Ben fühlte sich elend, als er am nächsten Morgen erwachte. Er war noch lange, nachdem Judy gegangen war, aufgeblieben und hatte den Rest des Weines ausgetrunken. Dann hatte er sein Gesicht in den Händen vergraben und lange Zeit geweint. Als es ihm irgendwann nach Mitternacht einfiel, daß er in sechzehn Jahren nicht eine Träne mehr vergossen hatte, während er heute gleich zweimal geweint hatte, sank Ben in einen unruhigen Schlaf. Wieder verfolgten ihn merkwürdige Träume, in denen er wechselnde Rollen spielte: zuerst sich selbst, dann David, anschließend seinen toten Vater und zum Schluß seinen toten Bruder. Immer neue schreckliche Erinnerungen kamen in ihm hoch. Je mehr ihm davon in den Sinn kamen, desto schneller folgten andere auf dichtem Fuß nach. Die ganze Strategie des Verdrängens seiner schmerzlichen Vergangenheit war jetzt plötzlich zunichte gemacht. Aus irgendeinem Grund konnte Ben die Vergangenheit nicht länger daran hindern zurückzukommen. Um zehn Uhr hielt er eine Vorlesung über klassisches Griechisch als Hilfe für den Archäologen. Ben zeigte Dias und sprach dazu mit eintöniger Stimme. Die meiste Zeit war er völlig geistesabwesend. Er dachte fortwährend an David zu Eleasars Füßen in Salomons Tempel; an David, der für die Witwe Wasser trug; an Eleasars tiefe Zuneigung zu seinem jüngsten Schüler; an Rebekka.
Später in seinem Büro dachte Ben hinter verschlossener Tür inmitten einer Wolke aus Pfeifenrauch an seine Vergangenheit. Vor einundzwanzig Jahren, als er und Salomon durch den braunen Schneematsch von Brooklyn gestapft waren, hatten ihnen die halbwüchsigen Söhne polnischer Einwanderer nachgerufen:»Wir werden’s euch zeigen, ihr Jesus-Mörder!«
An jenem Abend, als sie am Küchentisch ihr einfaches Mahl einnahmen, hatte Ben seine Mutter gefragt, was die polnischen Jungen damit gemeint hatten. Seine Mutter hatte Gabel und Messer sinken lassen und ihren Sohn müde angeschaut.»Die Gojim verehren einen toten Juden als Gott, Benjamin, und sie sagen, wir hätten ihn umgebracht.«
«Wo ist das passiert? In Polen?«
Ein schmerzliches Lächeln zeigte sich auf ihrem Gesicht.»Nein, Benjamin. In Polen waren es die Juden, die von den Gojim ermordet wurden. Der Mann, von dem sie sprechen, lebte vor vielen hundert Jahren. Die Römer haben ihn gekreuzigt, weil er die Stimme gegen Cäsar erhoben hatte. Aber irgendwie«, sie schüttelte traurig den Kopf,»wurde die Geschichte im Laufe der Zeit verdreht, und den Juden wurde statt dessen die Schuld zugeschrieben. «Ben hatte die JesusGeschichte nie zuvor gehört und fragte sich, was eigentlich so Besonderes an ihm sei, daß Millionen von Christen daran glaubten. Rosa Messers Kenntnis war spärlich, und sie sah diese Dinge ohnehin verzerrt. Da Ben keine nichtjüdischen Freunde hatte und da seine eigenen Freunde von Jesus ebensowenig wußten wie er, hatte er versucht, sich aus anderen Quellen Klarheit zu verschaffen.
«Benjamin Messer, du solltest dich nicht selbst beflecken, indem du auf die Worte der Nichtjuden hörst«, hatte ihn einer seiner Jeschiwa-Lehrer ermahnt.»Es genügt schon, zu wissen, daß sie den Bund, den Abraham mit Gott schloß, entweihten und durch einen eigenen, falschen ersetzten. Die Lügen der Gojim kann man nur dadurch bekämpfen, daß man die Thora studiert und ihre heiligen Gesetze einhält.«
Nirgends war Ben imstande gewesen, seinen Wissensdurst über den Jesus der Christen zu stillen. Und so hatte er beschlossen, in der Bibel zu lesen. Im verborgensten Winkel, den er ausmachen konnte, uneinsehbar für jegliche Juden, die vielleicht zufällig vorbeikommen mochten, hatte Ben mit der vor sich aufgeschlagenen Bibel in der öffentlichen Bibliothek gesessen.
Seine Lehrer und Rabbiner hatten ihn gelehrt, daß die Thora nur gegen die Gojim verteidigt werden konnte, wenn man sie auswendig lernte, ihre Gesetze streng einhielt und die Verunreinigung durch christliche Worte vermied. Aber das hatte Ben nicht zufriedengestellt, und seine Neugierde hatte ihn dazu getrieben, eine Tat zu begehen, die seine Lehrer entsetzt hätte. Ben hatte in seinem Innern gespürt, daß er wissen mußte, was die Gojim überhaupt sagten und woran sie glaubten. Der Feind mußte ebenfalls studiert werden.
So hatte Ben in seiner Neugierde und seinem Drang, zu verstehen, was Juden von Christen trennte, an einem winterlichen Tag das Neue Testament gelesen.
Es klopfte an der Tür, und eine vertraute Stimme fragte:»Dr. Messer? Sind Sie da drinnen?«
Er sprang auf und öffnete die Tür. Davor stand Judy Golden.»Dr. Messer, es ist vierzehn Uhr fünfzehn. Ich dachte mir, daß ich Sie vielleicht hier antreffen würde.«
«Was?«Er schaute hinaus zur Uhr.»Ach du lieber Himmel, wo bin ich gewesen?«
«Der ganze Kurs wartet schon.«
«Gehen wir. «Er schnappte seine Aktentasche, und sie eilten durch die Halle davon.
Nachdem er sich bei den Studenten in fast übertriebener Weise entschuldigt hatte, begann er unbeholfen mit seiner Vorlesung. Er war völlig unvorbereitet, war aber durch seine Erfahrung in der Lage, der Stunde den Anschein einer organisierten Vorlesung zu geben. Sein Blick ruhte ständig auf Judy Golden, die ihn ebenfalls nicht aus den Augen ließ. Und während er sprach, achtete er genau auf die Uhrzeit.
Die Post würde bald kommen. Rolle Nummer sechs würde eintreffen und auf dem Postamt darauf warten, daß er sie mit dem gelben Zettel abholen käme. David Ben Jona würde wieder einmal zu ihm sprechen.
David Ben Jona. Ben hatte letzte Nacht viel von ihm geträumt. Er hatte sich als David im alten Jerusalem gesehen, wie er mit Saul und Rebekka durch die Straßen schlenderte. An warmen Sommerabenden saß er in Magdala bei Rosa Messer, die über einem offenen Feuer Fisch briet. Im Traum hatte er viele Geschwister und eine glückliche Kindheit. So wohltuend war diese Vorstellung gewesen, daß Ben traurig war, als er beim Erwachen feststellte, daß er nur geträumt hatte.
Nach zwei Stunden, die Ben wie eine Ewigkeit erschienen, neigte sich die Vorlesung ihrem Ende entgegen. Es war ihm wirklich nicht leichtgefallen, sich zu konzentrieren, denn immer wieder hatte er sich dabei ertappt, wie er von David oder seiner Mutter oder seiner Kindheit in Brooklyn träumte. Es kostete Ben viel Kraft, in der Gegenwart zu bleiben. Und als die Stunde schließlich um war, packte er seine Aktentasche und eilte hinaus zu seinem Auto, noch bevor einer seiner Studenten aufgestanden war.
So hatte der vierzehnjährige Benjamin Messer in seinem Bemühen, zu verstehen, warum die Gojim ihn haßten, ohne ihn überhaupt zu kennen, das Neue Testament gelesen.
Am Anfang war es sehr verwirrend gewesen, denn die ersten vier Abschnitte, die als Evangelien bezeichnet wurden, stimmten nicht genau überein. Sie schienen sich in vielen
Punkten zu widersprechen. Der Teil, der den Titel» Die Apostelgeschichte «trug, war ihm als eine interessante Geschichtsdarstellung erschienen. Doch die daran anschließenden Briefe, die zur Offenbarung führten, beinhalteten keine weitergehende Auskunft über den Mann, den man Jesus nannte. Und so mußte sich Ben einzig und allein auf die vier Evangelien verlassen, in denen er aber trotz seines ernsthaften Bemühens die Grundlage für eine der größten Religionen der Welt nicht erkennen konnte. Daß Jesus ein guter Jude gewesen war, lag auf der Hand. Daß er wahrscheinlich auch Rabbiner gewesen war, erschien Ben ebenfalls einleuchtend. Doch daß sich sein Gerichtsverfahren genauso abgespielt haben sollte, wie es dort geschrieben stand, kam ihm unbegreiflich vor. Irgend etwas paßte nicht zusammen: die nächtliche Zusammenkunft des Synedriums, des Hohen Rats der Juden; die Tatsache, daß ein römischer Statthalter einen Haufen zusammengerotteten Pöbels um seine Entscheidung gebeten haben soll, und die Hinrichtung durch Kreuzigung statt der üblichen Steinigung. Er hatte die vier Evangelien wieder und wieder gelesen und konnte sie inzwischen auswendig. In ihrem Kern, das wußte Ben, lag der Ursprung des unter den Christen verbreiteten Antisemitismus. Denn laut diesen heiligen Büchern hatten sich die Juden des Mordes an ihrem Heiland schuldig gemacht.
Und doch konnte es nicht so sein. Der junge Ben hatte zwar gespürt, daß der Prozeß und die Tötung Jesu unlogisch waren. Doch damals hatte er noch nicht genau ausmachen können, wo das Problem lag. Erst Jahre später auf dem College hatte Ben endlich verstanden. Es war wirklich zu einfach. Die Darstellung in den Evangelien war voll von Irrtümern und falschen Angaben. Zunächst war da das Synedrium, der Hohe Jüdische Rat, der angeblich bei Nacht zusammengetreten sein sollte, was er jedoch nie tat. Zweitens, wenn die jüdischen
Führer Jesus der Gotteslästerung angeklagt und verurteilt hätten (wie sie es laut Markus 14,64 getan hatten), dann wäre die Strafe Tod durch Steinigen gewesen. Drittens, Pilatus stellte ihn allem Anschein nach wegen politischer Vergehen unter Anklage, während der Hohe Rat ganz andere Motive dafür hatte (Markus 15,1-10). Viertens war der Charakter von Pilatus durch die Überlieferung alter Geschichtsschreiber hinreichend bekannt. Daß ein so eigensinniger, überheblicher Mann einen jüdischen Mob bei seinen Entscheidungen zu Rate gezogen und vor dem Pöbel Schwäche gezeigt haben sollte, war wirklich absurd. Und der fünfte Punkt war, daß es sich bei der Kreuzigung um eine Bestrafungsart handelte, die nur von Römern und nur bei dem Verbrechen des Hochverrats angewandt wurde; und an den Querbalken über seinem Kopf war ein Schild genagelt worden, auf dem das Verbrechen Jesu beschrieben wurde — er hatte den Anspruch erhoben, König der Juden zu sein. Ganz klar ein Tatbestand des Verrats.
So stellte sich nun folgende Frage: Wie kam es, daß man mit einemmal die Juden der Ermordung Jesu bezichtigte? Wenn man die Lösung des Problems in den Evangelien vermutete, suchte man vergebens, denn diese waren unlogisch und voll verwirrender Widersprüche. Dennoch konnte man die Antwort leicht herausfinden, wenn man die Erzählung aus den Evangelien in Bezug zum geschichtlichen Rahmen setzte.
Das Markus-Evangelium war kurz vor der Zerstörung Jerusalems verfaßt worden, als in Rom eine heftige antijüdische Stimmung geherrscht hatte. Da Markus nicht imstande gewesen wäre, die dortigen Heiden zum neuen Christentum zu bekehren, wenn die römischen Statthalter für die Ermordung des Messias verantwortlich gewesen wären, hatte er einfach die Schuld von Pilatus auf die Juden abgewälzt— eine einfache Lösung, um zu erreichen, daß sein Evangelium in Rom akzeptiert würde. Als Ben sich langsam von seinem
Wagen entfernte, schüttelte er traurig den Kopf. Soviel zu dem Jesusmörder!
Ein Fetzen Papier war an dem großen, etwas mitgenommenen Umschlag befestigt, der Ben entgegenfiel, als er seinen Briefkasten öffnete. Darauf hatte sein Nachbar eine kurze Notiz gekritzelt. Der Postbote war wieder mit einem Einschreibebrief dagewesen und hatte eben den gelben Abholzettel in Bens Kasten werfen wollen, als der Musiker zufällig vorbeigekommen war. Er hatte wieder dafür quittiert.
In unermeßlicher Dankbarkeit drückte Ben den Umschlag an sich. Er würde diesem Burschen die teuerste Flasche Wein kaufen, die er finden konnte.
Dann hastete er so schnell er konnte die Treppe hinauf, stürmte in die Wohnung und in sein Arbeitszimmer, wo er sich auf seinen Stuhl fallen ließ und den Umschlag hastig aufriß. Obenauf lag die übliche schlecht getippte Mitteilung von Weatherby, und darunter befand sich ein weiterer versiegelter Umschlag. Er war dick und fühlte sich an, als enthielte er eine Menge Fotografien. Ohne die Notiz auch nur zu lesen, warf Ben sie vor sich auf den Schreibtisch, riß den zweiten Umschlag auf und zog liebevoll die Bilder daraus hervor. Vor ihm lag die vertraute Handschrift von David Ben Jona.
Rebekka war ein scheues, stilles Mädchen, das sich in meiner Gegenwart oft schüchtern hinter seinem Schleier versteckte. Ich weiß nicht, wann ich zum erstenmal spürte, daß ich sie liebte, aber es war ein Gefühl, das immer stärker wurde. Ich weiß nicht, was Rebekka für mich empfand, denn sie schlug oft die Augen nieder, wenn ich sie ansah. Für mich war sie wie ein zerbrechliches, kleines Vögelchen, so zart und kostbar. Sie hatte winzige Hände und Füße und kleine Sommersprossen im Gesicht. Und wann immer sie mich aus ihren schönen blaßgrünen Augen ansah, glaubte ich, das Entzücken selbst zu sehen.
Ich hätte in meiner Liebe zu der sanften Rebekka glücklich sein können, und doch war ich es nicht, denn die Gedanken an sie machten es mir oft schwer, mich auf mein Studium zu konzentrieren. Eleasar bemerkte es und gab mir weise Ratschläge. Aber es war nicht leicht, ihnen zu folgen. Ich war siebzehn und hätte Rebekka liebend gern zur Frau genommen. Was hätte ich ihr aber bieten können? Ich war arm. Als Schüler des Gesetzes hatte ich ein bescheidenes Leben zu führen und meine Freude einzig und allein aus der Ehre zu schöpfen, dem Rabbi dienen zu dürfen. Meine Kleidung war grob und schlicht. Jedesmal, wenn ich Rebekka sah, versuchte ich, die ausgefransten Ränder meines Umhangs zu verdecken oder die Stellen zu verbergen, auf die ich Flicken genäht hatte.
Rebekka schien keinen Anstoß an meiner Armut zu nehmen, und dennoch war ich mir nicht sicher, ob sie unter diesen Umständen eingewilligt hätte, meine Braut zu werden.
Ich hatte noch mehrere Jahre unter Rabbi Eleasar vor mir, bevor ich mein eigener Herr wäre. Und selbst dann, wenn ich Schriftgelehrter wäre, würde ich erst einmal Zeit brauchen, um das für eine Verbindung mit Rebekka nötige Geld und Ansehen zu erwerben. Ich erzähle Dir all dies, mein Sohn, weil es in direktem Zusammenhang zu dem steht, was als nächstes geschah — ein Ereignis, das möglicherweise den entscheidenden Wendepunkt meines Lebens herbeiführte. Und danach kam alles, wie es kommen mußte, bis zu jenem späteren Ereignis, über das Du die Wahrheit erfahren mußt und das der eigentliche Grund ist, warum ich dies schreibe. Doch im Augenblick muß ich Dir erst erzählen, was meine Liebe zu Rebekka und meine Armut bewirkten. In der freien Zeit, die Eleasar uns nun gewährte, führten Saul und ich ein sorgloses Leben. An einem Nachmittag und an einem Abend pro Woche durften wir das Studium ruhen lassen. Dann schlenderten wir durch die Straßen Jerusalems, erforschten die Gärten jenseits der Stadtmauern oder besuchten Freunde. Während wir uns im Gedränge des Marktplatzes voranschoben, stiegen uns die intensiven Gerüche von exotischen Speisen, teuren Düften, gegerbtem Leder und menschlichen Ausdünstungen in die Nase. Außergewöhnliche Anblicke übten eine magische Anziehungskraft auf uns aus: der Sklavenmarkt, die Stadttore, an denen täglich Fremde um Einlaß baten, die schönen heidnischen Frauen in ihren Sänften, Schlangenbeschwörer, Straßenmusikanten und römische Soldaten in ihren roten Umhängen. Jerusalem mit seinen vielen Gesichtern, Stimmen und Farben hörte nie auf, uns zu unterhalten. Und doch war ich in Gedanken meist bei Rebekka. Ich ging so oft mit ihr aus, wie ich konnte, ohne bei ihr Anstoß zu erregen, denn wir waren nicht verlobt. Und Eleasar sagte oft zu mir:»David Ben Jona, du darfst dich durch diese Betörung nicht vom Gesetz abbringen lassen. Wenn du nur ein einziges Mal bei der Befolgung des göttlichen Gesetzes schwankst, wenn du je in einer solchen Weise davon abkommst, daß du ihm Schande machst, dann wäre es gerade so, als hättest du auf das Allerheiligste gespuckt. Denn der Schriftgelehrte steht in einer Hinsicht über allen Menschen: Er ist auf dieser Erde, um Abrahams heiligen Bund zu schützen und dafür zu sorgen, daß das auserwählte Volk sich niemals von Gott abkehrt. Wenn du durch deine Vernarrtheit in Rebekka das Volk im Stich lassen solltest, dann hast du Gott im Stich gelassen, und das ist unverzeihlich.«
«Aber was kann ich tun, Rabbi? Ich muß ständig an sie denken. Und wenn ich neben ihr sitze, spüre ich eine merkwürdige Schwäche in meinen Lenden.«
Er antwortete:»Alle Diener Gottes werden in ihrem Leben viele Male in Versuchung geführt, und sie müssen dagegen ankämpfen. Das Einhalten des göttlichen Gesetzes ist keine leichte Aufgabe, und deshalb stehen wir über anderen Menschen. Durch unser Vorbild werden sie das Gesetz befolgen. Und das Gesetz muß an erster Stelle kommen, David. Wenn du ihm wegen dieses Mädchens den Rücken kehrtest, dann wäre es besser, du hättest nie das Licht der Welt erblickt.«
So tobte in meinem Innern ein Kampf. Ich sah keinen Ausweg. Ich mußte an meinem Studium festhalten und Rebekka vergessen. Doch ich konnte es nicht. Und eines Nachts, mein Sohn, trug das Fleisch den Sieg über meinen Geist davon.
Saul und ich hatten in einem der Gärten jenseits der Stadtmauern Oliven gegessen. Haus und Garten gehörten einem alten Mann, der allein lebte und sich über unsere Gesellschaft freute. Als die Sonne zu sinken begann, bat er uns, noch ein Weilchen zu bleiben, weil er so einsam sei. Er bot uns dafür von seinem besten Wein an. Saul und ich hatten in unserem Leben nur sehr wenig davon getrunken, denn Eleasar erinnerte uns beständig an Noahs Schwäche. Wir blieben und tranken etwas Wein mit ihm, in der Absicht, gleich zu gehen. Doch als der Wein erst einmal unser Blut erwärmt hatte, schien jeglicher Widerstand zu schwinden. Und so blieben wir und labten uns an des alten Olivenhändlers Wein. Als wir endlich aufbrachen, war ich ziemlich erhitzt und hatte mich nicht mehr ganz in der Gewalt. Der große, kräftige Saul schien hingegen nur wenig davon berührt zu sein. Wir sangen auf unserem Weg durch die engen, gewundenen Gassen Jerusalems und stießen schließlich durch Zufall auf eine berüchtigte Schenke. Keiner von uns hatte je zuvor eine Schenke besucht, so daß unsere Neugierde wuchs, als wir draußen vor der Tür standen und auf der anderen Seite die Lichter sahen und von drinnen fröhliche Stimmen hörten. Es war Saul, der vorschlug, wir sollten hineingehen und uns drinnen umsehen. Und ich willigte ohne weiteres ein. Wir erregten großes Aufsehen, so ärmlich wie wir gekleidet waren, mit unseren langen, schwarzen Bärten und unseren Schläfenlocken. Da sie selten Rabbinenschüler in ihrer Mitte sahen, luden uns die Heiden ein, uns zu ihnen zu setzen und uns mit ihnen zu unterhalten. Sie brachten uns Krüge mit ungewässertem Wein, den wir zuerst ablehnen wollten, schließlich aber doch tranken. Dabei schauten wir ganz unverhohlen auf junge Mädchen, die mit nackten Brüsten tanzten und sich von fremden Männern berühren ließen. Saul und ich waren befremdet, und doch starrten wir wie gebannt darauf. In der überfüllten Schenke gab es Kameltreiber, römische Soldaten und ähnliche Männer, die viel in der Welt herumgekommen waren. Sie erzählten uns Geschichten von fremden Völkern am anderen Ende der Welt, von Seeungeheuern und Fabelwesen und von fernen Orten, so daß uns vor Staunen der Mund offen stand. Ich weiß nicht genau, wann ich Salmonides traf; ob er schon die ganze Zeit über dagewesen war oder sich erst später zu uns gesellt hatte. Alles, woran ich mich entsinne, ist, daß ich ihn in meiner Benommenheit plötzlich neben mir sitzen sah und daß er mir eine lange, weiße Hand auf den Arm gelegt hatte. Er hatte ein merkwürdiges, zeitloses Gesicht, dazu weißes Haar und unergründliche blaue Augen. Er sprach ausgezeichnet Aramäisch, als ob es seine Muttersprache gewesen wäre.
Ich muß ihm wohl mein Leid in bezug auf Rebekka und meine Armut geklagt haben, denn er sagte:»Es gibt nur einen sicheren Weg, das Herz einer Frau zu gewinnen, und zwar durch Geld. Du mußt dein Studium nicht aufgeben, um von ihr ein Heiratsversprechen zu erlangen. Du mußt nur beweisen, daß du eines Tages in der Lage sein wirst, gut und anständig für sie zu sorgen. Dann wird sie sich einverstanden erklären, auf dich zu warten. Ich weiß das, denn die Frauen sind überall auf der Welt gleich. «Ich gab mir große Mühe, sein Gesicht deutlich zu sehen, aber ich vermochte es nicht. Wie aus weiter Ferne konnte ich Saul in Gesellschaft einiger Männer lachen hören. Unser Tisch war beladen mit Wein und Käse und Schweinswürsten, und alles war so köstlich, daß ich mich bis obenhin damit vollstopfte. Ich war ebenso berauscht vom Essen wie vom Wein und achtete daher nur wenig darauf, was ich sagte. Ich mußte Salmonides gegenüber wohl mein kleines Geldversteck erwähnt haben, denn er fuhr fort:»Geld wächst, wie es die Zeder und die Palme tun. Pflanze deine Schekel, mein redlicher Jude, und beobachte, wie sie zu großen Sesterzen sprießen.«
«Wer seid Ihr?«fragte ich.»Ein Hexenmeister?«
«Ich bin ein Händler aus Antiochia in Syrien. Übermorgen läuft eine Flotte von Joppe nach Ägypten aus. Sie werden dort große Mengen Korn für Rom an Bord nehmen, und wenn alle Schiffe es bis Ostia schaffen, wird das Unternehmen einen Riesengewinn abwerfen.«
«Was wollt Ihr von mir?«
«Der Kapitän dieser Schiffe braucht Geld, um seine Mannschaft zu bezahlen. Als Gegenleistung wird er seine Gewinne teilen. Du, mein Freund, hast nun Gelegenheit, dir einen Anteil an diesem Gewinn zu sichern. Gib mir das Geld, das du besitzt, und in sechs Monaten gebe ich dir dafür eine Riesensumme.«
«Und wenn die Schiffe untergehen?«fragte ich.»Das ist das Risiko, das alle Geldverleiher auf sich nehmen müssen. Wenn sie untergehen, wie es zuweilen vorkommt, wirst du dein Geld verlieren. Wenn sie es dagegen mit dem Korn bis Ostia schaffen.«
Wäre ich nüchtern gewesen, mein Sohn, hätte ich den Griechen nur ausgelacht und ihn stehenlassen. Aber ich war nicht nüchtern. Ich war siebzehn und betrunken und zu allem fähig, um Rebekka zu gewinnen.
Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt ich die Schenke verließ, aber Saul hatte mich wohl nicht gesehen, denn später sagte er, er habe meine Abwesenheit nicht bemerkt. Wie dem auch sei, irgendwie fand ich den Weg zu Eleasars Haus, stolperte, ohne jemanden zu wecken, die Treppe hinauf in mein Zimmer, holte meinen kleinen Geldschatz aus dem Versteck und wankte zurück zur Schenke. Als ich zurückkam, hatte der Grieche bereits einen Vertrag in zwei Ausfertigungen aufgesetzt, und ohne ihn durchzulesen, unterschrieb ich ihn bereitwillig. Salmonides nahm mein Geld und gab mir dafür das Stück Papier.
Und das ist alles von diesem Abend, woran ich mich erinnere. Saul erzählte mir tags darauf, daß er einmal zufällig aufgeblickt und mich schlafend an einem Tisch gesehen habe, an dem ich allein saß. Und so habe er sich von der Gruppe, mit der er zusammengesessen hatte, verabschiedet, mich auf seinen breiten Schultern nach Hause getragen und dort zu Bett gebracht. Der nächste Tag sollte der schlimmste meines Lebens werden. Die Scham war größer als irgendeine Last, die ich in meinem Leben getragen hatte. Ich erniedrigte mich vor Eleasar und schüttete ihm mein Herz aus. Während ich mit gesenktem Blick sprach, hörte er in ernster Stille zu. Ich erzählte ihm, daß ich mich in der Öffentlichkeit betrunken hatte, daß ich mich in der Gesellschaft nackter Mädchen und schändlicher Heiden aufgehalten hatte, daß ich reichlich Schweinefleisch gegessen und schließlich Salmonides mein ganzes Geld gegeben hatte.
Als ich fertig war, saß Eleasar für einen Augenblick in tödlichem Stillschweigen da. Dann stieß er einen solchen Schrei aus, daß ich vor Angst zitterte. Er schlug sich an die Brust, raufte sich das Haar und schrie heraus:»Womit habe ich das verdient, o Herr? Worin habe ich gefehlt? War es nicht dieser Knabe, in den ich meine größten Hoffnungen setzte und der als größter Rabbiner in Judäa meine Nachfolge hätte antreten sollen? Womit habe ich das nur verdient, o Herr?«
Eleasar fiel auf die Knie und tat lautstark kund, welches Unglück ihm widerfahren sei. Er gab sich selbst die Schuld an meiner Missetat, klagte, daß er als Lehrer versagt habe, und jammerte, daß er Gott enttäuscht habe, indem er seinen besten Schüler vom rechten Weg abgehen ließ.
Ich weinte mit ihm, bis die Tränen meine Ärmel durchnäßt hatten und ich nicht mehr weinen konnte. Als ich nur noch trockene Schluchzer von mir gab, schaute ich zu Eleasar auf und sah auf seinem Gesicht, wie groß sein Schmerz war.»Du hast Gottes heiliges Gesetz besudelt«, sagte er erbarmungslos.»David Ben Jona, durch dein eigenes Tun hast du den Bund Abrahams mit Füßen getreten und alle Juden vor Gott beschämt. Habe ich dich nicht recht gelehrt? Wie konntest du nur derart in die Irre gehen und so tief sinken?«
Saul, den der Wein nicht betrunken gemacht hatte, der das Schweinefleisch zurückgewiesen und kein Geld an einen Griechen verloren hatte, war bei Eleasar ebenfalls nicht mehr gut angesehen, und doch war es nicht dasselbe. Eleasar war auf Saul nicht so stolz gewesen wie auf mich. Er hatte in Saul nicht den Nachfolger für sein eigenes erhabenes Amt und für die Weiterführung der Tradition erblickt. Und wegen alldem blieb Saul ein Verweis von der Schule erspart. Anders verhielt es sich mit mir. Eleasar betrachtete meine abscheulichen Sünden als eine ihm persönlich zugefügte Schmach. Ich hatte ihn enttäuscht, und ich hatte das göttliche Gesetz beschmutzt. Es durfte keine Gnade für mich geben. Noch am selben Tage verbannte mich Eleasar aus seinem Haus und legte ein Gelübde ab, daß er mich niemals mehr als seinen Sohn ansehen wolle. Ich packte meine armselige Habe zusammen und lief auf die Straße hinaus, ohne zu wissen, wohin ich gehen oder was ich tun sollte.
Als Eleasars Tür hinter mir zufiel, war es, als hätte Gott selbst mir den Rücken zugekehrt. Ohne Eleasar und die Schule, beladen mit Schande und im Bewußtsein, daß ich jetzt weder als Ehemann für Rebekka noch für ein Leben unter Juden in Frage kam, erwägte ich ernstlich, mir das Leben zu nehmen.
Ben fühlte etwas an seiner Wange, und als er daran rieb, fand er eine Träne. Die Wirkung von Davids Worten, den tiefen Eindruck, den sie beim Lesen auf ihn machten, setzten Ben in Erstaunen. Als würde sich die Verzweiflung des alten Juden auf ihn übertragen, fühlte Ben sich innerlich krank und furchtbar elend. Er mußte fortfahren. Er mußte die letzten beiden Teilstücke von Rolle sechs lesen. Doch sein Blick war von Tränen verschleiert, und seine Nase fing an zu laufen. Er brauchte ein Taschentuch.
Ben stand vom Schreibtisch auf und drehte sich um.»Liebe Güte!«entfuhr es ihm.
Angie stand im Türrahmen.»Hallo, Ben«, begrüßte sie ihn mit sanfter Stimme.
«Mensch, was fällt dir eigentlich ein, dich so klammheimlich heranzuschleichen?«Er faßte sich an die Brust.
«Es tut mir leid, aber ich klopfte und klopfte. Ich habe Licht bei dir gesehen. So dachte ich mir, daß du zu Hause sein mußt. Ich bin mit meinem Schlüssel hereingekommen.«
«Wie lange hast du da gestanden?«
«Lange genug, um mich ein paarmal zu räuspern und keine Antwort von dir zu bekommen.«
«Mensch.«, wiederholte er und schüttelte den Kopf.»Für eine Weile war ich wieder in Jerusalem. «Ben nahm das Blatt
Papier, auf das er seine Übersetzung gekritzelt hatte.»Ich erinnere mich nicht einmal daran, das hier geschrieben zu haben. Alles, woran ich mich erinnere, ist, daß ich in Jerusalem war.«
«Ben.«
Er wandte sich zu ihr um.»Ben, wo warst du letzte Nacht?«
«Letzte Nacht?«Er rieb sich das Gesicht. Letzte Nacht, wann war das?» Laß mich nachdenken. Letzte Nacht war ich.. ich war hier. Warum?«
Angie wandte sich ab und ging langsam in das dunkle Wohnzimmer. Eine sternklare Nacht schien durch die offenen Vorhänge hinein, und rundum herrschte eine frostige Stille. Ben wollte ihr folgen, doch dann spürte er, daß er wie magisch an den Schreibtisch zurückgezogen wurde. Als er über die Schulter sah, fiel sein Blick auf den noch unübersetzten Teil von Rolle Nummer sechs im Schein der Leselampe. Er fühlte eine kalte Leere in seinem Innern. Davids Worte hatten ihn völlig niedergeschmettert. Er wollte sich mit Angie auf keine Diskussion einlassen. Er mußte wieder nach Jerusalem zurück.»Ben. «Angie wirbelte herum.»Ich habe dich gestern nacht angerufen, und eine Frau nahm den Hörer ab.«
«Was? Das ist unmöglich. Du hast sicher die falsche Nummer gewählt.«
«Sie meldete sich mit: >Bei Dr. Messer.< Wie viele Dr. Messers, glaubst du, gibt es in West Los Angeles?«
«Aber das ist doch albern, Angie. «Er unterbrach sich mitten im Satz und runzelte die Stirn.»Warte mal. Jetzt erinnere ich mich. Das war wohl Judy.«
«Judy!«
«Ja. Ich bin nach draußen gegangen, um Pizza zu holen.«
«Was für eine Judy?«Angies Stimme wurde lauter.»Eine Studentin von mir namens Judy Golden, die hier war, um etwas für mich auf der Maschine zu tippen.«
«Wie nett.«
«Ach, jetzt stell dich doch nicht so an, Angie. Eifersucht steht dir nicht. Sie hat etwas für mich abgetippt, nichts weiter. Ich habe weder dir noch irgend jemandem sonst Rechenschaft darüber abzulegen, was ich tue.«
«Ganz recht, das hast du nicht. «Obgleich es ihm nicht möglich war, ihren Gesichtsausdruck im Dunkeln zu erkennen, konnte er ihn sich doch anhand des Klangs ihrer Stimme vorstellen. Sie zitterte und versuchte, sich selbst in der Gewalt zu behalten. Die gute, alte leidenschaftslose, sich stets beherrschende Angie.»Bist du hergekommen, um zu streiten? Ist es das?«
«Ben, ich bin gekommen, weil ich dich liebe. Kannst du das nicht verstehen?«
«Werde doch nicht gleich so melodramatisch. Ich lasse eine Studentin Tipparbeiten für mich erledigen, und schon müssen wir uns gegenseitig unsere Liebe beweisen. Lieber Himmel, Angie, kannst du mir nicht einfach glauben und es dabei belassen?«
Ein lähmendes Stillschweigen herrschte im Raum. Angie war verwirrt, bestürzt. Früher war Ben so berechenbar gewesen. Sie hatte stets gewußt, wie er reagieren oder was er sagen würde. Warum war jetzt alles so anders?
Mit matter Stimme stellte sie fest:»Du hast dich verändert, Ben.«
«Und du ziehst falsche Schlußfolgerungen!«Er lachte nervös.»Wenn irgendjemand sich verändert hat, meine Hübsche, dann bist du es. Ich mußte mich dir gegenüber niemals rechtfertigen. Es bestand nie die Notwendigkeit großartiger Liebesbezeugungen. Was ist denn plötzlich in dich gefahren?«
Sie ging auf ihn zu. Als das Licht der Schreibtischlampe auf ihr Gesicht fiel, konnte Ben den seltsamen Blick in ihren Augen erkennen.
«Es geht nicht darum, was in mich gefahren ist«, erwiderte sie langsam.»Es geht darum, was in dich gefahren ist. Oder vielmehr. «Ihre Augen schweiften von seinem Gesicht ab und blieben an einem Punkt über seiner Schulter haften.»Vielmehr. wer in dich gefahren ist. «Eine kleine Sorgenfalte zeigte sich zwischen ihren Augenbrauen, als sie die Stirn runzelte.»Du bist nicht mehr der alte seit der Entdeckung dieser Schriftrollen. Ich kenne dich seit über drei Jahren, Ben, und ich habe geglaubt, dich besser zu kennen als irgend jemand sonst. Aber in den letzten paar Tagen bist du mir vorgekommen wie ein Fremder. Ich bin dabei, dich zu verlieren, Ben, ich verliere dich schnell, und ich weiß nicht, wie ich dich zurückholen kann. «Als Ben sah, daß Angie Tränen in die Augen schossen, zog er sie plötzlich an sich und preßte ihr Gesicht gegen seinen Hals. Eine unheimliche Furcht schwebte in diesem Moment über ihm, und es war ihm, als stünde er am Rande eines großen, schwarzen Abgrundes. Er schaute hinunter, konnte aber nichts sehen als tiefschwarze Finsternis. Er klammerte sich wie ein Ertrinkender an Angie und schwankte zwischen Vernunft und Wahnsinn, zwischen Wirklichkeit und Alptraum. Ben erkannte in diesem Augenblick, daß er selbst jetzt, da er versuchte, sich an Angie festzuhalten, immer weiter an den Rand des Abgrunds glitt.
«Ich weiß nicht, was es ist, Angie«, murmelte er verwirrt in Angies duftendes Haar.»Ich kann nicht von diesen Schriftrollen lassen. Es ist fast, als ob. als ob.«
Sie wich zurück und schaute mit tränenüberströmtem Gesicht zu ihm auf.»Sag’s nicht, Ben!«
«Ich muß, Angie. Es ist fast, als ob David Ben Jona einen Alleinanspruch auf mich erheben würde.«
«Nein!«schrie sie.»Du kannst davon loskommen. Du kannst, Ben. Ich werde dir dabei helfen.«
«Aber ich will ja gar nicht, Angie. Kannst du das nicht begreifen? Von Anfang an wollte er mich besitzen. Und jetzt hat er mich. Ich will nicht vor ihm davonlaufen, Angie. Er ist nun da, und ich kann ihm nicht entkommen. Ich muß herausfinden, was er versucht, mir mitzuteilen.«
Vor Ben gähnte der schwarze Abgrund, und er wußte, daß er im nächsten Augenblick hineinfallen würde.
«Ich werde nicht länger gegen ihn ankämpfen, Angie. Ich muß mich David völlig hingeben. Die Antwort liegt in diesen Rollen, und ich muß sie finden.«
Als Ben in den Abgrund des Vergessens hinabstürzte und die Wirklichkeit weit hinter sich ließ, hörte er noch, wie Angies Stimme ihm von weither zurief:»Ich liebe dich, Ben. Ich liebe dich so sehr, daß ich sterben könnte. Aber ich bin drauf und dran, dich zu verlieren, und weiß nicht einmal, an wen. Wenn es eine andere Frau wäre, wie diese Person, diese Judy, dann wüßte ich, mit welchen Waffen ich mich zu wehren hätte. Aber wie kann ich gegen einen Geist kämpfen?«Er wandte sich von ihr ab, da die magische Anziehungskraft der verbleibenden Fotos wieder auf ihn zu wirken begann. Er mußte zurück zu David.»Bitte, geh nicht weg von mir!«flehte sie.
Ben war über sich selbst erschrocken. Es war, als hätte er keine Kontrolle mehr über seinen Körper. Zum erstenmal in ihrer Beziehung zeigte Angie wahre Gefühle. Der Anblick ihrer blassen, zitternden Lippen und ihrer von Wimperntusche verschmierten Augen erschreckte ihn. Er hatte noch nie erlebt, daß Angie eine solche Szene machte. Er hatte nicht einmal geglaubt, daß sie dazu imstande wäre. Doch da stand sie nun, flehend und in Tränen aufgelöst. Unter anderen Umständen hätte Angies Auftritt Ben tief bewegt, aber in diesem Augenblick verfehlte er seine Wirkung völlig.»Ich kann es nicht ändern, Angie«, hörte er sich selbst sagen.»Ich kann nicht erklären, was es ist, aber es gibt in meinem Leben keinen Platz mehr für irgend etwas anderes als diese Schriftrollen. Ich muß Davids Worte lesen. Er verlangt nach mir.«
«Und ich verlange auch nach dir, Ben. Mein Gott, was geschieht nur mit dir?«
Doch er mußte von ihr weggehen. Er hatte David Ben Jona am Rande des Selbstmords inmitten von Elend und Hoffnungslosigkeit verlassen, und Ben mußte zu ihm zurückkehren. Das Bedürfnis, immer weiter zu lesen, wurde übermächtig. Er konnte sich Davids Einfluß nicht widersetzen.
Ben ließ sich wieder an seinen Schreibtisch nieder und wandte sich den aramäischen Buchstaben zu. Er hörte nicht mehr, wie Angie leise die Wohnung verließ.
Am oberen Rand des nächsten Fotos stand:»Mein Unglück läßt sich nicht mit Worten beschreiben. «Dann schilderte David seine Einsamkeit und Verzweiflung, als er durch die Straßen Jerusalems irrte, ohne einen Freund, ohne einen Ort, wohin er gehen konnte, und — was das Schlimmste war — von Gott verlassen.
«Wegen eines Augenblicks der Schwäche verlor ich alles, wonach ich gestrebt hatte; brachte Schande über mich und meine Familie, verlor die Frau, die ich liebte, und wurde von Gott verlassen. Konnte es ein erbärmlicheres, verachtenswerteres Geschöpf geben als mich?«
An dieser Stelle legte Ben seinen Kopf auf die Arme und schluchzte. Er weinte, als ob er selbst derjenige gewesen wäre, der einsam und allein, ohne Familie oder Freunde, durch die Straßen Jerusalems irrte, der Schande über den Namen seines Vaters gebracht hatte und von seinen Lieben verstoßen wurde; als ob er, Ben Messer, dafür verantwortlich wäre, daß ihm
Gottes Liebe nunmehr versagt blieb. Es riß ihm Herz und Seele aus dem Leib. Ihm war übel, kalt und hundeelend. Indem er David Ben Jonas Leid auf sich nahm, durchlebte Ben Messer noch einmal jenen schrecklichen Tag vor zweitausend Jahren.
Und als er die Last von Davids Not schließlich nicht mehr länger ertragen konnte, sprang er mit einem Satz auf und stolperte blind zum Telefon. Er wählte, ohne nachzudenken, und als sie antwortete, sagte er in einer Stimme, die nicht seine war:»Judy, kommen Sie bitte. Ich brauche Sie.«