Kapitel Elf

Obgleich Eleasar darauf drang, daß ich wieder bei ihm wohnen solle, konnte ich dieses Angebot nicht annehmen. Es war das Heim von braven Leuten, von frommen Juden, und ich fühlte mich nicht länger als einer der Ihren. Ich mußte mich auf meine eigene Weise mit Gott versöhnen und mir selbst einen neuen Lebensinhalt schaffen. Als Eleasar mir eine Lehre in seinem Käseladen anbot, lehnte ich abermals ab. Als mein Vater mich bat, nach Magdala zurückzukehren und dort mein eigenes Fischerboot zu betreiben, schlug ich auch das aus.

Eines Tages ging ich aus der Stadt hinaus und begab mich zu dem Haus des Olivenhändlers, dessen Wein ich damals mit Saul getrunken hatte. Ich erzählte ihm alles, was in diesen sechs Monaten geschehen war, und machte ihm einen Vorschlag. Da er ein kinderloser Witwer war und einen Olivenhain und eine Ölpresse zu bewirtschaften hatte, würde ich für ihn zu einem Lohn arbeiten, der weit unter dem Durchschnittsverdienst eines Tagelöhners lag. Er war froh über mein Angebot, denn er hatte schon etwas Zuneigung zu mir gefaßt und erinnerte sich an die Tage, an denen ich ihm die einsamen Stunden vertrieben hatte. Aber er wollte mir keinen Sklavenlohn bezahlen. Was immer ich auch getan hatte, war geschehen. Die Sünden der Vergangenheit waren vorbei. Wir würden nicht zurückblicken.

Und so kam es, daß ich schweren Herzens von Eleasar Abschied nahm und in der bescheidenen Behausung des Olivenhändlers eine neue Bleibe fand. Ich sah Rebekka selten, aber ich träumte jede Nacht von ihr. Eines Tages, als wir allein miteinander waren und ich es wagte, ihre Hände in die meinen zu nehmen, schwor ich ihr meine Liebe und versprach ihr, daß der Tag kommen werde, an dem ich einen würdigen Ehemann abgäbe. Doch bis dahin mußte ich mich vor Gott und den Menschen bewähren. Ich mußte mich als würdig erweisen, wieder unter Juden leben zu können.

Mit Saul traf ich häufig zusammen. Er kam zur Ölpresse und aß Käse und Brot mit mir. Was er mir von Eleasar und der Schule erzählte, tat mir im Herzen weh, und es war, als ob ein Messer in meiner Brust umgedreht wurde. Und doch bat ich ihn nicht, darüber zu schweigen, denn von diesen Dingen zu hören war meine Strafe. Saul würde eines Tages den Titel des Schriftgelehrten erlangen und hocherhobenen Hauptes durch die Menge schreiten. Ich beneidete ihn darum, und gleichzeitig liebte ich ihn dafür. Eleasar betrachtete ich auch weiterhin wie meinen eigenen Vater. Ihn allein liebte ich mehr als irgendwen sonst, denn er war weise, gerecht und gütig. Auf eigene Faust fuhr ich damit fort, das Gesetz zu studieren, wußte ich doch, daß die Thora für die Juden das Mittel war, ihren Erwählungsauftrag auf Erden zu erfüllen. Wenn ich Fragen hatte, ging ich in die Stadt, setzte mich zu Eleasars Füßen und lauschte seinen Ermahnungen.

Ich war traurig und glücklich zugleich. Ich schwitzte unter der Sonne im Olivenhain und aß Fisch und Käse. Die Abende waren ruhig und mild, und in Gedanken weilte ich oft bei der sanften Rebekka. Möglicherweise hätte ich mit diesem Leben für den Rest meiner Tage zufrieden sein können, doch sollte es anders kommen.

Ich erzähle Dir dies, mein Sohn, damit Du weißt, daß unsere größten Pläne ganz einfach zunichte gemacht werden können. Gott allein plant unser Schicksal, und wir haben keinen Einfluß darauf. Das Leben ist wie ein Fluß, der ständig in Bewegung ist, und du kannst deine Hand nicht zweimal an derselben Stelle eintauchen.

Wieder einmal sollte mein Leben eine Wendung nehmen. Es trat etwas ein, das im Grunde nur einen weiteren Schritt hin zu der unausweichlichen Stunde darstellte, über die ich Dir bald berichten werde. Das Verbrechen, das ich letzten Endes beging und von dem Du zweifellos bereits gehört hast, war das Endergebnis von vielen derartigen Umwegen und Änderungen in meinem Leben. Mein ganzes Planen und meine ganze Macht hätten mich nicht daran hindern können, in dieser verhängnisvollen Stunde so zu handeln.

Ebenso, wie mein Leben einen anderen Verlauf nahm, als mein Vater mich von Magdala zum Studium nach Jerusalem schickte, ebenso, wie ich in Ungnade fiel und von der Schule gewiesen wurde, so brachte mich ein drittes Ereignis wieder auf die Straße, an deren Ende das Verhängnis wartete.

Ich war dabei, Öl von unserer Presse zum Verkauf auf den Marktplatz zu bringen. Ich wartete mit den Eseln, die die fünf Tonkrüge trugen, geduldig in der Schlange, die sich langsam durch das Goldene Tor wand. Und als ich müßig in der Sonne stand und zufällig aufsah, erspähte ich ein bekanntes Gesicht in der Menge. Es war Salmonides, der Grieche.

Ein aufgeregtes Klopfen drang von der Tür her zu Ben.»Lieber Himmel!«rief er, als er aufsprang. Er riß die Tür auf.»Judy!«

«Hallo, ich wollte gerade.«

«Bin ich vielleicht froh, Sie zu sehen!«Ben nahm sie bei der Hand und zog sie in die Wohnung.»Er hat Salmonides gefunden!«

«Was?«

«David hat Salmonides gefunden! Kommen Sie, wir können es zusammen lesen!«Er zog Judy hinter sich her ins Arbeitszimmer und bedachte sie mit einem strahlenden, breiten

Lächeln.»Können Sie das glauben? Was meinen Sie, wie sich David wohl verhält? Hoffentlich haut er dem Griechen gehörig die Hucke voll!«Ben verstummte, als er ihren ernsten Gesichtsausdruck bemerkte. Als nächstes gewahrte er die zusammengefaltete Zeitung in ihrer Hand.»Was ist das?«

«Haben Sie es noch nicht gesehen?«

«Es gesehen? Was gesehen?«

Mit zitternden Fingern schlug Judy die Zeitung auf und breitete sie vor Ben aus. Dieser starrte ungläubig auf die Titelseite. Die Schlagzeile lautete:

JESUS-HANDSCHRIFTEN GEFUNDEN?

«Was zum Teu. «Er riß ihr die Zeitung aus der Hand.»Jesus-Handschriften! Was zum Henker soll das für ein schlechter Scherz sein!«

«Es ist kein Scherz.«

«Jesus-Handschriften! Jesus-Handschriften! Ach, um Gottes willen!«Er hielt die Zeitung mit ausgestreckten Armen von sich und starrte entgeistert darauf. Dann fiel er rücklings in seinen Sessel.»Jesus-Handschriften gefunden! Und noch dazu mit einem Fragezeichen versehen! Gott, ist das vielleicht billig!«

Unter der Überschrift war das Foto einer Nachrichtenagentur abgedruckt, das Dr. John Weatherby mit einem der großen Tonkrüge in den Armen am Rande der Ausgrabungsstätte zeigte. Die Unterschrift des Bildes lautete:»Archäologe Dr. John Weatherby aus Südkalifornien hält einen Tonkrug, der eine der in Khirbet Migdal gefundenen Schriftrollen enthielt.«

Ben starrte ungläubig auf die Zeitung, als wäre er vom Blitz getroffen worden.

«Lesen Sie die Geschichte«, forderte Judy ihn auf. Sie räumte sich einen Platz auf dem Schreibtisch frei und setzte sich auf die Kante. Ihr Gesicht wirkte blaß und traurig. Sie hatte ihm diese Neuigkeit nur sehr ungern überbracht.

«Das ist verheerend«, murmelte Ben.»Ich kann es einfach nicht glauben!«

«Nun, das mußte ja irgendwann passieren. Sie können nicht erwarten, daß sich so etwas lange geheimhalten läßt. «Ben zitierte aus dem Artikel.»Hören Sie sich das an: Daß es sich dabei um einen bedeutenderen Fund handeln könnte als bei den Qumran-Handschriften vom Toten Meer, wurde heute von einem Archäologen vor Ort angedeutet, der wörtlich sagte: >Das hier wird ein bedeutenderer Fund sein als die Qumran-Handschriften vom Toten Meer.<«Ben schaute zu Judy auf.»Ach du lieber Himmel, was ist denn das für ein Journalismus?«Er las weiter.»Zum Inhalt der Schriftrollen wollte sich Dr. Weatherby bislang noch nicht äußern. Er teilte mit, der Text werde erst dann veröffentlicht, wenn die Übersetzung abgeschlossen sei. Die Rollen werden gegenwärtig von drei Experten auf dem Gebiet der Handschriftenkunde in Amerika und Großbritannien übersetzt. Bislang kann man über Bedeutung und Inhalt des Fundes nur Vermutungen anstellen. «Ben schleuderte die Zeitung auf den Boden.»Vermutungen anstellen, ja, aber um Gottes willen. Jesus-Handschriften!«

«Das steigert die Auflage, Ben.«

«Ich weiß, daß es die Auflage steigert. Wem sagen Sie das? Darum heißt es in der Überschrift auch nicht: >David Ben Jona — Handschriften gefunden< Wer kennt schon David Ben Jona? Dagegen weiß jeder, wer Jesus war. Ach, du meine Güte! Haben Sie gelesen, wie begierig sie solche Namen wie Galiläa und Magdala aufgreifen! >Zur Zeit Jesu<. Was zum Teufel hat dieser Jesus eigentlich getan, das ihn so verdammt bedeutend macht?«

Judy war bestürzt darüber, Ben so außer sich zu sehen. Sie wußte, welchen Schmerz ihm die entwürdigende Vermarktung seiner kostbaren Schriftrollen bereitete, wußte, daß er es nicht ertragen konnte, daß David Ben Jona wie ein exotischer Vogel vor ein Publikum gezerrt wurde. Sie war ebenfalls betroffen, wenn auch weit weniger als er.»Als nächstes werden sie einen Hollywood-Film daraus machen«, fuhr er fort,»mit zwei SexIdolen in den Rollen von David und Rebekka. Auf der Madison Avenue werden T-Shirts und Auto-Aufkleber verkauft. Sie werden daraus so viel Kapital schlagen wie möglich. O Judy. «Er schüttelte den Kopf, als wollte er anfangen zu weinen.»Ich kann es nicht ertragen, daß sie David so etwas antun. Sie werden ihn nicht verstehen. Nicht wie wir es tun.«

«Ich weiß.«

Als Ben sich ein wenig beruhigt hatte, hob er die Zeitung vom Boden auf und überflog sie noch einmal. Was für ein schändliches Medienspektakel würde die Presse daraus machen. Sie würden begierig jede Einzelheit aufgreifen und sie verzerren. Die Tatsache, daß der Autor der Schriftrollen ein sanfter, frommer Jude war, der seinem einzigen Sohn ein privates Geständnis abzulegen hatte, würde überhaupt keine Beachtung finden. Statt dessen würden sie es ausschlachten, daß die Schriftrollen ausgerechnet am See Genezareth gefunden wurden, und mit Schlagwörtern wie Magdala und >zur Zeit Christi< aufwarten.»Das steigert die Auflage, in der Tat«, murmelte er traurig.»Ich schätze, Weatherby hatte gar keine Wahl.«

«Da bin ich mir sicher.«

«Sehen Sie sich das an. «Er tippte mit dem Finger auf eine Textstelle.»Sie erwähnen den Fluch. Den Fluch Mose, als handelte es sich dabei um irgendeinen komischen, lachhaften Einfall. Sie werden sehen, morgen steht in der Überschrift irgend etwas über den Fluch. Sie bringen es fertig und finden einen, der während der Ausgrabung verletzt oder krank wurde, und das schreiben sie dann dem Fluch zu. «Ben schaute müde zu Judy auf.»Ich kann das nicht aushalten. Ich hatte gestern eine schreckliche Nacht. Es war die schlimmste meines Lebens. Ich glaubte allen Ernstes, ich würde sterben.«

«Wieder Alpträume?«

Er nickte.

Judy wollte gerade weiterreden, da klingelte das Telefon. Ben schien es nicht zu hören. Beim fünften Klingeln nahm Judy den Hörer ab und meldete sich:»Hallo?«Es war Professor Cox.

Judy legte ihre Hand auf die Hörmuschel.»Er sagt, Sie seien um fünf mit ihm verabredet.«

Ben schaute auf seine Armbanduhr.»Ach du großer Gott! Ich kann nicht hingehen. Nicht jetzt. Hören Sie, sagen Sie ihm. sagen Sie ihm, daß es in meiner Familie einen Todesfall gegeben habe und daß ich es vor Schmerz kaum aushalten könne und daß ich verreisen müsse und eine Vertretung für meinen Unterricht brauchte. «Judy starrte ihn mit offenem Mund an.

«Machen Sie schon. Sagen Sie ihm das. Sagen Sie ihm, daß ich mich in ein paar Tagen mit ihm in Verbindung setzen werde und daß es mir wirklich leid tut.«

Sie zögerte abermals, unsicher, was sie tun sollte. Schließlich, als sie sah, daß sie wirklich keine Wahl hatte, setzte sie Professor Cox, so gut sie konnte, auseinander, was Ben gesagt hatte, legte auf und starrte ihn wieder an.»Was ist los?«

«Ihr Unterricht.«

«Ich kann keinen Unterricht geben, Judy. Nicht jetzt. Sie wissen das. Ich kann keine Minute von David lassen — oder besser. er wird nicht von mir lassen. Er verfolgt mich, hält mich gefangen und wird mir keine Atempause geben, bevor ich nicht seine ganze Geschichte kenne.«

Ohne eine weitere Überlegung zu äußern, wandte sich Ben von ihr ab und beugte sich über das nächste Papyrus-Stück. Als er zu lesen begann, musterte Judy ihn eingehend, sah die dunklen Ringe unter seinen Augen, die tiefen Falten, die sich um seinen Mund herum eingegraben hatten. Ben war in den letzten Tagen deutlich gealtert.

Nachdem sie einige Zeit nachgedacht hatte, legte sie ihm schließlich sanft eine Hand auf die Schulter.»Ben?«Er schien nicht zu hören.»Ben?«

«Hm?«Er blickte auf.»Wann haben Sie zum letzten Mal gegessen?«

«Gegessen? Ich weiß nicht. Kann nicht lange her sein. Erst vor. erst vor. «Er runzelte die Stirn.»Ich erinnere mich nicht.«

«Kein Wunder, daß Sie Alpträume haben. Sie müssen ja am Verhungern sein. Ich werde nachsehen, ob ich in der Küche etwas für Sie finde.«

«Ja, ja, das wäre großartig.«

Als sie das Arbeitszimmer verließ, bemerkte Judy, daß es in der Wohnung sehr warm war. Während sie den Thermostat herunterdrehte, warf sie einen Blick ins Schlafzimmer und sah die Verwüstung, die er im Bett angerichtet hatte. Eine Spur aus schmutzigen Kleidungsstücken führte ins Schlafzimmer. Die übersetzten Seiten von Rolle Nummer sechs waren im Wohnzimmer über den ganzen Fußboden verstreut, Kissen lagen überall herum, auf Schritt und Tritt stieß man auf halb geleerte Kaffeetassen und überquellende Aschenbecher. Die Küche sah noch schlimmer aus. Inmitten von Bergen mit schmutzigem Geschirr stand dort auch ein Topf mit kalter Suppe auf dem Herd. Poppäa Sabina hockte zusammengekauert in einer Ecke und starrte Judy aus funkelnden Augen finster und mißtrauisch an. Sie hatte sich vor dem Schreien und Stöhnen ihres Herrchens in Sicherheit gebracht und schmollte nun über einem leeren Futternapf. Judy fütterte die Katze. Als nächstes reinigte sie die kleine Katzenkiste, die ebenso überquoll wie die Aschenbecher. Danach wollte sie sich daranmachen, so etwas wie ein Essen zusammenzustellen. Doch in den Schränken herrschte gähnende Leere.

Als sie das Telefon abermals klingeln hörte, fuhr sie zusammen. Es klingelte dreimal, bevor sich Ben mit gedämpfter Stimme meldete. Im nächsten Augenblick hörte sie ihn schreien:»Laß mich in Ruhe!«, gefolgt von einem Krachen.

Judy rannte ins Arbeitszimmer, wo sie Ben ruhig über die Rolle gebeugt vorfand.»Was ist passiert?«fragte sie atemlos.»Nichts.«

«Aber was war. «Die Frage wurde beantwortet, noch bevor sie sie ganz gestellt hatte. Auf dem Fußboden, an der Wand gegenüber, lag das Telefon, wo Ben es offensichtlich hingeschleudert hatte, nachdem er das Kabel herausgerissen hatte.

«Das erspart die Mühe, ständig den Hörer auszuhängen«, murmelte Judy, als sie das Zimmer verließ und in die Küche zurückkehrte. Da sie sich völlig im klaren darüber war, daß Ben im Augenblick selbst das erlesenste Festessen nicht anrühren würde, beschloß Judy, die Suppe für später aufzuheben. Sie wollte ihn bei der Übersetzung von Rolle sieben nicht stören und beschäftigte sich in der Zwischenzeit damit, die Wohnung in Ordnung zu bringen.

Als eine Stunde vergangen war und noch immer kein Geräusch aus dem Arbeitszimmer gedrungen war, wagte es Judy, einen Blick hineinzuwerfen. Ben saß noch immer über den Papyrus gebeugt, während er unablässig ins Übersetzungsheft kritzelte und seine Augen unverwandt an dem aramäischen Text hingen. Doch noch etwas anderes fiel

Judy auf, etwas, das sie faszinierte, bewog, näher heranzutreten. Unmittelbar vor Ben blieb sie stehen. Was sie sah, verblüffte sie.

Seine Gesichtszüge waren merkwürdig verklärt, und er schien in eine andere Welt zu blicken. Er war wie versteinert, wie ein Mensch, der eine tiefgreifende geistige Offenbarung erlebt. Die bleiche Haut wirkte unnatürlich straff und ließ die blauen Adern an Schläfen und Hals hervortreten. Seine weißen und blutleeren Lippen waren fest aufeinander gepreßt und bildeten eine dünne Linie. In Bens blauen Augen, die starr auf die Schriftrollen gerichtet waren, lag ein ungewöhnliches Leuchten, als ob in ihnen ein fiebriges Feuer loderte. Er atmete kaum und rührte sich nicht. Das einzige Geräusch, das man vernahm, war das Kratzen seines Bleistifts auf dem Papier, während er unleserliche Sätze dahinkritzelte. Kein einziges Mal schaute er auf das Heft oder wandte den Blick von dem Papyrus. Für ihn schien die Zeit stillzustehen. Er war gefangen in einer anderen Welt. Judy hatte so etwas noch nie gesehen und konnte nur darüber staunen. Nach einer Weile — sie hatte keine Ahnung, wie lange sie dagestanden und ihn beobachtet hatte — verließ sie das Arbeitszimmer und setzte sich hinüber ins Wohnzimmer. Sofort war Poppäa Sabina auf ihrem Schoß, dankbar schnurrend und bereit, sich verwöhnen zu lassen. Judy lächelte der Katze zu. Die arme Poppäa Sabina hatte keine Ahnung, was mit ihrem Herrchen vor sich ging.

«Ich weiß es auch nicht«, flüsterte Judy, als die Katze sich an sie schmiegte.»Ich kenne ihn erst seit kurzem, aber ich weiß, daß er sich verändert hat. Oder vielleicht noch dabei ist, sich zu verändern. Ist es schon geschehen oder geschieht es noch? Und dann muß man sich wieder fragen. was geht hier eigentlich vor?«

Als Ben aus dem Arbeitszimmer trat, hatte er das Gesicht eines Menschen, der gerade eine innere Wandlung durchgemacht hat. Er war nicht derselbe Mann, der sich zwei Stunden zuvor hingesetzt hatte, um die Schriftrolle zu Ende zu lesen, obgleich die Veränderungen kaum auffielen. Es war, so dachte Judy bei sich, als ob er sich jedesmal, wenn er eine Rolle las, ein wenig veränderte.»Ich bin froh, daß Sie noch hier sind«, sagte er. Als ob mit jeder der Rollen ein wenig von Ben Messer verlorenginge und ein wenig von etwas anderem an seine Stelle träte.»Ich konnte nicht gehen, ohne Rolle sieben gelesen zu haben«, erwiderte sie ruhig. Ja, es hatte sich tatsächlich eine Wandlung mit ihm vollzogen. Seine seltsam gesteckte Sprechweise war jetzt noch ausgeprägter.

Er nahm ihr gegenüber neben dem Kaffeetischchen Platz und schaute sie mit strahlend blauen Augen an.»Danke, daß Sie mir in dieser schwierigen Lage beistehen.«

«Mochten Sie jetzt etwas essen?«

«Noch nicht. Lesen Sie das zuerst. «Er reichte ihr die Blätter, auf die er seine Übersetzung gekrakelt hatte.»Meine Handschrift wird immer schlimmer.«

Als sie ihm die Seiten aus der Hand nahm und den Text überflog, sah sie, wie er den Mund öffnete, um noch etwas zu sagen.»Worum geht es?«

Er zögerte.»In dieser Rolle gibt es eine neue Entwicklung, Judy. Eine, die, wie ich fürchte, zu Problemen führen wird.«

«Zu Problemen?«

Er stieß einen Seufzer aus.»David erwartet vermutlich eine bestimmte Reaktion von uns, aber das weiß ich nicht genau. Alles, was ich sagen kann, ist, daß es eine Katastrophe gibt, wenn die Zeitungen Wind davon bekommen. Dann wird ein Massenansturm auf Magdala einsetzen.«

Dann tat Ben etwas Merkwürdiges. Sowie er das letzte Wort gesprochen hatte, drehte er den Kopf nach einer Seite, als ob er jemandem zuhörte. Er blickte starr auf die Wand hinter Judy und schien sich auf irgend etwas zu konzentrieren. Ben lächelte und schüttelte den Kopf.

«David will mir keinen Hinweis über den Inhalt der nächsten Rolle geben.«

«David?«

«Ich denke, wir werden unser Lehrgeld bezahlen müssen.«

Judy schauderte unwillkürlich. Bens Stimme klang eigentümlich scharf, so daß es ihr plötzlich ganz kalt wurde.

«Wie dem auch sei, lesen Sie, was ich geschrieben habe, und sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

Während ich dastand und zu Salmonides hinüberstarrte, brachte ich keinen Ton heraus. Ich konnte ihn nicht ansprechen, so gelähmt war ich. Jener Abend vor acht Monaten, jene Nacht meines schändlichen Falls, erschien mir nun wie ein Traum. Ich hätte nie erwartet, den skrupellosen Griechen je wiederzusehen. Ich hatte sogar den Vertrag zerrissen, für den ich ihm in meiner Torheit mein ganzes Geld gegeben hatte. Ihn dort am Goldenen Tor stehen zu sehen, so leibhaftig, als wäre ich ihm erst gestern begegnet, traf mich so unerwartet, daß es mir die Sprache verschlug. Aber ich mußte auch gar nicht sprechen. Sowie Salmonides mich erblickt hatte, erhellte sich sein Gesicht zu meiner großen Überraschung, und er kam auf mich zu, als ob wir Freunde gewesen wären, die lange nichts voneinander gehört hatten.»Seid gegrüßt, junger Herr!«rief er mir zu und kam mir mit ausgestreckten Armen entgegen. Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück.»Vergebt mir, junger Herr«, entschuldigte er sich.»In meiner Freude, Euch zu sehen, hatte ich ganz vergessen, welch frommer Jude Ihr seid und daß Euch die Berührung durch einen Heiden verhaßt ist. Aber, bei den Göttern, ich bin froh, Euch zu sehen!«

«Warum?«fragte ich stumpfsinnig.

«Warum? Weil ich die ganze Stadt nach Euch abgesucht habe, Meister. Ich bringe Euch gute Nachrichten und reichlich Gewinn.«

«Was?«fragte ich, immer noch begriffsstutzig.»Die Schiffe sind sicher und ohne ein einziges Korn Verlust in Ostia angekommen. Die Schekel, die Ihr pflanztet, sind tatsächlich zu Sesterzen gewachsen.«

Ich war abermals sprachlos. Salmonides hatte sich also nicht nur getreu an unser Abkommen gehalten, sondern war überdies auch noch bestrebt, mir mein Geld zu geben. Er hatte daran gedacht, daß ich vielleicht nochmals bereit wäre, Geld zu verleihen, und so hatte er alles darangesetzt, mich zu finden. Ich vertraute meine Esel der Obhut eines Freundes an und begleitete Salmonides in die Straße der Geldverleiher, wo man ihm auf seine schriftliche Anweisung zweihundert Denare ausbezahlte. Von dort aus begaben wir uns zu den Geldwechslern beim Tempel, wo die römischen Münzen unter dem wachsamen Auge meines griechischen Begleiters gewogen, geprüft und gegen zweihundert syrische Zuzim eingetauscht wurden. Fünf davon gab ich Salmonides, der sie sogleich mit einem entschuldigenden Achselzucken in Drachmen umwechselte. Danach kehrten wir in eine Schenke ein, wo wir uns im Schatten niederließen und über die Wirtschaft des römischen Reiches diskutierten. Daß ich von solchen Dingen nicht die leiseste Ahnung hatte, war für Salmonides ganz offensichtlich. Trotzdem war er geduldig mit mir. Er sagte:»Ihr habt eine seltene Eigenschaft, mein junger Herr, die ein scharfsinniger Mann wie ich auf Anhieb erkennt. Ihr besitzt eine schnelle Auffassungsgabe und seid gewandt im Umgang mit Zahlen. Seht selbst, mit welcher Leichtigkeit Ihr versteht, was ich Euch erkläre. Die meisten Menschen begreifen das nur langsam und langweilen sich dabei. Doch Ihr interessiert Euch für das, was ich sage, und könnt es leicht im Gedächtnis behalten. Ihr habt den falschen Beruf gewählt, mein junger Herr. Anstelle der Thora solltet Ihr besser den Geldhandel studieren. «So erzählte ich Salmonides, was nach der Nacht meiner Schande geschehen war, und es überraschte ihn, daß Eleasar so hart gegen mich gewesen war.

«Doch Ihr geht auch mit Euch selbst übermäßig hart ins Gericht. Welcher junge Mann verbringt nicht einmal im Leben eine solche Nacht? Und das nicht nur einmal, sondern oft. War denn Euer Verbrechen wirklich so groß — ein kleiner Rausch? Ihr solltet Rom besuchen, wenn Ihr einmal sehen wollt, was wirkliche Sünde ist.«

Doch ich hob abwehrend meine Hand.»Für Juden gelten andere Maßstäbe«, entgegnete ich,»denn wir sind Gottes auserwähltes Volk. Da wir dem Rest der Welt ein gutes Beispiel geben sollen, müssen wir eifrig darauf bedacht sein, das Gesetz zu befolgen. Was wären wir für ein Vorbild, wenn wir uns ebenfalls der Trunkenheit, der Unzucht und anderen schändlichen Taten hingeben würden?«

Ich wußte, daß Salmonides an meinen Worten zweifelte wie so viele Heiden, aber nur deshalb, weil sie noch nicht daran glauben, daß Gott uns zu den Erben der Welt erkoren hat. Im Laufe dieses Nachmittags gab ich Salmonides einhundert Zuzim und schloß einen weiteren Vertrag mit ihm. Diesmal ging es um den Ankauf einer Gerstenernte, die bald eingebracht werden sollte. Wäre die Ernte ertragreich, würde ich sie mit Gewinn verkaufen. Sollte sie sich dagegen als dürr erweisen, dann hätte ich mein Geld verloren. Aus diesem Grund gab ich ihm nur die Hälfte und sparte den anderen Teil für künftige Notlagen auf. An diesem Abend befragte ich Eleasar über die Sittlichkeit und Moral meines Gewinns.»Kann diese Art von Verdienst so ehrbar sein wie das Geld, das man mit seiner Hände Arbeit verdient?«fragte ich. Doch er erwiderte, daß ich ja auch arbeitete, wenn nicht mit meinen Händen, so doch mit meinem Geist. Das Geld hätte ich nicht auf unzulässige Weise verdient. Und ich hätte es auch nicht auf Kosten anderer Juden erworben. Aus diesen Gründen war mein Handeln in Eleasars Augen gerechtfertigt.

Am nächsten Morgen begab ich mich für eine Besorgung abermals in die Stadt. In den acht Monaten, die seit meiner Schmach vergangen waren, hatte ich nicht für einen Augenblick die Frau namens Miriam vergessen, die ich beim Brunnen getroffen hatte und die mich mit nach Hause genommen hatte, um mir Nahrung zu geben und Zuflucht zu gewähren. Vor acht Monaten hatte sie mich aus Frömmigkeit und Nächstenliebe mit einem vollen Bauch und einigen Münzen in der Tasche meiner Wege ziehen lassen. Sie hatte mich auch von dem Gedanken an einen Selbstmord abgebracht. Heute würde ich in ihr Haus zurückkehren und sie für ihre Güte belohnen. Sie erkannte mich sofort und forderte mich auf einzutreten. Eine der vielen Frauen, die in diesem Haus wohnten, wusch mir die Füße und gab mir Brot und Käse. Als ich meinem Erstaunen über diese Behandlung Ausdruck verlieh, meinte Miriam:»Wir heißen einen zurückkehrenden Bruder stets willkommen.«

«Bin ich Euer Bruder?«fragte ich sie. Und als Antwort küßte sie mich auf die Wange. Als ich ihr den Beutel mit fünfundzwanzig Zuzim überreichte, nahm sie ihn in aller Bescheidenheit entgegen und versicherte mir, das Geld werde der Speisung vieler zugute kommen.

«Habt Ihr eine so große Familie?«fragte ich. Sie erwiderte:»Alle, die auf die Rückkehr des Meisters warten, gehören zu meiner Familie.«

Als ich noch mehr wissen wollte, hielt sie mich zurück und bat mich, noch ein Weilchen zu bleiben. Denn in Kürze werde ein Mann kommen, der meine Fragen beantworten könne. Und so kam es, daß mein Leben zum vierten Mal eine Wende nahm. Ich wartete in Miriams Haus, bis ein Mann namens Simon heimkam.

Judy ließ die Blätter fallen und sah Ben an. Sie rührte sich nicht und gab keinen Laut von sich. Aber in ihren Augen drückte sich alles aus, was in ihr vorging.

«Wir können das wohl nicht vor der Presse bewahren, oder?«

«Wenn das erst mal durchgesickert ist.«

«O Gott!«rief Ben plötzlich aus.»Warum muß das sein? Warum mußte das herauskommen?«Ben sprang auf und ballte die Fäuste.»Ist dies Teil deines Plans, David? Siehst du nicht, wie sehr es mich quält?«

Ben verstummte und starrte auf die gegenüberliegende Wand. Er atmete schwer. In seinen Augen lag etwas, das an Wahnsinn grenzte, eine Mischung aus Verwirrung und Wut. Dann, nachdem er einen Augenblick die Wand angestiert hatte, ließ Ben plötzlich seinen Kopf auf die Brust fallen, so daß er in Gebetshaltung oder wie ein reuiger Sünder dastand.

Als er sich schließlich aufrichtete und sein Blick auf Judy fiel, sagte er mit dumpfer Stimme:»Ich kann ihn sehen. aber Sie können es nicht.«

Fassungslos starrte Judy ihn an.

«Ja, hier ist er wieder. David Ben Jona. Eigentlich war er schon eine ganze Weile hier, nur war ich mir dessen bis gestern nicht bewußt. Er zeigte sich nicht, bis er sicher sein konnte, daß ich verstünde, warum er hier ist.«

Judys Blicke glitten über die blanke Wand und versuchten, die Erscheinung ausfindig zu machen, die aber nur Ben Messer zu sehen vermochte.»Wie könnte es möglich sein, daß er.«

«Ich weiß nicht, Judy. Es ist mir noch immer nicht ganz klar. Alles, was ich weiß, ist, daß der Geist David Ben Jonas hier an meiner Seite ist und daß er aus irgendeinem Grund.«- seine Stimme klang plötzlich belegt —,»daß er aus irgendeinem Grund zurückgekommen ist, um mich heimzusuchen. «Judy sprang auf.»Aber warum sollte er?«

«Ich weiß nicht. «Bens Stimme wurde schwächer. Er sprach in einem matten, gleichbleibenden Ton.»Aus irgendeinem Grund will David, daß ich seine Geschichte kenne. Er will, daß ich erfahre, was ihm passiert ist. Vielleicht hat es etwas mit dem Fluch Mose zu tun. Vielleicht ist es, weil sein Sohn die Rollen niemals zu lesen bekam. Wie kann ich das wissen? Alles, was ich weiß, ist, daß seine Wahl auf mich fiel.«

O Ben, dachte Judy außer sich, es ist weder der Fluch noch Davids Sohn und auch nicht David selbst! Kannst du das nicht begreifen? Es ist deine eigene Vergangenheit, die dich verfolgt! Ben hielt Judys Blick eine schier endlose Weile stand. Er starrte durch die Stille wie hypnotisiert in ihre Augen. Verkehrslärm drang von der Straße herauf, eine Fahrradklingel läutete hell, kreischende Kinderstimmen ließen sich vernehmen. Aber weder Ben noch Judy nahmen diese Geräusche wahr, denn sie gehörten in eine andere Zeit und in eine andere Wirklichkeit.

Endlich meinte Ben mit weicher Stimme:»Sie glauben mir, nicht wahr?«

Sie hielt für eine Sekunde den Atem an, dann flüsterte sie:»Ja, ich glaube Ihnen.«

Er seufzte, als ob ihm eine schwere Last von den Schultern genommen worden wäre.

«Gott sei Dank, daß ich Sie hier bei mir habe«, seufzte er, als er auf die Couch sank. Jetzt ist mir klar, weshalb Sie hier sind, dachte er bei sich, als sie sich neben ihm niederließ. Sie sind hier, weil David wußte, daß ich Sie brauchen würde.

Während Judy versuchte, ruhig zu bleiben und sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen, hob sie die Blätter mit der Übersetzung auf und las ein paar Zeilen laut vor. Sie wollte Ben damit wieder zur Vernunft bringen und versuchen, den Zauberbann zu brechen.»Ich möchte wissen, was die Zeitungen schreiben werden, wenn sie das erfahren.«

«Nun«, erwiderte Ben mechanisch,»Miriam und Simon waren geläufige Namen im alten Israel. Nichts weist darauf hin, daß es sich bei ihnen um Maria und Petrus handeln könnte.«

«Aber der Kuß auf die Wange. Diese Art der Begrüßung war nur unter den frühen Christen üblich; andere Juden kannten sie nicht.«

«Ja. ich weiß. Die Paulusbriefe. Sie denken also, daß diese Miriam dieselbe Maria ist, deren Haus das Zentrum der Nazaräer Kirche in Jerusalem war? Die Mutter von Markus?«

«Warum nicht?«

«Weil es lächerlich ist. Um Gottes willen, die Schriftrollen eines Anhängers Jesu. «Ben fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.»Die Chancen, daß es nicht so ist, sind. nun. Ich will einfach nicht glauben, daß wir ein echtes christliches Dokument in Händen halten.«

Daß ich nicht lache, dachte Judy. Daran willst du nicht glauben, aber gleichzeitig bist du überzeugt, von einem Mann verfolgt zu werden, der seit zweitausend Jahren tot ist.

Forschend schaute sie in Bens Gesicht. Nein, der Zauber hatte von ihm Besitz ergriffen. Durch nichts ließe Ben sich da wieder herausreißen. Wo immer sich sein Geist auch festgesetzt hatte, dort wollte er auch bleiben, aus Gründen, die nur ihm selbst bekannt waren.»Wie wär’s, wenn ich jetzt die Suppe warm mache?«Ben antwortete nicht.

«Ben, warum sollte ich Professor Cox anlügen?«

«Weil ich nicht zum Unterricht gehen will, bis das hier vorbei ist. David läßt es nicht zu. Ich muß hier bleiben.«

«Ich verstehe.«

Es war ein beunruhigender Gedanke: Ben, der sich von der Welt abschottete, sich immer mehr zurückzog, bis er eines Tages nie mehr in die Gegenwart zurückgebracht werden konnte. Es schien beinahe so, als befürchtete er, daß die Berührung mit der Wirklichkeit den dünnen Faden zerreißen könnte, der ihn mit David verband.

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