sogar überzeugender als die Wahrheit.
Er händigte Bradburn das kleine Glasröhrchen aus, der es sehr sorgfältig in ein Tuch einschlug und dann damit verschwand, um es zu untersuchen. Anschließend sprach er noch wenige Minuten mit Del. Aber es war wie die Male davor - sie spürten beide, daß ihre Unterhaltung wieder einmal auf einen Streit zusteuerte, obgleich sie sich beide alle Mühe gaben, sie auf rein sachliche Belange zu beschränken. Zwischen ihnen war eine Gereiztheit, die so konstant und unabhängig von Sprache und Verhalten war wie ihre frühere Freundschaft. Skar war sehr froh, als Del nach einer Weile erklärte, daß er noch das eine oder andere mit seinen Unterführern zu besprechen hatte, und ging.
Trotzdem wollte er nicht allein sein, denn Einsamkeit war etwas, das er plötzlich so wenig ertrug wie Dels Gegenwart. Nach einer Weile verließ er den Thronsaal und schlug den Weg zum Hof hinunter ein. Aber schon auf halber Strecke machte er kehrt, ging ein Stück zurück und suchte schließlich das Gemach auf, in dem Kiina untergebracht war. Er mochte das Mädchen - nicht so sehr, daß er sich direkt zu ihm hingezogen fühlte, aber doch genug, um seine Gesellschaft der eines fischgesichtigen Quorrl vorzuziehen, oder eines Halsabschneiders, der sich einbildete, Satai zu sein.
Die Kammer war leer. Kiinas Bett war zerwühlt, aber kalt, und ihre Kleider lagen in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden daneben, zusammen mit dem Scanner und dem zierlichen Schwert, das sie mitgebracht hatte. Skar hob kopfschüttelnd beides auf, warf das Spielzeugschwert auf das Bett und schob die tödliche Waffe unter seinen Gürtel. Sie war wirklich noch ein Kind, dachte er ärgerlich. Man ließ kein Ding einfach herumliegen, mit dem man eine halbe Stadt in Schutt und Asche legen konnte. Er würde ein ernstes Wort mit ihr reden müssen. Aber dazu mußte er sie erst einmal finden. Unschlüssig sah er sich in der kleinen Kammer um, überlegte einen Moment, Bradburn nach Kiinas Verbleib zu fragen, verwarf aber diesen Gedanken dann wieder und trat schließlich ans Fenster.
Der Hof lag unendlich tief unter ihm, hundert oder mehr Manneslängen, und wieder einmal kam ihm fast unglaubhaft die zyklopische Größe dieser Festung zu Bewußtsein, zusammen mit einer gelinden Verwunderung, wie leicht es ihnen doch trotz allem gefallen war, sie zu erobern. Dann entdeckte er das Mädchen, und was er sah, verscheuchte jeglichen Gedanken an Drask und die Schlacht und die Magie der Zauberpriester und erfüllte ihn stattdessen mit Erstaunen, dann Ärger, schließlich Wut. Es war eine kleine Gruppe von Satai, sechs oder sieben Mann, die am anderen Ende des Hofes standen und sich unterhielten, wobei ihre Worte von heftigem Gestikulieren und einem gelegentlichen Lachen begleitet wurden, das zu Skar hinaufwehte. Aber nicht alle waren Männer - eine der schwarzgekleideten Gestalten war deutlich kleiner als die anderen, und das lange blonde Haar gehörte eindeutig Gowennas Tochter.
Skar fuhr wütend herum, lief aus dem Zimmer und rannte die Treppe hinunter. Die Männer, denen er begegnete, machten ihm respektvoll Platz, und das Erschrecken auf dem einen oder anderen Gesicht sagte Skar, daß man ihm seinen Ärger deutlich ansehen mußte. Aber das war ihm egal. Wer waren sie schon, daß er es nötig hatte, sich zu verstellen?
Er erreichte die große Halle, stürmte auf den Hof hinaus und überquerte ihn mit schnellen, weit ausgreifenden Schritten. Die Unterhaltung der kleinen Gruppe kam ins Stocken, als er sich ihr näherte, und ein paar Gesichter wandten sich ihm zu. Auch die Kindergestalt mit dem langen blonden Haar drehte sich zu ihm um, und er erkannte jetzt, daß es wirklich Kiina war. Sie lächelte erfreut, als sie ihn erblickte.
»Skar!« begann sie. »Wie schön, dich -«
Skar schnitt ihr mit einer wütenden Bewegung das Wort ab. »Was tust du hier?« fragte er zornig. »Wer hat dir erlaubt, dein Zimmer zu verlassen? Und wer hat dir diese Kleider gegeben?« Ärgerlich streckte er die Hand aus und ergriff den schwarzen Mantel. Kiina wich ganz instinktiv ein Stück zurück, ohne daß seine Finger den schwarzen Seidenstoff losließen. Sie wirkte verwirrt. Ganz offensichtlich verstand sie seinen Ärger nicht. »Niemand«, antwortete sie, was offensichtlich als Antwort auf beide Fragen gemeint war. »Aber ich fühle mich schon wieder wohl, und ... und meine alten Kleider waren zerrissen. Was habe ich denn getan?«
Skar verbiß sich im letzten Moment die wütende Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Dies war nicht mehr das Enwor, das er kannte. Sie war Gowennas Tochter, die Tochter der Margoi, aber sie war in einer Welt aufgewachsen, die mit der, die er zu kennen glaubte, wenig mehr als den Namen gemein hatte. Mühsam rief er sich innerlich zur Ruhe.
Trotzdem klang seine Stimme noch immer scharf, als er antwortete: »Du trägst Satai-Kleidung, Kind. Niemand, der nicht den Eid der Satai geschworen hat, besitzt das Recht dazu. Man kann dafür getötet werden.« Der letzte Satz hatte wie eine gutmütige Warnung klingen sollen, aber die Worte hallten selbst in seinen eigenen Ohren düster und drohend wider.
Kiina starrte ihn an, und für einen ganz kurzen Moment malte sich ein abgrundtiefer Schrecken auf ihren jugendlichen Zügen ab. Dann lachte sie, aber es klang gezwungen. »Unsinn«, sagte sie. »Ich stehe auf eurer Seite. Es ist nur ein Mantel.« Plötzlich hatte Skar Lust, ihr den schwarzen Mantel einfach herunterzureißen; und den ledernen Brustpanzer und die schwarzen Kniehosen dazu. Aber natürlich tat er es nicht.
»Zieh sie aus«, gebot er statt dessen nur.
Aus dem Erschrecken in Kiinas Gesicht wurde Trotz. »Jetzt gleich?« fragte sie spöttisch. »Und hier?«
Zwei, drei der anderen Satai lachten; und einer machte eine spöttische Bemerkung, die Skar nicht ganz verstand. Ganz langsam ließ er Kiinas Mantel los, trat einen halben Schritt zurück und nickte. »Warum eigentlich nicht?« Er machte eine auffordernde Handbewegung. »Bitte.«
Diesmal war Kiinas Lächeln wirklich nicht mehr echt. Sie erschrak, und sie erschrak ein zweites Mal und sehr viel tiefer, als sie in seine Augen sah und darin erkannte, wie ernst er seine Worte meinte. Langsam hob sie die Hand, löste die schmucklose Spange, die den Mantel über der Schulter zusammenhielt, und zögerte noch einmal. Ihr Blick wurde fast flehend.
»Worauf wartest du?« fragte Skar hart.
Ihre Blicke lieferten sich ein stummes Duell, das er natürlich gewann. Nach Sekunden wandte Kiina abrupt den Kopf zur Seite und streifte gleichzeitig den Mantel ab. Darunter trug sie nur den schwarzen Brustpanzer der Satai; noch dazu einen, der ihr viel zu groß war. Skar sah, daß die dünnen ledernen Riemen tief in ihre Haut einschnitten.
»Soll ich weitermachen?« fragte Kiina, herausfordernd, ja, fast trotzig, aber ohne ihn anzusehen.
Alles in ihm schrie danach, ja zu sagen, allein aus dem absurden Bedürfnis heraus, einem dummen Kind eine Lektion zu erteilen, die es nie wieder vergessen würde. Aber er begriff auch, daß er den Kampf verloren hätte, wenn er es wirklich dazu zwang. Außerdem hatte er genug Feinde; es war nicht nötig, sich noch mehr zu machen.
»Ich sollte darauf bestehen«, lenkte er ein. »Aber ich tue es nicht. Geh jetzt. Warte in deiner Kammer auf mich. Ich komme gleich nach.«
Für einen Moment regte sich noch einmal Trotz in ihrem Gesicht, und Skar begriff, daß selbst diese Antwort schon zu viel gewesen war. Großer Gott, warum mußte alles, was er tat, falsch sein? Hatte er denn die einfachsten Dinge vergessen? Aber er gewann das stumme Blickduell wieder. Nach einer Sekunde senkte Kiina den Kopf, drehte sich abrupt um und stürmte wütend davon. Skar hoffte, daß sie auf dem Weg nach oben genug Türen fand, die sie hinter sich zuknallen konnte. Er wartete, bis Kiina den Hof verlassen hatte, dann wandte er sich an die - Satai? Nein. Er brachte es jetzt nicht einmal mehr in Gedanken fertig, sie so zu nennen! - an die Männer vor sich und blickte sie der Reihe nach an. Und was er sah, das schürte seine Wut fast noch mehr als der Anblick Kiinas vorhin.
Respekt, natürlich. Furcht, auch das war zu erwarten gewesen, und auch ein wenig Trotz. Aber das allerschlimmste war das Erstaunen, das er in ihren Augen las. Sie verstanden nicht einmal, was er überhaupt von ihnen wollte!
Und vielleicht sind sie sogar im Recht, wisperte eine dünne böse Stimme hinter seiner Stirn. Woher nahm er die Arroganz, einer ganzen Welt seinen Willen auf zwingen zu wollen? Diese Männer waren keine Satai, ganz einfach, weil es keine wirklichen Satai mehr gab. Wie konnte er von ihnen verlangen, ihn zu verstehen? Vielleicht war er es, der nicht hierher gehörte, und nicht sie.
Er sprach nichts von alledem aus, was er hatte sagen wollen, sondern drehte sich nach einer Weile einfach um und folgte Kiina.