Ein lautes, lästiges Klopfen drang an sein Ohr. Er bewegte seinen Kopf vorsichtig hin und her und merkte, daß er schrecklich schmerzte. Das Klopfen hielt noch eine kurze Weile an, dann hörte es auf, und es folgte ein rasselndes, klirrendes Geräusch. Ben stöhnte. Er fühlte sich elend.
Dann vernahm er das Klappen einer Tür. Leise Fußtritte näherten sich über den Teppich. Gleich darauf wurde er von einer Duftwolke eingehüllt, und eine sanfte Stimme fragte liebenswürdig:»Ben?«Er stöhnte lauter.
«Ben, Liebling! Fühlst du dich nicht wohl?«
Mühsam schlug er die Augen auf und erblickte Angie, die besorgt und liebevoll an seiner Seite kniete. Er versuchte zu sprechen, aber sein Mund fühlte sich trocken und pelzig an. Dann fragte er sich, warum er auf der Couch lag und warum sein Kopf wie rasend schmerzte.»Ich klopfte und klopfte und benutzte schließlich meinen eigenen Schlüssel. Ben, was ist los? Warum schläfst du in deinen Kleidern?«
Das erste, was er herausbrachte, war:»Hm?«, dann:»O Gott. «und schließlich:»Wieviel Uhr?«
«Es ist fast Mittag. Ich hab immer wieder versucht anzurufen, aber du hast nicht abgenommen. Bist du krank?«
Er sah sie nochmals wie durch einen Nebelschleier an, dann wurde sein Blick schärfer, und er rief aus:»Fast Mittag! O nein!«Mit einem Ruck saß er kerzengerade da.»Mein Unterricht!«
«Professor Cox rief mich heute morgen an und wollte wissen, wo du seist. Ich sagte ihm, daß du furchtbar krank bist und im
Bett liegst. Nun sehe ich, daß ich damit gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt war. Was ist geschehen?«
«Ich hatte für sie einen Text fix und fertig vorbereitet.«
«Er hat die Stunde ausfallen lassen. Ist schon in Ordnung.«
«Aber ich habe sie auch letzten Donnerstag verpaßt. Ich muß mich wirklich zusammenreißen. «Er schwang seine Füße über den Couchrand und faßte sich mit beiden Händen an den Kopf.»Menschenskind, fühl ich mich hundeelend! Machst du mir einen Kaffee?«
«Aber klar doch. «Der Blumenduft verflog, als Angie in die Küche ging.»Was ist dir denn passiert, Schatz?«
«Ich habe letzte Nacht die ganze Rolle übersetzt und dann. und dann. «Ben rieb sich die Augen. Und dann was? Was stimmte nicht mit ihm? Warum konnte er sich nicht daran erinnern, was passiert war, nachdem er die Rolle beendet hatte? Warum gab es für die Stunden zwischen dem Übersetzen der Rolle und dem Moment, als Angie ihn auf der Couch gefunden hatte, einen weißen Fleck in seinem Gedächtnis?» Gott.«, murmelte er.»Ich fühle mich schrecklich. Was um alles in der Welt ist gestern denn in mich gefahren?«Und zu Angie gewandt, meinte er lauter:»Ich muß wohl todmüde gewesen sein, schätze ich.«
Dann ging er ins Badezimmer, wo er kalt duschte. Nachdem er sich frische Sachen angezogen hatte, fühlte er sich etwas besser, doch der seltsame Gedächtnisverlust beschäftigte ihn die ganze Zeit. Er erinnerte sich nur an den unheimlichen Zwang, der ihn trotz seiner extremen Müdigkeit genötigt hatte, weiterzuarbeiten, bis er sich vor Erschöpfung auf die Couch gelegt hatte und eingeschlafen war. Angie saß am Frühstückstisch vor dem dampfenden Kaffee, der schon eingeschenkt war, und beobachtete ihn, als er auf sie zuging.»Tut mir leid, daß ich dir Sorgen gemacht habe, Angie. Gewöhnlich schlafe ich nicht so fest.«
«Das weiß ich. Hier, trink ihn schwarz. Sag mal, Ben, warum hast du gerade eben gehinkt? Hast du dich am Bein verletzt?«Er blickte sie leicht verwundert an.»Warum, Angie, ich habe doch immer gehinkt. Das wußtest du doch. «Seine Miene verfinsterte sich.»Seit jenem Bootsunglück auf dem See.«
Sie starrte ihn einen Moment fassungslos an, zuckte dann die Achseln und meinte:»Wie dem auch sei, ich habe eine großartige Idee. Laß uns eine Fahrt die Küste entlang machen. Ich habe heute keinen Termin, und es ist ein herrlicher Tag.«
Unwillkürlich wandte er seinen Kopf dem Schreibtisch zu, wo die Arbeit der letzten Nacht lag, als hätte ein Orkan darin gewütet. Wieder kamen ihm Erinnerungen an die unheimliche Stimmung, die ihn während des Übersetzens überwältigt hatte. Das unerwartete Echo der Stimme seiner Mutter, die Worte sprach, die ihm einst so vertraut gewesen waren, die er aber schon lange vergessen hatte. Jonas’ Lebensmotto: der erste Psalm.»Das finde ich nicht.«
«Ich bin gestern nacht bis um zwei Uhr aufgeblieben und habe auf dich gewartet.«
Er antwortete nicht und starrte unverwandt auf seinen Schreibtisch. Angie streichelte seine Hände mit ihren langen, kühlen Fingern.»Du arbeitest zu hart. Komm schon, laß uns einen Ausflug machen. Das hat dir doch immer gefallen. Es entspannt dich.«
«Nicht heute. Ich will mich nicht entspannen. «Ben warf einen raschen Blick auf die Uhr.»In zwei Stunden kommt die Post. Ich will dann hier sein.«
«Wir werden rechtzeitig zurück sein.«
«Angie«, erwiderte er, wobei er aufstand und den Kaffee unberührt stehen ließ,»du verstehst das nicht. Ich kann im Moment nicht von meiner Arbeit fort.«
«Warum nicht? Hast du nicht gesagt, du hättest es fertigübersetzt?«
«Ja schon, aber. «Aber was? Was konnte er ihr erzählen? Wie konnte er ihr diesen plötzlichen Zwang erklären, bei den Schriftrollen zu verharren, Davids Worte immer und immer wieder zu lesen, und dazu die wachsende Spannung, mit der er die nächste Schriftrolle erwartete.»Es ist nur, daß.«
«Los, Ben, komm schon.«
«Nein, du verstehst nicht.«
«Nun, dann sag es mir doch, vielleicht verstehe ich hinterher.«
«Ach, komm, Angie! Du hast mich ja nicht einmal gefragt, was in der zweiten Rolle stand! Himmel, so etwas Phantastisches, und du interessierst dich nicht einmal dafür!«Sie starrte ihn verblüfft an und schwieg.
Ben bereute es sofort. Er steckte seine Hände in die Hosentaschen und blickte zerknirscht zu Boden.»O Angie«, stammelte er. Sofort war sie auf den Beinen und schlang ihre Arme um ihn. Er erwiderte die Umarmung, und sie standen eine Weile so da.»Ist schon gut«, murmelte sie sanft,»ist schon gut. Ich kann es eben nicht verstehen.«
Ihr Körper, der sich an ihn drängte, überbrachte ihm die Botschaft deutlicher als ihre Worte. Ben küßte ihren Mund, ihre Wangen und ihren Hals hastig und heftig, als ob er Angie aus Verzweiflung liebte. Er drückte sie so fest an sich, daß sie nicht mehr atmen konnte, und verhielt sich wie ein Mann, der von blinden Bedürfnissen getrieben wird.
Plötzlich und wie zum Spott klingelte das Telefon.»Verdammt«, brummte Ben.»Rühr dich nicht von der Stelle, Angie. Wer immer es ist, ich werde ihn schon los.«
Sie lächelte verträumt und schlenderte zur Couch, wo sie sich hinlegte. Sie schleuderte ihre Schuhe von sich und begann, sich das Kleid aufzuknöpfen.
Es war eine schlechte Überseeverbindung mit vielen Störgeräuschen in der Leitung, doch die Stimme am anderen Ende war ganz unverkennbar die von John Weatherby.
«Ich kann dir gar nicht beschreiben, was für eine Aufregung dein Telegramm im Lager auslöste!«brüllte er in die Leitung.»Drei Stunden nach deiner Nachricht traf ein Telegramm von Dave Marshall aus London ein. Wir stimmen alle überein, Ben. Das Jahr siebzig! Wir köpften eine Flasche Sekt und feierten! Du hast das hoffentlich auch getan. Hör zu, Ben, ich habe eine große Neuigkeit für dich. Wir haben vier weitere Tonkrüge gefunden!«
«Was!«Ben spürte, wie er weiche Knie bekam.»Noch vier weitere! O Gott!«
«Hast du Rolle vier schon erhalten? Ich habe sie letzten Sonntag abgeschickt. Ich habe dir ja schon gesagt, daß Nummer drei hoffnungslos zerstört ist. Ein einziger Teerklumpen. Nummer vier ist schlecht, aber immer noch leserlich. Ben, bist du noch dran?«Vier weitere Tonkrüge, dachte er verstört. So hatte David Ben Jona Zeit gehabt, noch mehr zu schreiben!
«John, das kann doch nicht wahr sein! Es ist zu aufregend, um es in Worte zu fassen!«
«Wem sagst du das! Wir haben erfahren, daß das ganze Ausgrabungsfeld von Menschen wimmelt. Einige der einflußreichsten Männer Israels sind gekommen, um die Stelle zu besichtigen. Ben, das könnte die Entdeckung unseres Lebens werden!«
«Sie ist es bereits, John!«Ben merkte, daß er in den Hörer brüllte. Er war quicklebendig, sein Körper energiegeladen. Es war ein neues >Hochgefühl<, das er nie zuvor erlebt hatte.»Schick mir diese Rollen auch zu, John!«
«Und Ben, du kannst dir nicht vorstellen, welche Aufregung im Camp herrschte! Wir hatten Ärger mit den hiesigen
Arbeitern. Als sie von dem Fluch Mose hörten, nahmen sie alle mitten in der Nacht Reißaus. Wir mußten eine neue Mannschaft aus Jerusalem anheuern.«
«Der Fluch Mose.«, begann Ben, doch die Stimme versagte ihm. In der Leitung knackte und rauschte es.»Ich muß zur Grabungsstelle zurück, Ben. Ich bin nur nach Jerusalem gekommen, um dich anzurufen und die neuen Fotos abzuschicken. Diesmal gute. «Als er aufgelegt hatte, merkte Ben, daß er vor Erregung zitterte. Sein Herz pochte zum Zerspringen. In seinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander.
Der Fluch Mose, wiederholte er still ein übers andere Mal. Der Gedanke ließ ihn nicht mehr los und hinterließ einen sonderbaren Geschmack in seinem Mund. Irgendwie erschien Davids Fluch jetzt nicht mehr seltsam und belustigend, obgleich Ben ihn einmal belächelt hatte. Aus irgendeinem Grund kam ihm der Fluch Mose plötzlich alles andere als komisch vor.»Ben? War das Dr. Weatherby?«
Warum ein Fluch, David, und warum ein so furchtbarer? Was hast du nur in deinen Rollen geschrieben, das so kostbar und bedeutungsvoll ist, daß es dich bewog, sie mit dem mächtigsten Zauber zu belegen, damit sie sicher bewahrt würden?» Ben?«
Der Herr wird dich mit einer schlimmen Feuersbrunst heimsuchen, dich mit Wahnsinn und Blindheit schlagen und dich mit Grind und Krätze verfolgen.»Ben!«
Er blickte Angie geistesabwesend an. Sie war nun wieder vollständig angezogen und hielt ihre Tasche in der Hand.
«Ich kann jetzt jede Minute eine neue Rolle bekommen«, sagte er.»Es wird die Titelseiten mit Schlagzeilen füllen. Ich weiß nicht, wie lange Weatherby noch alles unter Kontrolle haben wird, besonders wenn sich erst einmal die Nachricht von dem Fluch verbreitet.«»Nun, ich bin im Weg, und ich habe dir ja versprochen, dich nicht zu stören. Deshalb mache ich mich jetzt einfach davon. Ben?«
«Vielleicht komme ich heute abend vorbei.«
«Natürlich. «Sie küßte ihn auf die Wange und ging.
Ben verschwendete keine Zeit damit, das Durcheinander auf seinem Schreibtisch zu beseitigen und alles für die nächste Rolle vorzubereiten. Er fühlte sich so energiegeladen, daß er es in seiner Wohnung nicht mehr aushielt und sofort zur Universität fuhr. Dort erklärte er Professor Cox die Umstände seiner Krankheit, die zum zweimaligen Ausfall des Unterrichts in Manuskriptdeutung geführt hatten. Er versicherte ihm, daß es nicht noch einmal vorkommen würde.
Schließlich ging Ben in sein Büro, erledigte ein paar dringende Schreibarbeiten und eilte dann über den Campus zu dem Platz, wo er sein Auto geparkt hatte. Vor dem Gebäude der Studentenvereinigung stieß er mit Judy Golden zusammen.»Hallo, Dr. Messer«, begrüßte sie ihn mit einem Lächeln.»Hallo. «Nur aus Höflichkeit blieb er stehen, obwohl er eigentlich schnell nach Hause wollte.»Unterricht heute?«
«Nein. Ich bin gekommen, um in der Bibliothek ein paar Nachforschungen anzustellen. «Sie hielt ein Buch hoch, damit er den Titel lesen konnte.
«Koptische Auslegung«, las er,»klingt aufregend.«
«Nicht wirklich. An kalten Abenden ziehe ich es eigentlich vor, mich mit einem Krimi in mein Zimmer zu verkriechen. «Sie zuckte die Achseln.
«Na, hoffentlich hilft es Ihnen bei dem, was Sie wissen wollen. «Er versuchte, unauffällig seinen Weg fortzusetzen.»Ich habe heute morgen in Ihrer Manuskriptstunde vorbeigeschaut, aber sie war ausgefallen.«
«Ja.«
«Ich dachte, Sie hätten vielleicht diesen Kodex mitgebracht. «Judy zögerte erwartungsvoll.»Aber ich vermute, es ist doch nicht so.«
«Nein, das habe ich völlig vergessen. «Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben.»Ich versuche, morgen daran zu denken. Ich habe in letzter Zeit viel um die Ohren.«
«Oh, natürlich. «Sie schien plötzlich verlegen zu sein. Sie preßte ihre Bücher noch fester an ihre Brust und meinte mit einem kurzen Lachen:»Ich will ja nicht aufdringlich sein. «Das bist du aber, verdammt noch mal, dachte er bei sich.»Es besteht für mich keine dringende Notwendigkeit, ihn sofort zu sehen. Es ist einfach nur. na ja, für mich ist es eben wahnsinnig aufregend. der bloße Gedanke, ein koptisches Manuskript zu sehen, das noch nicht übersetzt worden ist. ich meine, das noch nicht in irgendeinem Buch erschienen ist. Es kommt mir vor, als ob ich in ein besonderes Geheimnis eingeweiht würde. Das muß sich für Sie total überdreht anhören.«
Er versuchte, ihr Lächeln zu erwidern. Einen Augenblick lang fühlte er sich ein wenig an seine eigenen College-Tage erinnert und daran, wie sehr ihn damals die Fragmente alter Schriftrollen in Aufregung versetzt hatten. Seine Freunde — Biologie- und Mathestudenten — hatten ihn als total vergeistigten Intellektuellen bezeichnet.»Ich werde nie daran denken, es mitzubringen«, gestand er ihr schließlich,»wenn ich mich schon nicht einmal daran erinnern kann, daß ich morgens Unterricht habe.«
«Was?«
«Sollte nur ein Scherz gewesen sein. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. «Er zog einen kleinen Spiralblock aus der Tasche, notierte seine Adresse und gab Judy den Zettel.»Würde es Ihnen etwas ausmachen, irgendwann einmal bei mir vorbeizuschauen, um ihn abzuholen? Dann würde ich Ihnen den Kodex und meine bisherige Übersetzung mitgeben, und Sie könnten beides eine Woche lang behalten. Hätten Sie etwas dagegen?«
«Ob ich etwas dagegen hätte?«
Ben konnte sich in ihre Lage einfühlen. Hätte er etwas dagegen, noch eine Schriftrolle aus Magdala zu bekommen?» Ich meine, in meiner Wohnung vorbeizuschauen. Wenn es Ihnen etwas ausmacht, muß ich eben versuchen, mich daran zu erinnern, den Kodex mit an die Uni zu bringen.«
«Nein, das ist schon in Ordnung. Wann wäre es Ihnen recht?«
«Ich bin abends meistens zu Hause.«
«Also dann, vielen Dank.«
«Keine Ursache. Auf Wiedersehen.«
Ben war froh, daß er sie endlich losgeworden war und seinen Heimweg fortsetzen konnte. Judy Golden war eine Schwärmerin, die er zur Zeit nur schwer ertragen konnte. Vielleicht lag es daran, daß da zwei überschwengliche Menschen zusammenprallten, die voller Energie waren. Um für so etwas empfänglich zu sein, mußte man neutral sein, und das war er im Augenblick wirklich nicht.
Der Briefkasten war leer.
Ben meinte, er müsse auf der Stelle sterben. Der Kasten war leer, und der Briefträger war schon dagewesen.
Angie würde sagen:»Das Leben ist gemein«, aber alles, was Ben tun konnte, war, auf dem ganzen Weg die Treppe hinauf» Verdammt, verdammt, verdammt «zu murmeln. In seiner Wohnung wußte er nichts mit sich anzufangen. Schallplatten halfen nicht. Der Wein schmeckte schal. Und Appetit hatte er auch nicht. So lief er mit großen Schritten auf und ab.
Eine Stunde später, um Punkt sieben Uhr, klopfte Judy Golden an seine Tür, und Ben, der damit rechnete, Angie vor sich zu sehen, riß sie schwungvoll auf.
«Hallo«, sagte das Mädchen. Sie hatte noch immer Blue Jeans und Sandalen an, trug jetzt aber einen groben Pullover über ihrem T-Shirt.»Sie werden sicher sagen, daß ich keine Zeit verliere.«
«Sie verlieren keine Zeit.«
«Störe ich Sie?«
«Nein, gar nicht. Kommen Sie einen Moment herein, und ich werde den Kodex holen. Falls ich mich daran erinnern kann, wo ich ihn hingelegt habe.«
Er verschwand im Arbeitszimmer, während Judy zunächst stehenblieb und sich mit großen Augen in der Wohnung umschaute. Das einzige Licht kam von der Straßenbeleuchtung, die durch die Vorhänge schien. Sie folgte Ben ins Arbeitszimmer. Er wühlte zwischen seinen Bücherstapeln.»Irgendwo muß doch das verdammte Ding sein!«
Judy lächelte und schlenderte zum Schreibtisch.»Ich bin genauso. Ich springe auch von einem Vorhaben zum nächsten. Dabei liegt es bestimmt nicht daran, daß ich mich nicht lange auf eine Sache konzentrieren könnte.«
Während er weiter herumsuchte, fiel Judys Blick zufällig auf die Fotos, die auf dem Tisch verstreut lagen, und ohne auch nur nachzudenken, las sie die gesamte zweite und dritte. Aufnahme der ersten Schriftrolle. Sie trat näher heran und murmelte die Überschrift: »Baruch Attah Adonai Elohenu Melech ha-Olam.« Als sie merkte, daß keines der anderen Fotos in Hebräisch war, sondern in Aramäisch, einer Sprache, die sie erkannte, aber selbst nicht beherrschte, runzelte sie heftig die Stirn.»Das sind interessante Fotografien, Dr. Messer.«
«Aha!«Unter einem schweren Buch zog er einen Umschlag hervor.»Ich wußte doch, daß er hier irgendwo herumliegen mußte. Hier sind der Kodex und meine Aufzeichnungen. Was?
Oh, die Fotos. «Er schaute auf sie hinunter.»Ja. die sind etwas ganz Besonderes.«
«Darf ich fragen, was das ist? Sie sehen faszinierend aus.«
«Faszinierend ist der richtige Ausdruck, ja. «Er lachte kurz auf und reichte ihr den Kodex.»Sie sind alte Schriftrollen, die ich gerade übersetze.«
«Oh. Sie sehen aber gar nicht aus wie herkömmliche Schriftrollen. Aber ich könnte mich natürlich täuschen.«
«Warum? Wissen Sie etwas über alte Schriftrollen?«
«Nur das, was ich darüber in meinem Hauptfach mitkriege. Das zweite und dritte Foto kann ich lesen, weil sie in Hebräisch sind. Wovon handeln die anderen Fotos? Sind sie alle Gebete wie dieses hier?«
«Nein.«, erwiderte er langsam,»nein, das sind sie nicht. Sie sind mehr wie. hm, ich kann gar nicht richtig erklären, was sie eigentlich sind.«
«Nein, ich bin sicher, ich habe sie nie zuvor gesehen.«
«Tja«, meinte er, und sein Mund verzog sich zu einem Lächeln,»das liegt daran, weil sie vorher noch niemand gesehen hat. Zumindest nicht in den letzten tausendneunhundert Jahren. «Judy schaute ihn verwundert an, während ihr die Bedeutung seiner Worte langsam bewußt wurde, und als sie wieder zu sich kam, flüsterte sie:»Meinen Sie etwa, sie sind gerade gefunden worden?«
«Allerdings.«
Ihre Augen weiteten sich.»In Israel?«
«In. Israel.«
Judy schöpfte tief Atem, und stieß dann hervor:»Dr. Messer!«
«Nun ja, es ist ein ziemlich interessanter Fund. «Ben versuchte, ruhig zu bleiben. Judy wurde aufgeregt, er konnte es sehen, konnte es fühlen. Ihre Augen wurden immer größer, und ihre Stimme klang belegt. Ihre Reaktion stachelte Ben nur noch mehr an.»Aber ich habe nichts darüber gehört!«
«Es ist noch nicht in den Nachrichten. Die Rollen wurden erst vor einigen Wochen gefunden, und die Entdeckung wird noch streng geheimgehalten.«
Judy wandte sich den Fotografien zu. Der alexandrinische Kodex, den sie noch immer in der Hand hielt, war plötzlich bedeutungslos geworden. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht rührte Ben, denn er offenbarte die Gedanken der jungen Frau, ihre Ergriffenheit über das, was er gerade gesagt hatte, und ihre Empfindungen stimmten auf bemerkenswerte Weise mit seinen überein.
«Sagen Sie«, meinte er, einem plötzlichen Antrieb folgend,»möchten Sie sie lesen? Das heißt meine Übersetzung?«Sie schaute ungläubig zu ihm auf.»Darf ich?«
«Gewiß. Es ist noch immer so etwas wie ein Geheimnis, wenn Sie verstehen, was ich meine, aber ich denke, es wird schon in Ordnung sein, wenn Sie. «Ben war sich nicht sicher, ob aus seinem Mund Worte kamen, die er wirklich sagen wollte. Und während er Judy mit dem Schmierheft, in das er seine Rohübersetzung schrieb, ins Wohnzimmer führte, bedauerte er gleichzeitig seine Unbesonnenheit. Da gab es einige unter seinen Kollegen, andere Professoren und Spezialisten auf diesem Gebiet, die vielleicht Judys Dozenten waren. Sie konnte ihnen gegenüber etwas erwähnen.
Ihr Gesicht verriet nichts, als sie mit übergeschlagenen Beinen auf der Couch saß und seine Übersetzung las. Sie las die Seiten ohne aufzublicken, wobei sich ihr Gesichtsausdruck nicht einmal änderte. Ihr Atem ging langsam und flach. Sie hatte den Kopf über das Heft geneigt, wodurch ihr das lange, schwarze Haar nach vorne über die Schultern fiel.
So, dachte er, als er sie beobachtete, sie ist wohl gar nicht beeindruckt.
Doch als Judy Golden endlich von dem Heft aufsah, drückten ihre Augen alles aus, was ihr Gesicht nicht verraten hatte.»Das hier läßt sich nicht mit Worten beschreiben«, meinte sie leise.»Allerdings. «Er lachte gezwungen.»Ich weiß, was Sie meinen. «Falls Ben jemals der kühle, sachliche Wissenschaftler im Umgang mit Schriftrollen gewesen war, so war er jetzt das genaue Gegenteil. Irgend etwas an Judy Golden ließ ihn an seiner Gelassenheit zweifeln. Sie reagierte so ganz und gar nicht wie Angie — Angie, die eine Schriftrolle nehmen oder liegenlassen konnte. Nein, dieses Mädchen mit dem Stern Zions um den Hals war genauso wie Ben. Er bedauerte es nicht länger, ihr die Rollen gezeigt zu haben.»Lassen Sie mich Ihnen von dem Ort erzählen, wo sie gefunden wurden. «Ben beschrieb kurz die Ausgrabungsstätte in Khirbet Migdal, berichtete von John Weatherbys Suche nach einer alten Synagoge und schließlich von der zufälligen Entdeckung der» Bibliothek«.»Wertvolle Schriftrollen in Tonkrügen zu lagern war, wie Sie wissen, eine gängige Praxis im alten Israel. Nur waren die bis heute gefundenen alle religiösen Inhalts. Offensichtlich betrachtete David Ben Jona seine Schriftrollen als ebenso wichtig wie irgendwelche heiligen Schriften.«
«Natürlich! Schließlich wollte er ja unbedingt, daß sein Sohn sie zu lesen bekäme. «Sie starrte vor sich hin.»Ich frage mich, warum.«
«Ich auch.«
«Es macht mich traurig.«
«Was?«
«Daß Davids Sohn sie niemals fand.«
Ben schaute Judy Golden erstaunt an. Ihr rundes Gesicht wirkte im Licht der einzigen Lampe blaß, ihr Haar so viel dunkler und voller.»Daran hatte ich noch gar nicht gedacht, aber Sie haben wahrscheinlich recht. Zwei der Tonkrüge — die beiden unversehrtesten — trugen an der Stelle, an der sie versiegelt worden waren, sein Zeichen. Das bedeutet, daß sie nicht geöffnet worden sind. Außerdem: Wenn sein Sohn sie gelesen hätte, dann hätte er sie ja wohl nicht wieder versiegelt und vergraben, oder? Ich schätze, Sie haben recht. Sein Sohn. die einzige Person, der er sich so dringend mitteilen wollte. vor dem er seine Beichte ablegen wollte.«
«Es ist traurig. Wir sind nicht die Menschen, für die er sie bestimmt hatte.«
Ben stand unvermittelt auf, drehte eine Runde im Zimmer und schaltete mehr Lampen an, so daß der Raum jetzt mit Helligkeit durchflutet wurde. Wie dumm es doch war, sich von einem Drama rühren zu lassen, das schon vor zweitausend Jahren zu Ende gegangen war. Was nutzte es, sich für jemanden zu grämen, der schon seit zwanzig Jahrhunderten tot war?» Möchten Sie einen Kaffee?«Aber warum hat dein Sohn die Rollen nicht bekommen, David? Was ist ihm widerfahren?
«Es ist nur löslicher Kaffee.«
«Ich bin an löslichen gewöhnt, danke.«
Mein Gott, David, war es dir im letzten Moment, bevor du deine Augen für immer geschlossen hast, bewußt, daß dein Sohn die Rollen niemals lesen würde? Und bist du im Bewußtsein gestorben, daß alles vergeblich gewesen war?
Er ging mechanisch in der Küche umher — ließ Wasser laufen, schaltete das Heißwassergerät ein, löffelte Kaffee in die Tassen —, und als er wieder ins Arbeitszimmer trat, fand er Judy von neuem in die Übersetzungen vertieft.
Ben setzte die Tassen zusammen mit Löffeln, Kaffeesahne und Zucker auf der Glasplatte des Kaffeetischchens ab.
Nein, dachte er betrübt, wir sind nicht diejenigen, die dies lesen sollten, sondern dein Sohn, wer immer er war und was auch immer mit ihm geschehen ist.
«Ich vermute, meine Handschrift ist ziemlich schlecht«, hörte er sich selbst sagen.»Es geht schon.«
«Ich wünschte, ich könnte Schreibmaschine schreiben. Ich habe es nie gelernt. Ich weiß nicht, wie ich John Weatherby das alles schicken soll.«
«Ich würde es gern für Sie tippen, Dr. Messer. Es wäre mir wirklich eine Freude.«
Er sah den Stolz in ihren tiefbraunen Augen, ihre Unbefangenheit und Aufrichtigkeit und schenkte ihr ein Lächeln. Anders als ihre zufällige Begegnung am Nachmittag war dieses Zusammensein mit Judy Golden recht angenehm. Ben stellte überrascht fest, daß er mit ihr offen über die Schriftrollen sprechen konnte.»Und bedenken Sie den Zeitraum«, fing sie an,»zwischen vierunddreißig und siebzig nach unserer Zeitrechnung! Über was für einen wichtigen historischen Fund Dr. Weatherby da gestolpert ist! Was wohl in den übrigen Rollen noch stehen mag?«Sie schaute auf das Gekritzel auf Bens Notizblätter.»Aber ich frage mich.«
«Was?«
«Ich frage mich, wie er wissen konnte, daß er sterben würde. Ich meine, er scheint ja nicht im Gefängnis zu sein. Ich frage mich, ob er krank ist. Oder glauben Sie. «Sie blickte zu ihm auf.»Könnte er Selbstmord geplant haben?«
Ben schloß seine Augen. O David, war dein Verbrechen so schlimm?
«Dies hier ist interessant. Ich möchte wissen, was es heißt. «Er schlug die Augen auf. Sie deutete auf die untere Hälfte der Seite.
«>. unser Herr an den Toren Jerusalems. <«
«Und hier: >du wirst das Antlitz deines Vaters erblicken<.Dr. Messer, ist es anzunehmen, daß David auf den Messias wartete?«»Schon möglich. «Ben warf einen Blick auf seine Handschrift.»Hätte er vielleicht sogar ein.«
«Sprechen Sie es nicht aus.«
«Warum nicht?«
«Weil es kitschig ist.«
«Warum wäre es kitschig, wenn David ein Christ gewesen wäre?«
«Weil die Chancen dafür einfach zu niedrig sind. Sie wissen doch selbst, daß das erste Jahrhundert von aufkeimenden neuen Religionen und den sonderbarsten Sekten nur so wimmelte. Jesus war zu jener Zeit nicht der einzige, der eine fanatische Jüngerschaft an sich zog. Nur weil er heute von Millionen verehrt wird, heißt das noch lange nicht, daß es damals genauso war.«
«Aber immerhin war David ein Jude, der in Jerusalem lebte.«
«In einer Stadt mit einigen hunderttausend Einwohnern gab es zu dieser Zeit mindestens hundert Sekten. Die Chancen, einen Rechabiten, einen Essener oder einen Zeloten vor sich zu haben, sind genauso groß, wenn nicht größer.«
Judy zuckte die Schulter und las weiter.»Hier ist eine Übereinstimmung. Er ist ein Mitglied aus dem Stamm Benjamins.«
«So?«
Judy hob den Kopf.»Sind Sie nicht ebenfalls Benjaminit?«
«Ich denke nicht, daß meine Familie je wußte, welchem Stamm sie angehörte. Ich glaube, der Vorname Benjamin stammt von einem Onkel, nach dem ich benannt wurde.«
Sie saßen noch eine Weile schweigend da und nippten an ihrem Kaffee, bis Judy schließlich mit einem Blick auf ihre Armbanduhr sagte:»Ich sollte jetzt besser gehen, Dr. Messer.«
Sie erhoben sich und standen sich ein wenig verlegen gegenüber, obgleich keiner von beiden wußte, warum. Ben schaute auf Judy herab und hatte das Gefühl, ihr in dieser
Stunde ganz nah gewesen zu sein, ihr sehr persönliche Dinge gezeigt und etwas mit ihr geteilt zu haben, das er mit niemand anderem teilen konnte. Und der Gedanke daran ließ plötzlich etwas Unbehagen in ihm aufkommen. Als sie zur Tür gingen, sagte sie:»Lassen Sie es mich wissen, falls ich die Tipparbeit für Sie übernehmen soll.«
«Ich werde es nicht vergessen.«
Als er die Tür aufmachte, blieb sie nochmals stehen und blickte mit einem schwachen Lächeln zu ihm auf.»Werden Sie es mir sagen, wenn Sie eine neue Rolle aus Israel bekommen?«
«Natürlich. Sofort, wenn ich sie erhalte.«
Mit diesem Versprechen gingen sie auseinander. Ben schloß hinter ihr die Tür, während er ihre Fußtritte unten im Flur verklingen hörte.
Spontan beschloß er, zu Angie zu gehen und dort die Nacht zu verbringen. Schließlich gab es an diesem Abend ohnehin nichts mehr zu tun, und die Wohnung kam ihm jetzt irgendwie kalt und leer vor. Ben stellte etwas Katzenfutter für Poppäa bereit, die sich für die Dauer des Besuchs zurückgezogen hatte. Dann ging er umher und löschte alle Lichter.
Als sein Blick auf den Schreibtisch fiel, stellte er fest, daß Judy den Kodex vergessen hatte.
Er war eben dabei, den Motor in der Tiefgarage warmlaufen zu lassen, als ein Nachbar — der alleinstehende Berufsmusiker, der eine Tür weiter wohnte — plötzlich vor ihm auftauchte. Er fuchtelte aufgeregt mit den Armen und kam dann zum Fenster auf der Fahrerseite.»Hallo, Nachbar«, grüßte er, während er sich zu Ben herunterbeugte,»wie geht’s, wie steht’s?«
«Alles in Ordnung. Ich hab Sie in letzter Zeit gar nicht mehr gesehen.«
«Ich war auch nicht da. Ich bin erst heute morgen zurückgekommen. Hören Sie, ich war gerade auf dem Sprung, als ich Sie hier sah, und da sagte ich mir, jetzt mußt du die
Gelegenheit beim Schopf fassen. «Er kramte in seiner Jackentasche und zog einen kleinen gelben Zettel daraus hervor.»Das habe ich heute abend in meinem Briefkasten gefunden. Der Briefträger hat es wohl versehentlich hineingesteckt. Es ist für Sie.«
«Oh. «Ben nahm den Zettel und betrachtete ihn.»Ich dachte, es könnte ja wichtig sein«, fuhr der Nachbar fort.»Der Briefträger muß heute nachmittag mit einem Einschreiben vorbeigekommen sein, und Sie waren nicht zu Hause. Auf dem Zettel steht, Sie können es morgen zwischen neun und fünf auf der Post abholen.«
«Ja, haben Sie vielen Dank.«
«Nichts zu danken. «Der Musiker richtete sich auf, winkte beiläufig und schlenderte fort.
Ben starrte auf den Absender, der auf dem gelben Streifen angegeben war.
Jerusalem.