Die Zwangsvorstellung wurde immer mächtiger. Wohin Ben sich auch wandte, David Ben Jona war da. Der Jude stand am Rande seiner Träume und beobachtete das Geschehen wie ein unbeteiligter Zuschauer. Als Ben in bizarren Alpträumen von Majdanek und seiner Kindheit in Brooklyn wieder mit der Vergangenheit kämpfte, stand David Ben Jona untätig dabei, als wollte er die Grenzen von Bens Leidensfähigkeit ergründen.
«Warum diese Träume?«murmelte Ben, als er am nächsten Morgen wieder unausgeschlafen und verstört erwachte.»Warum muß ich das erdulden? Ist es nicht genug, daß mich nach all diesen Jahren meine Vergangenheit wieder eingeholt hat und ich nicht mehr imstande bin, sie aus meinem Gedächtnis zu verbannen? Ich verstehe nicht, warum ich diese heftigen Alpträume haben muß!«
Er schleppte sich auf bleischweren Füßen durch die Wohnung, während sich das nebelhafte Gespenst David Ben Jonas dicht an seiner Seite hielt. Ben war nicht nach Essen zumute. Auch hatte er keine Lust, irgend etwas anderes zu tun, außer die nächste Rolle zu lesen. Vor vier Uhr nachmittags würde sie nicht eintreffen, und Ben fürchtete sich vor den Stunden des Wartens.
In der Hoffnung, daß er davon einschliefe, schenkte Ben sich ein großes Glas Wasser ein, trank es in einem Zug aus und legte sich erschöpft auf die Couch.
Judy mußte diesmal nicht an die Tür klopfen, denn zu ihrer großen Überraschung stand sie halb offen. Es war acht Uhr abends. Sie war sich sicher, daß Ben zu Hause war und an seiner Übersetzung saß, doch in der Wohnung brannte kein Licht.
Vorsichtig streckte sie ihren Kopf hinein.»Ben? Schlafen Sie? Ich bin’s.«
Totenstille.
«Ben?«Sie trat ganz ein und schloß leise die Tür hinter sich.
Die Wohnung war dunkel und kühl. In der Luft hing unverkennbar der Geruch nach Alkohol. Judy bemühte sich, etwas zu sehen. Als plötzlich etwas Warmes ihr Bein berührte, stockte ihr der Atem.»Oh, Poppäa!«rief sie.»Hast du mich vielleicht erschreckt!«Judy nahm die Katze auf den Arm und ging weiter in die Wohnung. Ben lag auf dem Wohnzimmerboden, neben einer leeren Weinflasche und einer leeren Scotch-Flasche. In unmittelbarer Nähe lag ein umgestoßenes Glas, inmitten eines roten Flecks auf dem Vorleger. Judy kniete sich neben ihn und schüttelte ihn an der Schulter.»Ben? Ben, wachen Sie auf.«
«Hm? Was gibt’s?«Sein Kopf rollte von einer Seite auf die andere.»Ben, ich bin’s, Judy. Ist alles in Ordnung?«
«Ja.«, lallte er.»Is schon gut.«
«Ben, wachen Sie auf. Es ist spät. Kommen Sie schon. «Er hob zitternd eine Hand und faßte sich an die Stirn.»Fühl mich hundeelend.«, stammelte er.»Ich glaub’, ich sterbe.«
«Heda«, flüsterte sie,»so schnell stirbt man nicht. Aber Sie müssen aufstehen. Wie sieht es hier aus!«
Endlich schlug Ben die Augen auf und versuchte, sie anzusehen.»Es war Davids Schuld, wissen Sie?«brachte er undeutlich hervor.»Er hat mich dazu getrieben. Ich habe zwei Stunden lang am Briefkasten gewartet, aber die Rolle ist nicht gekommen! Das hat er absichtlich getan. Er beobachtet mich, Judy. Die ganze Zeit über. Egal, was ich tue, dieser gottverdammte Jude steht immer neben mir.«
«Stehen Sie bitte auf.«
«Oh, wozu soll das gut sein? Es gibt keine Rolle. Wie soll ich das heute nacht und morgen nur durchstehen?«
«Seien Sie unbesorgt. Ich werde Ihnen helfen. Los jetzt. «Sie schob einen Arm unter seine Schultern und half ihm, sich aufzusetzen. Dabei schaute Ben in ihr Gesicht, das so dicht an dem seinen war, und murmelte:»Wissen Sie, früher fand ich nicht, daß Sie hübsch seien, aber jetzt sehe ich es.«
«Danke. Meinen Sie, Sie können aufstehen?«
Er umklammerte seinen Kopf mit den Händen und schrie:»David Ben Jona, du bist ein niederträchtiger Halunke! Ja. ich denke, ich kann aufstehen.«
Judy stöhnte, als sie Ben auf die Beine half. Es gelang ihr, ihn ins Badezimmer zu führen, wo sie das große, helle Licht einschaltete und ihn mit fester Stimme anwies, sich unter die Dusche zu stellen. Er gehorchte ohne Widerspruch. Als er sich auszog, drehte Judy das Wasser auf und ließ ihn dann allein. Im Schlafzimmer fand sie Kleider und Wäsche zum Wechseln, reichte sie ihm durch die Badezimmertür hinein und rief:»Lassen Sie sich nur Zeit!«Dann ging sie zurück ins Wohnzimmer und brachte es, so gut sie konnte, in Ordnung. Als Ben eine halbe Stunde später wieder herauskam, sah er etwas besser aus. Er sagte kein Wort, als er zur Couch hinüberging, sich setzte und anfing, den starken Kaffee zu trinken, den sie für ihn bereitgestellt hatte. Fünf lange Minuten vergingen, bis er endlich zu ihr aufsah.»Es tut mir leid«, entschuldigte er sich leise.»Ich weiß.«
«Ich weiß einfach nicht, was mit mir los ist. Ich habe nie zuvor so etwas getan. Ich blicke einfach nicht mehr durch. «Wie er so dasaß und den Kopf schüttelte, versuchte Judy sich vorzustellen, was er durchmachte. Sie sah sein gealtertes, blasses Gesicht mit dem Stoppelbart und fragte sich, wie es wohl für einen Menschen sein mußte, wenn man ihm plötzlich seine Identität aus dem Leibe reißt und ihn ohne irgendeinen
Ersatz einfach stehenläßt. Ohne irgend etwas Greifbares, nur mit entsetzlichen Erinnerungen.»Ich erinnere mich«, begann er mit belegter Stimme,»ich erinnere mich noch genau daran, wie meine Mutter und ich am Schabbes im Dunkeln saßen, und wie sie mir immer und immer wieder einschärfte; >Benjy, deine Aufgabe ist es, unter den Juden ein Führer zu sein. Dein einziger Lebensinhalt muß darin bestehen, ein großer Rabbiner zu werden und die Juden zu lehren, die Thora als Schutzschild zu benutzen.««
Er zwang sich zu einem trockenen Lachen.»Sie hatte immer nach Eretz Israel gehen wollen, doch statt dessen war sie in die Vereinigten Staaten gekommen. Sie sprach ständig davon, eines Tages mit ihrem Sohn, dem berühmten Rabbiner, nach Israel auszuwandern. «Er starrte nachdenklich in seinen schwarzen Kaffee.»Ich habe den Teppich bestimmt verhunzt, nicht wahr?«
Judy schaute auf den großen Weinfleck, der den Teppich verunstaltete.»Mit Shampoo müßte man den Flecken schon rauskriegen.«
«Das ist schön, aber im Grunde ist es mir auch egal. «Ben richtete seine blauen Augen auf Judy, und sie sah, wie sorgenvoll sie waren.»Ich hinterfrage es nicht mehr. Es ist einfach geschehen. Wer weiß, warum? Vielleicht ist der Fluch Mose daran schuld. Aber es ist mir gleich. David steht in diesem Augenblick hier neben mir und horcht mit, was ich Ihnen sage. Ich habe keine Ahnung, worauf er wartet, doch ich nehme an, daß ich es erfahren werde, wenn das geschieht, was er erwartet.«
Ben trank wieder ein paar Schluck Kaffee, während sein Blick abermals an dem Teppichflecken haften blieb. Als er endlich die Tasse abstellte, stieß er einen langen, tiefen Seufzer aus.»O David. David«, entfuhr es ihm. In seinen Augen standen Tränen.»Was ist dir vor all diesen Jahren widerfahren? Wie bist du gestorben? Und woher wußtest du, daß du sterben würdest? Du hast einmal daran gedacht, dir das Leben zu nehmen, als es dir unerträglich erschien, weiterzumachen. Ist es das, was am Ende passierte? Hofftest du darauf, im Selbstmord Trost zu finden?«
Judy langte zu ihm hinüber und legte ihre Hand auf die seine. Sehr lange blieben sie so sitzen und starrten vor sich hin.
Tags darauf kam sie am frühen Nachmittag zurück. Sie hatte Bens Wohnung um Mitternacht verlassen, nachdem sie sich vorher noch darum gekümmert hatte, daß er eine Weile schlief. Danach war sie nach Hause gegangen und hatte Vorbereitungen für den Fall getroffen, daß sie ihren Hund Bruno in den nächsten Tagen zu jemandem in Pflege geben müßte. Judy ahnte, daß sie vielleicht bald für längere Zeit von zu Hause weg wäre.
Nach ihren beiden Vorlesungen an der Uni hatte sie in einem Supermarkt eingekauft und traf um Punkt drei Uhr bei Ben ein. Als er auf ihr Klopfen nicht reagierte, kramte sie den Wohnungsschlüssel aus ihrer Tasche, den Ben ihr am Abend zuvor mitgegeben hatte, und öffnete die Tür. In der Wohnung stellte sie zu ihrer Überraschung fest, daß er nicht zu Hause war.
Das Bett war sorgfältig gemacht, das Wohnzimmer ein wenig aufgeräumt, und in der Küche standen frisch gespülte Kaffeetassen. Im Arbeitszimmer stieß Judy dagegen auf das vertraute Durcheinander. Auf dem überquellenden Schreibtisch lag die Post vom Vortag, darunter auch ein ungeöffneter Brief von Joe Randall, dem Mann, der auf eine Übersetzung des alexandrinischen Kodex’ wartete. Ganz oben auf dem unordentlichen Haufen lag ein Stück geblümtes Briefpapier, auf dem in einer weiblichen Handschrift eine kurze Mitteilung geschrieben stand. Es stammte von Angie. Eine Hotelagentur hatte ihr einen Job in Boston angeboten, und sie beabsichtigte, ihn anzunehmen. Dies würde bedeuten, daß sie eine Zeitlang fort wäre. Falls Ben darüber sprechen wollte, wäre sie noch bis morgen abend zu Hause. Dann würde sie aufbrechen.
Ein Stück Klebestreifen auf der Rückseite deutete darauf hin, daß Ben die Notiz wohl an seiner Wohnungstür vorgefunden hatte. Judy gab Poppäa etwas zu fressen und räumte die Lebensmittel weg. Dann verließ sie die Wohnung durch den separaten Küchenausgang. Sie wußte ganz genau, wo sie Ben finden würde.»Hallo«, begrüßte sie ihn, als sie die Hintertreppe herunterkam. Er saß auf der untersten Stufe und hielt bei den Briefkästen Wache.»Hallo«, erwiderte er schwerfällig.»Haben Sie heute nacht besser geschlafen?«
«Nein, ich wurde von denselben grausigen Bildern gequält. Von der Vorstellung, daß der Boden unter meinen Füßen nachgäbe. Von Massenmorden und Verfolgungen. Gott, warum macht David so etwas mit mir?«
«Ich sah den Brief von Randall. Haben Sie den Kodex nicht weiterübersetzt?«Ben schüttelte den Kopf.
Judy setzte sich neben ihn und nickte verständnisvoll. Auch sie hatte das Interesse an dem alexandrinischen Kodex verloren. Der Postbote kam fünfundvierzig Minuten später, und sowie Ben für den Umschlag quittiert hatte, hastete er in Windeseile die Treppe hinauf und ließ Judy weit hinter sich. Oben angekommen, riß er den Umschlag auf, zog die Fotos heraus und warf den Rest auf den Fußboden.
Als Judy zu ihm ins Arbeitszimmer trat, war er eben dabei, sich auf dem Schreibtisch Platz zu schaffen. Mit einer ausladenden Armbewegung fegte er über den Tisch, so daß alles krachend zu Boden fiel. Dann setzte er sich sofort hin, um die Rolle zu lesen. Sein Gesicht war rot vor Begeisterung; seine weit aufgerissenen Augen schienen beinahe aus den
Höhlen zu treten. Er leckte sich die Lippen, als schickte er sich an, einen Festschmaus zu verzehren. Judy hob ein Stück Papier vom Boden auf.»Es ist ein Brief von Weatherby. Wollen Sie ihn lesen?«Er schüttelte heftig den Kopf. Mit seinem Kugelschreiber, der sich rasch über ein sauberes Blatt Papier bewegte, hatte Ben bereits mit der Arbeit begonnen.
«Er schreibt, es gebe danach nur noch eine weitere Rolle.«
«Gut, gut«, gab er ungeduldig zurück, ohne aufzusehen.»Das bedeutet, daß der ganze Spuk morgen vorbei ist.«
«Und er schreibt. «Judy hielt mitten im Satz inne. Im nächsten Augenblick beschloß sie, Ben den restlichen Inhalt des Briefes nicht mitzuteilen, zumindest jetzt noch nicht, weil er doch gerade so wahnsinnig glücklich war und sich wieder dort befand, wo er sich so verzweifelt hinsehnte.
Simon war einer jener frommen Asketen, die in einer religiösen Gemeinschaft am Salzmeer unweit von Jericho leben. Er trug ein makelloses weißes Gewand und praktizierte die bemerkenswerten Wunderheilungen, für welche die Essener bekannt sind. Ich war sofort von ihm beeindruckt, denn obgleich seine Stimme sanft und seine Rede maßvoll war, klangen seine Worte gewichtig, und alles, was er sagte, war von großer Bedeutung.
Als Miriam uns miteinander bekanntmachte, küßte Simon mich auf die Wange und erklärte, daß es sich dabei um ihren Gruß handelte, der bedeutete: Friede sei mit dir, Bruder. Daraufhin wusch er mir die Füße und brach das Brot mit mir. In Jerusalem trifft man nicht selten auf Angehörige der unterschiedlichsten religiösen Sekten, von den extremen Nazaräern, die Samsons Beispiel folgen, bis zu den schwerttragenden Zeloten, welche die Thora mit dem Blut von Israels Feinden nähren. Doch in den vielen Jahren, die ich nun schon in Jerusalem lebte, war ich so mit Eleasar und dem Studium des Gesetzes beschäftigt gewesen, daß ich nicht ein einziges Mal Gelegenheit gefunden hatte, mich mit einem der edlen Essener zu unterhalten.»Wir leben in Erwartung der Endzeit«, erklärte mir Simon,»die jederzeit über uns hereinbrechen kann. Und während einige meiner Brüder im Kloster, in der Wüste und in anderen abgeschiedenen Gemeinschaften bleiben, ziehen meine Freunde und ich unter die Leute und verkünden die Wiederkunft. «Er fuhr fort, mir die Philosophie seiner Sekte auseinanderzusetzen, die darin bestand, Gottes Gesetz in seiner Reinheit zu bewahren und sich für die Wiederkehr des nächsten Königs von Israel rituell rein zu halten. Nach Simons Ansicht und der seiner vielen Freunde stand diese Wiederkehr kurz bevor.
Seine Rede war klar und vernünftig und bewies eine außergewöhnliche Kenntnis des Gesetzes und der Propheten.»Seid Ihr ein Rabbi?«fragte ich ihn.
«Ich bin nur einer der Armen, der Söhne des Lichts, welche die Erde erben werden.«
Die meisten Juden warten auf die Zeit, da Gott seinen Stellvertreter auf die Erde herabsenden werde, um die Vorherrschaft Israels über alle anderen Völker zu verwirklichen. Simon bildete darin keine Ausnahme. In vielerlei Hinsicht erinnerte er mich an Eleasar, der ein Pharisäer war und ebenfalls in Erwartung des Messias lebte. Und doch unterschieden sich ihre Auffassungen in einem Punkt: Während Eleasar von einer Zeit sprach, die noch kommen sollte, behauptete Simon, dem neuen König bereits begegnet zu sein.»Wo ist er?«erkundigte ich mich.»Wie heißt er?«
«Er ist fort und bereitet sich vor. Sein Name ist nicht von Belang. Aber er ist von königlichem Geblüt, der letzte aus der
Linie der Hasmonäer und ein Nachfahre Davids. Ihr werdet ihn kennenlernen, wenn er zurückkehrt.«
Simon und ich saßen bis spät in die Nacht zusammen, und ich verließ Miriams Haus in der Oberstadt mit gemischten Gefühlen. Ich konnte Simons Prophezeiung kaum glauben, wonach unser Königreich schon jetzt kommen sollte. Und doch hatte er so überzeugend gesprochen, daß ich in den darauffolgenden Tagen an nichts anderes denken konnte.
Zu meiner Überraschung nahm Eleasar Simons Überzeugungen mit größter Vorsicht auf.»Die Mönche sind gute Menschen und halten das Gesetz rein«, sagte er.»Aber in ihrem Eifer, das Königreich Israel wieder errichtet zu sehen, sind sie zu fanatischen Schwärmern geworden. Sie sind voreilige Menschen, David, und irren sich in ihren Voraussagen. Jedermann weiß, daß keiner vom Stamm der Hasmonäer übriggeblieben ist, denn der letzte wurde vor Jahren durch die Römer hingerichtet.«
«Kann es vielleicht einen anderen geben, der sich versteckt hielt?«fragte ich.
«Wenn ein rechtmäßiger Anwärter auf den Thron heute noch am Leben wäre, so würden wir von ihm wissen, denn alle Juden würden sich zu seiner Unterstützung zusammentun. Doch wie ich schon sagte, wurde der letzte kurz vor deiner Geburt gekreuzigt.«
Ich glaubte Eleasar, aber wenngleich Simons Worte mich nicht überzeugten, so machten sie mich doch neugierig, und so kehrte ich in Miriams Haus zurück.
Eines Abends nahm ich Rebekka mit mir, und sie ließ sich sofort zu dem neuen Glauben bekehren. Simon überzeugte sie davon, daß der Messias schon unter uns geweilt habe und daß er zurückkehren werde.
Da fragte ich Simon:»Wenn er schon einmal hier war, warum ist er dann wieder weggegangen?«
«Weil er das erste Mal kam, um sein eigenes Kommen zu verkünden. Er ist erschienen, um uns Zeit zu geben, uns vorzubereiten. Wenn er das nächste Mal durch die Straßen Jerusalems zieht, wird er als Gottes Stellvertreter kommen, und all jene, die nicht vorbereitet sind, werden verdammt sein.«
«Wohin ist er gegangen?«forschte ich.
Und hier ist die verblüffende Antwort, die Simon mir gab: Er sprach:»Unser Meister fand an einem römischen Holzkreuz den Tod und wurde von Gott wieder zum Leben erweckt, um den Menschen zu zeigen, daß er wirklich unser neuer König sei. «Während Rebekka dies ohne Widerspruch hinnahm und der neuen Sekte, die sich» die Armen «nannte, beitrat, war ich dazu nicht imstande. Und so beriet ich mich ein zweites Mal mit Eleasar. Er warnte mich:»Diese Männer sind fehlgeleitet, David. Ihr Führer starb nicht an dem Holzkreuz, denn er hing dort nur für ein paar Stunden. Jedermann weiß, daß der Tod am Kreuz erst nach Tagen eintritt. Er wurde von Männern in weißen Gewändern, die von einfältigen Augenzeugen als Engel bezeichnet wurden, heruntergenommen und in ihr Kloster am Salzmeer gebracht. Du hast selbst die Wunder gesehen, die die Mönche dort schon seit über hundert Jahren in der Heilkunst vollbringen, und der Name Essener, den sie sich geben, bedeutet soviel wie >Heilender<. Ich zweifle nicht daran, daß ihr Führer heute am Leben ist und sich in der Wüste versteckt hält. Sie sind Fanatiker, David, die verzweifelt danach trachten, das Joch römischer Unterdrückung niederzureißen, und sich blind an ein Wunder klammern, das nie stattgefunden hat. «Ein zweites Mal ließ ich mich von Eleasar überzeugen und ging mit dem Gedanken weg, daß Simon zwar ein guter Jude sei, aber fehlgeleitet.
Statt mich zum Passah-Fest Eleasar und seiner Familie anzuschließen, wie es meine Gewohnheit war, begab ich mich diesmal in Begleitung von Rebekka und dem Olivenhändler, für den ich arbeitete, in Miriams Haus. Ich tat dies aus zwei Gründen: Erstens war es Rebekkas Wunsch, und zweitens war ich neugierig auf das Ritual von religiösen Menschen, die dem Tempelkult abgeschworen waren.
Zu Anfang unterschied sich der Ablauf nur unwesentlich von dem mir bekannten, und Simon rezitierte die vier Fragen während der ersten Liturgie. Doch dann änderte sich das Fest und ging in das traditionelle Liebesfest der Essener über, wie sie es schon seit hundert Jahren feiern. Dabei teilt man Brot und Wein miteinander in der Erwartung des Tages, an dem man sie mit dem neuen König Israels teilen wird. Obgleich ihr Passah-Fest im wesentlichen dem eines jeden guten Juden entsprach, unterschied es sich davon durch den symbolischen Messias in unserer Mitte. Ein drittes Mal wandte ich mich an Eleasar, und ich spürte, daß er langsam die Geduld mit mir verlor. Ich erzählte ihm:»Dieser Mann namens Simon sprach von den Prophezeiungen Jesajas und Jeremias’ und erklärte, daß ihr Meister die Erfüllung dieser Prophezeiungen sei. «Doch Eleasar entgegnete:»Sie benutzen Jesaja, um ihre falschen Lehren zu untermauern. Der Erlöser Israels ist noch nicht gekommen, weil wir seiner noch nicht würdig sind.«
«Aber sie geben sich Mühe, sich würdig zu verhalten«, wandte ich ein,»und sie versuchen, anderen zu helfen, einen Zustand der Reinheit zu erlangen. Das sind ganz außergewöhnliche Juden, Rabbi. Vielleicht sollten wir auf sie hören. «Jetzt wurde Eleasar ärgerlich.»Sie sind in ihrer Befolgung des Gesetzes nicht so streng wie ich, und trotzdem bin ich noch nicht würdig genug, den Messias zu empfangen.«
Zum ersten Mal bemerkte ich in seiner Demut einen Hang zum Stolz, als ob Eleasars Bescheidenheit in nicht geringem Maße seiner Eitelkeit diente.
«Aber sie sind wirklich anständige Leute«, gab ich zurück,»und so tadellos, wie Juden nur sein können. Sie leben nicht nur nach dem Gesetz, Eleasar, sondern ebenso für das Gesetz, und so will Gott es haben. «Darauf schwieg Eleasar, und so nahm ich für diesen Tag von ihm Abschied.
Von da an besuchte ich Miriams Haus regelmäßig, bis auch ich mich eines Tages bekehren ließ. Als Teil der Zeremonie meiner Aufnahme in die Gemeinschaft der Armen wurde ich tief in ein Becken mit Wasser eingetaucht. Sie nannten es Taufe, ein Ritual, das schon seit über hundert Jahren von ihnen praktiziert wurde. Wenn ich damit auch kein Essener wurde, keine weißen Gewänder trug und auch nicht ihre Heilkunst erlernte, so wurde ich doch in ihre Gemeinschaft aufgenommen und von allen Bruder genannt. Gleichzeitig willigte ich ein, meine irdischen Güter mit meinen neuen Brüdern und Schwestern zu teilen, ihnen in jeder Notlage zu helfen und mich nach den Vorschriften des Gesetzes rein zu halten, so daß ich vorbereitet sei, wenn der Meister zurückkehre. Und so kam es, mein Sohn, daß ich dem Neuen Bund beitrat und mich den frömmsten aller Juden anschloß. Kein Tag verging, an dem ich meinen eigenen Wert nicht hinterfragte.
Die Zeit kam, als Salmonides mich wieder aufspürte, um mir den Gewinn aus der Gerstenernte auszubezahlen. Ich bedachte ihn mit einem stattlichen Honorar, teilte das restliche Geld mit Miriam und den Armen und gab auch ein wenig dem Olivenhändler, für den ich arbeitete. Auf Salmonides’ weisen Rat hin verlieh ich einen Teil an einen Karawanenführer, der nach Damaskus ziehen wollte. Als der Olivenhändler zwei Monate später starb und mir, den er wie einen Sohn liebte, sein ganzes Hab und Gut hinterließ, fand ich mich plötzlich in bescheidenem Wohlstand wieder. Und so fühlte ich mich nun fähig und würdig, Rebekka zur Frau zu nehmen.
Sie saß unter dem Baldachin vor Miriams Haus, während sich all unsere Freunde um uns scharten, uns beglückwünschten und mit uns feierten. Der Meister würde bald kommen, vielleicht schon morgen, und dann wollte ich Rebekka an meiner Seite haben. Als Mann und Frau würden wir dem neuen König an den Toren Jerusalems zujubeln.
Eleasar sprach nicht mehr mit mir. Es war, als ob ich mich für ihn in Luft aufgelöst hätte und nicht mehr existierte. In seinen Augen hatte ich Gott eine fürchterliche Schmach zugefügt, doch in meinen Augen wurde ich vor Gott rein. Eleasar war ein konservativer Rabbi, einer, der in der Vergangenheit und für die alten Gesetze lebte. Er wollte einfach nicht begreifen, daß dies tatsächlich die Endzeit war, die Jesaja und Daniel vorausgesagt hatten. Er wollte auch nicht einsehen, daß, während die alte Welt das alte Gesetz brauchte, ein neues Zeitalter ein neues Gesetz verlangte. Dieses neue Gesetz war der Neue Bund — das Neue Testament, das die Thora nicht aufhob, sondern vollendete. Es war keinesfalls so, daß wir dem Gesetz der Bücher Mose entsagt hätten. Ganz im Gegenteil waren wir nun eifriger als früher darauf bedacht, es einzuhalten. Dennoch änderten sich für uns zwei Dinge: Wir sahen den Tempel nicht länger als notwendig an, um den Bund des Herrn heiligzuhalten, denn wir verrichteten unsere Andacht nun zu Hause; und wir hatten neben dem Sabbat einen zweiten heiligen Tag — an dem wir unser essenisches Fest der Liebe begingen und Simon oder einem der Zwölf zuhörten, wie sie über den kommenden König sprachen. Es schmerzte mich, Eleasar zu verlieren, aber es war eine andere Art von Schmerz als der, der mich zwei Jahre zuvor zu der Überlegung getrieben hatte, mir das Leben zu nehmen. An jenem düsteren Tag hatte Eleasar mich mit Schimpf entlassen und weggejagt. Diesmal verließ ich ihn für eine Aufgabe, die heiliger war als die seine.
Ich blieb auch weiterhin mit Saul befreundet. Obwohl er sich mit meinem neuen Glauben nicht im geringsten einverstanden zeigte — er stand ja noch immer unter Eleasars Einfluß —, respektierte er dennoch mein Recht, ihm zu huldigen. Und ich gab Saul das Versprechen, daß ich, auch wenn er sich den Armen nicht als Mitglied anschlösse, am Tage der Rückkehr unseres Meisters nach Jerusalem für ihn sprechen und seinen Wert bezeugen würde. All dies ereignete sich sechzehn Jahre vor der Zeit, über die ich dir noch berichten muß. Doch obgleich diese Begebenheiten dem Tag, über den du erfahren mußt, weit vorausgingen, lasten sie schwer auf den späteren Ereignissen. Ohne das, was vorher passierte, wäre es später wohl niemals zu meiner niederträchtigen Tat gekommen.
Eine weitere Wende in meinem Leben sollte eintreten, die mich meinem unvermeidlichen Schicksal immer näher brachte. Und ich denke, mein Sohn, daß ich vielleicht jetzt nicht in Erwartung meiner letzten Stunde hier in Magdala sitzen würde, wenn diese eine Sache hätte abgewendet werden können.
Doch dazu bestand keine Möglichkeit, denn wir besitzen als einfache Menschen nicht die Fähigkeit, in die Zukunft zu sehen. Und so konnte ich nicht ahnen, daß an einem bestimmten Sommerabend, als ich auf meinem Anwesen unter den Olivenbäumen saß, mein Schicksal auf immer besiegelt werden sollte. Denn an diesem Abend stellte Saul mir Sara vor.
Um Mitternacht wurden sie mit der Rolle fertig, wobei Judy mitlas, während Ben seine Übersetzung niederschrieb. Sie hatte einen Stuhl herangezogen und saß neben ihm, begierig über das Heft gebeugt. Als er die letzte Zeile geschrieben hatte, ließ Ben den Kugelschreiber sinken und faßte sich ans Handgelenk, da ihm plötzlich bewußt wurde, daß er einen Schreibkrampf hatte.
Nach einer Weile wandten Ben und Judy sich einander zu und schauten sich an, während ihre Gesichter von dem grellen Licht der Schreibtischlampe angestrahlt wurden. Zum ersten Mal hatten die beiden einen Abend zusammen im alten Jerusalem verbracht, und durch diese Erfahrung fühlte sich Ben ihr näher als je zuvor.»Ich hatte recht«, flüsterte er schließlich.»David war ein gebildeter und wohlhabender Mann. Das wußte ich von Anfang an. Er wird seinen Reichtum mehren, da bin ich mir ganz sicher. In der nächsten Rolle wird er uns von immer größeren Gewinnen berichten. «Ben lehnte sich bequem im Sessel zurück und versuchte, seine stechenden Rückenschmerzen nicht zu beachten.»Haben Sie nicht etwas gesagt. ein Brief von Weatherby? Etwas darüber, daß die nächste Rolle die letzte sei?«
Judy antwortete nicht. Der Augenblick war zu schön, zu zerbrechlich, um gerade jetzt mit schlechten Nachrichten aufzuwarten.»Dann wird es also die letzte sein. David wird uns verraten, was er Abscheuliches getan hat, und damit wird diese Geschichte hier beendet sein. Dann wird er mich endlich in Frieden lassen. «Während Ben sprach, fühlte Judy, wie sich ihr der Magen zusammenzog. Eine schreckliche Vorahnung beschlich sie und vertrieb die Hochstimmung, in der sie sich bei ihrem Besuch im alten Jerusalem befunden hatte. Sie spürte plötzlich, daß diese Sache nicht gut enden würde.
«Ich mache uns einen Kaffee«, sagte sie schließlich.»Ich glaube, wir sollten auch etwas essen.«
«Ich bin nicht hungrig«, entgegnete Ben mit monotoner Stimme.»Sie werden immer magerer.«
«Tatsächlich?«Sie standen langsam auf, blieben dann aber einen Moment über dem letzten Foto stehen. Es fiel ihnen schwer, sich von Jerusalem loszureißen, von den Juden, die einander liebten, von dem Friedenskuß und von heiteren Sommerabenden.»Und Sie waren sowieso schon ziemlich dünn«, fügte Judy hinzu. Dann nahm sie seine Hand.»Kommen Sie mit. «Judy führte Ben ins Wohnzimmer und ging dann in die Küche. Doch plötzlich, als sie vor der Spüle stand, konnte sie sich nicht mehr bewegen. Im Geiste sah sie Davids hübsches Gesicht und die reizende Rebekka vor sich. Es war fast so, als ob sie sie kannte. Sie malte sich aus, wie die» Armen «sich in Miriams Haus versammelten, wie sie miteinander den essenischen Wein und das Brot teilten und sich gegenseitig in der Hoffnung auf künftige bessere tage bestärkten. Als sie bemerkte, daß Ben hinter ihr im Türrahmen stand, drehte sich Judy zu ihm um. Sie blickten sich in die Augen. Dann meinte Ben ruhig:»David war ein Christ, nicht wahr?«
«Das nehme ich an. «Er wandte sich jäh ab und ging ins Wohnzimmer zurück.»Was ist denn so Schlimmes daran?«fragte Judy, die ihm nachgefolgt war.»Warum können Sie sich nicht einfach mit der Möglichkeit abfinden, daß.«
«Oh, daran liegt es nicht, Judy. Es geht mir dabei um etwas anderes, über das ich mit Ihnen noch nicht gesprochen habe. «Ben stockte nach diesen Worten. In der Wohnung war es dunkel und kalt, aber keiner von beiden rührte sich, um die Heizung aufzudrehen oder Licht anzumachen.»Was könnte es sonst sein?«fragte sie leise.
«Es gab Hunderte von sonderbaren Kulten zu jener Zeit«, erwiderte Ben.
«Aber keinem von ihnen hätte sich ein frommer Jude wie David angeschlossen. Was ist mit dem Führer, der von den Römern gekreuzigt wurde und dann angeblich von den Toten auferstanden sein soll? Und wer waren die Zwölf, die David erwähnte?«
«Nun gut. Er war also ein Christ oder vielmehr ein Nazaräer, wie sie in dieser Gegend hießen. >Christen< waren in Rom und
Antiochia. Nazaräer gab es nur in Jerusalem. Da bestand ein Unterschied, wissen Sie?«Ben sah Judy fragend an.
«Ich denke, ich weiß etwas darüber. Es gab eine Jerusalemer Kirche und eine römische Kirche. «Judy saß dicht neben Ben auf der Couch. Sie war ihm so nahe, daß sie ihn fast berührte, und sprach gedämpft weiter.»Nach der Zerstörung Jerusalems überlebte nur die römische Kirche.«
«Das ist es im Grunde. Also war David. einer von ihnen.«
«Was ist denn so schlimm daran? Das ist doch großartig! Diese Schriftrollen werden so viele Wissenslücken schließen, so viele historische und theologische Theorien beweisen und andere widerlegen. Sie werden Licht in die dunklen Anfänge der Kirche bringen. Denken Sie an die Erkenntnisse, die dadurch gewonnen werden können, Ben. Was sollte daran schlecht sein?«
«Nichts«, war alles, was er erwiderte.
Judy überlegte einen Moment.»Wovor fürchten Sie sich? Davor, daß diese Rollen vielleicht die Existenz eines Mannes beweisen könnten, an die Sie lange Zeit nicht geglaubt haben?«Ben fuhr zu ihr herum.»O nein! Ganz und gar nicht! Und ich habe auch niemals gedacht, daß Jesus erfunden sei, weil es ja sicher irgendeine Grundlage für die Evangelien geben muß. Nein, Jesus lebte, aber er war nicht der, für den jedermann ihn heute hält. Er war nur ein jüdischer Wanderprediger, der eine besondere Ausstrahlung auf Menschen besaß. David wird uns in dieser Hinsicht nicht mehr sagen, als wir schon wissen. Es besteht kein Zweifel, daß es vor dem Jahr siebzig unserer Zeitrechnung eine messianische Bewegung gab und daß Essener und Zeloten darin verstrickt waren. Das hat David bestätigt, weiter nichts.«
«Was stört Sie dann, Ben?«
«Was mich stört?«Er wandte seinen Blick von ihr ab und seufzte tief.»Als ich vierzehn Jahre alt war, litt ich an einer unersättlichen Neugierde. Ich hatte auch die schlechte Angewohnheit, alles zu hinterfragen. Meine Mutter und meine Lehrer beriefen sich auf die Thora und betrachteten sie als Schutzschild gegen die Verunreinigung durch die Gojim. >Aber was für eine Verunreinigung? < fragte ich mich. >Und warum bezeichnen Sie uns als Jesus-Mörder?< Eins kam zum anderen, bis ich mich selbst nicht mehr zurückhalten konnte. Ich mußte versuchen, herauszufinden, was uns von den Gojim trennte. Oh, ich wußte schon, daß wir die Thora hatten und sie nicht. Aber das war dem kleinen Benjamin Messer nicht genug. Er wollte wissen, was die Christen anstelle der Thora hatten und was daran so schlimm war.«
Sie saßen mehrere Minuten lang im Dunkeln. Ben durchlebte wieder die Schrecken der Vergangenheit, während Judy geduldig darauf wartete, daß er fortfuhr.
«Ich fing an, regelmäßig in die Bibliothek zu gehen, um das Neue Testament zu lesen. Es interessierte mich einfach, obwohl ich nicht im geringsten an das glaubte, was da stand. Ich las es immer wieder und suchte nach irgendeinem Anhaltspunkt, warum die Christen daran glaubten. Das ging eine Weile so, bis ich schließlich aus Leichtsinn ein Exemplar mit nach Hause nahm. Über eine Woche lang hielt ich es in meinem Zimmer versteckt, bevor meine Mutter es fand. Und Judy. «Er stockte.»Sie trieb es mir gehörig aus. Ich meine, sie prügelte mir die Seele aus dem Leib. Ich kann mich nicht mehr an die Ausdrücke erinnern, mit denen sie mich beschimpfte, so sehr fürchtete ich um mein Leben. Sie tobte wie eine Wahnsinnige. Als ob die Horrorgeschichten vom Konzentrationslager nicht schon gereicht hätten, als ob die Verherrlichung meines heldenhaften Vaters nicht schon genug gewesen wäre, so mußte sie jetzt den Mist aus mir herausprügeln, um mir ein wenig Judentum einzuhämmern. «Ben beugte sich nach vorn und legte seine Stirn auf seine Knie.
«Mein heldenhafter Vater! Oh, um Gottes willen! Warum verurteilt jedermann die Juden von Auschwitz, weil sie sich wie Schafe zur Schlachtbank führen ließen? Was zum Teufel hätten sie denn tun sollen? Was hätten sie tun können? Mein Vater hatte einem SS-Offizier ins Gesicht gespuckt und Hitler ein Schwein genannt. Dafür wurde er dann dazu verurteilt, lebendig begraben zu werden. Und weil meine Mutter die Frau dieses heldenhaften Juden war, hetzte man wilde Hunde auf sie los. Was für eine Art Heldentum soll das sein?«Judy streichelte sanft Bens Rücken und wartete, während er im Dunkeln weinte.»Das war vor über dreißig Jahren, Ben«, tröstete sie ihn leise.
«Allerdings. «Er richtete sich auf und wischte sich die Tränen fort.»Und David Ben Jona lebte vor zweitausend Jahren, aber schauen Sie ihn nur an, wie er dort steht. Schauen Sie ihn an!«Judy blickte argwöhnisch in die unergründliche Finsternis des Zimmers.»Ich sehe ihn nicht, Ben.«
«Nein, natürlich nicht. Er zeigt sich nur mir. So wie Sie auch meine Mutter nicht brüllen hören können, was für ein dreckiger kleiner Scheißkerl ich doch sei, weil ich die Bibel der Gojim las. Was konnte ich ihr sagen? Wie hätte ich ihr erklären können, daß ich, indem ich die Bibel der Gojim las, ihre Schwäche erkannte, und nicht ihre Stärke. «Ben putzte sich die Nase und sprach etwas ruhiger weiter.»Wenn ich sie als Feinde bekämpfen sollte, mußte ich doch über sie Bescheid wissen. Ich mußte wissen, gegen wen ich überhaupt kämpfte. Aber meine Mutter konnte das nicht einsehen. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, daß ich vielleicht versuchte, ein guter Jude zu sein, daß ich der Rabbi werden wollte, den sie in mir sah. Doch es klappte eben nicht. Sie wollte es erzwingen. Irgend etwas in meinem Innern zerbrach in jener Nacht. Als ich in meinem Bett lag, zu schwach und schmerzerfüllt, um zu weinen, war mir, als gingen mir zum ersten Mal die Augen auf.
Und Judy. in dieser Nacht, als ich in meinem Bett lag, begriff ich, was die jüdische Religion einem Menschen antun kann. Ich sah, wie Millionen von Juden im Laufe der Geschichte wegen ihres Glaubens dahingeschlachtet worden waren, wie unzählige Juden in den Konzentrationslagern der Nazis vernichtet worden waren, wie dieser Glaube meinen Vater zugrunde gerichtet und meiner Mutter grausame Folterqualen bereitet hatte. Wir waren alle verachtenswert, weil wir Juden waren. Nicht die Christen befanden sich im Irrtum, sondern wir selbst. Wir waren das Problem. Und der einzige Weg, dem Elend, der Folter und dem Wahnsinn des jüdischen Daseins zu entfliehen, bestand für mich einfach darin, daß ich aufhörte, ein Jude zu sein.«
«Ben.«
«Ich weiß, was Sie jetzt denken«, unterbrach er sie.»Sie denken, daß meine Mutter wohl nicht die einzige Wahnsinnige in unserer Familie war. Vielleicht stimmt das auch. Aber zumindest bin ich in meinem Wahnsinn glücklich.«
«Tatsächlich?«
«Zumindest war ich es bis vor wenigen Tagen. Von dem Augenblick an, als ich vor sechzehn Jahren die Vergangenheit hinter mir ließ, bin ich glücklich gewesen. Und zwar deshalb, weil ich kein Jude mehr war. Wie wäre es gewesen, wenn ich weitergemacht hätte, wie sie es wünschte?«
«Ich weiß nicht, Ben. «Judy stand ganz plötzlich auf und schaltete ein paar Lichter an.»Sagen Sie mir, warum es Sie so aus der Fassung bringt, daß David ein Christ war. Ich kann immer noch nicht begreifen, warum Sie das stört.«
«Weil«, er erhob sich ebenfalls,»weil ich mich bis jetzt mit David verwandt gefühlt habe. In den Schriftrollen ist er gerade neunzehn Jahre alt, und bis zum Alter von neunzehn war ich immer noch praktizierender Jude. Jetzt hat er das alles umgestoßen. Er ist in demselben Konflikt, der vor langer Zeit einmal der Anlaß für all meinen Kummer war — das Dilemma zwischen Christen und Juden. Gute Menschen und schlechte Menschen. Die einen rein, die anderen verderbt. Als ich vierzehn war, versuchte ich dieser Unstimmigkeit auf den Grund zu gehen und wurde dafür halb totgeschlagen. Nun hat David, mein lieber David, sich tatsächlich ihnen angeschlossen. Nur ist er jetzt gleichzeitig Jude und ein Christ.«
«Zu Davids Zeiten waren Christen eben Juden, nichts anderes.«
«Ein schwacher Trost.«
«Kann ich Ihnen jetzt etwas zu essen bringen?«
«Ja. «Ben begann, im Wohnzimmer auf und ab zu laufen. An der Küchentür blieb Judy stehen und drehte sich um.»Ach übrigens«, begann sie vorsichtig,»wegen der nächsten Rolle. «Ben blieb mit hängenden Schultern in der Mitte des Wohnzimmers stehen.»Dem Himmel sei Dank für die nächste Rolle!«Er schüttelte matt den Kopf.»Da sie die letzte ist, müßte sie meiner inneren Unruhe ein Ende bereiten und all unsere Fragen beantworten. Und dann wird alles vorbei sein. Gott, ich kann es gar nicht. erwarten.«
«Ben.«
«Was?«Die Behutsamkeit in ihrer Stimme machte ihn stutzig.»Es ist doch die letzte Rolle, nicht wahr?«
«Hm ja. Die nächste Rolle wird die letzte sein. Aber nicht, weil David danach keine mehr schrieb.«
«Was soll das heißen?«Sein Herz begann zu pochen.»Es ist die letzte, die Weatherby schicken wird. Die wirklich letzte Rolle, die David schrieb, konnte nicht geborgen werden. Sie war nur noch ein Teerklumpen.«