DIE ZAUBERERSCHULE

Ged verbrachte die Nacht auf der Schatten und verabschiedete sich früh am nächsten Morgen von seinen Schiffsgefährten, die ihm muntere Worte nachriefen und alles Gute wünschten, während er die Verladerampen hinauflief. Die Stadt Thwil ist nicht groß, die wenigen Häuser sind hoch und schmal und drängen sich über engen, steil ansteigenden Gassen zusammen. Aber für Ged war es eine Stadt, und da er sich nicht auskannte, fragte er den ersten Einwohner, auf den er stieß, wo er den Hüter der Schule von Rok finden könne. Der Mann sah ihn eine Weile von der Seite her an und sagte dann: »Die Weisen brauchen nicht zu fragen, der Narr fragt vergeblich«, und ging seines Weges. Ged folgte der engen, ansteigenden Gasse, bis er an einen kleinen Platz kam, der an drei Seiten von Häusern mit steilen Schieferdächern eingefaßt und an der vierten Seite von der Mauer eines Gebäudes begrenzt war, dessen kleine Fenster höher lagen als die Schornsteine der Wohnhäuser. Die Mauer war aus mächtigen, grauen Steinblöcken gefügt und sah aus, als gehöre sie zu einer Burg oder einer Feste. Auf dem Platz war ein Markt im Gange, Leute liefen geschäftig hin und her. Ged brachte sein Anliegen bei einer alten, hinter einem Korb voll Miesmuscheln sitzenden Frau vor, und sie antwortete: »Manchmal findet man den Hüter, wo er ist, und manchmal findet man ihn, wo er nicht ist«, und sie fuhr fort, ihre Miesmuscheln laut anzupreisen.

In einer Ecke des großen Gebäudes war eine unscheinbare Holztür. Ged ging dahin und klopfte laut an. Zu dem alten Mann, der die Tür öffnete, sagte er: »Ich habe einen Brief von Meister Ogion für den Hüter der Schule auf dieser Insel. Ich möchte gern zu ihm, aber ich habe es satt, verspottet zu werden und mir Rätsel anhören zu müssen.«

»Dies ist die Schule«, sprach der alte Mann mit sanfter Stimme, »und ich bin der Pförtner. Tritt ein, wenn du kannst.«

Ged ging auf die Tür zu. Es schien ihm, als sei er über die Schwelle getreten, aber in Wirklichkeit befand er sich noch auf dem Straßenpflaster, auf dem er vorher stand.

Er versuchte es noch einmal, aber wiederum blieb er draußen stehen. Der Pförtner stand drinnen im Gang und sah ihn mit gütigen Augen an.

Ged war eher ärgerlich als verdutzt, denn er fühlte sich wiederum genasführt. Mit Wort und Hand vollführte er die Beschwörungsformel des Öffnens, die ihn seine Tante vor so langer Zeit gelehrt hatte; sie hatte diese Formel immer als ihre Spitzenleistung betrachtet, und Ged führte sie gut aus. Aber letzten Endes war es doch nur der Trick eines einfachen Zauberweibes, und die Kraft, die diese Tür in ihrem Bann hielt, blieb davon unberührt.

Als ihm auch das mißlang, blieb Ged eine lange Zeit auf dem Straßenpflaster stehen. Schließlich schaute er auf und blickte den alten Mann an, der wartend innen stand. »Ich kann nicht eintreten«, sagte er unwillig, »es sei denn, Sie helfen mir.«

Der Pförtner antwortete: »Sag deinen Namen.«

Wiederum blieb Ged eine lange Weile unbeweglich stehen, denn ein Mann nennt seinen Namen nur dann laut, wenn mehr als sein Leben auf dem Spiel steht.

»Ich heiße Ged«, sagte er laut. Er schritt vorwärts, und nun konnte er durch die Tür gehen, aber noch während er die Schwelle überschritt, schien es ihm, als schlüpfe ein Schatten an seiner Ferse vorbei durch die Tür, obwohl er das Licht im Rücken hatte.

Als er sich umdrehte, bemerkte er auch, daß der Türrahmen, den er gerade durchschritten hatte, keineswegs aus Holz war, wie er ursprünglich angenommen hatte, sondern aus einem einzigen Stück Elfenbein, denn er sah weder Fuge noch Ritze; später erfuhr er, daß er aus einem Zahn des großen Drachens geschnitzt war. Die Tür, die der alte Mann hinter ihm schloß, war aus poliertem Horn, das vom Tageslicht matt durchleuchtet war, und auf der Rückseite der Tür war der tausendblättrige Baum eingeschnitzt.

»Sei willkommen in diesem Haus, mein Junge«, sagte der Pförtner und führte ihn, ohne weiter mit ihm zu reden, durch Räume und Gänge zu einem Innenhof, der weit innerhalb des Gebäudekomplexes lag. Kein Dach wölbte sich über den Hof, der teils mit Steinplatten, teils mit Rasen bedeckt war, und ein Springbrunnen plätscherte unter jungen Bäumen in der Sonne.

Ged stand eine Weile allein hier und wartete. Er rührte sich nicht, aber er hörte sein Herz schlagen, denn es war ihm, als sei er von unsichtbaren Wesen und Mächten umgeben; er wußte, daß die Mauern hier nicht nur mit Stein, sondern mit einer Magie, weit stärker als Stein, gebaut waren; und über diesem Raum, dem innersten im Hause der Weisen, wölbte sich kein Dach, sondern der offene Himmel. Plötzlich gewahrte er einen weißgekleideten Mann, der ihn durch das fallende Wasser des Brunnens ansah.

Als sich ihre Augen trafen, zwitscherte ein Vogel in den Zweigen des Baumes. In diesem Augenblick verstand Ged das Singen des Vogels und die Sprache des sich ins Becken ergießenden Wassers, er begriff die Form der Wolken und den Anfang und das Ende des Windes, der durch die Blätter rauschte; er selbst schien ein vom Sonnenlicht gesprochenes Wort zu sein.

Der Augenblick ging vorbei, und alles um ihn war wieder wie zuvor, oder doch fast wie zuvor. Er näherte sich dem Erzmagier und kniete vor ihm nieder, während er ihm Ogions Brief übergab.

Der Erzmagier Nemmerle, der Hüter von Rok, war alt. Man sagte, daß er der älteste noch lebende Mann seiner Zeit war. Seine Stimme war dünn und gebrechlich, sie klang wie Vogelgezwitscher, als er Ged mit gütigen Worten willkommen hieß. Sein Haar, sein Bart und sein Umhang waren weiß, alles Dunkle und Schwere hatten die langen Jahre seines Lebens gelichtet, und er glich Treibholz, das ein Jahrhundert lang von den Stürmen des Meeres herumgeworfen wurde und nun leicht und silberweiß war. »Meine Augen sind zu alt, ich kann nicht lesen, was mir der Meister schreibt«, sagte er mit seiner zittrigen Stimme. »Lies mir den Brief vor, mein Junge!«

Ged entzifferte die paar Zeilen des Briefes, der in hardischen Runen geschrieben war, und las laut vor: »Ehrwürdiger Hüter Nemmerle! Ich schicke Ihnen einen, der unter den Zauberern von Gont der größte sein wird, wenn der Wind die Wahrheit spricht.« Unterschrieben war es nicht mit Ogions wahrem Namen, den Ged nicht kannte, sondern mit Ogions Rune, dem Zeichen des geschlossenen Mundes.

»Derjenige, der das Erdbeben im Zaum hält, hat dich geschickt. Sei mir deshalb doppelt willkommen. Der junge Ogion stand meinem Herzen nahe, als er hierher kam von Gont. Jetzt erzähl mir von der See und wie deine Überfahrt verlaufen ist, mein Junge.«

»Wir segelten mit günstigem Wind, gnädiger Herr, bis auf den gestrigen Sturm.«

»Mit welchem Schiff bist du gekommen?«

»Mit der Schatten, einem Handelsschiff von den Andraden.«

»Und wer will, daß du hierher kommst?«

»Ich will es selbst.«

Der Erzmagier blickte auf Ged und schaute dann in die Ferne und begann in einer Sprache zu reden, die Ged nicht kannte. Er wisperte vor sich hin, wie es alten Menschen eigen ist, die ihre Gedanken über Jahre und Inseln schweifen lassen. Aber zwischen dem Gemurmel hörte Ged die Worte, die der Vogel gesungen und das fallende Wasser geflüstert hatten. Der Hüter von Rok schlug Ged in keinen Bann, und doch war die Macht in seiner Stimme so groß, daß sich Geds Sinne vorübergehend verwirrten und er sich allein in einer riesigen Wüste zwischen Schatten stehen sah. Gleichzeitig wußte er aber auch, daß er in dem sonnigen Hof stand, in dem der Brunnen lustig plätscherte.

Ein großer schwarzer Vogel, ein Rabe von Osskil, schritt gravitätisch über die Steinplatten und den Rasen der Terrasse. Er steuerte auf Nemmerle zu und blieb neben dem Saum seines Gewandes stehen. Dort hockte er, bewegungslos, in seiner ganzen Schwärze, mit seinem schwertähnlichen Schnabel und seinen blanken Knopfaugen, mit denen er Ged von der Seite her musterte. Er pickte dreimal an den weißen Stab, auf den sich Nemmerle stützte, und der alte Zauberer hörte auf zu murmeln und lächelte. »Geh jetzt und spiel, mein Kind«, sagte er, als sei Ged noch ein kleiner Junge. Ged ließ sich wieder vor ihm auf seinem Knie nieder, und als er aufblickte, war der Erzmagier verschwunden. Nur der Rabe hockte noch da und starrte ihn mit vorgestrecktem Schnabel an, als wolle er noch einmal am Stab picken.

Dann redete er in einer Sprache, die Ged für die Osskilsche hielt, und krächzte: »Terrenon-Ussbuk!« und stolzierte wieder fort, genau wie er gekommen war.

Ged wandte sich zum Gehen, aber er war unschlüssig, welche Richtung er nun einzuschlagen hatte. Unter dem Torbogen traf er auf einen hochgewachsenen Jungen, der ihn sehr höflich begrüßte und sich leicht vor ihm verbeugte, während er sich vorstellte: »Ich bin Jasper, mein Vater ist Enwid, vom Hause der Eolg auf der Insel Havnor. Ich stehe Ihnen zu Diensten, um Ihnen die Räumlichkeiten des Großhauses zu zeigen und Ihre Fragen, so gut ich kann, zu beantworten. Wie ist Ihr Name?«

Ged, ein Dorfjunge aus den Bergen, der noch nie unter den Söhnen reicher Edelleute und Kaufleute geweilt hatte, empfand Jaspers Benehmen, sein »Ich stehe Ihnen zu Diensten«, das formelle »Sie« und sein Verbeugen, als herablassend und lächerlich. Er antwortete brüsk: »Ich werde Sperber genannt.«

Der andere wartete einen Augenblick lang; vielleicht auf eine höflichere Antwort, aber als nichts weiter kam, richtete er sich auf und wandte sich ein wenig zur Seite. Er war zwei oder drei Jahre älter als Ged, sehr groß, und bewegte sich mit einer gewissen steifen Grazie, fast wie ein Tänzer — in Geds Augen wenigstens. Er trug einen grauen Umhang mit zurückgeworfener Kapuze. Als erstes führte er Ged in die Gewandstube, wo jeder Schüler mit einem derartigen Umhang und allen sonst nötigen Kleidern ausgestattet wurde. Ged hängte sich den dunkelgrauen Umhang um die Schultern, und Jasper sagte: »Jetzt sind Sie einer von uns.«

Jasper hatte die Angewohnheit, leicht zu lächeln, wenn er sprach. Ged vermutete versteckten Spott dahinter, und er antwortete barsch: »Machen Kleider den Magier?«

»Nein«, sagte der ältere Junge, »aber ich habe gehört, daß Manieren die Kinderstube verraten. Wohin jetzt?«

»Wohin Sie wollen. Ich kenne mich ja nicht aus.«

Jasper führte ihn durch zahlreiche Gänge und zeigte ihm die Innenhöfe unter offenem Himmel und die überdachten Räume des Großhauses, den Raum der Regale, wo sich die Werke der Magie und Runenkunde befanden, den großen Festsaal, in dem sich die Schüler an Feiertagen versammelten, vor einem mächtigen offenen Kamin, und in den oberen Stockwerken, in den Türmen und unter den Dächern zeigte er ihm die Zellen, wo Schüler und Meister schliefen. Geds Zelle befand sich im Südturm und hatte ein Fenster, das über die steilen Dächer von Thwil aufs Meer blickte. Gleich den anderen Schlafzellen gab es darin außer der mit Stroh gefüllten Matratze keine Möbel. »Wir wohnen hier sehr einfach«, sagte Jasper, »aber ich nehme an, daß Ihnen das nichts ausmacht.«

»Ich bin daran gewöhnt.« Dann aber, um diesem eingebildeten Gecken zu zeigen, daß auch er Schliff besaß, fügte Ged hinzu: »Ich nehme an, daß Sie nicht daran gewöhnt waren, als Sie hierherkamen.«

Jasper schaute ihn an mit einem Blick, der ohne Worte auszudrücken schien: »Was weißt du schon, woran ich, der Sohn des Fürsten von Eolg, von der Insel Havnor, gewöhnt bin oder nicht?« Laut sagte er: »Wir gehen hier entlang.«

Während sie noch oben waren, tönte der Gong, und sie gingen hinunter in den Speisesaal, um am Langtisch zusammen mit ungefähr hundert anderen Jungen und jungen Männern das Mittagsmahl einzunehmen. Jeder bediente sich selbst aus großen Schüsseln, die an der Durchreiche standen, und viele scherzten mit den Köchen, die dahinter sichtbar waren. Jeder saß am Langtisch, wo es ihm gefiel. Jasper wandte sich zu Ged: »Man sagt, daß es immer noch Platz gibt an diesem Tisch, gleichgültig wie viele zu Tisch kommen.« Es war gewiß genug Platz da, sowohl für die zahlreichen Gruppen von laut schwatzenden, herzhaft essenden Jungen, als auch für die älteren Schüler, die vereinzelt oder in Paaren beisammen saßen, ernsthaft dreinblickten und tief nachdenklich dreinschauten und deren graue Umhänge am Hals mit Silberbroschen geschlossen waren. Jasper führte Ged zu einem Platz neben einem kräftigen Jungen, der fest zulangte und unbeirrt weiteraß. Er sprach wie die Leute vom Ostbereich, und seine Haut war nicht rotbraun, wie die von Jasper und Ged und den meisten Leuten des Inselreiches, sondern schwarzbraun. Er hieß Vetsch und machte einen einfachen, ungekünstelten Eindruck, sein Benehmen jedenfalls war ungeziert. Als er fertig war, brummte er etwas über die Güte des Essens vor sich hin, wandte sich dann zu Ged und sagte: »Es ist wenigstens keine Illusion. Man setzt an dabei.« Ged wußte nicht, was er damit meinte, aber der Junge gefiel ihm, und er war froh, daß er auch nach der Mahlzeit bei ihnen blieb.

Später gingen die beiden mit Ged den Berg hinunter und zeigten ihm die Stadt. Die Straßen von Thwil, die zwar kurz und nicht sehr zahlreich waren, wandten und drehten sich so kurios, daß man sich zwischen den schmalen, hohen Häusern leicht verirren konnte. Es war eine wunderliche Stadt mit wunderlichen Einwohnern. Zwar gab es Fischer, gelernte Handwerker und einfache Arbeiter wie in jeder anderen Stadt, aber auf der Insel der Weisen ist die Zauberei so alltäglich, daß die Leute von Thwil selbst halbe Zauberer sind. Sie antworten nie direkt, sondern reden in Rätseln (wie Ged selbst erfahren mußte); ohne mit der Wimper zu zucken schauen sie zu, wie ein Junge sich in einen Fisch verwandelt oder ein Haus sich in die Lüfte erhebt, denn sie wissen, daß es nur Lausbubenstreiche sind, und ohne sich stören zu lassen, fahren sie fort, Schuhe zu besohlen oder Hammelfleisch zu metzgern.

Die Jungen, die von der Stadt wieder hinauf zur Schule gestiegen waren, gingen an einer Hintertür vorbei, durch die Gärten des Großhauses und überquerten eine Holzbrücke, die über den klaren Thwilbach führte. Der Weg führte nach Norden, durch Weiden und Wälder und wand sich steil bergauf. Sie gingen an Gruppen von Eichen vorbei, unter denen, trotz der nachmittäglichen Helle, dunkle Schatten lagerten. Links von ihnen, ziemlich nahe, war ein solcher Hain, den Ged nur ganz unbestimmt wahrnehmen konnte; der Weg schien dahinzuführen, erreichte ihn aber nie ganz. Vetsch sah, wie Ged darauf starrte, und sagte leise: »Das ist der Immanente Hain. Wir dürfen da noch nicht hin, noch nicht…«

Gelbe Blumen blühten auf den sonnigen Halden. »Funkenkraut«, sagte Jasper. »Das wächst überall dort, wo der Wind die Asche des brennenden Ilion hingetragen hat, damals, als Erreth-Akbe die Innersten Inseln gegen den Feuerfürsten verteidigte.« Er pustete in eine der abgeblühten Dolden, und der Wind trug den befreiten Samen gleich vielen feurigen Funken gegen die Sonne. Der Weg führte weiter bergauf und wand sich um den Fuß eines großen grünen Hügels, der rund und baumlos in die Höhe ragte. Es war der Kogel, den Ged vom Schiff aus gesehen hatte, als sie in die verzauberten Gewässer von Rok kamen. An der Seite des Kogels blieb Jasper stehen. »Daheim in Havnor habe ich viel von der Zauberkunst auf Gont gehört, immer nur Gutes, und schon lange wollte ich selbst einmal sehen, welche Bewandtnis es damit hat. Jetzt haben wir ja einen von Gont hier, und wir stehen auf dem Rokkogel, dessen Wurzeln bis ins Erdinnere reichen. Hier wirken alle Künste besonders stark. Machen Sie uns einen Trick vor, zeigen Sie uns Ihre Kunst, Sperber!«

Ged fühlte sich überrumpelt und verwirrt und sagte nichts.

»Später, Jasper«, meinte Vetsch auf seine einfache, natürliche Art. »Laß ihn erst mal eine Weile hier sein.«

»Entweder hat er Erfahrung, oder er besitzt Macht. Sonst hätte ihn der Türhüter nicht reingelassen. Warum kann er das nicht jetzt genauso gut zeigen wie später? Stimmtʹs, Sperber?«

»Ich habe Erfahrung und Macht«, antwortete Ged. »Zeigen Sie mir, was Sie meinen.«

»Oh, Illusionen, und natürlich Tricks, Erscheinungsspielereien, so wie das!«

Jasper zeigte mit dem Finger auf den Hang und sprach ein paar seltsame Worte. Dort, wo er hindeutete, sah man plötzlich ein kleines Rinnsal zwischen dem grünen Gras, das sich allmählich vergrößerte, bis schließlich Quellwasser hervorbrach und den Hügel hinabfloß. Ged tauchte seine Hand ins Wasser, und sie fühlte sich naß an; er trank davon, und es war erfrischend kühl. Aber trotzdem stillte es nicht seinen Durst, denn es war nur Illusion. Mit einem Wort brachte Jasper das Wasser zum Versiegen, und die Grashalme bewegten sich trocken in der Sonne. »Jetzt kommst du dran, Vetsch«, sagte er mit einem kühlen Lächeln.

Vetsch kratzte sich am Kopf und schaute etwas unglücklich drein. Schließlich scharrte er etwas Erde zusammen mit seiner Hand und sang ziemlich unmelodisch vor sich hin, während er der Erde mit seinen dunklen Fingern Form gab, sie zusammendrückte und streichelte. Plötzlich erhob sich ein kleines Etwas aus seiner Hand, einer Hummel oder einem behaarten Käfer ähnlich, und flog summend über den Rokkogel davon und verschwand.

Ged stand verloren da und starrte vor sich hin. Was konnte er schon tun? Seine Zauberkünste waren anderer Art, Ziegen herbeilocken, Warzen verschwinden lassen, Lasten bewegen, Töpfe flicken — primitiver Dorfzauber war alles, was er konnte.

»Solche Tricks mache ich nicht«, sagte er. Das genügte Vetsch, und er wollte aufbrechen, aber Jasper sagte: »Warum nicht?«

»Zauberei ist kein Spiel. Wir in Gont zaubern nicht aus Vergnügen oder um unser Ansehen zu steigern«, antwortete Ged hochmütig.

»Worum gehtʹs Ihnen denn dann?« fragte Jasper, »…Geld?«

»Nein!« — Aber es fiel ihm nichts ein, was er hinzufügen könnte, ohne seine Unwissenheit zu zeigen und seinem Stolz weh zu tun. Jasper lachte ohne Bosheit und ging weiter und führte sie um den Rokkogel herum. Ged trottete hinterher, verstimmt und mit wundem Herzen, denn er wußte, daß er sich blöd benommen hatte, und er gab Jasper die Schuld daran.

In der Nacht lag er, eingehüllt in seinen Umhang, in seiner kalten, unbeleuchteten, ganz aus Stein gebauten Zelle, in der völligen Stille des Großhauses von Rok, und der Gedanke an all die Zaubereien und Beschwörungen, die hier geübt und gewirkt wurden, bedrückte sein Herz.

Dunkelheit umgab ihn, Furcht schlich sich in sein Herz. Er wünschte sich weit weg von Rok. Aber plötzlich stand Vetsch unter der Tür, auf seinem Kopf eine kleine, schwankende, bläulich schimmernde Werlichtkugel, die ihm den Weg wies. Er fragte, ob er ein bißchen hereinkommen und reden könne. Dann wollte er, daß ihm Ged von Gont erzähle, und er selbst sprach mit viel Liebe von seiner Heimatinsel im Ostbereich und beschrieb Ged, wie abends der Rauch von den vielen Herdfeuern über das ruhige Meer und zwischen den vielen Inseln wehte, die so wunderliche Namen haben wie Korp, Kopp und Holp, Venweg und Vemisch, Iffisch, Koppisch und Sneg. Mit dem Finger zeichnete er auf die Steinplatten und zeigte Ged, wie sie aussahen und wo sie lagen. Die Linien schimmerten eine Weile, als seien sie mit einem Silberstift gezogen, bevor sie wieder verblaßten. Vetsch war schon drei Jahre auf der Schule in Rok, und bald würde er Zauberer werden. Die kleineren Kunststücke waren so selbstverständlich für ihn wie für den Vogel das Fliegen. Aber er besaß eine Gabe, die ihn niemand gelehrt hatte, die größer war als seine Kunst: er hatte ein warmherziges Verständnis für andere. In dieser Nacht und in all den kommenden Tagen bot er Ged seine Freundschaft an, eine ehrliche, offene Freundschaft, die niemand zurückweisen konnte und die Ged gern erwiderte.

Doch Vetsch war auch Jaspers Freund, der sich an diesem ersten Tag auf dem Rokkogel über Ged lustig gemacht hatte. Ged kam über diesen Vorfall nicht hinweg, und es schien ihm, daß sich auch Jasper daran erinnere. Wenn er die Rede an Ged richtete, so war seine Stimme zwar höflich, aber seine Lippen umspielte ein spöttisches Lächeln. Geds Stolz ertrug weder Herablassung noch Spott. Er schwor sich insgeheim, daß er eines Tages Jasper und all denen, die Jasper als ihr Vorbild betrachteten, beweisen werde, wie groß seine Macht war — eines Tages. Denn keiner von ihnen, trotz ihrer gescheiten Kunststücke, hatte ein Dorf durch Zauberei gerettet, und von keinem schrieb Ogion, daß er eines Tages der größte Zauberer von Gont werden würde.

Solche und ähnliche Gedanken halfen Ged, seinen Stolz zu bewahren. Er setzte alles daran, die Aufgaben, die ihm gestellt wurden, gut zu meistern: den theoretischen und praktischen Unterricht, das Geschichtelernen, die verschiedenen Übungen, kurzum alles, was von den graubetuchten Meistern, genannt die Neun, gelehrt wurde.

Jeden Tag verbrachte er eine bestimmte Zeit mit dem Meister der Lieder. Von ihm lernte er die Helden-, Spruch- und Lehrdichtung, und er begann mit dem ältesten aller Lieder, der Erschaffung von Éa. Mit einem Dutzend anderer Jungen zusammen übte er bei Meister Windschlüssel die Kunst des Wind- und Wettermachens. Im Frühling und Frühsommer verbrachten sie bei schönem Wetter oft ganze Tage draußen in der Bucht in leichten Kuttern und versuchten, mit Worten zu steuern, die Wellen zu stillen, Wolken zu lenken und aufzulösen, mit dem Wind der Welt umzugehen und einen Zauberwind aufzubringen. Diese Künste waren ziemlich kompliziert, und mehr als einmal bekam Ged die Großrah an den Kopf, wenn das Boot im plötzlich umspringenden Wind herumschlug, oder zwei Boote stießen zusammen, obwohl sie die ganze Bucht für sich hatten; es kam auch vor, daß die drei Jungen in einem Boot ein unerwartetes Bad nahmen, wenn eine unbeabsichtigte Riesenwelle über ihnen zusammenschlug. Die Ausflüge über Land mit dem Meister der Kräuterkunde verliefen ruhiger; von ihm lernten sie die Eigenschaften und Eigenheiten aller wachsenden Dinge. Meister Hand lehrte sie Kunststücke und Gaukeleien und die einfacheren Arten der Verwandlung.

Ged war sehr gelehrig, und innerhalb eines Monats übertraf er manche Burschen, die schon ein Jahr lang auf Rok waren. Die Illusionstricks fielen ihm besonders leicht, manchmal schien es, als sei er mit diesem Wissen geboren und müßte nur wieder daran erinnert werden. Meister Hand war ein sanfter, heiterer alter Herr, dem seine spielerische Kunst endlose Freude bereitete, und Ged verlor bald alle Scheu vor ihm. Er fragte ihn nach dieser oder jener Formel, und der Meister lächelte und zeigte ihm jedesmal, was er wissen wollte. Eines Tages jedoch, als sie sich im Hof der Illusionen befanden, sagte Ged, getrieben von dem heimlichen Wunsch, Jasper endlich auszustechen: »Sehen Sie, alle diese Kunststücke sind sich ähnlich. Wenn man eines kann, dann kann man die anderen auch. Aber sobald man mit dem Kunststück aufhört, verschwindet die Illusion. Wenn ich jetzt aus diesem Steinchen einen Brillanten mache« — was er bewerkstelligte mit einem Wort und einer kurzen Bewegung seines Handgelenkes —, »was muß ich tun, damit dieser Brillant ein Brillant bleibt? Wie hält man eine Verwandlung fest, damit sie dauert?«

Meister Hand schaute auf den Brillanten, der in Geds Hand glitzerte wie das schönste Schmuckstück aus einem Drachenschatz. Er murmelte das Wort »Tolk«, und kein Juwel, sondern ein einfacher, rauher, grauer Stein lag wieder da. Er nahm ihn und legte ihn auf seine geöffnete Hand. »Das ist ein Stein, Tolk in der Ursprache«, sagte er und schaute Ged gütig an. »Es ist ein kleines Stückchen Fels, aus dem Rok besteht, ein bißchen von dem Land, auf dem die Menschen wohnen. Das ist sein Wesen, er ist ein ganz kleiner Teil der Welt. Durch den Illusionstrick kannst du verursachen, daß er wie ein Brillant aussieht — oder wie eine Blume, eine Mücke, ein Auge oder eine Flamme.« Während er die Namen sprach, flackerte der Stein von einer Gestalt zur andern und wurde dann wieder Stein. »Aber all das ist nur Schein. Die Illusion spielt mit den Sinnen des Beschauers; er sieht, hört und fühlt, wie sich das Ding geändert hat. Aber das Ding selbst bleibt sich gleich. Um diesen Stein in ein Juwel zu verwandeln, mein Junge, dazu mußt du seinen wahren Namen ändern. Und das bedeutet, selbst bei einem so winzig kleinen Teil der Welt, daß die Welt geändert wird. Man kann es tun. O ja, es ist möglich. Das ist die Kunst des Meisters der Verwandlungen, und du wirst es auch lernen, wenn du soweit bist. Aber du darfst nichts endgültig verwandeln, ob Stein oder nur ein Sandkorn, bevor du weißt, welche Folgen, gute und schlechte, diese Verwandlung nach sich zieht. Siehst du, die Welt ist im Gleichgewicht, im Equilibrium. Die Macht eines Zauberers, der verwandeln und gebieten kann, könnte das Gleichgewicht dieser Welt stören. Diese Kunst ist sehr gefährlich. Weisheit muß sie begleiten, und nur der Not kann sie dienen. Wenn du eine Kerze anzündest, mußt du mit dem Schatten rechnen…«

Er schaute wieder auf den Stein: »Weißt du, ein Stein ist auch ganz gut«, sagte er, weniger ernsthaft. »Wenn die Inseln der Erdsee aus Diamant wären, wahrlich, wir Menschen würden ein hartes Leben führen! Junge, hab deinen Spaß an den Illusionen, und laß Stein Stein sein.« Er lächelte, aber Ged war nicht zufrieden, als er wegging. Wenn man versucht, einem Zauberer seine Geheimnisse zu entlocken, bekommt man immer nur vom Gleichgewicht, von der Gefahr und von den dunklen Mächten zu hören, bei Ogion war es ja nicht anders gewesen. Ganz bestimmt war ein Zauberer, der die kindischen Illusionstricks hinter sich hatte und zur wahren Kunst des Verwandelns und Gebietens gelangt war, mächtig genug, das zu tun, was ihm gefiel, und die Welt trotzdem nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, und er konnte ja mit seinem eigenen Licht die Dunkelheit vertreiben.

Im Gang stieß er auf Jasper, der viel freundlicher tat, seit sich Geds Leistungen in der Schule herumgesprochen hatten, in Wirklichkeit aber nur noch verletzender auf Ged wirkte. »Sie sehen so finster drein, Sperber, ging etwas schief mit ihren Gaukeleien?«

Ged, der immer darauf aus war, sich mit Jasper auf gleiche Höhe zu stellen, ignorierte die in der Frage enthaltene Ironie und sagte: »Ich habe die Nase voll von Gaukeleien und Illusionstricks, die nur dazu da sind, Fürsten zu amüsieren, die nichts weiter tun, als auf ihren Landsitzen und Schlössern zu hocken. Die einzig wahre Magie, die sie mir hier auf Rok beigebracht haben, ist der Werlichtzauber und etwas vom Wettermachen. Der Rest ist Narretei.«

»Selbst Narretei kann gefährlich sein«, sagte Jasper, »wenn sie gehandhabt wird von Narren.«

Ged zuckte zusammen, als hätte er einen Schlag erhalten, und er trat auf Jasper zu, aber der ältere Junge lächelte nur, als hätte er keine Beleidigung beabsichtigt, neigte den Kopf leicht in seiner gezierten und doch graziösen Art und ging weiter. Wut brannte in Geds Herzen, als er ihm nachblickte, und er schwor sich, diesen Rivalen auszustechen; nicht in einem bloßen Illusionswettspiel, sondern in einer wirklichen Machtprobe. Er, Ged, würde triumphieren, und Jasper mußte klein beigeben. Er konnte nicht zulassen, daß dieser Schnösel auf ihn herunterschaute, so freundlich, so manierlich und so widerlich.

Es fiel Ged nicht ein, darüber nachzudenken, warum Jasper ihn hassen könnte. Er wußte nur, warum er ihn haßte. Die anderen Schüler hatten längst gelernt, daß sie sich weder im Ernst noch im Spiel mit Ged messen konnten, und sagten, manche neidisch, andere respektvoll: »Der ist ein geborener Zauberer, den kann man nicht schlagen.« Nur Jasper lobte ihn nicht und ging ihm auch nicht aus dem Weg; er lächelte nur und schaute auf ihn herab. Und deswegen konnte ihn Ged nicht ertragen; er sah in ihm einen Rivalen, über den er triumphieren mußte.

Ged merkte nicht, daß in dieser Rivalität, an der er sich festklammerte und in die er seinen Stolz setzte, etwas von der Gefahr und Dunkelheit war, vor der ihn Meister Hand so gütig gewarnt hatte.

Wenn der Zorn nicht in ihm brannte, dann wußte Ged sehr wohl, daß er sich nicht mit Jasper oder den anderen älteren Jungen messen konnte, und er widmete sich ganz seinen Studien und ging seiner Arbeit nach wie gewöhnlich. Gegen Ende des Sommers ließ der Druck etwas nach, und es blieb mehr Zeit übrig für Sport und Spiel. Unten im Hafen fanden Regatten mit magisch angetriebenen Booten statt, in den Innenhöfen des Großhauses wurden Kunststücke und Illusionstricks vorgeführt, und während der langen Sommerabende veranstalteten sie wilde Versteckspiele in den Wäldern und Anlagen, bei denen die Suchenden und die sich Versteckenden unsichtbar waren. Man hörte nur lachende, rufende Stimmen zwischen den Bäumen schallen, die den flinken, flackernden Werlichtern nachjagten. Als dann der Herbst kam, fing das ernsthafte Studium der Magie von neuem an. So vergingen Geds erste Monate auf Rok. Sie waren angefüllt mit viel Neuem und Wunderbaren, versetzten ihn selbst aber oft in heftige innere Bewegungen.

Der Winter gestaltete sich ganz anders. Ged wurde, zusammen mit sieben anderen Jungen, ans andere Ende der Insel, ins nördlichste Vorgebirge, geschickt, dort, wo der uralte Einsame Turm steht. Der Meister Namengeber, den sie Kurremkarmerruk nannten, was in keiner Sprache etwas bedeutet, wohnte dort ganz allein. Meilenweit um den Turm herum gab es weder Bauernhöfe noch Wohnhäuser. Grimmig blickte der Turm über einsame Felsen, grau hingen die Wolken über der winterlichen See, und endlos waren die Tabellen, Listen und Reihen von Namen, die von den Schülern auswendig gelernt werden mußten. Hoch oben im Turmzimmer saß Kurremkarmerruk an seinem hohen Pult, von seinen acht Schülern umgeben. Er schrieb lange Reihen von Namen auf, die noch vor Mitternacht auswendig gelernt werden mußten, denn dann verblaßte die Tinte wieder, und nur das leere Pergament blieb zurück. Es war kalt, halbdunkel und immer ruhig in diesem Raum, nur das Kratzen von des Meisters Feder war zu hören und ab und zu das Seufzen eines Schülers, der noch vor Mitternacht die Namen aller Vorgebirge, Orte, Buchten, Meerengen, Hafen, Untiefen, Riffe und Felsen der Küste Lossows, einer kleinen Insel im peinischen Meer, lernen mußte. Wenn ein Schüler sich beklagte, konnte es vorkommen, daß der Meister, ohne zu antworten, die Liste verlängerte oder sagte: »Wer Seemeister werden will, muß den Namen jedes Wassertropfens im Meer kennen.«

Ged seufzte manchmal auch, aber er beklagte sich nie. Er wußte, daß hinter dieser öden, endlosen Namenlernerei jedes Ortes, Dinges und Wesens die Macht lag, die er begehrte, er sah sie wie ein Juwel auf dem Grund eines tiefen trockenen Brunnens funkeln. Denn die Essenz der Magie lag hier, im Wissen um den wahren Namen eines Dinges. Kurremkarmerruk sprach ein einziges Mal darüber, damals, als sie ihre erste Nacht im Turm verbrachten; nie wieder hatte er es seither erwähnt. Ged hatte seine Worte nicht vergessen. »Mancher Magier verbrachte sein ganzes Leben damit, den wahren Namen eines einzigen Dinges herauszufinden — einen einzigen Namen, der verlorenging oder verborgen war. Trotzdem sind die Namenreihen noch nicht zu Ende, und sie werden es auch nicht sein, solange die Erde besteht. Hört zu, und dann werdet ihr verstehen, warum das so ist: Auf dieser Welt und in der Welt, wohin kein Sonnenstrahl fällt, gibt es viele Dinge, die weder mit Menschen noch mit der menschlichen Sprache etwas zu tun haben, und es gibt Dinge, die außerhalb unserer Machtsphäre liegen. Aber Magie, wahre Magie, wird nur von denen ausgeübt, die das Hardisch der Erdsee sprechen oder die Ursprache, aus der es stammt.

Das ist die Sprache der Drachen und die Sprache von Segoy, der die Inseln dieser Welt schuf, und es ist auch die Sprache unserer Lieder und Epen und unserer Zauber- und Bannsprüche. Die Worte dieser Sprache sind versteckt in unserem Hardisch. Den Wellenschaum zum Beispiel nennen wir Sukien; das Wort besteht aus zwei Wörtern der Ursprache, aus ›Suk‹, die Feder und aus ›Inien‹, die See; zusammengesetzt gibt das ›Feder der See‹, und das ist nichts anderes als Wellenschaum. Aber Wellenschaum bleibt Wellenschaum, wenn man ihn Sukien nennt; um ihn zu verändern, muß man seinen wahren Namen in der Ursprache kennen und der ist Essa. Jedes Zauberweib kennt ein paar von diesen Worten, ein Magier kennt viele Namen. Aber es gibt viel mehr. Manche gingen verloren im Laufe der Zeit, andere sind irgendwo versteckt; manche sind nur den Drachen und den Urmächten der Erde bekannt, und es gibt auch welche, die keinem Lebewesen bekannt sind. Niemand kennt sie alle, denn diese Sprache ist ohne Ende.

Und das ist der Grund dafür: Der Name des Meeres ist Inien, stimmtʹs? Na gut! Aber was wir hier das Innenmeer nennen, hat seinen eigenen Namen in der Ursprache. Da aber kein Ding zwei Namen haben kann, bedeutet Inien die ganze See — außer dem Innenmeer. Und natürlich stimmt das auch nicht, denn es gibt unzählige Gewässer, Buchten, Meerengen und so weiter, die alle ihre eigenen Namen haben. Ist nun ein Magier verrückt genug, um einen Sturm oder eine Stille im ganzen Ozean wirken zu wollen, dann muß er nicht nur den Namen Inien aussprechen, sondern den Namen von jedem Stückchen und jedem Teilchen im ganzen Inselmeer und in den äußeren Bereichen bis dorthin, wo es gar keine Namen mehr gibt. Und so kann man wohl sagen, daß uns zwar die Macht verliehen ist, Magie zu wirken, daß dieser Macht aber Grenzen gesetzt sind. Nur das Naheliegende, nur das Gutbekannte kann von einem Magier beeinflußt werden. Und das ist auch gut so, denn die Bosheit des Mächtigen und die Einfalt des Weisen hätten schon längst versucht das zu ändern, was nicht verändert werden soll, und das Gleichgewicht wäre gestört… Eine aus dem Gleichgewicht geratene See aber würde die Inseln überschwemmen, auf denen wir so schutzlos leben, und in abgrundtiefer Stille würden alle Stimmen und Namen untergehen.«

Ged dachte lange nach über diese Worte, und sie prägten sich ihm tief ein. Aber das darin enthaltene Große und Erhabene machten das Lernen, das in diesem langen Jahr im Turm auf ihn wartete, nicht weniger mühselig. Am Ende des Jahres sagte Kurremkarmerruk zu ihm: »Du hast einen guten Anfang gemacht.« Mehr sagte er nicht. Zauberer sprechen immer die Wahrheit, und Ged wußte, daß das Beherrschen der Namen, um das er sich ein Jahr lang so schwer plagte, nur der Anfang war. Er wußte, daß er sein ganzes Leben würde lernen müssen. Er durfte früher als die anderen den Turm verlassen, denn er hatte schneller als sie gelernt. Darin bestand seine ganze Belohnung, ein anderes Lob bekam er nicht.

Es war früh im Winter, als er allein über die leeren, windgefegten Straßen nach Süden über die Insel pilgerte. Als es dunkel wurde, begann es zu regnen. Keine Zauberformel stand ihm zur Verfügung, die diesen Regen hätte abwenden können, denn das Wetter auf Rok war in den Händen von Meister Windschlüssel, und es war verboten, sich einzumischen. So wickelte er sich in seinen Umhang und suchte Schutz unter einem Perdickbaum nahebei und dachte an Ogion, seinen Meister, der vielleicht noch auf seinen Herbstwanderungen durch die Höhen von Gont streifte und unter einem Dach von dichtverwobenen Ästen, zwischen Wänden fallenden Regens schlief. Darüber mußte er lächeln. Der Gedanke an Ogion war immer tröstlich, und mit friedlichem Herzen schlief er in der kalten Finsternis im unaufhörlich wispernden Wasser ein. Im Morgengrauen wachte er auf und sah ein kleines, zusammengerolltes Tierchen in den Falten seines Mantels schlafen. Es mußte sich in der Nacht, Wärme und Schutz suchend, zu ihm geschlichen haben. Er war überrascht, als er es näher betrachtete, denn es war ein Otak, ein seltenes und seltsames Tier.

Diese kleinen Tiere gab es nur auf den vier südlichen Inseln: Rok, Ensmer, Pody und Wathort. Sie sind klein und glatt, mit runden Gesichtern, dunkelbraunem oder gestreiftem Fell und großen blanken Augen; ihre Zähne sind scharf und grausam, ihr Wesen unberechenbar, so daß sie selten als Haustiere gewählt werden; sie geben keinen Laut von sich, denn sie haben keine Stimme. Ged streichelte das kleine Ding, und es erwachte und gähnte, streckte seine kleine braune Zunge heraus und zeigte seine weißen Zähne, aber es war nicht scheu. »Otak«, sagte er und dann fielen ihm die Hunderte von Tiernamen ein, die er im Turm gelernt hatte, und er redete es mit seinem wahren Namen in der Ursprache an: »Hög! Willst du mit mir kommen?«

Der Otak setzte sich auf Geds Hand und begann mit der Zunge sein Fell zu säubern.

Ged hob ihn hoch, und der Otak kuschelte sich in die Falten seiner Kapuze, und auf Geds Schulter reitend, begleitete er ihn. Manchmal sprang er herunter und verschwand im Wald, aber er kam immer wieder zurück, einmal mit einer Feldmaus, die er gefangen hatte. Ged lachte und ermunterte ihn, die Maus zu essen, denn er selbst fastete, da es die Nacht der Sonnenwende war. In der feuchten Dämmerung erreichte er den Rokkogel, und endlich sah er durch den Regen die hell brennenden Werlichter über den Dächern des Großhauses flackern, und er betrat den großen, warmen, hellerleuchteten Saal, in dessen Kamin ein großes Feuer knisterte, wo ihn seine Meister und Studienkollegen willkommen hießen.

Es war wie eine Heimkehr für Ged, der kein Heim hatte, zu dem er hätte zurückkehren können. Er freute sich, die vielen bekannten Gesichter wieder um sich zu haben, am meisten aber freute er sich, Vetsch wiederzusehen, der über sein ganzes dunkles Gesicht strahlte, als er ihn begrüßte. Wie sehr ihm diese Freundschaft im vergangenen Jahr gefehlt hatte, merkte er erst jetzt. Vetsch war in der Zwischenzeit vom Lehrling zum Zauberer aufgerückt, aber das tat ihrer Freundschaft keinen Abbruch, sie wurden nicht fertig mit Erzählen. Es kam Ged vor, als redete er in dieser ersten Stunde mehr mit Vetsch als während des ganzen verflossenen Jahres im Einsamen Turm.

Der Otak hockte noch auf seiner Schulter, versteckt in den Falten seiner Kapuze, als sie das Abendessen an den langen Tischen einnahmen, die für das Fest in dem großen Festsaal aufgestellt waren. Vetsch bewunderte das kleine Geschöpf und versuchte es zu streicheln, aber der Otak fletschte stumm die Zähne. Vetsch lachte: »Weißt du, Sperber, man sagt, daß der, zu dem ein wildes Tier ungerufen kommt, mit den Urmächten in Fels und Quell reden kann.«

»Man sagt auch, daß gontische Zauberer oft einen Vertrauten halten«, sagte Jasper, der auf der anderen Seite von Vetsch saß. »Unser Herr Nemmerle hat einen Raben, und die alten Lieder sagen, daß der rote Magier von Ark einen wilden Eber an einer goldenen Kette mit sich führte. Aber ich habe noch von keinem Zauberer gehört, der eine Ratte in der Kapuze hält.«

Alle lachten, auch Ged lachte mit. Es ging lustig zu, und er war froh, mit seinen Freunden zusammen im warmen, hellen Saal zu feiern. Aber wie alle Späße Jaspers traf ihn auch dieser, und er knirschte heimlich mit den Zähnen.

Der Fürst von O, der sich auch als Zauberer einen Namen gemacht hatte, war Gast der Schule an diesem Abend. Er war ein ehemaliger Schüler des Erzmagiers und kehrte manchmal zum Winterfest oder zum Langen Tanz im Sommer nach Rok zurück. An diesem Abend hatte er seine junge, schlanke Gemahlin dabei, die wie neues Kupfer strahlte und eine Krone von Opalen in ihrem schwarzen Haar trug. Es kam selten vor, daß eine Frau in den Sälen des Großhauses weilte, und einige der alten Meister warfen etwas mißbilligende Seitenblicke auf sie, aber die jungen Männer konnten kaum ihre Augen von ihr abwenden.

»Für so eine«, sagte Vetsch zu Ged, »könnte ich unglaubliche Zaubereien produzieren…« Er seufzte und lachte.

»Sie ist doch nur eine Frau«, erwiderte Ged.

»Die Prinzessin Elfarran war auch nur eine Frau«, sagte Vetsch, »und um ihretwillen wurde ganz Enlad zerstört, und der Zauberheld von Havnor fiel, und die ganze Insel Solea ging unter.«

»Alte Märchen«, sagte Ged. Aber dann begann er doch, die Fürstin von O näher anzuschauen, und fragte sich, ob sie genauso schön war wie die irdischen Schönheiten, von denen die alten Geschichten erzählten.

Der Meister der Lieder war fertig mit den Taten des jungen Königs, und alle stimmten in den Winterchoral ein, und als er zu Ende gesungen war, trat eine kleine Pause ein. Vor dem allgemeinen Aufbruch erhob sich Jasper und trat zu dem Tisch, der dem Feuer am nächsten stand, an dem der Erzmagier, seine Gäste und die Meister saßen, und wandte sich zur Fürstin von O. Er war kein Knabe mehr, sondern ein großer, gut aussehender junger Mann, dessen Umhang am Hals mit einer Silberbrosche geschlossen war, denn auch er war im vergangenen Jahr Zauberer geworden und die Silberbrosche war Ausdruck dieser Beförderung. Die Fürstin lächelte zu seinen Worten, und die Opale in ihrem schwarzen Haar schimmerten verführerisch. Nachdem die Meister gnädig nickend ihre Zustimmung erteilt hatten, wirkte Jasper einen Illusionszauber für sie. Ein weißer Baum wuchs plötzlich aus dem Steinboden empor. Seine Zweige berührten die Dachbalken des hohen Saales, und an jedem Zweig glänzte ein goldener Apfel, jeder eine Sonne darstellend, denn es war der Jahresbaum. Plötzlich flatterte ein weißer Vogel zwischen den Ästen, mit einem Schweif wie fallender Schnee, und die goldenen Äpfel verblaßten. An ihre Stelle traten Samen, wie Kristalltropfen geformt. Die fielen von den Zweigen wie rauschender Regen, und die Luft war erfüllt von einem süßen Duft und umgab den sich leise bewegenden Baum, der feurige, zartrosa schimmernde Blätter und weiße Sternblüten hervorbrachte. Langsam verblaßte die Illusion.

Der Fürstin von O entschlüpften Laute des Entzückens. Sie neigte ihr strahlendes Haupt gegen den jungen Zauberer, seine Kunst würdigend: »Oh, kommen Sie doch zu uns nach O-Tokne — kann er bitte kommen, mein Fürst?« Wie ein Kind bittend, wandte sie sich an ihren gestrengen Gemahl. »Wenn meine Kunst meinen Meistern hier Ehre macht und wert ist, von Ihnen geschätzt zu werden, dann komme ich und stehe Ihnen zu Diensten.«

Diese Worte gefielen allen — außer Ged. Er stimmte zwar in das Lob ein, das sich ringsum erhob, aber in seinem Herzen sprach er voll Neid: Ich hätte es besser machen können, und die Freude des schönen Abends war für ihn getrübt.

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