KRIEGER IM NEBEL

Die Insel Gont, ein einziger Berg, dessen Gipfel eine Meile hoch über die sturmgepeitschte Nordostsee ragt, ist als Land der Zauberer bekannt. Nicht wenige der in Gont wohnenden Männer verließen die Städte der oberen Täler und die schmalen, dunklen Buchten, um den Fürsten des Inselreiches in ihren Städten als Zauberer und Magier zu dienen, oder, getrieben von Abenteuerlust, von Insel zu Insel zu wandern und ihre Magie überall im Bereich der Erdsee auszuüben. Unter diesen allen, so wird von manchen behauptet, war derjenige, den sie »Sperber« nannten, der größte; er war unbestreitbar am weitesten herumgekommen, und es war ihm vergönnt, Drachenfürst zu werden und später in seinem Leben zum Erzmagier gewählt zu werden. Im Gedlied und in zahlreichen anderen Liedern werden seine Taten besungen. Diese Erzählung aber reicht zurück in die Zeit, als er noch unbekannt war und es noch keine Lieder über ihn gab.

Er wurde in Zehnellern, einem einsamen, hoch am Berg gelegenen Dorf an der Spitze des Nordtales, geboren. Unterhalb des Dorfes zieht sich Gras- und Ackerland hin, das Stufe um Stufe gegen die See abfällt, und an den Flußkrümmungen der Ar breiten sich Städte aus. Hinter dem Dorf wächst nur Wald, der steil, Kamm auf Kamm folgend, bis an die Felsen und den Schnee der Höhe reicht.

Die Mutter gab dem Kind den Namen Duny. Es war das einzige, was sie ihm, außer seinem Leben, geben konnte, denn sie starb, noch ehe er ein Jahr alt war. Der Vater, ein finsterblickender, wortkarger Mann, war der Bronzeschmied des Dorfes. Da Dunys sechs Brüder erheblich älter waren als er und nacheinander das Haus verließen, um das Land zu bebauen oder zur See zu fahren oder als Schmiede in anderen Dörfern zu arbeiten, war niemand da, der das Kind mit Liebe aufziehen konnte. So wuchs er wild auf, schnellwachsendem Unkraut gleich, ein stolzer, aufgeweckter Junge, der nicht mit seiner Meinung zurückhielt und schnell bei der Hand war, wenn ihm jemand zu nahe treten wollte. Zusammen mit den wenigen anderen Kindern des Dorfes hütete er die Ziegen an den steilen Hängen hinter den Quellen des Flusses, und als er groß und kräftig genug war, um den Blasebalg zu bedienen, mußte er seinem Vater helfen und wurde ein Schmiedejunge, der viel Schläge und Hiebe einsteckte. Eine große Hilfe war Duny nämlich nicht; immer zog es ihn fort, tief in die Wälder drang er, in dem Flußbecken der Ar, die wie alle Flüsse in Gont eiskalt und reißend war, schwamm er, oder er kletterte an Felsgraten entlang und über Halden bis in die steinerne Gipfelwelt, die sich oberhalb der Wälder erstreckte. Von dort oben erblickte er das Meer, diesen endlosen, nördlichen Ozean, in dem es, hinter Perregal, keine Inseln mehr gab.

Die Schwester seiner Mutter wohnte im Dorf. Sie sorgte für Duny, als er noch klein war, aber sie hatte ihren eigenen Haushalt, und sobald Duny groß genug war, um für sich selbst zu sorgen, kümmerte sie sich nicht mehr um ihn. Eines Tages jedoch, als Duny sieben Jahre alt war und noch nichts wußte von den geheimnisvollen Beziehungen und Kräften, die es in dieser Welt gibt, hörte er, wie seine Tante einer Ziege, die auf ein Strohdach hinauf gesprungen war und sich weigerte herunterzukommen, gewisse Worte zurief; sobald sie einen bestimmten Reim zufügte, sprang das Tier herunter. Am nächsten Tag, als Duny die langhaarigen Ziegen auf den Matten des Hohen Falles hütete, rief er ihnen die gleichen Worte zu, deren Sinn und Bedeutung ihm ganz fremd waren:


Noth hierth malk man
Hiolk han merth han!

Er schrie, so laut er konnte, und die Ziegen begannen auf ihn zuzulaufen, lautlos und hurtig, und starrten ihn aus den gelben Schlitzen ihrer schwarzen Augen an. Duny lachte. Es gefiel ihm, Macht über die Ziegen zu haben, und er wiederholte den Spruch in voller Lautstärke. Die Ziegen kamen daraufhin näher und begannen, ihn enger und enger zu umringen. Ganz plötzlich bekam er Angst vor ihren starken, gebogenen Hörnern, ihren seltsamen Augen und der ungewohnten Stille. Er versuchte aus dem Kreis auszubrechen und davonzurennen, aber die Ziegen verließen ihn nicht, sie rannten mit. So gelangten sie schließlich, ein dichtes Knäuel formend, ins Dorf. Es sah aus, als seien die Ziegen mit einem Seil zusammengebunden, in ihrer Mitte der schluchzende, heulende Junge. Die Dorfbewohner, vom Geräusch angezogen, traten aus ihren Häusern und riefen den Ziegen Flüche zu, während sie über den kleinen Jungen lachten. Die Tante trat unter sie, lachte aber nicht. Sie sprach ein Wort zu den Ziegen, und die Tiere, endlich vom Bann befreit, begannen zu meckern, Gras zu rupfen und sich allmählich zu zerstreuen.

»Folge mir«, sagte sie zu Duny.

Sie nahm ihn in ihre Hütte, in der sie allein wohnte. Kinder durften hier gewöhnlich nicht eintreten, sie hatten sowieso Angst vor dieser Behausung. Es war niedrig drinnen und sah düster aus, denn es gab keine Fenster. Der Raum war voll vom Duft verschiedener Kräuter: Pfefferminz, wilder Knoblauch, Binsenkraut, Thymian, Schafgarbe, Rainfarn, Lorbeer, Trollblumen und Teufelsklaue, die zum Trocknen am Querbalken hingen. Die Tante saß neben der Feuerstelle mit überkreuzten Beinen, und während sie ihn von der Seite durch ihre langen schwarzen Haarsträhnen beobachtete, fragte sie ihn, was er zu den Ziegen gesagt habe und ob er wisse, was es bedeute. Als sie herausfand, daß er nichts wußte und doch in der Lage war, die Ziegen in den Bann zu schlagen und sie zu zwingen, ihm zu folgen, ahnte sie, daß große Macht in ihm schlummerte.

Als Sohn der Schwester bedeutete er ihr nichts, nun aber sah sie ihn in einem neuen Licht. Sie lobte ihn und sagte, daß sie ihn andere Sprüche lehren könne, die ihm bestimmt besser gefielen, wie zum Beispiel Worte, die eine Schnecke aus ihrem Gehäuse herauslocken, oder den Namen, der den Falken aus den Wolken riefe.

»O ja, sag mir den Namen!« rief er, der Schrecken mit den Ziegen war schon vergessen, und er setzte sich ganz aufrecht hin, denn es gefiel ihm, daß sie seine Klugheit lobte.

Das Zauberweib fragte ihn: »Wirst du dieses Wort nie anderen Kindern sagen, wenn ichʹs dich lehre?«

»Nie, ich verspreche es.«

Sie lächelte über seine offensichtliche Naivität. »Nun gut, aber ich werde dein Versprechen sichern. Du wirst nicht reden können, bis ich dich aus dem Bann löse. Dann kannst du zwar wieder sprechen, aber das Wort, das ich dich lehre, kannst du nur aussprechen, wenn niemand sonst mithören kann. Wir müssen die Geheimnisse unseres Gewerbes unter uns behalten.«

»In Ordnung«, sagte der Junge, denn er hatte nicht die Absicht, das Geheimnis an Freunde zu verraten, im Gegenteil, es gefiel ihm ganz gut, mehr zu wissen und mehr zu können als sie.

Er muckste sich nicht, während seine Tante ihr ungekämmtes Haar hinten zusammenband, ihren Gürtel fester knüpfte und sich niederließ, wiederum mit überkreuzten Beinen. Sie warf einige Hände voll Blätter ins Feuer, so daß sich der Rauch überall ausbreitete und die Hütte füllte. Dann begann sie zu singen. Manchmal änderte sie ihre Stimme, die einmal hoch, einmal tief klang, so als ob ein anderer aus ihr sänge, und der Gesang fand kein Ende, bis der Junge nicht mehr wußte, ob er schlief oder wachte. Während der ganzen Zeit saß der alte schwarze Hund des Zauberweibes, der nie bellte, neben ihm mit Augen, die rot waren vom Rauch. Dann sprach das Zauberweib mit Duny in einer Sprache, die er nicht verstand, und er mußte Sprüche und Worte nachsprechen, bis der Zauber über ihn kam und ihn festhielt.

»Rede!« gebot sie ihm, um den Bann auszuprobieren.

Der Junge konnte nicht sprechen, aber er lachte.

Da bekam die Tante etwas Angst vor der in ihm ruhenden Macht. Sie hatte ihren stärksten Zauberspruch gewählt und versucht, sein Reden und sein Schweigen zu beherrschen und ihn gleichzeitig an sich und in den Dienst ihres Zaubergewerbes zu binden. Doch während er unter dem Bann stand, konnte er lachen. Sie sagte kein Wort, sondern schüttete frisches Wasser ins Feuer, bis der Rauch sich verzogen hatte, dann gab sie dem Jungen Wasser zu trinken, und als die Luft wieder sauber war und er wieder reden konnte, lehrte sie ihn den wahren Namen des Falken, dem der Falke gehorchen mußte.

Das war Dunys erster Schritt auf dem Pfad, dem er den Rest seines Lebens folgen sollte, der Pfad der Magie, der Pfad, der ihn schließlich dazu führte, einem Schatten über Land und Meer nachzujagen, bis an die finstere Küste des Totenreiches. Aber als er die ersten Schritte tat, schien der Pfad weit und breit zu sein.

Als Duny erlebte, wie der wilde Falke pfeilschnell aus den Wolken zu ihm herunterstieß, wenn er ihn bei seinem eigentlichen Namen rief, und sich wie der Edelfalke eines Prinzen mit rauschenden Flügeln auf seinem Handgelenk niederließ, trieb ihn die Begierde, noch andere Namen zu lernen, und er ging zu seiner Tante und bat sie, ihn den Namen des Sperbers, des Reihers und des Adlers zu lehren. Um sich diese Worte, die ihm soviel Macht gaben, anzueignen, tat er alles, was die Tante von ihm verlangte, lernte alles, was sie ihm beibringen wollte, obwohl manches Wissen und manche Verrichtung abstoßend waren. Die Redensarten »so schwächlich wie die Zauberei einer Frau« oder »so gemein wie die Zauberei einer Frau« waren allgemein bekannt in Gont. Zwar gehörte das Zauberweib von Gont keineswegs zu den Hexen der Schwarzen Künste, sie mischte sich auch nicht in die Hohen Künste oder in den Umgang mit Urkräften, aber da sie ein unwissendes Weib war, das unter unwissendem Volk hauste, lag ihren Bemühungen oft eine ganz primitive und zweifelhafte Absicht zu Grunde. Sie wußte nichts vom Gleichgewicht und von der Formgebung, die der wahre Zauberer kennt, denen er dient und die ihn lehren, Magie nur im äußersten Notfall auszuüben. Sie hatte für jede Gelegenheit einen Spruch bereit und beschäftigte sich praktisch dauernd damit, irgendeinen Zauber zu bewerkstelligen. Viel davon war Humbug und nutzlos, denn sie konnte die wahren von den falschen Zaubersprüchen nicht unterscheiden. Aber ihre Verwünschungen waren fast immer erfolgreich, ja man konnte fast sagen, daß sie eher eine Krankheit verursachen als heilen konnte. Wie jedes in einem Dorf ansässige Zauberweib war sie geschickt im Mischen von Liebestränken, aber es gab auch andere, schlimmere Tränke, die sie auf Wunsch braute, um Eifersucht und Haß zu stillen. Dieses Wissen verbarg sie vor ihrem jungen Lehrling, und soweit es in ihrer Macht lag, lehrte sie ihn ein ehrliches Gewerbe. Duny hatte seine kindliche Freude daran, die magische Kunst zu erlernen. Sie machte ihn zum Meister über alles Getier, das fliegende und das kriechende, und zeigte ihm das wahre Wesen ihrer Natur. Diese Freude blieb ihm den Rest seines Lebens. Oft, wenn die Kinder ihn auf den hohen Almen sahen, war er von einem Raubvogel umschwirrt, und sie begannen, ihn den »Sperber« zu nennen. Dieser Name blieb ihm und wurde von all denen gebraucht, die seinen wahren Namen nicht kannten. Da das Zauberweib ihm oft vom Ruhm und Reichtum und von der großen Macht erzählte, die ein Zauberer über die Menschen erringen konnte, nahm sich Duny vor, mehr von der Zauberkunde zu erlernen. Das Lernen fiel ihm leicht. Das Zauberweib lobte ihn oft, und die Kinder begannen ihn zu fürchten. Er selbst wußte, daß er bald berühmt werden würde unter den Menschen. So verging die Zeit, und er lernte nacheinander Worte und Beschwörungsformeln von dem Zauberweib. Als er zwölf Jahre alt war, kannte er einen großen Teil ihres Wissens. Es war nicht allzuviel, aber für das Zauberweib eines kleinen Dorfes genügte es, und für einen zwölfjährigen Knaben war es mehr als genug. Sie lehrte ihn alles, was sie von Kräutern und vom Heilen wußte, und was ihr bekannt war von den Künsten des Findens, des Fesselns, des Zusammenfügens, des Öffnens und des Schließens. All die Lieder der Sänger, die sie kannte, sang sie ihm vor, die von den Taten vergangener Helden handelten, und die Worte der wahren Sprache, die sie von dem Zauberer, bei dem sie in die Schule gegangen war, gelernt hatte, gab sie an Duny weiter. Von den Wettermachern und den Spielleuten, die von Stadt zu Stadt durch das Nordtal und den Ostwald zogen, lernte er verschiedene Tricks und interessante Spielereien, meist Schein- und Illusionszauber. Einer dieser Tricks, ein Illusionszauber, offenbarte zum ersten Mal die Macht, die in Duny steckte.

Zur damaligen Zeit war Kargad ein mächtiges Reich. Es bestand aus vier großen Ländern, die zwischen dem Nord- und Ostbereich lagen: Karego-At, Atuan, Hur-at-Hur und Atnini. Die Sprache, die dort gesprochen wurde, war anders als die der Bewohner des Inselreiches und der anderen Landstriche. Es war ein barbarisches Volk, das dort wohnte, weißhäutig, blondhaarig und wild, das gerne Blut sah und gerne brennende Städte roch. Im Jahr zuvor hatten sie die Inselgruppe der Torikien und die stark befestigte Insel Torheven angegriffen und verschiedene Raubzüge gegen sie unternommen mit ihren großen Flottillen wehrhafter Schiffe unter roten Segeln. Die Nachrichten erreichten das nördliche Gont, aber die Fürsten in Gont waren zu sehr mit ihrer eigenen Seeräuberei beschäftigt und kümmerten sich wenig um die Bedrängnisse anderer Länder. Dann aber fiel Spevy unter den Angriffen der Kargs und wurde geplündert und in Asche gelegt und die Bewohner als Sklaven verschleppt und die Insel derart zerstört, daß sie heute noch in Ruinen liegt. Danach, von Siegeslust beflügelt, fuhren die Kargs nach Gont mit einer Flotte von dreißig schnellen, langen Segelbooten und legten im Osthafen an. Sie kämpften sich durch die Stadt, eroberten sie und setzten sie in Brand. Dann ließen sie ihre Schiffe unter Bewachung an der Mündung der Ar zurück und drangen aufwärts ins Tal vor, raubend, plündernd und mordend, Mensch und Tier. Im weiteren Vordrängen teilten sie sich in Rotten, und jede dieser Rotten nahm und zerstörte, was den Männern gefiel. Flüchtlinge kamen und warnten die Dorfbewohner der Höhe. Bald darauf sahen die Bewohner von Zehnellern im Osten Rauch aufsteigen, der den Himmel verdunkelte. Wer hinaufstieg auf den Hohen Fall, konnte den Rauch sehen, der über dem Tal lag, und die rote Glut wahrnehmen, die vom Brand der erntereifen Felder herrührte oder von den Obstbäumen, an deren Zweige die Früchte verkohlten, oder von den Höfen und Scheunen, die loderten und zu Asche zerfielen.

Einige der Dorfbewohner flüchteten sich hinauf in die Schluchten und versteckten sich im Wald, andere bereiteten sich zur Verteidigung vor, und manche taten überhaupt nichts, sondern standen nur herum und jammerten. Das Zauberweib war unter den Flüchtenden. Sie versteckte sich allein in einer Höhle am Kapperding Kamm und verschloß die Öffnung der Höhle mit Zauberworten. Dunys Vater, der Bronzeschmied, gehörte zu denen, die blieben. Er wollte seine Schmiedegrube und seinen Amboß, die ihm fünfzig Jahre lang treu gedient hatten, nicht im Stich lassen. Er schaffte die ganze Nacht durch, schmolz alles verfügbare Metall zu Speerklingen, die er, unter Mithilfe der anderen, an die Schäfte von Hacken und Rechen band, denn die Zeit war zu kurz, um regelrechte Fassungen herzustellen. Im ganzen Dorf gab es außer Pfeilen, Bogen und Jagdmessern keine Waffen, denn die Bergbewohner von Gont waren nicht als Krieger, wohl aber als Ziegendiebe, Piraten und Zauberer bekannt.

Der Sonnenaufgang brachte dichten, weißen Nebel, nicht ungewöhnlich im Herbst hier oben auf der Insel. Die Dorfbewohner standen zwischen ihren Hütten und Häusern entlang der krummen Straße von Zehnellern. In ihren ungeübten Händen hielten sie Pfeil und Bogen und die neugeschmiedeten Speere, aber sie wußten nicht, ob die Kargs noch weit weg oder schon ganz nahe waren. Unbeweglich und still standen sie und starrten in den Nebel, der alle Umrisse, Entfernungen und Gefahren vor ihren Augen verbarg.

Unter ihnen stand Duny. Er hatte die ganze Nacht am Blasebalg geschuftet. Ohne auszusetzen hatte er die beiden langen Bälge aus Ziegenleder gezogen und geschoben, um den Luftstrom zum Anfachen des Feuers zu erzeugen. Jetzt taten ihm seine Arme weh und zitterten derart, daß er Mühe hatte, den Speer, den er selbst gewählt hatte, zu halten. Er wußte nicht, was er tun konnte, um dem Dorf zu helfen, denn zum Kämpfen taugte er bestimmt nicht. Schwer lag der Gedanke auf ihm, daß er nun wohl sterben mußte, aufgespießt auf einer kargischen Lanze, obwohl er doch nur ein Junge war, und daß er das ewig dunkle Land betreten sollte, ohne je seinen wahren Namen, seinen Mannesnamen, erfahren zu haben. Er betrachtete seine dünnen Arme, feucht vom Nebeltau, und war wütend auf seine Schwäche, denn er wußte um seine Stärke. Er fühlte die in ihm schlummernde Macht, aber wenn er nur wüßte, wie sie zu gebrauchen sei. Er ging alle Zaubersprüche durch, die ihm helfen oder zumindestens eine Chance geben würden. Aber die Not allein löst keine Macht aus: Wissen ist vonnöten.

Unter den wärmenden Strahlen der Sonne, die sich rund über den Gipfel in einen klaren Himmel erhob, verzog sich allmählich der Nebel. In den sich teilenden, schwebenden Nebelfetzen gewahrten die Dorfbewohner eine Schar von Kriegern, die den Berg heraufstiegen. Sie trugen Bronzehelme, Beinschienen und Brustpanzer aus schwerem Leder, Schilde aus Holz und Bronze; in ihren Händen hielten sie Schwerter und die langen kargischen Lanzen. Sie folgten der steilen Böschung der Ar, ein federgeschmückter, klirrender, ungleichmäßiger Zug, so nahe bereits, daß man ihre weißhäutigen Gesichter deutlich wahrnehmen und die Worte, die sie sich in ihrem Jargon zuwarfen, hören konnte. Die Schar war verhältnismäßig klein, sie bestand aus ungefähr hundert Männern; im Dorf aber gab es nur achtzehn Männer und Knaben zusammen.

Die große Not, in der Duny sich und die Seinen sah, rief ein Wissen in ihm wach: Er sah, wie der sich lichtende Nebel den Pfad freilegte, und erinnerte sich an eine Beschwörungsformel, die vielleicht von Nutzen sein konnte. Ein alter Wettermacher, der darauf aus war, den Jungen als Lehrling zu gewinnen, hatte ihn einige Wetterformeln gelehrt. Darunter war ein Trick, den der Wettermacher das Nebelweben nannte. Es war eine sogenannte Bindeformel, die einzelne Nebelfetzen zu einem Ganzen zusammenzog, aus dem geschickte Illusionskünstler geisterhafte Gestalten formten, die sich eine Weile schwebend bewegten und sich allmählich wieder auflösten. Dazu fehlte Duny die Geschicklichkeit, aber seine Absicht war sowieso eine andere, und die Macht, die er in sich fühlte, war groß genug, um die Beschwörungsformel seinen eigenen Zwecken anzupassen. Laut und schnell nannte er die verschiedenen Örtlichkeiten und Grenzen des Dorfes und sprach dann die Formel des Nebelwebens, aber in die Worte flocht er eine andere magische Formel, die bewirkt, daß alles verhüllt wird. Und zuletzt rief er laut ein Wort, das die Magie auslösen sollte.

Während er noch damit beschäftigt war, näherte sich sein Vater von hinten und versetzte ihm einen harten Schlag gegen den Kopf, der ihn zu Boden warf: »Sei ruhig, du Narr! Hör auf mit deinem Gewäsch und versteck dich lieber, wenn du nicht kämpfen kannst!«

Duny stand auf. Er konnte die Kargs hören, die bereits am Ende des Dorfes waren, fast schon an der großen Eibe im Hof des Gerbermeisters. Ihre Stimmen drangen klar zu ihnen herauf, auch das Rasseln ihrer Waffen und das Quietschen ihrer Rüstungen, aber sie selbst waren unsichtbar. Ein dichter weißer Nebel hatte sich im ganzen Dorf verbreitet, der alles Licht dämpfte und die ganze Welt verschwimmen ließ, fast konnte man seine eigene Hand vor dem Gesicht nicht mehr sehen.

»Ich habe uns alle versteckt«, sagte Duny mit verdrossener Stimme, denn sein Kopf schmerzte ihn von dem Schlag, den ihm sein Vater versetzt hatte, und die doppelte Beschwörungsformel hatte ihn seine ganze Kraft gekostet. »Ich werde versuchen, den Nebel zu halten, solange ich kann. Geh du zu den andern und mach, daß sie die Kargs auf den Hohen Fall führen.«

Der Schmied starrte seinen Sohn an, der wie ein Spuk in dem unerklärlichen, feuchten Nebel vor ihm stand. Es dauerte einige Minuten, bis er Dunys Absicht begriffen hatte, dann aber rannte er fort, lautlos, denn er kannte jeden Zaun und jede Ecke im Dorf; er verständigte die andern, was zu tun sei. Durch das Grau des Nebels drang ein rötlicher Schein. Die Kargs hatten ein Haus in Brand gesteckt, und man hörte das Knistern eines brennenden Strohdaches. Sie befanden sich noch immer am unteren Ende des Dorfes und warteten darauf, daß der Nebel sich lichte, damit sie ihre Beute klar vor sich sehen konnten.

Der Gerbermeister, dessen Haus in Brand stand, suchte ein paar Jungen aus und befahl ihnen, schreiend und spottend unter den Nasen der Kargs hin und her zu rennen und dann wieder im Nebel zu verschwinden. Indessen schlichen sich die Männer hinter den Zäunen von Haus zu Haus, bis sie am anderen Ende des Dorfes herauskamen, und schleuderten eine Ladung von Pfeilen und Speeren mitten in die Kargs, die zusammengepfercht auf einer Stelle standen. Einer der Kargs fiel, getroffen von einem noch vom Schmieden warmen Speer, und wand sich schreiend am Boden. Die anderen wurden von den Pfeilen gespickt und gebärdeten sich wie rasend. Sie stürzten vorwärts und warfen sich auf ihre kümmerlichen Angreifer, aber sie bekamen nur Nebel zu fassen, der mit Stimmen angefüllt schien. Sie folgten den Stimmen und stachen mit ihren federgeschmückten, blutigen Lanzen in den Nebel hinein. Bergauf, entlang der Straße, stürmten sie, Schreie ausstoßend, und wußten nicht, daß sie bereits durch das Dorf gerannt waren, dessen leere Häuser und Hütten im grauen, wogenden Nebel auftauchten und wieder verschwanden. Die Dorfleute liefen in alle Richtungen auseinander, die meisten jedoch hielten ihren Abstand vor den Kargs ein, denn sie waren mit dem Terrain wohl vertraut; einige, meist alte Männer und jüngere Knaben, fielen zurück. Die Kargs, die über sie stolperten, stachen zu mit ihren Lanzen und hauten um sich mit ihren Schwertern und stießen ihren Schlachtruf aus, die Namen der weißen Brudergötter von Atuan:

»Wuluah! Atwah!«

Einige in der Schar blieben stehen, als sie fühlten, wie das Land unter ihren Sohlen uneben wurde, andere drängten weiter auf der Suche nach dem Phantomdorf und folgten den fliehenden Schatten, die zum Greifen nahe vor ihnen huschten. Der Nebel schien, als sei er lebendig: er wallte und wogte, Schatten näherten sich, flohen und verschwanden darin. Eine Gruppe von Kargs jagte den geisterhaften Spukgestalten nach, bis sie zum Hohen Fall, der Felswand hoch über den Quellen der Ar, kamen, wo die vor ihnen huschenden Gestalten sich in der Luft aufzulösen schienen. Die vordringenden Kargs fühlten plötzlich keinen Boden mehr unter den Füßen, und schreiend stürzten sie hundert Meter tief ab, durch den Nebel hindurch in die Sonne, steil abwärts, und zerschellten in dem flachen Becken des Flusses zwischen den Felsblöcken. Die Nachdrängenden hielten bei der Felswand inne und lauschten.

Ein Grauen schlich sich in die Herzen der Kargs. Sie begannen, sich in dem unheimlichen Nebel zu suchen, und ließen ab von der Verfolgung der Dorfbewohner. Am Berghang fanden sie sich, aber die Spukgestalten schlichen sich unter sie und drangen von hinten auf sie ein mit Speeren und Messern und verschwanden sofort wieder. Da begannen die Kargs den Berg hinunterzulaufen, alle zusammen, von Furcht getrieben, ohne anzuhalten, bis sie sich plötzlich außerhalb des Nebels wiederfanden und der Fluß und die Schluchten unterhalb des Dorfes klar und deutlich in der hellen Morgensonne vor ihnen lagen. Hinter ihnen, quer über dem Pfad, lag eine graue Wand, in der es quirlte und quellte, und die alles Darunterliegende verbarg. Aus ihr brachen noch zwei oder drei Nachzügler hervor, die sich eilends vorwärts schleppten und ihre langen, wippenden Lanzen fest umklammert hielten. Keiner blickte sich mehr um. Alle strebten sie dem Tal zu, so schnell sie konnten, hinweg aus dieser verhexten Gegend.

Weiter unten im Nordtal kam es zu erbitterten Kämpfen. Die Städte des Ostwaldes, von Ovark bis an die Küste, hatten ihre waffenfähigen Männer aufgerufen, die jetzt gegen die Angreifer von Gont zogen. Ein Trupp nach dem andern kam von den Hängen herab, und den ganzen Tag bis tief in die Nacht hinein griffen sie die Kargs an und setzten ihnen hart zu. Sie drängten sie zurück bis zur Küste oberhalb des Osthafens, und dort, wo die Kargs ihre Schiffe vom Brand zerstört vorfanden, verteidigten sie sich mit dem Rücken gegen das Meer bis zum letzten Mann. Der Strand an der Armündung war braun von vergossenem Blut, und erst die zurückkehrende Flut spülte ihn wieder rein.

Oben in Zehnellern blieb der Nebel noch eine Weile liegen; dann aber bewegte er sich und begann nach oben zu schweben und sich allmählich aufzulösen. Vereinzelt sah man Männer sich erheben und im hellen Licht der Morgensonne umschauen. Hier lag ein Karg mit langem, blutigen Blondhaar, dort lag der Gerbermeister, der wie ein König in der Schlacht gefallen war.

Am Dorfende brannte noch immer das Haus. Man eilte, es zu löschen, denn der Angriff war siegreich zurückgeschlagen. In der Nähe der großen Eibe fand man Duny, den Sohn des Bronzeschmieds. Ganz allein stand er da, unversehrt, aber stumm und wie benommen, so als ob ihm jemand einen schweren Schlag versetzt hätte. Sie wußten wohl, was er für sie getan hatte, und führten ihn zurück ins Haus seines Vaters und gingen, das Zauberweib aus ihrer Höhle zu holen, damit sie den Jungen heile, der ihr Leben und ihren Besitz geschützt hatte. Sie hatten nur vier Tote zu beklagen, und nur ein Haus war zerstört.

Man konnte keine Waffenwunde an Duny finden, und doch wollte er weder sprechen noch essen, noch schlafen, und wenn man mit ihm sprach, so schien er nicht zu hören, und diejenigen, die zu ihm kamen, schien er nicht zu erkennen. Niemand in der Gegend war der Zauberei so kundig, daß er Duny von seinem Übel hätte befreien und ihm helfen können. Die Tante sagte: »Er hat seine ganze Kraft verausgabt«, aber es lag nicht in ihrer Macht, ihm zu helfen.

Während Duny in der Dunkelheit lag und nicht wußte, was um ihn herum vorging, verbreitete sich die Kunde von dem Jungen, der Nebel wob und den kargischen Kriegern mit ein paar gruseligen Schatten Angst einjagte, bis hinunter ins Nordtal und hinüber in den Ostwald und hinauf auf den Berg und die andere Seite wieder hinunter bis zum großen Hafen von Gont. So kam es, daß fünf Tage nach dem Gemetzel an der Armündung ein Fremder nach Zehnellern kam, der weder jung noch alt war, einen langen Umhang trug, barhäuptig ging, und einen Eichenstab, so groß wie er selbst, leicht in der Hand hielt. Er kam nicht von unten herauf, entlang der Ar, wie die meisten Leute, sondern er kam aus den Wäldern des oberen Berghanges. Den Dorfbewohnern blieb nicht verborgen, daß er ein Zauberer war, und als er ihnen sagte, daß er alles heilen könne, führten sie ihn sofort zum Haus des Schmieds. Nachdem er alle hinausgeschickt hatte, nur der Vater Dunys und die Tante durften dableiben, beugte er sich über den Jungen, der wie bewußtlos dalag und ins Dunkle starrte. Er legte seine Hand auf die Stirn des Knaben und berührte ganz kurz seine Lippen.

Duny richtete sich langsam auf und schaute sich um. Nach einer kleinen Weile begann er zu sprechen, und seine Kräfte und sein Hunger kehrten zurück. Sie gaben ihm ein wenig zu trinken, und er legte sich wieder zurück, ohne seine dunklen, fragenden Augen von dem Fremden zu wenden.

Der Bronzeschmied wandte sich zu dem Fremden: »Sie sind kein gewöhnlicher Mann.«

»Noch wird Ihr Junge ein gewöhnlicher Mann sein«, sprach der Fremde. »Die Geschichte mit dem Nebel drang bis nach Re Albi, wo ich wohne. Ich kam hierher, um ihm seinen Namen zu geben, falls er, wie man mir berichtete, noch nicht das Fest der Namensgebung begangen hat.«

Das Zauberweib flüsterte ihrem Bruder zu: »Bruder, das muß Ogion der Schweigsame sein, der Magier von Re Albi, der, der damals das Erdbeben bezwungen…«

»Mein Herr«, sagte der Bronzeschmied, der sich von großen Namen nicht einschüchtern ließ, »mein Sohn wird nächsten Monat 13 Jahre alt, und wir planten, seine Aufnahme in die Gemeinschaft der Erwachsenen am Fest der Wintersonnenwende abzuhalten.«

»Gebt ihm seinen Namen, so bald es geht«, antwortete der zauberkundige Mann, »denn er wird ihn bald nötig brauchen. Ich habe jetzt anderes zu tun, aber ich komme zurück an dem Tag, den ihr gewählt habt. Und wenn es euch recht ist, nehme ich ihn mit mir, wenn ich wieder fortgehe. Und wenn er sich bewährt, werde ich ihn als meinen Lehrling behalten und werde dafür sorgen, daß er richtig ausgebildet wird, wie es seinen Gaben entspricht. Denn es ist gefährlich, den Geist eines zur Magie Geborenen im Dunkeln zu lassen.«

Ogion sprach ruhig und freundlich, aber mit Überzeugung, so daß selbst der eigensinnige Schmied mit allem einverstanden war.

An Dunys 13. Geburtstag, einem sonnigen Tag im frühen Herbst, als die Bäume noch im Schmuck ihrer bunten Blätter standen, kehrte Ogion von seinen Wanderungen über den Berg Gont ins Dorf zurück. Das Zeremoniell von Dunys Aufnahme fand an diesem Tage statt. Das Zauberweib nahm ihm seinen Namen Duny, den er von seiner Mutter erhalten hatte. Namenlos und nackt schritt er in die kalten Quellen der Ar, dort, wo sie zwischen den Felsen, unter der hohen Felswand, hochsteigen. Als er ins Wasser stieg, schwammen Wolken über das Antlitz der Sonne, und riesige Schatten glitten und schwebten über das Flußbecken und hüllten ihn ein. Er durchquerte das Wasser bis ans entfernte Ufer, zitternd vor Kälte, aber langsamen Schrittes und aufrecht, wie es verlangt wurde, während um ihn das eisige, wildbewegte Wasser tobte. Auf der anderen Seite streckte ihm Ogion, der auf ihn gewartet hatte, die Hand entgegen und faßte ihn am Arm, während er ihm seinen wahren Namen zuflüsterte: Ged.

Und so begab es sich, daß ihm sein Name von einem, der in den Künsten der Magie weise und bewandert war, zuteil wurde.

Das Fest war noch lange nicht zu Ende für die Dorfbewohner, die sich gütlich taten am Essen, das in Hülle und Fülle vor ihnen stand, und am Bier, das reichlich floß, und dem Sänger zuhörten, der vom Tal heraufgekommen war und das Lied von den Taten der Drachenfürsten sang, als der Magier in seiner ruhigen Stimme zu Ged sprach: »Komm, laß uns gehen. Verabschiede dich und laß sie beim Fest verweilen!«

Ged lief, um seine Sachen zu holen: das Bronzemesser, das ihm sein Vater geschmiedet hatte, ein Ledermantel, den ihm die Frau des Gerbermeisters gerichtet hatte, und einen Stock aus Erlenholz, dem die Tante magische Kräfte verliehen hatte. Das war sein ganzer Besitz, außer seinem Hemd und seiner Hose. Dann nahm er Abschied von allen Leuten, den einzigen, die er in der ganzen Welt kannte. Er blickte noch einmal aufs Dorf zurück, das sich oberhalb der Flußquellen hinzog und von der Felswand dahinter geschützt wurde. Dann folgte er seinem neuen Meister durch den steil ansteigenden Wald der Berginsel, durch die bunten Blätter und Schatten eines strahlenden Herbsttages.

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