Kapitel Fünfzehn

Die Tage, die bis zum Eintreffen von Nummer elf vergingen, waren für Ben und Judy eine schier unerträgliche Zeit. Judy hatte eine halbe Stunde gebraucht, um nach Hause zu hetzen, ein paar Dinge zusammenzupacken, Bruno der Obhut eines Nachbarn anzuvertrauen und wieder zurückzueilen. Hatte die Nachricht vom Ende der Rollen Ben fast zusammenbrechen lassen, so brachte ihn die Neuigkeit von drei weiteren Rollen nun völlig aus dem Gleichgewicht. Sie erlebte mit, wie er beständig zwischen drei Zeitebenen hin- und hersprang. Für einen Augenblick war er in der Gegenwart ganz normal und gesprächig; im nächsten Moment befand er sich wieder als armer, gequälter Junge in Brooklyn, und gleich darauf genoß er als David Ben Jona unter einem Olivenbaum eine Mahlzeit aus getrocknetem Fisch und Käse. Dann kam er wieder in die Gegenwart zurück und konnte sich nicht mehr erinnern, was in den letzten Minuten geschehen war.»Ich habe keine Kontrolle darüber!«schrie er an diesem Abend verzweifelt.»Ich kann es nicht bekämpfen. Wenn David von mir Besitz ergreift, läßt er mich das sehen, was er will!«

Und wenn Ben in diesen Zustand geriet, nahm Judy ihn in die Arme und wiegte ihn, bis er ruhig wurde.

An diesem Abend löste sie eine Schlaftablette in etwas warmem Wein auf und verhalf ihm damit zum ersten erholsamen Schlaf seit vielen Tagen. Nachdem er in seinem Bett fest eingeschlafen war und mit friedlichem Gesicht und ruhig atmend dalag, machte sie sich mit einem Kopfkissen und einer Decke ein Lager auf der Couch zurecht und lag noch lange wach, bevor sie ebenfalls einschlief.

Am nächsten Morgen, nach einer traumlosen Nacht, schien es Ben schon wesentlich besser zu gehen. Er duschte, rasierte sich und zog frische Kleider an. Obgleich er nach außen hin fröhlich schien, bemerkte Judy darunter die Anzeichen der Unruhe — ruckartige Handbewegungen, rasche, flüchtige Blicke, ein gezwungenes, nervöses Lachen. Sie wußte, daß Ben begierig war, die nächste Rolle zu bekommen, und sie war sich auch darüber im klaren, daß seine Unruhe mit jedem Tag zunehmen würde.

Sie spürte es auch. Eine weitere Rolle. ja sogar drei weitere Schriftrollen! So wären diese drei Rollen diejenigen, welche die unbeschriebenen sechzehn Jahre ausfüllen würden. Sie würden von der Entwicklung der Messias-Bewegung berichten und die schändliche Tat enthüllen, die David begangen hatte und für die er sterben sollte. Auch Judy sehnte die Ankunft der Rolle herbei und hoffte verzweifelt, daß alles vorüber wäre, bevor Ben den letzten Rest seines gesunden Menschenverstandes einbüßte.

Am Sonntag gelang es ihr, ihn abzulenken, indem sie ihn in Diskussionen verwickelte und noch einmal seine bisherigen Übersetzungen mit ihm durchging. Stundenlang saß er da und starrte auf die aramäische Schrift auf dem Papyrus, und Judy wußte, daß er zweitausend Jahre von ihr entfernt weilte und gerade einen ruhigen Tag im Leben von David Ben Jona verlebte. Sie unternahm nicht einmal den Versuch, ihn aus dieser Welt zu reißen, denn er schien mit sich selbst im reinen und vollkommen zufrieden. Sie kam zu dem Schluß, daß es im Augenblick besser war, ihn Davids friedvollen Tag in Ruhe genießen zu lassen, als ihn in die stürmische Gegenwart zurückzuholen. Denn wenn er wieder er selbst war und in dieser Wirklichkeit lebte, war er nervös und hörte nicht auf, hin und her zu laufen. Und wenn er wieder in seine Kindheit zurückglitt und die Schreckensszenen mit seiner verrückten

Mutter durchlebte, weinte er und rief Verwünschungen auf Jiddisch und warf sich hin und her.

So ließ ihn Judy in seiner Traumwelt und hoffte, daß er dort bleiben möge, bis die nächste Rolle eintraf.

Am Montag kam ein Brief von Weatherby. Bevor er eintraf, war Ben fünf Stunden lang in der Gegenwart geblieben, ohne auch nur einmal in eine andere Zeit abzugleiten. Er konnte klar denken und war vollkommen Herr seiner selbst. Abgesehen von seiner großen Unruhe, war er beinahe normal. Judy mußte ihn davon abhalten, über den Postboten herzufallen, als dieser auftauchte. Und dann mußte sie ihm über eine gewaltige Enttäuschung hinweghelfen, als er statt der erwarteten Rolle nur einen Brief von Weatherby bekam. Er blieb lange genug in der Gegenwart, daß Judy den Brief lesen und für Ben kurz zusammenfassen konnte.

«Er schildert, wie sie die letzten drei Tonkrüge gefunden haben«, erklärte sie.»Nachdem sie sich bereits mit dem Gedanken abgefunden hatten, daß es wohl keine weiteren Rollen mehr gebe, ist, wie es scheint, der Boden des Hauses eingestürzt, und darunter kam so etwas wie ein alter Regenwasserspeicher oder Lagerraum zum Vorschein. Darin befanden sich drei weitere Tongefäße. Weatherby meint, daß dem alten David in seinem ursprünglichen Versteck wohl der Platz knapp geworden war, so daß er den Rest hier untergebracht hatte. Auf alle Fälle, sagt Weatherby, haben sie seitdem den ganzen Bereich gründlich durchsucht und seien auf nichts anderes mehr gestoßen. Er ist sich sicher, daß diese nun wirklich die letzten Rollen sind.«

«Teilt er uns auch mit, in welchem Zustand sie sind und wann er sie abgeschickt hat?«

«Nein, aber er schreibt, daß er ungeduldig auf eine Nachricht von dir wartet.«

«Ha! Das ist wie ein Schlag ins Gesicht!«Ben machte auf dem Absatz kehrt, und in diesem Augenblick ergriff David jäh Besitz von ihm. Wieder fiel jener gleichgültige, starre Blick wie ein Vorhang über Bens Gesichts. Und er wandte sich ohne ein weiteres Wort von ihr ab, glitt leise ins Schlafzimmer und ließ sich aufs Bett fallen. Da er nun für eine Weile nicht ansprechbar sein würde, beschloß Judy, die Zeit sinnvoll zu nutzen. Sie stellte deshalb die Schreibmaschine im Wohnzimmer auf und fing an, die Übersetzungen abzutippen.

Rolle Nummer elf traf am nächsten Tag ein. Ben mußte den ganzen Tag Höllenqualen ausstehen. Wie ein im Käfig gefangenes Tier lief er nervös im Zimmer auf und ab. Von ihrem Platz am Wohnzimmertisch aus belauschte Judy gelegentlich Bens Streitgespräche mit David oder seiner Mutter. Manchmal hörte sie ihn ruhig mit Saul über die Unterschiede zwischen Eleasars und Simons Lehre diskutieren. Dabei kam es ihr oft so vor, als wolle David Saul zum Messianismus bekehren. Hin und wieder sprach Ben auch mit Solomon und gestand ihm leise, daß er zuweilen wünschte, er wäre mit ihm weiter auf die Universität gegangen und ein Rabbi geworden.

Judy hörte, wie Ben David anschrie, er solle gefälligst aus seinem Körper verschwinden und seine schauerlichen Alpträume wieder mitnehmen. Dann wieder hörte sie ihn schluchzen und Jiddisch sprechen, woran sie erkannte, daß er gerade bei seiner Mutter war.

Den allmählichen Zusammenbruch von Bens Vernunft so hautnah mitzuerleben, zerriß Judy beinahe das Herz. Zweimal, nachdem sie ihn etwas über Majdanek hatte brüllen hören, hatte sie ihren Kopf auf die Schreibmaschine gelegt und geweint. Aber es lag nicht in ihrer Macht, einzugreifen. Diesen Kampf hatte Ben allein auszutragen. Die Suche nach der eigenen Identität war eine einsame Suche, und sie wußte, daß ein Eingreifen ihrerseits verheerende Folgen haben würde.

Als Rolle Nummer elf ankam, riß Ben sie dem Briefträger aus der Hand und stürzte nach oben, während Judy zurückblieb, um für das Einschreiben zu quittieren und sich für sein Benehmen zu entschuldigen. Als sie die Wohnung betrat, saß Ben bereits an seinem Schreibtisch und kritzelte in sein Übersetzungsheft.

Als der eigentliche Augenblick des Abschieds kam, war ich betrübt, doch bis dahin hatte ich meiner Reise erwartungsvoll und voller Freude entgegengesehen. Die Vorfreude überwiegt stets den Gedanken an den Abschied von den Lieben oder an die Gefahren, die einer solchen Reise innewohnen. Erst wenn es dann soweit ist und man an Bord geht, besinnt man sich plötzlich auf die Monate der Einsamkeit, die vor einem liegen.

Rebekka litt in stiller Verzweiflung. Nicht ein einziges Mal, seitdem ich ihr angekündigt hatte, daß ich gehen würde, hatte sie ihr Entsetzen darüber bekundet. Denn Rebekka war eine zurückhaltende und gehorsame Frau, die wußte, daß meine Entscheidungen allen zum besten gereichten. Und auch wenn es ihr vielleicht insgeheim widerstrebte, mich ziehen zu lassen, oder wenn sie schlimme Vorahnungen hatte, so verlieh sie ihren Befürchtungen dennoch keinen Ausdruck. So ehrerbietig war Rebekka. Indessen gab es viele, die ihre Zunge nicht im Zaum hielten. Saul war derjenige, der am wenigsten ein Blatt vor den Mund nahm. Mehrmals war er abends zu uns gekommen und hatte stundenlang auf mich eingeredet, um mich von meinem Vorhaben abzubringen. Und ich liebte ihn dafür um so mehr.

Er sagte:»Du überquerst ein großes, tückisches Meer, das oft viele Menschenleben fordert. Und selbst wenn du die Fahrt überlebst, was soll dich in diesem sündigen Babylon vor heimtückischen Überfällen bewahren? Und wenn du durch irgendeine wundersame Fügung am Ende deines Besuches dort noch am Leben bist, dann steht dir wieder die Heimreise über das tückische Meer bevor!«

«Du bist ein Optimist, mein Bruder«, gab ich zurück und rang ihm ein Lächeln ab.»Wie du weißt, habe ich mein Geld dort angelegt und muß zumindest einmal im Leben hinreisen, um an Ort und Stelle alles in Augenschein zu nehmen. Der alte Salmonides begleitet mich ja. Er ist ein erfahrener Reisender und weiß über die Niedertracht deines Babylons bestens Bescheid. «Meine anderen Freunde von den Armen waren ebenfalls gegen meine Reise. Sie befürchteten, daß der Meister zurückkehren könne, während ich fort war, aber ich wußte, daß dies ein Risiko war, das ich eingehen mußte. Doch mein alter Mentor Simon war in Rom, und ich sehnte mich danach, ihn wiederzusehen. Und da ich schon so viele frevelhafte Geschichten über diese eine Million Einwohner zählende Stadt gehört hatte, wollte ich sie selbst einmal sehen.

Von allen, die versuchten, mich davon abzubringen, hätte nur eine Person vielleicht Erfolg haben können. Aber meine liebe Sara hüllte sich in Schweigen. Seitdem sie sich den Armen angeschlossen hatte, war ich es gewohnt, sie in meiner Nähe zu haben, und doch empfand ich stets den vertrauten Schmerz in meinem Herzen und die Schwäche in meinen Knien, wann immer ihr Blick sich mit meinem kreuzte. Eine lange Zeit war seit jenem Nachmittag auf dem Hügel vergangen, und doch liebte und begehrte ich sie, als wäre es erst gestern gewesen.

Am Tag meiner Abreise hatten sich alle meine Freunde um mich versammelt. Meine Frau stand an meiner Seite, als unsere Brüder und Schwestern von den Armen mir den Friedenskuß gaben. Auch Sara drückte ihre Lippen auf meine Wange und flüsterte:»Möge der Gott Abrahams dich beschützen. «Doch sie blickte nicht zu mir auf. Saul, der noch immer kein Mitglied des Neuen Bundes war und nicht daran glaubte, daß der Messias dieser Tage zurückkommen werde, umarmte mich und ließ seinen Tränen freien Lauf. Der letzte, der mir Lebewohl sagte, war Jonathan, mein Lieblingsneffe, den ich innig liebte. Er schlang seine Arme um meinen Hals und bat mich inständig, nicht zu gehen.

Da sagte ich zu ihm:»Jonathan, du bist Sauls ältester Sohn wie der älteste Sohn des ersten Königs von Israel. Dieser Jonathan war ein berühmter Krieger und ein tapferer Mann. Erinnerst du dich daran, was David ehedem von seinem besten Freund Jonathan sagte? Es steht geschrieben, daß David sagte: >Saul und Jonathan, die Gelehrten, die Holdseligen, in ihrem Leben wie in ihrem Tode sind sie unzertrennt gebliebene Jonathan, du warst mir über alles lieb! Ja, deine Liebe ging mir über Frauenliebe!«

Jonathan freute sich über diese Worte und war weniger betrübt. So erwähnte ich auch nicht, daß es sich dabei um die Wehklagen Davids über die Ermordung von Saul und Jonathan im Gebirge Gilboa handelte. Und weil er ebenfalls ein Mitglied der Armen war, da Sara, ungeachtet Sauls Mißbilligung, darauf bestanden hatte, ihn zu den Versammlungen mitzunehmen, gab Jonathan mir den Friedenskuß. Salmonides und ich reisten an diesem Tag mit einer Karawane ab und kamen in der Woche darauf nach Joppe. Dort bekamen wir einen Platz auf einem Phönizischen Schiff, das nach Kreta unterwegs war. Auf der Fahrt ging es uns gut, da wir uns nahe an der Küste hielten. In einem Hafen unweit der Stadt Lasea konnten wir uns eine Überfahrt an Bord eines römischen Schiffes sichern, das mit seinem schweren Segel einen recht soliden Eindruck machte. Wir waren überzeugt, daß ihm auch stürmisches Wetter nichts würde anhaben können.

Die Jahreszeit war noch immer günstig, und so brachen wir in Richtung Rom auf. Auf der ganzen Fahrt wurden wir von leichten Südwinden begleitet, und während der Kapitän seinen kapitolinischen Gottheiten für ihre Hilfe dankte und Salmonides seinen griechischen Göttern huldigte, wußte ich allein, daß nur das Werk des Gottes Abrahams die Reise so angenehm machte. Meinen ersten flüchtigen Eindruck von Italien bekam ich in Rhegium, das wir anliefen, um Passagiere an Land zu setzen und andere aufzunehmen. Und von dort aus segelten wir an der Küste entlang nach Ostia, dem Hafen Roms.

Dort angekommen, mieteten wir uns Esel und ritten einen Tag, bis wir am Vorabend eines Festtages, der unter dem Namen Saturnalien bekannt ist, die Stadt erreichten. Wie es sich so ergab, sollte dann auch der Geburtstag des Kaisers gefeiert werden. Ich möchte, mein Sohn, in diesen kurzen Schriftrollen nicht auf die haarsträubenden Szenen eingehen, die sich meinem Auge darboten, als ich mit Salmonides die Stadt betrat. Mir bleibt nur noch wenig Zeit, und jede Stunde, die mein Schreibrohr über diesen Papyrus gleitet, bringt mich meinem Tode näher. Ich will mich deshalb nicht länger mit dem zügellosen Wesen Roms oder dem schockierenden Benehmen des Pöbels in dieser Stadt befassen. Laß mich vielmehr an meiner eigenen Geschichte festhalten, und es genügt wohl, wenn ich dir sage, daß Rom ein wahrhaftiges Babylon ist. Salmonides und ich nahmen getrennte Zimmer in einem angesehenen Gasthof, und während ich ihn ausschickte, um sich als mein Bevollmächtigter Einblick in meine Beteiligungen in Rom zu verschaffen, hatte ich selbst nur ein Vorhaben im Sinn: Simon zu besuchen.

Wie du weißt, mein Sohn, hatte Simon Jerusalem mehrere Jahre zuvor verlassen. Doch was du nicht weißt und was du auch nicht verstehen wirst, bis du ein erwachsener Mann bist, ist, warum Simon Jerusalem verließ. Du erinnerst dich sicher daran, was ich dir über die Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Jakobus und über ihren Kampf um die oberste Führung der Armen berichtete. Je größer die Zahl unserer Mitglieder wurde und je weiter die Zeit voranschritt, ohne daß der Messias zurückkehrte, desto heftiger stellte Jakobus Simons Führerschaft in Frage. Die Ursache dafür lag darin, daß Jakobus der Bruder des Meisters war. Und so geschah es, daß Simon, des Meisters bester Freund, schließlich unterlag und mit seinem Weib aus Jerusalem fortzog, um in anderen Städten von der Rückkunft des Messias zu predigen. Warum er sich dabei ausgerechnet nach Rom wandte, vermag ich nicht zu sagen. Es wäre allenfalls denkbar, daß ihn eine wachsende Messianische Gemeinde dort zu diesem Schritt bewog und daß er dieser beistehen wollte.

Als ich mich der Gemeinschaft der Armen anschloß, herrschte, wie ich dir schon berichtete, eine große Bestürzung unter den Zwölfen über einen Mann namens Saul von Tarsus. Dieser behauptete, der Messias sei ihm auf der Straße nach Damaskus erschienen und habe ihm befohlen, Heiden zum Neuen Bund zu bekehren. Nachdem er bereits eine große Gemeinschaft der Armen in Antiochia ins Leben gerufen hatte, begab sich dieser Saul von Tarsus wegen eines Verbrechens, das man ihm zur Last legte, nach Rom, um seinen Fall Cäsar vorzutragen. Saul war einer der Verantwortlichen für die Bekehrung vieler in Rom lebender Juden zu unserem Glauben.

Und deshalb war es für mich, als ich an diesem fünfzehnten Tag des römischen Monats Dezember in Rom ankam, nicht schwer, die Häuser von Menschen ausfindig zu machen, die wie ich selbst auf die Rückkehr des Messias warteten.

Sie empfingen mich, gaben mir den Friedenskuß und nannten mich Bruder. Es war das erste Mal, daß ich das Wort Christ hörte, und ich war darüber im höchsten Maß verwirrt. Auch bezeichneten meine jüdischen Glaubensgenossen in Rom den Messias mit dem Namen Jesus, welches der lateinische Ausdruck für seinen Namen ist. Das stimmte mich ebenfalls nachdenklich. Als man mich schließlich zu Simon führte, gab es ein unvergeßliches Wiedersehen, bei dem wir uns in die Arme schlossen und unseren Freudentränen freien Lauf ließen. Ich drückte den alten Mann an mich, als ob ich ihn nie mehr loslassen wollte, und er ließ einen solchen Wortschwall in Aramäisch auf mich niedergehen, daß ich spürte, wie gut es seiner Zunge tat, wieder die Muttersprache zu sprechen. Dann setzten wir uns zu einer Mahlzeit aus herbem Käse, Brot und Oliven zusammen und schwelgten in Erinnerungen an vergangene Zeiten.

Er fragte mich:»Hat Jakobus seine Sache gut gemacht?«Und ich antwortete:»Ja, weil er einflußreich ist. Tausende haben sich unserer Gemeinschaft angeschlossen, und alle warten sie auf die Rückkunft des Meisters. Während die Hetzreden gegen Rom ständig zunehmen, sind wir uns alle einig, daß wir in der Endzeit leben und daß dies die Zeit ist, von der der Meister sprach. Er wird morgen vor den Toren stehen.«

Dann sah ich mich unter den Anwesenden in der Versammlung um und bemerkte die Halsbänder, die sie trugen. Und da wußte ich, daß sie Heiden waren. So sagte ich:»Wenn der Meister zurückkehrt, so wird in Zion das Königreich Gottes errichtet, und das auserwählte Volk wird die Welt regieren. «Da legte Simon mir eine Hand auf die Schulter und sprach:»Ich weiß, was in deinem Herzen vorgeht, mein Sohn, und würde gerne deine Bestürzung zerstreuen. Als unser Meister vor dreißig Jahren diese Erde verließ und wiedergeboren wurde, da war ich ein junger Mann und konnte seine Rückkehr kaum erwarten. So erzählte ich jedermann, daß es schon morgen sein würde. Doch jetzt bin ich sehr alt und ein wenig vorausschauender. Ich erkenne jetzt, daß er nicht die

Absicht hatte, zurückzukehren, bevor nicht mehr Gläubige für seinen Empfang vorbereitet wären.«

Ich entgegnete:»Ganz Jerusalem erwartet ihn, Simon. «Und er antwortete:»Sie sind alle nur Juden. Wir können auch die Heiden nicht im Stich lassen.«

Das traf mich wie ein Schlag auf den Kopf, und ich war sprachlos. Simon hatte sich in den Jahren unserer Trennung dermaßen verändert, daß er nicht mehr derselbe Mensch war. Nach einer langen Pause vermochte ich endlich, meine Gedanken in Worte zu fassen:»Wollt Ihr damit sagen, daß Ihr den Römern vom Messias predigt?«

«Ich predige ihnen vom Messias, und sie glauben daran«, gab er zur Antwort.

«Aber sie sind doch nicht beschnitten!«wandte ich ein.»Die Beschneidung gehört dem Alten Bund an«, erklärte Simon.»Wir sind aber Brüder im Neuen Bund.«

«Und halten sie das Gesetz der Thora heilig?«

«Nein.«

«Gehen sie am Versöhnungstag in die Synagoge oder fasten sie?«

«Nein.«

«Verzichten sie auf den Genuß von Schweinefleisch?«

«Nein.«

Ich war entsetzt. Vielleicht wurde meine Erschütterung noch dadurch vergrößert, daß ich all dies von Simon hören mußte, der einst der frömmste Jude überhaupt gewesen war. Ich fragte ihn:»Was sind das für Symbole, die sie um ihre Hälse tragen?«

Er antwortete:»Es ist das Zeichen des Fisches, das Symbol unserer Bruderschaft. Es kam ursprünglich aus Antiochia, wo man Griechisch spricht.«

«Und Ihr erlaubt ihnen, Götzenbilder zu tragen?«

«Es bleibt keine Zeit, den Heiden unsere Gesetze aufzuzwingen, denn der Messias kann jeden Augenblick wiederkehren. Vielleicht nähert er sich gerade jetzt, während wir uns unterhalten, den Toren der Stadt. Diese guten Menschen hier glauben an ihn; sie sind errettet worden. Hätte ich darauf bestanden, daß sie zuerst Juden würden, so wären sie vielleicht nicht rechtzeitig vorbereitet und blieben auf der Strecke, wenn das Königreich Gottes naht.«

Aber ich ließ mich nicht beschwichtigen und entgegnete ihm:»Simon, in Judäa bereiten sich unzählige Juden darauf vor, gegen die Römer zu kämpfen. Männer, die eure Brüder sind, rüsten sich für den Kampf, der unausweichlich ist. Und was macht Ihr? Ihr seid hier und bekehrt Römer. Was ist geschehen? Es ist, als ob Ihr und ich auf entgegengesetzten Seiten stünden.«

«Aber das tun wir doch nicht«, hielt er dagegen,»denn wir stehen beide auf der Seite Gottes.«

Ich konnte seine Meinung nicht teilen. In Jerusalem, wo Simon einst gepredigt hatte, warteten Juden darauf, daß ihr König zurückkehren würde. In Rom warteten Heiden auf jemanden, den sie gar nicht erkennen würden.»Warum nennen sie euch Petrus?«fragte ich.»Weil der Meister einst sagte, ich sei ein so solider und zuverlässiger Freund, daß ich für ihn wie ein Fels sei.«

«Und sie verbrennen Weihrauch, was ein heidnischer Brauch ist.«

«Es ist, weil diese Menschen einst Heiden waren, aber jetzt verehren sie Gott. Dies ist ihre Weise, ihm zu huldigen.«

«Sie verehren nicht Gott«, sagte ich bitter.»Sie haben einfach die Namen ihrer eigenen Götter gegen andere vertauscht. Ein jeder von ihnen wird weitermachen wie zuvor, denn sie haben sich kaum verändert. Und in ihren Herzen werden sie stets Heiden sein. Ihr nennt ja sogar den Tag des Herrn Tag der

Sonne, weil die Anhänger des Sonnengottes Mithras ihn so bezeichnen.«

«Es sind viele von ihnen unter uns«, erklärte er,»und wir haben auch Anhänger von Isis, von Baal und von Jupiter zu unserem Glauben bekehrt.«

Doch ich widersprach:»Eine Bekehrung hat nicht stattgefunden, Simon, denn alles, was sie getan haben, besteht darin, daß sie alte Wörter gegen neue eintauschten. Letzten Endes ist dies alles heidnisch.«

Wir gingen traurig auseinander, und diesmal sollte es ein Abschied für immer sein. Erst später erfuhr ich, daß Saul von Tarsus nach dem Vorbild von Petrus seinen Namen in Paulus geändert hatte, um den Römern zu gefallen. Weiterhin fand ich heraus, daß nur wenige Juden in Rom vom Messias gehört hatten und daß er größtenteils von unbeschnittenen Heiden erwartet wurde. Ich weinte heftig und bejammerte den Tag, an dem ich Judäa verlassen hatte. Als ich in dem Gasthofzimmer saß, sehnte ich mich nach meinen Olivenbäumen zurück und wünschte mir, den Staub Israels unter meinen Füßen zu spüren. Ich sah das schöne Gesicht Saras vor mir, hörte die Stimme meines geliebten Saul und fühlte die Arme des kleinen Jonathan an meinem Hals. Wie sehr wünschte ich nun, ich hätte auf sie gehört, denn außer Kummer und Schmerz hatte mir meine Reise nichts eingebracht.

Ich drang darauf, daß wir bereits am nächsten Tag von Ostia wieder abreisen sollten. Salmonides versuchte, mich zu überreden, noch ein wenig in Rom zu verweilen, und versicherte mir beharrlich, daß ich über die Stadt ein zu schnelles und zu hartes Urteil gefällt habe. Indes war ich gegen seine Worte taub. In Rom war das Streben nach Sinneslust und Genuß weit verbreitet, und es herrschte Gleichgültigkeit gegenüber Gott. Ich fühlte mich unrein. So sagte ich ihm:»Meine Heimat ist Israel, denn ich bin ein Jude. Dort ist Zion und das Land, das Gott uns verheißen hat. Wie kann ein Jude die Gesetze der Thora befolgen, wenn er von diesen sündigen Menschen umgeben ist?«

Salmonides zuckte nur die Schultern und schüttelte den Kopf. In den fast elf Jahren unserer Freundschaft hatte er mich bis jetzt noch nicht verstanden.

Es ergab sich, daß ich am Abend vor Einbruch der Dunkelheit mit Salmonides einen kleinen Spaziergang machte, denn ich war rastlos. Auf der Straße begegneten wir großen Menschenmengen, Männern und Frauen unterschiedlichster Herkunft, die sich in mir unverständlichen Sprachen unterhielten. Prostituierte riefen mich aus Toreinfahrten an. Händler schoben Karren, vollbeladen mit Haxen und anderen Teilen vom Schwein. Überall standen Statuen, und von Säulen und Mauern blickten Götzenbilder herab. Es war eine übervölkerte, wimmelnde Stadt, viel schlimmer als Jerusalem selbst während der Passah-Woche.

An einer Stelle spürten wir plötzlich, wie wir von einer Woge erfaßt wurden, als die Menschenmenge sich zusammendrängte und nach vorne bewegte. Salmonides und ich versuchten uns freizukämpfen, jedoch vergebens, so stark war der Sog. Ein lautes Geschrei erhob sich aus dem Volk wie aus einer Kehle. Und in diesem Moment teilte sich der Mob wie die Wogen des Roten Meeres, als sie von Moses zerteilt wurden, und mein Begleiter und ich fanden uns in der ersten Reihe wieder. Vor uns war eine Schneise entstanden, und auf der gegenüberliegenden Seite des Weges stand die andere Hälfte des Pöbelhaufens.

Und dies ist, was wir sahen: Scharen römischer Soldaten in leuchtendroten Umhängen und glänzender Rüstung zogen an uns vorbei und schwenkten die Fahnen von Kaiser Nero. Hinter ihnen kam ein Fanfarenzug. Männer in Reih und Glied bliesen auf Trompeten gen Himmel und machten einen solchen

Lärm, daß ich mir die Ohren zuhalten mußte. Auf den Fanfarenzug folgte ein Regiment der Prätorianergarde, der persönlichen Leibwache des Kaisers, die hocherhobenen Hauptes und in anmaßender Eitelkeit an der Menge vorbeistolzierte. Und gleich hinter ihnen fuhr der Kaiser selbst in einem goldenen Triumphwagen, welcher von vier prachtvollen Pferden gezogen wurde. Der sechsundzwanzigjährige Imperator war untersetzt, hatte fast keinen Hals und trug auf seinem Kopf einen dichten, kurzgeschnittenen Schopf roter Locken zur Schau. Er lächelte, als er vorbeifuhr, und winkte uns mit seiner dicken Hand zu. Es faszinierte mich, diesen jungen Mann, der die Welt regierte, leibhaftig und aus nächster Nähe vor mir zu sehen. Diesen jungen Mann, der fast so alt war wie ich selbst. Nachdem Nero vorübergefahren war, bot sich uns ein Anblick, den ich lange nicht vergessen werde. Als nächstes folgte die Frau des Kaisers, Poppäa Sabina, die ihren eigenen mit zwei Pferden bespannten Wagen lenkte.

Sie war zweifellos die prächtigste Frau, derer ich je ansichtig wurde. Goldblondes Haar krönte ihr Haupt und wurde mit winzigen Bändern und juwelenbesetzten Nadeln festgehalten. Ihr schönes Antlitz wies sehr viel Ähnlichkeit mit den Gesichtern auf, die ich in Statuen gesehen hatte. Es war schneeweiß, blaß und fein wie aus Porzellan mit himmelblauen Augen und zartrosa Lippen. Sie wirkte anstößig mit ihrem bloßen Hals und einem unbedeckten Arm. Und doch war sie wunderschön, wie sie so ruhig in ihrem Wagen stand, daß man sie tatsächlich für eine Statue halten konnte. Ihre Kleider waren aus reiner Seide und von einer so lebhaften Lavendelfarbe, daß ich glaubte, den Duft riechen zu können.

Schweigen legte sich über die Menge, als die Kaiserin vorbeifuhr, und als sie in einem ganz kleinen Abstand an mir vorüberkam, fühlte ich, wie mir der Atem stockte. Im ganzen

Römischen Reich konnte es keine Frau geben, die schöner war als sie. Nahe an meinem Ohr hörte ich eine Stimme murmeln:»Sie ist so eitel und nutzlos wie die Göttinnen und hat Zähne wie eine Viper.«

Es war Salmonides, der den bewundernden Blick auf meinem Gesicht bemerkt hatte.

Mit leiser Stimme, so daß niemand anders es hören konnte, fuhr er fort:»Sie badet sich jeden Tag in Milch und reibt sich die Hände mit Krokodilschleim ein. Sie gibt sich aristokratisch, aber im Herzen ist sie eine Hure. Ihretwegen teilte Nero das Schicksal von Orestes und Ödipus.«

Ich wußte, was Salmonides meinte, und verbannte den bezaubernden Anblick aus meinem Gedächtnis. Er hatte recht. So schön und verlockend Poppäa auch sein mochte, so war sie nicht minder ein verführerisches Teufelswerk, dazu bestimmt, Männer ins Verderben zu führen.

Ich erzähle dir all dies, mein Sohn, damit du weißt, daß von Rom nichts Gutes kommt. Während diese Stadt vordergründig reizvoll und verlockend erscheint, ist sie darunter böse und gottlos. Und ich erzähle dir auch deswegen all dies, mein Sohn, auf daß du den rechten Weg wählen mögest.

Während ich diese Zeilen schreibe, sind jene in Jerusalem tot und dahingegangen, und alle, die den Meister zu seinen Lebzeiten kannten, sind umgekommen. Doch jene in Rom leben noch fort, wenngleich sie ihn nie kannten. Der Mann, den sie Messias nennen und auf dessen Rückkehr sie warten, ist ein Mythos. Er hat nie gelebt, und sie werden ewig ausharren müssen. Aber du, mein Sohn, bist ein Jude und mußt auf den Mann warten, der zurückkommen wird, um das Königreich Gottes auf Erden zu verkünden. Er wird nur zu Juden kommen, denn er ist der Messias der Juden. Richte deinen Blick deshalb nicht auf Rom, denn die Menschen dort wandeln auf dem Pfad der Unwahrheit und des Vergessens.

Es war Mitternacht, und das einzige Licht in der Wohnung brannte auf Bens Schreibtisch. Er und Judy saßen dicht beieinander, und während Ben seine Übersetzung niederschrieb, las Judy gleich mit, so daß sie die Ereignisse in Davids Leben zusammen und zur gleichen Zeit erlebten.

Eine ganze Weile sprach keiner von beiden ein Wort, sondern starrten noch immer auf die letzte Zeile, die Ben geschrieben hatte. Sie schwebten zwischen den Zeiten, gefangen in einer Welt zwischen Traum und Wirklichkeit, und schienen sich beinahe davor zu fürchten, die Stimmung zu vertreiben.

Schließlich, nach einem schier endlosen Stillschweigen, sagte Ben mit ausdrucksloser Stimme:»Das ist phantastisch. «Er sprach monoton und ohne Gefühl.»Diese Rolle hat die Sprengkraft einer Bombe, und wenn sie freigesetzt wird. «Er starrte weiter vor sich hin. In seinem glasigen Blick lag eine eigentümliche Ferne, die Judy in Erstaunen versetzte.»Wo bist du jetzt, Ben?«Ganz allmählich, wie ein Schläfer, der aus einem tiefen Schlummer gerissen wird, begann Ben, sich zu rühren und Lebenszeichen von sich zu geben. Er richtete sich auf und reckte sich stöhnend. Dann sah er Judy an und lächelte schwach.»Es gibt eine Menge Leute, denen diese Rolle überhaupt nicht gefallen wird. Sie enthält mit Sicherheit nichts, was der Vatikan begrüßen wird. Ein Urchrist, einer der früheren Anhänger Jesu, der die römische Kirche verdammt. «Dann gab er ein kurzes, trockenes Lachen von sich, und seine Gesichtszüge verhärteten sich.»Sie werden diese Rolle vernichten wollen, wenn nicht gar alle. David vernichten. «Judy zwang sich schließlich dazu, aufzustehen, und stellte fest, daß ihre Beine zitterten.»Los, Ben, laß uns hinüber ins Wohnzimmer gehen. Ich brauche einen Kaffee. «Er zeigte keine Reaktion.»Ben?«

Er saß dicht über eines der Fotos gebeugt und blickte argwöhnisch auf ein verwischtes Wort. Judy bemerkte, daß er seine Brille nicht trug, daß er sie schon den ganzen Abend nicht aufgehabt hatte, und so nahm sie sie und hielt sie ihm hin.

Doch er schob ihre Hand weg und meinte:»Ich brauche sie nicht.«

«Ich verstehe. «Sie drehte und wendete die schwere Brille in ihren Händen.

«Wer bist du jetzt?«Ben schaute auf.»Was?«

«Wer bist du? Mit wem spreche ich, mit Ben oder mit David?«Seine Gesichtszüge waren für einen Moment ausdruckslos und verzogen sich dann zu einem Stirnrunzeln.»Ich. ich weiß nicht. «Er raufte sich die Haare.»Ich weiß nicht. Ich kann es nicht sagen.«

«Komm mit, ich mache dir einen Kaffee. «Judy streckte ihre Hand aus, und zu ihrer Überraschung ergriff er sie ruhig. Er folgte ihr ins Wohnzimmer und sank mit noch immer verstörtem Gesicht auf die Couch. Judy schaltete ein paar Lichter an und ging in die Küche. Während er aus der Küche das Rauschen von laufendem Wasser und das Klappen von Schranktüren hörte, schaute Ben noch immer verwirrt umher. Er fühlte sich ganz merkwürdig — so eigenartig, wie nie zuvor in seinem Leben.

Als Judy mit dem Kaffee und einigen Krapfen zurückkam, fand sie Ben auf der Couch, sein Gesicht in den Händen vergraben. Sie setzte sich neben ihn, legte ihm sacht eine Hand auf den Rücken und flüsterte:»Was ist los mit dir, Ben?«

Er blickte zu ihr auf, und sie war entsetzt, die Angst und Verwirrung in seinen Augen zu sehen.»Ich fühle mich ganz komisch«, antwortete er mit gepreßter Stimme.»Diese Rolle. irgend etwas daran. «Dann drehte er seinen Kopf zum Arbeitszimmer und schien die Wand mit seinem Blick zu durchdringen, so daß er die Fotos auf dem Schreibtisch sehen konnte.»Poppäa Sabina.«, murmelte er, als versuchte er, zu verstehen.

«Ben, komm jetzt. Iß einen Krapfen und trink einen Schluck Kaffee. Du mußt jetzt wieder zu dir kommen, weil ich möchte, daß du mir etwas erklärst.«

Er richtete seinen stumpfen Blick auf sie.»Und meine Brille. «Während sie gegen den inneren Drang ankämpfte, zu schreien und ihn durch einen Klaps in die Wirklichkeit zurückzubeordern, zwang sie sich dazu, ihm ruhig eine Tasse Kaffee einzuschenken. Er trank sie gehorsam und ohne weitere Regung.

«Es gibt etwas, das ich an dieser Rolle nicht verstehe«, sagte sie laut und versuchte, ihn damit aus der Reserve zu locken.»Wann wurde sie geschrieben?«

Er gab keine Antwort, sondern fuhr fort, zu trinken und vor sich hin zu starren.

«Ben, wann wurde die Rolle geschrieben?«Sie legte eine Hand auf seinen Arm.»In welchem Jahr ist David nach Rom gefahren?«

Endlich trafen Bens Augen die ihren, und er begann langsam, sie klar und deutlich vor sich zu sehen.»Was?«

«Das Jahr, in dem David in Rom war? Welches Jahr war das? Wir haben eine Lücke zwischen Rolle neun und dieser hier, weil wir Rolle zehn verloren haben. Wir sind in der Zeit vorangeschritten. David war in der letzten Rolle zwanzig Jahre alt, und Sauls Sohn war gerade geboren worden. Jetzt sind sie alle älter.«

«Ach, das meinst du«, erwiderte Ben sachlich.»Das läßt sich leicht herausfinden. Wie alt, sagte David, war der Kaiser?«

«Sechsundzwanzig.«

«Und in welchem Jahr wurde Nero geboren?«

«Ich weiß nicht.«

Ben stand plötzlich auf, lief ins Arbeitszimmer und kam eine Minute später mit einem Lexikon zurück. Er blätterte bereits darin, als er wieder seinen Platz auf der Couch einnahm.»Nero. Nero. Nero. «brummte er, während er die Seiten überflog.»Da haben wir’s. «Er schlug mit der Hand auf die entsprechende Stelle.»Geboren im Jahr siebenunddreißig nach unserer Zeitrechnung. «Ben reichte Judy das Buch. Das aufgeschlagene Kapitel trug die Überschrift» Lucius Domitius Ahenobarbus (Nero)«. Der erste Abschnitt bezifferte die Lebensdaten des Kaisers mit siebenunddreißig nach Christus bis achtundsechzig nach Christus.

«Jetzt mußt du nur sechsundzwanzig zu siebenunddreißig hinzuaddieren, dann kommst du auf dreiundsechzig. Das ist das Jahr, in dem David in Rom war, im Jahr dreiundsechzig unserer Zeitrechnung. Das bedeutet, daß Rolle Nummer zehn wahrscheinlich die dazwischenliegenden acht Jahre abdeckte. In dieser Zeit muß sich eine Menge ereignet haben. Saras Bekehrung zu den Armen, zunehmender Wohlstand für David. Hingegen scheint es nicht so, daß Saul ebenfalls dem Heer der Nazaräer beigetreten ist. Ich frage mich, warum wohl.«

Judy schaute Ben forschend an. Plötzlich schien er wieder er selbst zu sein, als ob wenige Minuten vorher überhaupt nichts gewesen wäre. Sie beobachtete ihn, als er sich eine zweite Tasse Kaffee einschenkte und sich daran machte, einen Krapfen zu verzehren.»Rolle zehn«, sprach er mit vollem Mund weiter,»ergänzte diese fehlenden Jahre. Ich bedaure sehr, sie nicht zu haben.«

«Aber es bleiben uns ja immerhin noch sieben Jahre.«

Ben nickte. Er wirkte jetzt ruhig, entspannt und unbeschwert. Was auch immer ihn noch eine Minute vorher bedrückt hatte, jetzt war es vergessen und wie weggeblasen.»Die nächsten beiden Rollen werden diese sieben Jahre ausfüllen. Und sie werden die abscheuliche Tat enthüllen, die David beging. Er wird uns auch Aufschluß darüber geben, warum er kurz davor steht zu sterben.«

Judy nickte nachdenklich und starrte in ihre Tasse. Es fiel ihr schwer, mit Bens abrupten Persönlichkeitsschwankungen fertigzuwerden. Es war nicht leicht, ihm zu folgen, zu wissen, wie man ihn anpacken mußte oder was man als nächstes zu erwarten hatte. Als er endlich seine Tasse abstellte und verkündete:»Ich bin todmüde«, war sie sehr erleichtert.

«Ich gehe ins Bett. Morgen ist auch noch ein Tag, und wir werden eine weitere Rolle erhalten. «Ben erhob sich von der Couch und reckte seinen langen, mageren Körper. Dann hielt er einen Augenblick inne, um auf Judy herabzuschauen, und bemerkte aufs neue, wie klein sie doch wirkte.»He«, sagte er sanft,»es ist spät. Wir müssen uns schlafen legen.«

Aber Judy schüttelte den Kopf. Das Schlimmste an Bens plötzlichen Stimmungsänderungen war, daß er sie gar nicht wahrnahm. Sie wollte fragen:»Was war vor ein paar Minuten mit dir los? Was bringt dich dazu, daß du den Bezug zur Wirklichkeit verlierst?«Aber sie tat es nicht. Sie wußte, was er sagen und wie er reagieren würde. Er hätte keine Erinnerung daran, wie eigenartig er sich verhalten hatte, nachdem er die Rolle gelesen hatte. Und es wäre auch sinnlos, es ihm erklären zu wollen.

«Ich will noch eine Weile aufbleiben«, erwiderte sie abweisend. Ben langte herunter und legte seine Hand auf ihren Kopf.»Weißt du«, begann er mit gedämpfter Stimme,»ich habe dir nie dafür gedankt, daß du zu mir gezogen bist. Durch deine Anwesenheit erhält die Sache ein ganz anderes Gesicht.«

Judy blickte nicht zu ihm auf, rührte sich nicht. Für einen ganz kurzen Augenblick spürte sie, wie er mit der Hand über ihr Haar strich, dann zog er sie zurück, und sie hörte ihn aus dem Wohnzimmer gehen und die Schlafzimmertür hinter sich schließen.

Judy blieb noch eine Zeitlang sitzen, bevor sie schließlich aufstand und zum Fenster hinüberwanderte. Die Vorhänge waren aufgezogen und ließen die kalte, mitternächtliche Finsternis von draußen herein, während sich die Lichter aus der Wohnung auf der Fensterscheibe widerspiegelten. Sie erblickte darin auch ihr eigenes Spiegelbild, ein trauriger Abklatsch ihres früheren Ich — ein viel zu blasses Gesicht, das vor Sorge ganz schmal geworden war. Verloren blickte sie mit ausdruckslosen Augen hinaus auf die schlafende Stadt. Gefühle und jegliches Interesse waren Judy abhanden gekommen. Die Ereignisse der vergangenen Woche hatten sie aller Sicherheit und Charakterstärke beraubt und sie willenlos gemacht. Denn wie Ben war Judy letzten Endes auch nur eine Marionette, die von den hier wirkenden Kräften beliebig gesteuert werden konnte. Aber was waren das nur für Kräfte, die den Bewohnern dieser ruhigen Wohnung von West Los Angeles so übel mitspielten? Waren es übernatürliche Mächte, oder waren es nur Energien, die ihnen beiden innewohnten? Sie preßte ihr Gesicht gegen das kalte Glas. Warum bin ich hier? fragte sie sich gedankenverloren. Wie kam es eigentlich, daß ich in Ben Messers private Katastrophe verwickelt wurde? War es vom Schicksal vorherbestimmt?

Es ist fast, als wären wir beide hier zusammengebracht worden, um dieses eigenartige Stück durchzuspielen. Aber warum? Zu welchem Zweck?

Ohne darüber nachzudenken, drehte Judy sich um und lief durch das Zimmer, wobei sie alle Lichter löschte. Sie verabscheute das Licht; sie wollte Dunkelheit. Es war leichter, sich in der Dunkelheit zu verirren, leichter, in der Dunkelheit Vergessen zu finden. Als sie wieder ans Fenster trat, waren die Spiegelungen verschwunden, und alles, was sie sehen konnte, waren die skelettartigen Bäume, die die Straße säumten und sich im Wind bogen. Draußen sah es kalt aus. Kalt und bedrohlich.

Wie kann Wind kalt aussehen? dachte sie abwesend, ihre Stirn wieder gegen die Scheibe gepreßt. Wie kann man etwas beurteilen, was unsichtbar ist? Wie kann man Wind betrachten? Es ist wie mit David Ben Jona. Ich kann ihn nicht sehen, und doch.

Judy wandte sich langsam vom Fenster und den kahlen Bäumen draußen ab und begann, in die Tiefen der finsteren Wohnung zu starren. Sie konnte David nicht sehen und wußte doch, daß er anwesend war. Sie ließ ihre Augen zur Schlafzimmertür schweifen und dort eine Weile verharren, während sie über den seltsamen Mann nachdachte, der auf der anderen Seite schlief.

Was für eine unglaubliche Veränderung hatte Benjamin Messer in diesen letzten drei Wochen durchgemacht! Was für eine Krise mußte er bewältigen! Und warum?» Liegt es am Judentum?«fragte sich Judy, während vor ihrem inneren Auge staubige Straßen und Palmen vorbeizogen.»Oder ist es einfach eine Identitätsfrage?«Oder waren Identität und Judentum möglicherweise ein und dasselbe? Ein Mensch war einfach ein Jude. Ob Katholiken wohl genauso empfanden? Oder gab es am Judensein etwas, was sich von allen anderen Erfahrungen unterschied — wenn man davon ausging, daß Judentum und Identität so unentwirrbar miteinander verflochten waren? Sie starrte mit leerem Blick vor sich hin und achtete nicht auf die Bilder von sonnenverbrannten Straßen und überfüllten Marktplätzen, die ihr rastloser Geist heraufbeschwor. Sicherlich war Benjamin Messer nicht der einzige wichtige Faktor in diesem Spiel, obgleich möglicherweise die Hauptfigur. Daneben standen David Ben Jona, die geduldig leidende Rosa Messer, ihr Ehemann, der als Rabbiner den Märtyrertod gestorben war. Und schließlich Judy selbst. Ihre

Gedanken konzentrierten sich jetzt auf einen bestimmten Punkt. Statt sich weiter getrocknete Feigen, geschnürte Sandalen und weiße Gewänder auszumalen, blickte sie jetzt in ihr tiefstes Inneres. Und was sie dort sah, erschreckte sie. Als ob sie am Rand eines riesigen, unergründlichen Kraters stünde, fühlte Judy, wie sie von einem starken Gefühl der Leere überwältigt wurde. Eine unfaßbare Einsamkeit. Eine kalte Einöde, die sie so entsetzte, daß sie vor Verzweiflung aufschreien wollte. Der riesige, schwarze Krater, der mit einer tintenartigen Kälte gefüllt war und sich bis an die Grenzen der Vorstellungskraft ausdehnte, befand sich im tiefsten Innern ihrer Seele. In diesem schrecklichen Nichts war alles tot, denn kein Leben konnte hier gedeihen.

Die dunkle Wohnung, die schwarze Nacht draußen und die furchterregende Leere in Judys Seele hatten eines gemeinsam: die Finsternis wurde von keinem Licht erhellt.

Mehr Bilder blitzten vor ihr auf. Aleppokiefern, die sich gegen einen strahlendblauen Himmel abhoben. Der Duft nach Narde, der die Luft erfüllte. Die heiße Sonne, die auf staubige Straßen herunterbrannte.

Sie wandte sich davon ab. Kehrte dem Zauber des antiken Jerusalem den Rücken. Es wäre schön, dorthin zu entfliehen, ja, sich nur für einen Moment gehenzulassen und in der Vergangenheit Zuflucht zu suchen, um der Gegenwart nicht ins Auge sehen zu müssen. So, wie Ben es tat.

Judy blickte wieder hinüber zur Schlafzimmertür, und für einen kurzen Augenblick wurde ihr bewußt, daß Ben ungewöhnlich ruhig war.

Sie riß sich von den Offenbarungen ihres inneren Ichs und den flüchtigen Einblicken in die Vergangenheit los, durchquerte den dunklen Raum und öffnete die

Schlafzimmertür.

Ben lag völlig bekleidet auf dem Bett und schlief tief und friedlich. Als Judy behutsam näher trat, konnte sie den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen, der sie überraschte. Ben lächelte fast unmerklich und schien sich in einem Zustand vollkommener Ruhe zu befinden. Judy starrte ihn ungläubig an. Mit Ausnahme der Nacht, in der sie ihm eine Schlaftablette verabreicht hatte, war es Ben nie vergönnt gewesen, so friedvoll zu schlafen. Auch hatte sie ihn nie zuvor jemals so gelöst gesehen. Als sie jetzt auf ihn hinabblickte, begann sie, in diesem Gesichtsausdruck eine tiefere Bedeutung zu erkennen. Es waren Anzeichen der Kapitulation, der völligen Aufgabe. Judy hob jäh den Kopf und sah sich im Zimmer um. Irgend etwas stimmte nicht. Irgend etwas stimmte ganz und gar nicht. Seltsam beunruhigt verließ Judy auf leisen Sohlen das Schlafzimmer, schloß sachte die Tür und kehrte zu ihrem Wachtposten am Fenster zurück. Das Glas an ihrem heißen Gesicht fühlte sich angenehm kühl an. Sie hätte eigentlich froh darüber sein sollen, daß Ben so gut schlief. Und doch war sie es nicht. Sein Gesichtsausdruck ließ nichts Gutes ahnen. Als sie die schweren Wolken am Himmel dahinziehen sah, dachte Judy: Warum tust du uns das an? Warum bist du hierhergekommen? Und was bist du eigentlich, David Ben Jona, ein Freund oder ein Feind? Stehst du neben ihm und wachst über ihn, um ihn zu beschützen, oder wartest du nur auf einen Augenblick der Schwäche.?

«O Gott!«stieß sie hervor und hielt sich die Hände vor den Mund.»Was geschieht nur mit mir?«

Judy fuhr herum; versuchte angestrengt, in der Dunkelheit etwas zu erkennen.

«Wonach suche ich? Verliere ich jetzt auch meinen Verstand?«fragte sie sich verstört.

Während sie vor sich hin starrte, tauchten immer neue Bilder in ihrem Geist auf. Die dunkle Wohnung wurde plötzlich von strahlender Helligkeit durchflutet, und sie blickte auf einen grünen Hang, der mit weißen Lilien und roten Anemonen bewachsen war. Sie sah die Feigen- und Olivenbäume und einen Jungen, der eine kleine Herde Ziegen hütete.

«O Gott, ich will dir helfen, Ben«, flüsterte sie heiser.»Ich will dir helfen, weil ich dich liebe, aber ich weiß nicht, wie. Ich weiß nicht, wie ich gegen dieses Etwas ankommen soll! Wie kann ich einen Geist bekämpfen?«

Sie roch Olivenöl, das in einer Lampe verbrannte, und schmeckte herben Käse auf ihrer Zunge.»Es ist stärker als ich, Ben. So, wie du am Ende aufgegeben hast, unterliege ich jetzt ebenfalls. «Tränen rannen an Judys Wange herunter. Sie zitterte am ganzen Körper. Die große Leere tauchte aus ihrer Seele empor, um die Wärme und das Leben der antiken Vergangenheit zu verschlingen. Ein Donnerschlag vertrieb das Phantasiebild. Sie war wieder in der dunklen Wohnung. Draußen begann der Regen gegen das Fenster zu trommeln.

Judy wandte sich um und schaute hinaus. Weitere krachende Donnerschläge. Ein Blitz. Und in dem kurzen Augenblick der Helligkeit sah sie die Kuppel des Tempels und die starken Mauern der Antonia-Festung.

«Wo fällt der Regen?«murmelte sie traurig.»Hier oder. oder dort?«

Die Zeit verstrich, während Judy wie versteinert am Fenster stand. Sie war versunken in einem Meer von Fragen, auf die sie keine Antwort bekam. Es gab keine Lösungen zu den Problemen, die in ihrem Geist aufgeworfen wurden, nur immer mehr Rätsel. Judy hatte einen flüchtigen Eindruck von der Leere gewonnen, die ihr Leben bestimmte. Jetzt überlegte sie sich, was sie wohl veranlaßt haben mochte, zu dieser unmöglichen Stunde plötzlich ihr ganzes Dasein in Frage zu stellen.

Und wieso konnte sie mit einem Mal Dinge sehen, die sie sich nie zuvor ausgemalt hatte? Stand sie ebenfalls kurz davor, sich angesichts der Macht, die der Geist David Ben Jonas ausübte, geschlagen zu geben? Kurz vor Tagesanbruch wurde Judy aus ihren Gedanken gerissen. Während dieser ruhigen Stunde vor Sonnenaufgang, da ein leichter Regen fiel und sie fühlte, daß sie den Antworten allmählich näher kam, geschah etwas, das sie vor Schrecken erstarren ließ. Sie hörte keinen Laut und kein Geräusch und bemerkte auch sonst kein äußeres Anzeichen. Es schien ganz einfach, als ob die Dunkelheit sich um sie herum bewegte. Die Luft hatte sich verändert, und sie spürte, daß irgend etwas anders war. Eine unheimliche Vorahnung ließ sie herumfahren.

Die Schlafzimmertür war offen, und Ben stand dort, bewegungslos und stumm.

Ein eisiges Frösteln durchfuhr Judys Körper, und sie begann unwillkürlich zu schlottern.

Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund leicht geöffnet. Plötzlich überkam sie sonderbare Angst. Irgend etwas war geschehen.»Ben.«, flüsterte sie.

Er kam ein paar Schritte auf sie zu, langte dann hinunter und schaltete das Licht ein.

In diesem Augenblick wurde Judy der Grund für ihre Angst bewußt. Und als sie seine Augen sah, schrie sie auf. Sie schrie sehr lange.

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